Tante Inge haut ab
Roman
Als Christine ihren Johann auf Sylt vom Bahnhof abholt, trifft sie fast der Schlag. Was will denn Tante Inge, die Schwester ihres Vaters, hier? Noch dazu mit all dem Gepäck? Christine befürchtet schon das Schlimmste. Doch trotzdem wird sie bald von Inges Lebenslust angesteckt.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Tante Inge haut ab “
Als Christine ihren Johann auf Sylt vom Bahnhof abholt, trifft sie fast der Schlag. Was will denn Tante Inge, die Schwester ihres Vaters, hier? Noch dazu mit all dem Gepäck? Christine befürchtet schon das Schlimmste. Doch trotzdem wird sie bald von Inges Lebenslust angesteckt.
Klappentext zu „Tante Inge haut ab “
Für einen Neuanfang ist man nie zu alt. Typisch Dora Heldt - ein herrlich komischer Frauen- und Familienroman unter dem Motto »Das Leben ist Veränderung!«
Die Frau am Ende des Bahnsteigs trug einen roten Hut und sah aus wie meine Tante Inge. Nur dass die niemals Hüte und schon gar nicht ihr Gepäck tragen würde.
Urlaub auf Sylt! Freudig begrüßt Christine (46) am Bahnhof ihren Johann, da tippt das Unheil ihr auf die Schulter: Die Frau mit dem roten Hut ist tatsächlich Tante Inge (64), Papas jüngere Schwester. Aber was macht sie allein auf Sylt? Noch dazu mit so vielen Koff ern? Für Papa Heinz kann dies nur eines bedeuten: Inge will Walter, den pensionierten Finanzbeamten, samt gemeinsamem Reihenhaus verlassen. Als dann auch noch Inges neue Freundin Renate mit ihrem Faible für (nicht nur alleinstehende) ältere Männer auftaucht, platzt Mama Charlotte der Kragen: Walter muss her, und zwar sofort! Christine indessen stimmt Inges Lebenslust nachdenklich. Mit Mitte 60 wagt ihre Patentante einen Neuanfang - und sie selbst?
»Ein charmanter und witziger Roman über Familie, Freundschaft, das Älterwerden, das Jungbleiben und über die Liebe und ihre verrückten Eigenheiten.« denglers-buchkritik.de
»Die perfekte Lektüre für Strandkorb oder Liegestuhl.« Petra von der Linde im 'Westfälischen Anzeiger'
Lese-Probe zu „Tante Inge haut ab “
Tante Inge haut ab von Dora HeldtDie Frau am Ende des Bahnsteigs trug einen roten Hut und sah aus wie Tante Inge. Nur dass die nie
Hüte und nur im äußersten Notfall ihr Gepäck tragen würde. Christine kniff die Augen zusammen, um sie besser sehen zu können. Die Ähnlichkeit war wirklich verblüffend. Aber es konnte nicht sein. Schließlich stand sie hier in Westerland.
Christine verlor die Frau aus dem Blick und konzentrierte sich auf die Zugtüren. In einer von ihnen würde er auftauchen, Johann, der wunderbarste Mann überhaupt. Sie hatten sich in letzter Zeit viel zu selten gesehen. Aber heute war der erste Tag ihres gemeinsamen Urlaubs. Zwei Wochen Sylt im Mai, es war einfach grandios. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen. Immer mehr Menschen bevölkerten den Bahnsteig, der Zug musste brechend voll gewesen sein. Endlich sah sie ihn. Er stieg aus einem der hinteren Wagen. Christine versuchte, ihm entgegenzulaufen. Die Menschenmassen machten das Vorhaben fast unmöglich, zumal Johann aus irgendeinem Grund stehen geblieben war. Christine hatte ihn fast erreicht, als sie sah, dass sich der Strom um ein Hindernis teilte. Mitten auf dem Bahnsteig stand ein voll beladener Gepäckwagen. Die Frau mit dem roten Hut saß darauf und ignorierte die Flüche und irritierten Gesichter derjenigen, die plötzlich ausweichen mussten oder gleich dagegengerannt waren. Sie lächelte einfach alles weg.
Johann rieb sich schmerzverzerrt das Schienbein. Christine hatte nur Augen für ihn, kam endlich bei ihm an, fasste nach seiner Schulter, er drehte sich um, sie sah sein Lächeln, fühlte plötzlich seine Hände und Arme, roch sein Rasierwasser und schloss die Augen beim Kuss. Die Welt versank, das Leben war großartig.
Bis sich jemand hinter ihr räusperte. Und eine Stimme, die wie Tante Inge klang, sagte: »Na? Ist das dein
... mehr
neuer Freund?«
Christine zuckte zusammen, löste sich von Johann und sah die Frau auf dem Gepäckwagen an. Es war Tante Inge. Nur mit Hut. Und ohne Onkel Walter. Aber bestens gelaunt und mit sehr viel Gepäck. Sie legte den Kopf schief und musterte den verblüfften Johann.
»Sehen Sie, man sollte immer so freundlich wie möglich pöbeln, man weiß nie, wen man vor sich hat. Ich bin Christines Patentante. Ich halte den Westerländer Bahnhof zwar nicht für den idealen Ort, um sich kennenzulernen, aber bitte. Seid ihr nicht etwas zu alt, um hier öffentlich zu knutschen? Na ja, müsst ihr wissen.« Sie drehte sich wieder zum Gepäckwagen. »Habt ihr eine Ahnung, wie man dieses Monstrum in Bewegung setzt?«
Johann reagierte endlich. »Sie müssen den Griff drücken, sonst bremst er. Ich habe auch nicht gepöbelt, das war ein Schmerzensschrei. Kommen Sie, ich schiebe den Wagen, wo wollen Sie denn hin?«
Christine starrte ihre Tante noch immer an. Sie war dünner geworden, trug einen engen Rock, eine helle Bluse und einen vermutlich teuren Mantel. Die Handtasche passte zum Hut. Inge wirkte irgendwie verändert. Sie nahm die Handtasche vom Wagen.
