Tante Martha im Gepäck
Roman
Karen freut sich auf den Schottlandurlaub. Doch so hat sie sich das nicht vorgestellt. Da sitzt plötzlich Tante Martha mit im Auto. Im Schottenrock und mit erstaunlichen Whiskeykenntnissen mischt sie den Urlaub ordentlich auf.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Tante Martha im Gepäck “
Karen freut sich auf den Schottlandurlaub. Doch so hat sie sich das nicht vorgestellt. Da sitzt plötzlich Tante Martha mit im Auto. Im Schottenrock und mit erstaunlichen Whiskeykenntnissen mischt sie den Urlaub ordentlich auf.
Klappentext zu „Tante Martha im Gepäck “
Karen Thieme freut sich auf die Sommerferien, da sitzt plötzlich Tante Martha auf der Rückbank des Familienkombis. So viel Nähe sollte eigentlich nicht sein. Doch Tante Martha stellt die Schottlandreise auf den Kopf. Sie zockt Truckfahrer beim Pokern ab, kennt sich überraschend gut mit Whisky aus und bringt die Familie in einem hochherrschaftlichen Castle unter. Und Martha hat noch mehr Trümpfe im Ärmel!
Lese-Probe zu „Tante Martha im Gepäck “
Tante Martha im Gepäck von Ulrike Herwig1
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Karen sah aus dem Fenster auf die Straße hinunter, wo ihr Mann Bernd gerade den letzten Koffer in den Van wuchtete und sich zufrieden die Hände rieb. Sie schloss das Fenster und ließ ein letztes Mal ihren Blick durch die Wohnung schweifen. Die Blumen waren gegossen, der Wohnungsschlüssel bei der Nachbarin Frau Wachowiak. Alles war leidlich aufgeräumt, damit die Wachowiak nicht in Ohnmacht fiel. Das Zimmer ihres Sohnes Mark zugeschlossen, damit die Wachowiak gar nicht erst hineinkonnte. Der Hamster war bei einer Kindergartenfreundin ihrer Tochter Teresa. Die letzte Milch hatte Karen gerade in den Ausguss gekippt, damit sie bei ihrer Rückkehr aus dem Urlaub kein Geruch nach altem Käse erwartete.
Es konnte losgehen.
Sonnenbrillen, Wasserflaschen, Autoatlas von Deutschland und Großbritannien und das nötige Kleingeld hatte Bernd vorn im Auto. Und natürlich seinen heißgeliebten Reiseführer. Wahrscheinlich suchte er darin schon nach einem lauschigen Plätzchen fürs Abendessen. Sie hatte aufgehört zu zählen, wie oft sie in den letzten Wochen die Worte »Dann gönnen wir uns aber mal ein leckeres englisches Roastbeef« aus seinem Mund gehört hatte.
Karen seufzte und ging in den Flur. Ein letzter Blick in den Spiegel, der ihr eine urlaubsreife Bankangestellte Anfang vierzig zeigte, die kastanienbraun gefärbten Haare nachlässig zum Pferdeschwanz zusammengezwirbelt, dazu ein dunkelblaues T- Shirt und hellgraue Dreiviertelhosen. Im Laden hatten sie noch schmeichelhaft ausgesehen, zu Hause verwandelten sie Karen auf heimtückische Weise in eine Art zweibeinigen Kartoffelsack. Egal. Sie fuhren nicht zur Modenschau, sondern in die schottischen Highlands. Der Urlaub würde ihr guttun. Sie hatte ihn jedenfalls dringend nötig.
»Karen!«, rief Bernd ihr unten auf der Straße entgegen, als sie mit einer Kühlbox aus dem Haus trat. »Leg doch mal die Sonnencreme gleich vorne ins Auto, die Sonne sticht ja jetzt schon.«
Die Hitzewelle hatte vor einer Woche begonnen und war mittlerweile völlig außer Kontrolle geraten. Die Leute lagen wie narkotisiert am Badestrand oder suchten erschöpft Zuflucht unter schattigen Bäumen. Glückspilze wie die Thiemes hingegen durften ins herrlich kühle schottische Hochland fahren. Während sich die Deutschen in Dampf auflösten, würde Familie Thieme an frischer, klarer Luft am Loch Ness stehen und Ausschau nach dem Ungeheuer halten - ja, sich am Abend vielleicht sogar eine Jacke anziehen müssen.
