Tand
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Jenny Erpenbeck, geboren 1967 in Berlin, debütierte 1999 mit der Novelle »Geschichte vom alten Kind«. Es folgten zahlreiche Veröffentlichungen, darunter Romane, Erzählungen und Theaterstücke. Ihr Roman »Aller Tage Abend« wurde von Lesern und Kritik gleichermaßen gefeiert und vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Joseph-Breitbach-Preis und dem Independent Foreign Fiction Prize. Für »Gehen, ging, gegangen« erhielt sie u.a. den Thomas-Mann-Preis. 2017 gewann Jenny Erpenbeck den Premio Strega Europeo und wurde mit dem Verdienstkreuz am Bande der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet.
1. Wovon handelt Ihr neuer Roman „Heimsuchung“? Wie sind Sie auf den Stoff gekommen?
„Heimsuchung“ erzählt die Geschichten von zwölf Menschen, die im Laufe des letzten Jahrhunderts mit einem Grundstück und einem Haus in der Nähe Berlins eng verbunden waren, diesen Ort bewohnt haben, Hoffnung hatten, für immer dort bleiben zu können, und irgendwann doch wieder gehen mußten – dem Verlauf der deutschen Geschichte folgend aus sehr verschiedenen Gründen. Ausgegangen bin ich beim Schreiben von dem Haus, das meine Großeltern Anfang der 50er Jahre gepachtet, später gekauft haben, und das meine Familie 50 Sommer später nach zehnjährigem Prozessieren und Warten auf die Entscheidung des Amtes wieder verlor, als dem Rückübertragungsantrag der Erben des Alteigentümers stattgegegeben wurde. Obgleich ich eigentlich in Berlin aufgewachsen bin und dort nur meine Ferien verbracht habe, wäre es immer dieser Ort gewesen, den ich als meine Heimat bezeichnet hätte.
2. Wie lange haben Sie an „Heimsuchung“ geschrieben? Wie hat sich die Recherchearbeit und der Prozeß des Schreibens im einzelnen gestaltet?
Häuser besichtigt, die der Architekt gebaut hat, habe die Bücher meiner Großmutter wieder gelesen und natürlich auch sehr viele Telefonate geführt, mit Geologen, Historikern, Abrißfirmen usw. Mir war es wichtig, von der historischen Wahrheit als Maß auszugehen, dann aber, auch durch Erfindung, den trockenen Fakten die Inhalte - sozusagen einem Skelett den Körper - wiederzugeben. Und letztendlich ist ja schon die Auswahl, ob aus der eigenen Erinnerung heraus oder aus einer Fülle von „fremdem“ Material, immer eine Frage der Entscheidung, also von vornherein mehr als nur nacherzählte Wirklichkeit. Das Material ordnet sich nur, wenn man weiß, was der Kern einer Geschichte sein soll.
3. Bei allem Kommen und Gehen der verschiedenen Figuren taucht doch immer wieder der Gärtner im Verlauf der Handlung auf. Er kümmert sich mit viel Hingabe um die Pflege des Grundstücks am See und spricht dabei kein einziges Wort. Wie würden Sie seine Funktion im Gesamtkonzept des Romans beschreiben?
Der Gärtner war für mich so etwas wie personifizierte Natur, so etwas wie die Verlängerung der Eiszeit, die im Prolog beschrieben wird, in die Welt der Menschen hinein. Eine mythische Figur. Von außen gesehen, dient er den verschiedensten Herren, für die er den Garten in Ordnung hält, aber dennoch ist er ganz offensichtlich kein Diener, sondern erscheint durch die vielen Handgriffe, die ihn über die Jahre mit diesem Garten verbinden, eher im Gegenteil als dessen wahrer Herr. Durch die Beständigkeit seiner Arbeit kommt eine Ruhe in das Buch, die innerhalb der einzelnen Geschichten nicht da ist, durch den Gärtner haben die Geschichten Abstand voneinander, er ermöglicht Pausen, die für mich, und wahrscheinlich auch für den Leser, mindestens ebenso notwendig sind wie das, was ausgesprochen wird.
4. Sie verwenden eine sehr präzise und dichte Sprache. Wie läuft das beim Schreiben konkret ab? Schreiben Sie unbekümmert drauf los und streichen dann den unnötigen Ballast weg?
Ich versuche, soviel wie möglich schon im Kopf zu streichen, bevor ich überhaupt etwas hinschreibe. Später überlese ich die schon geschriebenen Abschnitte immer wieder und streiche noch einmal etliches. Mich persönlich langweilen ausufernde Beschreibungen von Szenen beim Schreiben, und wenn ich mich beim Schreiben selbst langweile, verläßt mich die Konzentration und der innere Ton, den ich zum Schreiben brauche, dann wird alles flach und beliebig. Viele Fragen stelle ich ja nur, um sie unbeantwortet zu lassen.
5. Sie verleihen jedem Kapitel, jedem Menschenschicksal in „Heimsuchung“ einen eigenen Erzählstil bzw. -ton. Können Sie Ihre Vorgehensweise genauer erläutern?
Ich bin bei meinen Recherchen auf sehr unterschiedliches Material gestoßen, gerade auch sprachlich sehr unterschiedliches Material. Es gab Rätsel, von Dorfchronisten zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufgezeichnet, es gab Briefe eines jüdischen Mädchens, Versteigerungslisten, es gab Witze, an die sich Nachbarn erinnerten, Gerüchte, Legenden und sehr viele Prozeßakten. All diese Dinge wollte ich in ihrer Eigenart erhalten. Die Sprache ist ja immer mehr als nur Transportmittel für einen Inhalt, sie spricht mindestens ebensosehr für sich selbst.
Außerdem war es mir wichtig zu zeigen, wie befangen jede der Figuren in meinem Buch in ihrem eigenen Leben, in der jeweiligen Biographie ist, und wie selten es gelingt, aus diesen Mikrokosmen auszubrechen und einen ungetrübten Blick auf ein anderes Leben zu werfen. Die Geschichten kommentieren sich, so hoffe ich jedenfalls, durch die Anordnung gegenseitig, und so gelingt es vielleicht zumindest dem Leser, einen Blick auf mehrere Wahrheiten zugleich zu werfen. Ich glaube, erst wenn die Trennung der einzelnen Schicksale deutlich genug ist, kann der Ort und die Hoffnung, die mit ihm verbunden ist, und auch die Vergänglichkeit als das allen Gemeinsame deutlich erscheinen.
- Autor: Jenny Erpenbeck
- 2003, Durchges. u. überarb. Ausg., Maße: 11,8 x 19 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: BTB
- ISBN-10: 3442729939
- ISBN-13: 9783442729937
- Erscheinungsdatum: 01.09.2003
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Tand".
Kommentar verfassen