»Ach, so einfach? Na, dann mal los. Was ist? Kommst du, Christine?«
Christine musste zweimal tief Luft holen, bevor sie sprechen konnte. »Was machst du denn hier? Papa hat gar nicht erzählt, dass du kommst. Sonst hätten wir uns doch gar nicht in der Dachwohnung einquartiert. Das ist viel zu eng, zu dritt. Und wo ist Onkel Walter?«
Tante Inge lächelte ihre Nichte an. »Reg dich nicht auf. Ich schlafe nicht bei euch auf der Ritze, ich habe mir bei Petra eine Ferienwohnung gemietet. Mein Bruder weiß gar nicht, dass ich komme. Und Onkel Walter ist zu Hause, wo sonst. Ich habe aber nicht die geringste Lust, über ihn zu sprechen. Ich denke, es ist an der Zeit, mein Leben zu verändern. Und jetzt kommt, ihr könnt mich zu Petra fahren, diese Taxipreise finde ich sowieso übertrieben.«
Sie rückte den ungewohnten Hut zurecht, sie hatte ihn viel zu tief ins Gesicht gezogen, und ging mit schnellen Schritten zum Ausgang.
Christine sah ihr mit offenem Mund hinterher, während Johann seine Reisetasche schulterte und sich mit dem voll beladenen Gepäckwagen in Bewegung setzte.
Sie hatte Tante Inge vor einem knappen Jahr das letzte Mal gesehen, bei einem Familienfest in Dortmund, als Onkel Walter seinen 65. Geburtstag gefeiert hatte. Das Lokal hieß »Eichenhof«, es gab gemischten Braten mit Gemüseplatte und Kroketten, hinterher Schnaps, und alles war in Ordnung. Bis auf die Tatsache, dass Tante Inge in ihrer Rede sagte, dass sie Walters Rentnerdasein in die Gefahr bringen würde, ihn irgendwann einmal auf dem Sofa zu erschlagen. Es sei denn, er suche sich endlich ein vernünftiges Hobby. Und damit wären nicht die Bundesliga und seine Kegelrunde gemeint, das reiche ihr nicht aus. Onkel Walter guckte zwar etwas beleidigt, doch keiner hatte es ernst genommen. Tante Inge war noch nie diplomatisch gewesen.
Christine hatte für einen kurzen Moment das Bild des erschlagenen Walters auf dem blutgetränkten Sofa vor Augen, zwang sich aber sofort, es wegzublinzeln und stattdessen Tante Inge anzusehen, die neben dem Auto stand und beobachtete, wie Johann ihre Gepäckstücke im Kofferraum verstaute.
»Was heißt, es ist an der Zeit, dein Leben zu verändern? Was ist denn mit Onkel Walter?«
»Hm?« Ihre Tante betrachtete konzentriert Johanns Packkünste. »Wenn Sie die rote Tasche längs legen, geht es vielleicht besser. Oder erst den großen Koffer und dann die Tasche.«
»Ich habe gefragt, was mit Onkel Walter ist.«
»Ich sagte es doch bereits, ich will nicht darüber reden. So, na bitte, geht doch. Jetzt den Deckel zu und ab. Ihr könnt mich direkt zu Petra nach Kampen fahren, keine Umwege bitte, ich muss ganz dringend zur Toilette.«
Johann schlug den Kofferraumdeckel mit Schwung zu und wischte sich über die Stirn. »Wollen Sie vielleicht hier noch mal ...? Also, wir haben ja Zeit.«
»Nein, schönen Dank.« Inge setzte sich auf den Beifahrersitz und knöpfte ihren Mantel auf. »Ich gehe nicht auf fremde Toiletten. Man weiß ja nie ... Können wir jetzt fahren?«
Christine sah Johann fragend an, er nickte und stieg hinten ein. Mit einem Blick auf die vier fast fünf Meter hohen Skulpturen auf dem Bahnhofsvorplatz öffnete Christine die Fahrertür. »Reisende Riesen im Wind« hieß dieses Kunstwerk, vier grüne Gestalten, die sich gegen den Wind stemmten. Hoffentlich war das kein schlechtes Omen.
Während sie an der Post vorbeifuhren und in den Bahnweg bogen, drehte sich Inge um und musterte Johann nachdenklich. Dann lächelte sie freundlich.
»Sie sind also Johann. Wohnen Sie noch in Bremen, oder haben Sie sich schon bei Christine eingenistet?«
Johann suchte Christines Blick im Rückspiegel. Sie nickte ihm beruhigend zu.
»Ich wohne in Bremen, ich habe da meinen Job. Es war nie die Rede davon, mich bei Christine einzunisten.«
Tante Inge sah wieder auf die Straße. »Dann ist ja gut. Christine hat da nämlich ein Händchen für, sie sucht sich gern Männer aus, die sie durchbringen muss.«
»Tante Inge!«
Sie lächelte. »Komm, du bist schon mal geschieden. Und jetzt kannst du dein Geld allein ausgeben. Das geht überhaupt nicht gegen Sie, Johann, verstehen Sie das bloß nicht falsch, Sie sind mir ja ganz sympathisch. Ich halte nur nichts davon, sich in so jungen Jahren zu binden. Wer weiß, was noch alles passiert.«
Johann antwortete sehr höflich. »Ich bin 48. Und Christine ist zwei Jahre jünger. So jung sind die Jahre ja nun auch nicht mehr.«
»Stimmt.« Tante Inge nickte. »Ich vergesse das immer. Meine Güte, Christine, 46 bist du schon?«
Christine hielt vor einer roten Ampel. Tante Inge deutete nach links.