»Mama«, rief Teresa aus dem Autofenster. »Hast du mein Schlafschwein?«
Karen hastete wieder hoch in die Wohnung. Wo war das blöde Schwein? Sie kroch auf Knien durch Teresas Zimmer und fand es unter dem Bett. Sie konnte hören, dass Bernd unten kontrollierte Hupsignale entsandte. Sonst kamen sie nie vom Fleck, behauptete er immer. Er musste ja auch nicht jedes Mal in letzter Minute noch irgendwas finden. Karen hetzte wieder runter, vorbei an der alten Frau Zinsler aus dem Erdgeschoss, die gerade ihre Post holte.
»Wo soll's denn hingehen?«, rief sie neugierig.
»Schottland«, rief Karen zurück und stieg in den Van. Im Rückspiegel erblickte sie Mark, ein verkabeltes Wesen, dem elektronische Geräte wie zusätzliche Körperteile anhafteten. Er hatte etwas aus dem Kofferraum geholt und schleppte sich mit letzter Kraft wieder zum Rücksitz, auf den er sich stumm fallen ließ. Bernd trommelte bereits mit den Fingern aufs Lenkrad.
»Okay«, sagte Karen. »Wir können.« Sie warf im Fahren einen Blick auf ihren Wohnblock, vor dessen Haustüre die Zinsler jetzt stand und ihnen stirnrunzelnd hinterhersah. Wie Bienenwaben, dachte Karen. Die Fenster sind wie Bienenwaben, hinter denen lauter emsige, neugierige Arbeitsbienen lauerten. Irgendwann würden sie hier ausziehen. In ein eigenes Haus. Wenn Bernd sich einen besseren Job gesucht und Karen im Lotto gewonnen hatte, wenn sie nämlich Tante Marthas Erbe ... Nein, so etwas sollte sie nicht denken. Das war pietätlos. Tante Martha lebte schließlich noch und wartete wahrscheinlich gerade in diesem Moment auf sie. »Wir müssen nur noch schnell bei Tante Martha vorbei und uns verabschieden«, sagte Karen.
Von dem bisschen Fahren durch die Stadt war das Auto bereits so bullig warm geworden, dass Karens Schenkel an den Ledersitzen festklebten. Nachdem sie zehn Minuten durch die Hitze gegondelt waren, hielten sie vor Tante Marthas Haus. Mit einem schmatzenden Geräusch befreite Karen sich vom Sitz und stieg aus.
»Lass um Gottes willen die Klimaanlage an«, sagte sie zu Bernd. »Ich beeil mich.«
»Das sagst du jedes Mal. Und dann dauert es doch drei Stunden. Ist bei Frauen immer so, wirst du auch noch merken«, sagte Bernd in Richtung Mark. Der reagierte nicht, sondern wackelte nur rhythmisch mit dem Kopf zu den gedämpften Bässen, die aus seinen Kopfhörern wummerten.
Karen verdrehte die Augen. »Ja, ja.« Warum musste Bernd ständig alle so antreiben? Sie waren doch hier nicht auf seiner Baustelle, wo er irgendwelchen Maurern Beine machen musste.
»Nichts ja, ja. Sie ist verrückt und berechnend, und du lässt dich immer wieder von ihr einwickeln.«
»Was soll ich denn machen? Sie ist die Schwester meiner Oma und meine einzige lebende Verwandte, von meiner abwesenden Mutter mal abgesehen!«
»Ach so? Ich wusste gar nicht, dass hier im Auto drei Leichen mit dir rumfahren.«
»Also, Bernd, nun lass das doch, ich ...«
»Sind wir schon da?«, unterbrach sie Teresa.
»Nein, mein Schatz. Mama sagt nur schnell Tante Martha Tschüss. Bin gleich wieder zurück«, erwiderte Karen und betrat das dunkle Mietshaus. Drinnen roch es zwar nach altem Kohl, es war aber angenehm kühl. Einen Moment lang erwog sie, sich kurz auf die unterste Treppenstufe zu legen und ihr Gesicht auf die kalte Steintreppe zu pressen, doch dann siegte die Vernunft, und sie ging in den zweiten Stock hinauf. Sie klingelte und setzte eine feierliche, herzliche Miene auf. Die Tür öffnete sich.