»Du musst hier abbiegen, List, Kampen, Wenningstedt. Hast du gesehen, oder?«
»Tante Inge ... «, die Ampel schaltete auf Grün, Christine bog links ab, »darf ich dich daran erinnern, dass ich mich auf der Insel auskenne? Guck mal, Johann, dort drüben ist der Flughafen und dahinter der Marine-Golfplatz.«
»Ah ja.« Johann blickte zum Heckfenster hinaus. Tante Inge beobachtete ihn dabei. »Falls Sie einen Golfplatz sehen wollen, müssen Sie sich den Hals nicht so verrenken. Da kommt gleich noch einer. Der Golfclub Sylt. Sagen Sie bloß, Sie spielen Golf? So alt sind Sie doch noch gar nicht. Oder machen Sie dabei windige Geschäfte?«
Christine stöhnte leise auf. »Tante Inge, bitte!«
Inge klappte die Sonnenblende runter und kontrollierte ihre Frisur. »Wie auch immer. Jedenfalls gibt es hier genug Golfplätze. Vier insgesamt. Da können Sie sich richtig austoben.«
Johann blieb gelassen. »Ich spiele kein Golf. Ich jogge.«
»Macht ja nichts«, antwortete Inge.
Mittlerweile hatten sie Kampen erreicht. Christine fuhr auf der Hauptstraße, vorbei an hübschen Reetdachhäusern, und bog in den Braderuper Weg ein. Sie sah ihre Tante an, die versonnen aus dem Fenster guckte.
»Wie heißt die Straße noch mal, in der Petra wohnt?«
»Wuldeschlucht. Die fünfte links. Ich denke, du kennst dich aus?«
Ihre Nichte gab keine Antwort. Johann verbiss sich ein Grinsen. Sie hielten vor einem Reetdachhaus mit blauen Gauben. Auf dem Schild stand »Uns to Hus«. Inge öffnete die Autotür, bevor Christine den Motor abgestellt hatte.
»Danke fürs Herbringen. Johann, tragen Sie mir das Gepäck bitte rein? Christine, du kannst im Wagen sitzen bleiben, du parkst so blöd. Ich komme später bei euch vorbei, bis dann.«
Tante Inge eilte mit schnellen Schritten zur Eingangstür. Johann folgte ihr in gebührendem Abstand mit ihrem vielen Gepäck. Sein Gesichtsausdruck war unergründlich.
Christine hatte Johann unter etwas schwierigen Umständen kennengelernt. Im letzten Sommer hatte sie ihren Vater mit nach Norderney nehmen müssen, wo sie einer Freundin bei der Renovierung einer Kneipe helfen wollte. Sie konnte sich nicht wehren, ihre Mutter bekam ein neues Knie und hatte einfach beschlossen, dass Töchter sich im Notfall um ihre Väter zu kümmern hatten. Auf der Insel angekommen, vergaß Heinz leider, dass Christine 45 war, und verfiel in alte Muster. Anfangs behielt Christine noch die Nerven, aber als Heinz begann, die vorsichtige Annährung zwischen seiner Tochter und dem Pensionsgast Johann zu torpedieren, nur weil der seiner Meinung nach »tückische Augen« hatte, reichte es ihr. Heinz leider nicht. Er steigerte sich in die Vorstellung hinein, Johann wäre ein Heiratsschwindler, und setzte – angefeuert von seinem Jugendfreund Kalli und einem ziemlich durchgeknallten Inselreporter – alles daran, ihn auffliegen zu lassen.
Es kam zu erheblichen Komplikationen.
Es hatte sich zwar alles geklärt, aber Christine befürchtete, Johanns Meinung über ihren Vater sei durch die Norderneyer Eskapaden maßgeblich beeinflusst. Der zweiwöchige Urlaub im Haus ihrer Eltern sollte Johann davon überzeugen, dass sie aus einer durchaus zivilisierten, eigentlich reizenden und vor allen Dingen völlig normalen Familie stammte und dass das Verhalten von Heinz ein Ausrutscher gewesen war. Dass Tante Inge nun plötzlich auftauchte, war dabei nicht eben hilfreich.
Johann kam langsam zurück, setzte sich auf den Beifahrersitz. Christine legte ihre Hand auf sein Knie.
»Tante Inge ist die Schwester von Heinz. Und meine Patentante. Sie ist sehr nett.«
»Ja. Klar.« Er schnallte sich umständlich an. »Ein bisschen direkt vielleicht.«
Christine startete den Motor. »Wollen wir noch etwas trinken, oder fahren wir direkt zu meinen Eltern?«
»Lass uns erst mal irgendwo etwas trinken. Bitte.«
Während Christine losfuhr, schickte sie ein Stoßgebet zum Himmel. Hoffentlich hatte Tante Inge sich einfach nur entschlossen, bei der Tochter einer Freundin ein paar Tage friedlich auszuspannen.
Eine halbe Stunde später saßen sie auf der Terrasse von »Wonnemeyer« in Wenningstedt und blickten aufs Meer. Wasser beruhigt, Christine hoffte, dass es auch bei Johann wirkte. Er trank stumm ein Weizenbier, während sie in ihrem Kaffee rührte. Runde um Runde. Schweigend. Endlich hob er den Kopf.
»Es ist ja wirklich albern, dass ich mich in meinem Alter noch nervös machen lasse, nur weil ich mit dir für zwei Wochen zu deinen Eltern fahre.«
Christine fand nicht, dass es albern war, schließlich hatte ihr Vater ihn bereits auf Norderney Blut und Wasser schwitzen lassen. Das konnte sie aber nicht zugeben.
»Johann, mein Vater ist in Wirklichkeit ganz anders. Er hat sich nur ein bisschen verrückt machen lassen. Das war alles. Wenn du ihn erst besser kennst, wirst du das merken. Er neigt sonst nie zu irgendwelchen wilden Aktionen. Eigentlich hat er überhaupt keine Fantasie. Er ist ganz friedlich.«
Johanns Blick blieb skeptisch. Aber das Meer schien ihn zu beruhigen. Wenigstens gab er sich Mühe.
»Vermutlich. Und deine Tante Inge? Ist die sonst auch ganz anders?«
»Ja. Sie ist ganz reizend. Sie ist seit 45 Jahren mit Onkel Walter verheiratet, sie haben eine Tochter, Pia, die in Berlin lebt und gerade vierzig geworden ist. Mein Onkel war Steuerinspektor, er ist vielleicht ein bisschen dröge, aber auch sehr lieb. Inge ist auf Sylt aufgewachsen, sie kommt ein paarmal im Jahr her und besucht ihre alten Bekannten, das ist ganz normal. «
Christine plapperte sich selbst ruhig. Inge kam nie ohne Onkel Walter. Erneut tauchte in ihrem Kopf das Bild des blutgetränkten Sofas auf, das sie sofort verscheuchte.
»Und warum will deine reizende Tante jetzt ihr Leben verändern?«
»Ach, das war doch nur so ein Spruch. Vermutlich meinte sie damit nur, dass sie ohne Onkel Walter verreist ist. Das hat sie seit Jahrzehnten nicht mehr gemacht.«
Christine graute bei dem Gedanken, was für eine Aufregung Inges Auftauchen ohne Walter bei der übrigen Familie auslösen würde. Vor allen Dingen bei Heinz.
»Hm ...« Johann musterte Christine. »Ich habe dich schon besser lügen hören. Wie auch immer: Ich habe auf Norderney Heinz überlebt, da werde ich auch mit dem Rest deiner Familie fertig.« Er beugte sich vor, um ihre Hand zu nehmen. »Wir können ja mal mit deinen Eltern essen gehen, meinetwegen auch mit deiner Tante ... aber ich hoffe doch, dass wir die meiste Zeit für uns haben.«
»Bestimmt.« Christines Antwort kam ganz schnell. »Tante Inge will sicher nur ein paar Tage Urlaub machen. Und dann wird ihr Bruder sich auch um sie kümmern, wir werden die beiden also kaum zu Gesicht bekommen. Und außerdem sind wir in der Dachwohnung sowieso ganz für uns.«
Was um alles in der Welt, fragte Christine sich, meinte Inge nur damit, dass sie ihr Leben verändern wollte?
Heinz schoss sofort aus der Haustür, als das Auto in der Auffahrt hielt.
»Christine, du stehst mit den Vorderreifen auf der Rasenkante, du machst die ganz platt, setz mal ein Stück zurück.«
»Hallo Papa, schön, dich zu sehen, danke, wir hatten eine gute Fahrt und ... «
»Ja, ja, aber fahr ein Stück zurück, ich gucke sonst den ganzen Sommer lang auf gelben Rasen.«
Johann hustete, und Christine legte den Rückwärtsgang ein. Als sie die richtige Parkposition hatte, riss ihr Vater die Beifahrertür auf und zerrte Johann beim Händeschütteln regelrecht aus dem Auto.
»Mensch, Johann, das ist ja nett, dich wiederzusehen, geht es dir gut? Siehst auch gut aus. Ja, sieh dich um, das ist jetzt Sylt, was ganz anderes als Norderney, aber es wird dir garantiert gefallen. Dann kommt mal rein, wo bleibt meine Frau denn? Charlotte, die Kinder sind da!«
Er umrundete das Auto, um seine Tochter in den Arm zu nehmen, nicht ohne einen prüfenden Blick auf die Vorderreifen zu werfen.
»Komm her, Kind, das ist ja schön, du warst so lange nicht zu Hause.«
Über seine Schulter beobachtete Christine Johann, der sich den Unterarm rieb und von ihrer Mutter herzlich begrüßt wurde. Heinz hob Christines Kinn mit dem Zeigefinger und sah sie abschätzend an.
»Und? Bist du glücklich? Ist er nett zu dir?« Wenigstens hatte er leise gesprochen.
»Ja, Papa, alles wunderbar. Du, wir wollen ... ach, ist egal, ich freue mich auch auf die Tage hier. Johann muss sich mal erholen, er hatte viel Stress, er braucht einfach nur Ruhe, okay?«
Ihr Vater breitete seine Arme aus. »Das kann er haben. Wieso sagst du das so komisch? Ihr könnt euch das doch schön machen, ihr habt oben eure Ruhe. Ihr seid dort ganz allein.«
»Ich weiß, Papa. Wir können ja auch mal zusammen essen gehen. Mal einen Abend oder so.«
»Wieso? Mama kocht sowieso, da könnt ihr doch auch immer mit uns essen.«
»Papa! Ich sagte gerade, mal einen Abend oder so. Nicht jeden Tag. Wir wollen euch auch nicht stören.«
»Das sehen wir dann. So, dann kommt, Mama hat Suppe gekocht. Und hinterher gibt’s Kaffee und Butterkuchen.«
Nach dem Kaffeetrinken musste Johann telefonieren, Heinz ging in den Garten und Christine half ihrer Mutter beim Abwaschen. Sie hatten das gute Geschirr genommen, das durfte nicht in die Spülmaschine.
»Und?« Charlotte polierte die Kaffeelöffel. »Wie geht es dir? Ich meine, so mit Johann und der Liebe?«
Christine hatte überlegt, wann der richtige Zeitpunkt wäre, ihr von der Begegnung am Bahnhof zu erzählen.
»Gut. Weißt du, dass Tante Inge auf Sylt ist?« Alles war besser als ein Mutter-Tochter-Gespräch über Christines Liebesleben.