»Na, Tante Martha, wollte nur schnell Tschüss sagen, weil wir doch ...« Verwirrt hielt sie inne. Tante Martha hatte einen Regenschirm in der Hand, neben ihr stand ein Köfferchen. Sie trug trotz der Hitze einen rotgrün karierten Wollrock, an dem seitlich ein kleines goldenes Glöckchen baumelte. Aus der Wohnung drang Dudelsackmusik.
Eine dunkle Vorahnung überkam Karen. »... zwei Wochen wegfahren«, beendete sie schließlich ihren Satz.
»Eben.« Tante Martha knickste anmutig und griff nach dem Koffer. »Wir fahren weg, du sagst es.«
»Martha ... ich weiß nicht, da hast du irgendwas falsch verstanden. Bernd und ich und die Kinder fahren.« Karen schluckte. »Nicht, dass wir dich nicht gern mitnehmen wollen, aber so was muss geplant werden, und dein Arzt ...«
»Mein Arzt ist ein Idiot! Der kann sich nicht mal meinen Namen merken. Und wenn du glaubst, dass ihr mich hier einfach alleine lassen könnt, dann hast du dich geschnitten!«
»Aber, Martha, du hast es doch so gemütlich hier.« Karen deutete vage in Richtung Wohnzimmer, das Martha mit selbstgeknüpften Makramee-Deckchen und kitschigen Landschaftsgemälden de koriert hatte. Sie stutzte. Auf dem kleinen Tisch vor dem Sofa lag heute eine karierte Decke, die, wenn sie nicht alles täuschte, aus demselben Stoff hergestellt worden war wie Marthas Rock. Schottenkaros.
»Gemütlich findest du es hier also? Kommst du deshalb nur alle vierzehn Tage vorbei?«
»Aber das stimmt doch gar nicht, ich ...« Karen brach irritiert ab. Auf dem Tisch stand eine Flasche Whisky. Halbvoll!
»Du trinkst Whisky?«
»Selbstverständlich. Aber jetzt lass uns endlich mal losfahren.«
»Wohin?«, fragte Karen verwirrt.
»Nach Schottland natürlich!«
»Aber, Martha, was willst du denn dort?«
»Das könnte ich dich genauso gut fragen! Da ist es schön. Und kühl. Und vielleicht habe ich ja dort etwas zu erledigen.« »Du hast in Schottland etwas zu erledigen?«
»Jawohl. Und es ist wichtig!«
»Wichtig.« Karen schluckte. »Trägst du deshalb einen Schottenrock?«
»Du hast es erfasst.«
»Den tragen doch dort nur Männer, Martha. Das hat dir wahrscheinlich noch nie jemand gesagt. Ich weiß, es ist ein bisschen eigenartig, schließlich heißt es Rock, aber ...«
»Ich bin nicht blöd«, unterbrach Martha sie. »Natürlich weiß ich, dass ein Schottenrock für Männer gedacht ist. Aber ich bin zufälligerweise der Meinung, dass ich anziehen kann, was ich will. Bin ja schließlich alt genug.« Sie lachte schallend.
»Alt genug«, wiederholte Karen fassungslos.