»Unsinn. Tante Inge ist zur Kur. Zum Fasten in Bad Oeynhausen. Das macht sie doch jedes Jahr.«
»Wir haben sie vorhin am Bahnhof getroffen. Sie trug einen roten Hut und hatte jede Menge Gepäck dabei. Sie sah irgendwie anders aus.«
»Du hast sie verwechselt. Papa hat heute Morgen mit Onkel Walter telefoniert, wegen der Steuer, er hätte sicher was gesagt.«
»Wir haben aber mit ihr gesprochen und sie zu Petra gefahren. «
Charlotte ließ ihr Geschirrtuch sinken und sah ihre Tochter stirnrunzelnd an. »Welche Petra?«
Christine nahm ihr das Tuch aus der Hand und polierte weiter. »Na, die Tochter ihrer ältesten Freundin Hanne. Sie vermietet in Kampen Ferienwohnungen.«
Ihre Mutter schnaubte. »Das weiß ich auch. Aber was will Inge da? Sie wohnt doch immer bei uns.«
»Wir sind doch hier. Das wusste sie vielleicht.«
»Woher denn? Walter hat gesagt, dass sie noch zur Kur ist. Er hätte doch wissen müssen, dass sie nach Sylt fährt. Vielleicht hat er einfach was durcheinandergebracht. Komisch. Er wird doch hoffentlich nicht senil.«
Christine warf den letzten Löffel in die Schublade und hängte das Handtuch weg. »Sie kommt jedenfalls später vorbei, dann kannst du sie selbst fragen.«
»Da stimmt irgendwas nicht.« Nachdenklich verrieb Charlotte einen kleinen Wasserfleck auf der Spüle. »Hoffentlich ist da nichts passiert.«
In diesem Moment kam Johann die Treppe runter. Es war einfach perfekt, dachte Christine, sie hatte mit diesem wunderbaren Mann zwei Wochen Urlaub. Sie beide, ganz alleine. Bei dem Gedanken daran bekam sie weiche Knie und ein rotes Gesicht. Als er vor ihr stand, küsste sie ihn und flüsterte: »Komm, ich zeige dir den Strand. Lass uns fahren.«
Wenn sie gewusst hätte, was noch alles auf sie zukommen sollte, wäre sie mit ihm zwei Wochen am Strand geblieben. Egal, wie das Wetter gewesen wäre.
© 2009 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
Christine zuckte zusammen, löste sich von Johann und sah die Frau auf dem Gepäckwagen an. Es war Tante Inge. Nur mit Hut. Und ohne Onkel Walter. Aber bestens gelaunt und mit sehr viel Gepäck. Sie legte den Kopf schief und musterte den verblüfften Johann.
»Sehen Sie, man sollte immer so freundlich wie möglich pöbeln, man weiß nie, wen man vor sich hat. Ich bin Christines Patentante. Ich halte den Westerländer Bahnhof zwar nicht für den idealen Ort, um sich kennenzulernen, aber bitte. Seid ihr nicht etwas zu alt, um hier öffentlich zu knutschen? Na ja, müsst ihr wissen.« Sie drehte sich wieder zum Gepäckwagen. »Habt ihr eine Ahnung, wie man dieses Monstrum in Bewegung setzt?«
Johann reagierte endlich. »Sie müssen den Griff drücken, sonst bremst er. Ich habe auch nicht gepöbelt, das war ein Schmerzensschrei. Kommen Sie, ich schiebe den Wagen, wo wollen Sie denn hin?«
Christine starrte ihre Tante noch immer an. Sie war dünner geworden, trug einen engen Rock, eine helle Bluse und einen vermutlich teuren Mantel. Die Handtasche passte zum Hut. Inge wirkte irgendwie verändert. Sie nahm die Handtasche vom Wagen.
»Ach, so einfach? Na, dann mal los. Was ist? Kommst du, Christine?«
Christine musste zweimal tief Luft holen, bevor sie sprechen konnte. »Was machst du denn hier? Papa hat gar nicht erzählt, dass du kommst. Sonst hätten wir uns doch gar nicht in der Dachwohnung einquartiert. Das ist viel zu eng, zu dritt. Und wo ist Onkel Walter?«
Tante Inge lächelte ihre Nichte an. »Reg dich nicht auf. Ich schlafe nicht bei euch auf der Ritze, ich habe mir bei Petra eine Ferienwohnung gemietet. Mein Bruder weiß gar nicht, dass ich komme. Und Onkel Walter ist zu Hause, wo sonst. Ich habe aber nicht die geringste Lust, über ihn zu sprechen. Ich denke, es ist an der Zeit, mein Leben zu verändern. Und jetzt kommt, ihr könnt mich zu Petra fahren, diese Taxipreise finde ich sowieso übertrieben.«
Sie rückte den ungewohnten Hut zurecht, sie hatte ihn viel zu tief ins Gesicht gezogen, und ging mit schnellen Schritten zum Ausgang.
Christine sah ihr mit offenem Mund hinterher, während Johann seine Reisetasche schulterte und sich mit dem voll beladenen Gepäckwagen in Bewegung setzte.
Sie hatte Tante Inge vor einem knappen Jahr das letzte Mal gesehen, bei einem Familienfest in Dortmund, als Onkel Walter seinen 65. Geburtstag gefeiert hatte. Das Lokal hieß »Eichenhof«, es gab gemischten Braten mit Gemüseplatte und Kroketten, hinterher Schnaps, und alles war in Ordnung. Bis auf die Tatsache, dass Tante Inge in ihrer Rede sagte, dass sie Walters Rentnerdasein in die Gefahr bringen würde, ihn irgendwann einmal auf dem Sofa zu erschlagen. Es sei denn, er suche sich endlich ein vernünftiges Hobby. Und damit wären nicht die Bundesliga und seine Kegelrunde gemeint, das reiche ihr nicht aus. Onkel Walter guckte zwar etwas beleidigt, doch keiner hatte es ernst genommen. Tante Inge war noch nie diplomatisch gewesen.
Christine hatte für einen kurzen Moment das Bild des erschlagenen Walters auf dem blutgetränkten Sofa vor Augen, zwang sich aber sofort, es wegzublinzeln und stattdessen Tante Inge anzusehen, die neben dem Auto stand und beobachtete, wie Johann ihre Gepäckstücke im Kofferraum verstaute.
»Was heißt, es ist an der Zeit, dein Leben zu verändern? Was ist denn mit Onkel Walter?«
»Hm?« Ihre Tante betrachtete konzentriert Johanns Packkünste. »Wenn Sie die rote Tasche längs legen, geht es vielleicht besser. Oder erst den großen Koffer und dann die Tasche.«
»Ich habe gefragt, was mit Onkel Walter ist.«
»Ich sagte es doch bereits, ich will nicht darüber reden. So, na bitte, geht doch. Jetzt den Deckel zu und ab. Ihr könnt mich direkt zu Petra nach Kampen fahren, keine Umwege bitte, ich muss ganz dringend zur Toilette.«
Johann schlug den Kofferraumdeckel mit Schwung zu und wischte sich über die Stirn. »Wollen Sie vielleicht hier noch mal ...? Also, wir haben ja Zeit.«
»Nein, schönen Dank.« Inge setzte sich auf den Beifahrersitz und knöpfte ihren Mantel auf. »Ich gehe nicht auf fremde Toiletten. Man weiß ja nie ... Können wir jetzt fahren?«
Christine sah Johann fragend an, er nickte und stieg hinten ein. Mit einem Blick auf die vier fast fünf Meter hohen Skulpturen auf dem Bahnhofsvorplatz öffnete Christine die Fahrertür. »Reisende Riesen im Wind« hieß dieses Kunstwerk, vier grüne Gestalten, die sich gegen den Wind stemmten. Hoffentlich war das kein schlechtes Omen.
Während sie an der Post vorbeifuhren und in den Bahnweg bogen, drehte sich Inge um und musterte Johann nachdenklich. Dann lächelte sie freundlich.
»Sie sind also Johann. Wohnen Sie noch in Bremen, oder haben Sie sich schon bei Christine eingenistet?«
Johann suchte Christines Blick im Rückspiegel. Sie nickte ihm beruhigend zu.
»Ich wohne in Bremen, ich habe da meinen Job. Es war nie die Rede davon, mich bei Christine einzunisten.«
Tante Inge sah wieder auf die Straße. »Dann ist ja gut. Christine hat da nämlich ein Händchen für, sie sucht sich gern Männer aus, die sie durchbringen muss.«
»Tante Inge!«
Sie lächelte. »Komm, du bist schon mal geschieden. Und jetzt kannst du dein Geld allein ausgeben. Das geht überhaupt nicht gegen Sie, Johann, verstehen Sie das bloß nicht falsch, Sie sind mir ja ganz sympathisch. Ich halte nur nichts davon, sich in so jungen Jahren zu binden. Wer weiß, was noch alles passiert.«
Johann antwortete sehr höflich. »Ich bin 48. Und Christine ist zwei Jahre jünger. So jung sind die Jahre ja nun auch nicht mehr.«
»Stimmt.« Tante Inge nickte. »Ich vergesse das immer. Meine Güte, Christine, 46 bist du schon?«
Christine hielt vor einer roten Ampel. Tante Inge deutete nach links.
»Du musst hier abbiegen, List, Kampen, Wenningstedt. Hast du gesehen, oder?«
»Tante Inge ... «, die Ampel schaltete auf Grün, Christine bog links ab, »darf ich dich daran erinnern, dass ich mich auf der Insel auskenne? Guck mal, Johann, dort drüben ist der Flughafen und dahinter der Marine-Golfplatz.«
»Ah ja.« Johann blickte zum Heckfenster hinaus. Tante Inge beobachtete ihn dabei. »Falls Sie einen Golfplatz sehen wollen, müssen Sie sich den Hals nicht so verrenken. Da kommt gleich noch einer. Der Golfclub Sylt. Sagen Sie bloß, Sie spielen Golf? So alt sind Sie doch noch gar nicht. Oder machen Sie dabei windige Geschäfte?«
Christine stöhnte leise auf. »Tante Inge, bitte!«
Inge klappte die Sonnenblende runter und kontrollierte ihre Frisur. »Wie auch immer. Jedenfalls gibt es hier genug Golfplätze. Vier insgesamt. Da können Sie sich richtig austoben.«
Johann blieb gelassen. »Ich spiele kein Golf. Ich jogge.«
»Macht ja nichts«, antwortete Inge.
Mittlerweile hatten sie Kampen erreicht. Christine fuhr auf der Hauptstraße, vorbei an hübschen Reetdachhäusern, und bog in den Braderuper Weg ein. Sie sah ihre Tante an, die versonnen aus dem Fenster guckte.
»Wie heißt die Straße noch mal, in der Petra wohnt?«
»Wuldeschlucht. Die fünfte links. Ich denke, du kennst dich aus?«
Ihre Nichte gab keine Antwort. Johann verbiss sich ein Grinsen. Sie hielten vor einem Reetdachhaus mit blauen Gauben. Auf dem Schild stand »Uns to Hus«. Inge öffnete die Autotür, bevor Christine den Motor abgestellt hatte.
»Danke fürs Herbringen. Johann, tragen Sie mir das Gepäck bitte rein? Christine, du kannst im Wagen sitzen bleiben, du parkst so blöd. Ich komme später bei euch vorbei, bis dann.«
Tante Inge eilte mit schnellen Schritten zur Eingangstür. Johann folgte ihr in gebührendem Abstand mit ihrem vielen Gepäck. Sein Gesichtsausdruck war unergründlich.
Christine hatte Johann unter etwas schwierigen Umständen kennengelernt. Im letzten Sommer hatte sie ihren Vater mit nach Norderney nehmen müssen, wo sie einer Freundin bei der Renovierung einer Kneipe helfen wollte. Sie konnte sich nicht wehren, ihre Mutter bekam ein neues Knie und hatte einfach beschlossen, dass Töchter sich im Notfall um ihre Väter zu kümmern hatten. Auf der Insel angekommen, vergaß Heinz leider, dass Christine 45 war, und verfiel in alte Muster. Anfangs behielt Christine noch die Nerven, aber als Heinz begann, die vorsichtige Annährung zwischen seiner Tochter und dem Pensionsgast Johann zu torpedieren, nur weil der seiner Meinung nach »tückische Augen« hatte, reichte es ihr. Heinz leider nicht. Er steigerte sich in die Vorstellung hinein, Johann wäre ein Heiratsschwindler, und setzte – angefeuert von seinem Jugendfreund Kalli und einem ziemlich durchgeknallten Inselreporter – alles daran, ihn auffliegen zu lassen.
Es kam zu erheblichen Komplikationen.
Es hatte sich zwar alles geklärt, aber Christine befürchtete, Johanns Meinung über ihren Vater sei durch die Norderneyer Eskapaden maßgeblich beeinflusst. Der zweiwöchige Urlaub im Haus ihrer Eltern sollte Johann davon überzeugen, dass sie aus einer durchaus zivilisierten, eigentlich reizenden und vor allen Dingen völlig normalen Familie stammte und dass das Verhalten von Heinz ein Ausrutscher gewesen war. Dass Tante Inge nun plötzlich auftauchte, war dabei nicht eben hilfreich.
Johann kam langsam zurück, setzte sich auf den Beifahrersitz. Christine legte ihre Hand auf sein Knie.
»Tante Inge ist die Schwester von Heinz. Und meine Patentante. Sie ist sehr nett.«
»Ja. Klar.« Er schnallte sich umständlich an. »Ein bisschen direkt vielleicht.«
Christine startete den Motor. »Wollen wir noch etwas trinken, oder fahren wir direkt zu meinen Eltern?«
»Lass uns erst mal irgendwo etwas trinken. Bitte.«
Während Christine losfuhr, schickte sie ein Stoßgebet zum Himmel. Hoffentlich hatte Tante Inge sich einfach nur entschlossen, bei der Tochter einer Freundin ein paar Tage friedlich auszuspannen.
Eine halbe Stunde später saßen sie auf der Terrasse von »Wonnemeyer« in Wenningstedt und blickten aufs Meer. Wasser beruhigt, Christine hoffte, dass es auch bei Johann wirkte. Er trank stumm ein Weizenbier, während sie in ihrem Kaffee rührte. Runde um Runde. Schweigend. Endlich hob er den Kopf.
»Es ist ja wirklich albern, dass ich mich in meinem Alter noch nervös machen lasse, nur weil ich mit dir für zwei Wochen zu deinen Eltern fahre.«
Christine fand nicht, dass es albern war, schließlich hatte ihr Vater ihn bereits auf Norderney Blut und Wasser schwitzen lassen. Das konnte sie aber nicht zugeben.
»Johann, mein Vater ist in Wirklichkeit ganz anders. Er hat sich nur ein bisschen verrückt machen lassen. Das war alles. Wenn du ihn erst besser kennst, wirst du das merken. Er neigt sonst nie zu irgendwelchen wilden Aktionen. Eigentlich hat er überhaupt keine Fantasie. Er ist ganz friedlich.«
Johanns Blick blieb skeptisch. Aber das Meer schien ihn zu beruhigen. Wenigstens gab er sich Mühe.
»Vermutlich. Und deine Tante Inge? Ist die sonst auch ganz anders?«
»Ja. Sie ist ganz reizend. Sie ist seit 45 Jahren mit Onkel Walter verheiratet, sie haben eine Tochter, Pia, die in Berlin lebt und gerade vierzig geworden ist. Mein Onkel war Steuerinspektor, er ist vielleicht ein bisschen dröge, aber auch sehr lieb. Inge ist auf Sylt aufgewachsen, sie kommt ein paarmal im Jahr her und besucht ihre alten Bekannten, das ist ganz normal. «
Christine plapperte sich selbst ruhig. Inge kam nie ohne Onkel Walter. Erneut tauchte in ihrem Kopf das Bild des blutgetränkten Sofas auf, das sie sofort verscheuchte.
»Und warum will deine reizende Tante jetzt ihr Leben verändern?«
»Ach, das war doch nur so ein Spruch. Vermutlich meinte sie damit nur, dass sie ohne Onkel Walter verreist ist. Das hat sie seit Jahrzehnten nicht mehr gemacht.«
Christine graute bei dem Gedanken, was für eine Aufregung Inges Auftauchen ohne Walter bei der übrigen Familie auslösen würde. Vor allen Dingen bei Heinz.
»Hm ...« Johann musterte Christine. »Ich habe dich schon besser lügen hören. Wie auch immer: Ich habe auf Norderney Heinz überlebt, da werde ich auch mit dem Rest deiner Familie fertig.« Er beugte sich vor, um ihre Hand zu nehmen. »Wir können ja mal mit deinen Eltern essen gehen, meinetwegen auch mit deiner Tante ... aber ich hoffe doch, dass wir die meiste Zeit für uns haben.«
»Bestimmt.« Christines Antwort kam ganz schnell. »Tante Inge will sicher nur ein paar Tage Urlaub machen. Und dann wird ihr Bruder sich auch um sie kümmern, wir werden die beiden also kaum zu Gesicht bekommen. Und außerdem sind wir in der Dachwohnung sowieso ganz für uns.«
Was um alles in der Welt, fragte Christine sich, meinte Inge nur damit, dass sie ihr Leben verändern wollte?
Heinz schoss sofort aus der Haustür, als das Auto in der Auffahrt hielt.
»Christine, du stehst mit den Vorderreifen auf der Rasenkante, du machst die ganz platt, setz mal ein Stück zurück.«
»Hallo Papa, schön, dich zu sehen, danke, wir hatten eine gute Fahrt und ... «
»Ja, ja, aber fahr ein Stück zurück, ich gucke sonst den ganzen Sommer lang auf gelben Rasen.«
Johann hustete, und Christine legte den Rückwärtsgang ein. Als sie die richtige Parkposition hatte, riss ihr Vater die Beifahrertür auf und zerrte Johann beim Händeschütteln regelrecht aus dem Auto.
»Mensch, Johann, das ist ja nett, dich wiederzusehen, geht es dir gut? Siehst auch gut aus. Ja, sieh dich um, das ist jetzt Sylt, was ganz anderes als Norderney, aber es wird dir garantiert gefallen. Dann kommt mal rein, wo bleibt meine Frau denn? Charlotte, die Kinder sind da!«
Er umrundete das Auto, um seine Tochter in den Arm zu nehmen, nicht ohne einen prüfenden Blick auf die Vorderreifen zu werfen.
»Komm her, Kind, das ist ja schön, du warst so lange nicht zu Hause.«
Über seine Schulter beobachtete Christine Johann, der sich den Unterarm rieb und von ihrer Mutter herzlich begrüßt wurde. Heinz hob Christines Kinn mit dem Zeigefinger und sah sie abschätzend an.
»Und? Bist du glücklich? Ist er nett zu dir?« Wenigstens hatte er leise gesprochen.
»Ja, Papa, alles wunderbar. Du, wir wollen ... ach, ist egal, ich freue mich auch auf die Tage hier. Johann muss sich mal erholen, er hatte viel Stress, er braucht einfach nur Ruhe, okay?«
Ihr Vater breitete seine Arme aus. »Das kann er haben. Wieso sagst du das so komisch? Ihr könnt euch das doch schön machen, ihr habt oben eure Ruhe. Ihr seid dort ganz allein.«
»Ich weiß, Papa. Wir können ja auch mal zusammen essen gehen. Mal einen Abend oder so.«
»Wieso? Mama kocht sowieso, da könnt ihr doch auch immer mit uns essen.«
»Papa! Ich sagte gerade, mal einen Abend oder so. Nicht jeden Tag. Wir wollen euch auch nicht stören.«
»Das sehen wir dann. So, dann kommt, Mama hat Suppe gekocht. Und hinterher gibt’s Kaffee und Butterkuchen.«
Nach dem Kaffeetrinken musste Johann telefonieren, Heinz ging in den Garten und Christine half ihrer Mutter beim Abwaschen. Sie hatten das gute Geschirr genommen, das durfte nicht in die Spülmaschine.
»Und?« Charlotte polierte die Kaffeelöffel. »Wie geht es dir? Ich meine, so mit Johann und der Liebe?«
Christine hatte überlegt, wann der richtige Zeitpunkt wäre, ihr von der Begegnung am Bahnhof zu erzählen.
»Gut. Weißt du, dass Tante Inge auf Sylt ist?« Alles war besser als ein Mutter-Tochter-Gespräch über Christines Liebesleben.
»Unsinn. Tante Inge ist zur Kur. Zum Fasten in Bad Oeynhausen. Das macht sie doch jedes Jahr.«
»Wir haben sie vorhin am Bahnhof getroffen. Sie trug einen roten Hut und hatte jede Menge Gepäck dabei. Sie sah irgendwie anders aus.«
»Du hast sie verwechselt. Papa hat heute Morgen mit Onkel Walter telefoniert, wegen der Steuer, er hätte sicher was gesagt.«
»Wir haben aber mit ihr gesprochen und sie zu Petra gefahren. «
Charlotte ließ ihr Geschirrtuch sinken und sah ihre Tochter stirnrunzelnd an. »Welche Petra?«
Christine nahm ihr das Tuch aus der Hand und polierte weiter. »Na, die Tochter ihrer ältesten Freundin Hanne. Sie vermietet in Kampen Ferienwohnungen.«
Ihre Mutter schnaubte. »Das weiß ich auch. Aber was will Inge da? Sie wohnt doch immer bei uns.«
»Wir sind doch hier. Das wusste sie vielleicht.«
»Woher denn? Walter hat gesagt, dass sie noch zur Kur ist. Er hätte doch wissen müssen, dass sie nach Sylt fährt. Vielleicht hat er einfach was durcheinandergebracht. Komisch. Er wird doch hoffentlich nicht senil.«
Christine warf den letzten Löffel in die Schublade und hängte das Handtuch weg. »Sie kommt jedenfalls später vorbei, dann kannst du sie selbst fragen.«
»Da stimmt irgendwas nicht.« Nachdenklich verrieb Charlotte einen kleinen Wasserfleck auf der Spüle. »Hoffentlich ist da nichts passiert.«
In diesem Moment kam Johann die Treppe runter. Es war einfach perfekt, dachte Christine, sie hatte mit diesem wunderbaren Mann zwei Wochen Urlaub. Sie beide, ganz alleine. Bei dem Gedanken daran bekam sie weiche Knie und ein rotes Gesicht. Als er vor ihr stand, küsste sie ihn und flüsterte: »Komm, ich zeige dir den Strand. Lass uns fahren.«
Wenn sie gewusst hätte, was noch alles auf sie zukommen sollte, wäre sie mit ihm zwei Wochen am Strand geblieben. Egal, wie das Wetter gewesen wäre.
© 2009 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
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Autoren-Porträt von Dora Heldt
Dora Heldt, 1961 auf Sylt geboren, ist gelernte Buchhändlerin, seit 1992 als Verlagsvertreterin unterwegs und lebt heute in Hamburg. Ihre spritzig-unterhaltenden Romane haben sämtliche Bestsellerlisten erobert und wurden fürs ZDF verfilmt.
Bibliographische Angaben
- Autor: Dora Heldt
- 2010, 14. Aufl., 352 Seiten, Maße: 12 x 19,2 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: DTV
- ISBN-10: 3423212098
- ISBN-13: 9783423212090
- Erscheinungsdatum: 21.05.2010
Rezension zu „Tante Inge haut ab “
»Humorvolle und leichte Lektüre für sonnige Frühlingstage.« Kölner Illustrierte Nr. 5/ 2010
Pressezitat
Dora Heldt schreibt über das, was Frauen bewegt und worüber sie schmunzeln. Roger Lindhorst NDR 1 Niedersachsen 20170903
Kommentar zu "Tante Inge haut ab"