Martha nickte. »Im Übrigen wollte ich dich auch gerade fragen, was du dir da für seltsame Hosen angezogen hast. Die tragen unheimlich auf. Und wirken so kindisch. Ehrlich gesagt, siehst du damit aus wie Pinocchio.«
Karen schluckte erneut. Ein Schauder überkam sie. Bernd hatte recht: Martha war verrückt. Sie war eindeutig senil, und Karen ließ sich wie eine Idiotin von ihr herumkommandieren, weil sie nicht nein sagen konnte. Warum musste Karen immer alles alleine regeln? Zwar konnte sie jederzeit auf der Arbeit mit einem Lächeln einen Kredit verweigern, aber gegen alte Damen wie Martha kam sie nicht an. Wahrscheinlich, weil Karen hoffte, dass sie dadurch auf mysteriöse Weise Pluspunkte sammeln und als Dank dafür in vierzig Jahren genauso nachsichtig behandelt werden würde. In der Wohnung roch es nach Apotheke. Die Dudelsackmusik hatte aufgehört, stattdessen sang jetzt ein Männerchor von den »bonny, bonny banks of Loch Lomond«. Sie konnte Martha doch nicht einfach mitnehmen. Gab es nicht diese jugendlichen Hippies, die herumfuhren und sich um Alte und Kranke kümmerten? Für wen arbeiteten die? Das Rote Kreuz? Die Grauen Panther? Zögernd griff sie nach dem Handy in ihrer Hosentasche. »Martha«, begann sie wieder leutselig. »Es ist doch nur für zwei Wochen.«
»Das kannst du vergessen!«, sagte Tante Martha. Sie reichte ihr gerade mal bis zum Kinn, Karen konnte die rosa Kopfhaut unter den drahtigen weißen Löckchen durchschimmern sehen. Und doch brach ihr der kalte Angstschweiß aus, als Martha fortfuhr. »Du weißt, wen ich in meinem Testament begünstige, nicht wahr? Dafür erwarte ich auch was. Schöne Sommerreisen zum Beispiel. Sonst werde ich da wohl einiges ändern müssen.«
Das war nicht fair! Tante Marthas Testament war der einzige Lichtblick am desolaten Finanzhimmel der Thiemes. Deswegen kam Karen doch dauernd hierher und kümmerte sich um Martha, kaufte ein, fuhr sie zur Fußpflege und so weiter. Na gut, nicht dauernd, aber ziemlich oft. Doch von gemeinsamen Urlauben war bislang nie die Rede gewesen. Und wer sollte eigentlich die Extrakosten bezahlen? Die Ferienkasse war ohnehin schon ziemlich mager, womit sie wieder beim Thema war. Sie konnte es sich nicht mit Tante Martha verscherzen.
Listig sah diese zu Karen hoch, die kleinen Äuglein kalt und berechnend wie die eines Reptils. »Ich bezahle natürlich meinen Anteil«, sagte sie, als ob sie Karens Gedanken lesen könnte.
Entsetzt betrachtete Karen ihre Großtante, und dann, getrieben von Panik und Eile, rutschte es ihr fast ohne ihr Zutun heraus: »Ja, Herrgott noch mal, dann komm halt mit!«
Augenblicklich verwandelte sich Martha wieder in eine harmlose alte Frau.
[...]
Karen sah aus dem Fenster auf die Straße hinunter, wo ihr Mann Bernd gerade den letzten Koffer in den Van wuchtete und sich zufrieden die Hände rieb. Sie schloss das Fenster und ließ ein letztes Mal ihren Blick durch die Wohnung schweifen. Die Blumen waren gegossen, der Wohnungsschlüssel bei der Nachbarin Frau Wachowiak. Alles war leidlich aufgeräumt, damit die Wachowiak nicht in Ohnmacht fiel. Das Zimmer ihres Sohnes Mark zugeschlossen, damit die Wachowiak gar nicht erst hineinkonnte. Der Hamster war bei einer Kindergartenfreundin ihrer Tochter Teresa. Die letzte Milch hatte Karen gerade in den Ausguss gekippt, damit sie bei ihrer Rückkehr aus dem Urlaub kein Geruch nach altem Käse erwartete.
Es konnte losgehen.
Sonnenbrillen, Wasserflaschen, Autoatlas von Deutschland und Großbritannien und das nötige Kleingeld hatte Bernd vorn im Auto. Und natürlich seinen heißgeliebten Reiseführer. Wahrscheinlich suchte er darin schon nach einem lauschigen Plätzchen fürs Abendessen. Sie hatte aufgehört zu zählen, wie oft sie in den letzten Wochen die Worte »Dann gönnen wir uns aber mal ein leckeres englisches Roastbeef« aus seinem Mund gehört hatte.
Karen seufzte und ging in den Flur. Ein letzter Blick in den Spiegel, der ihr eine urlaubsreife Bankangestellte Anfang vierzig zeigte, die kastanienbraun gefärbten Haare nachlässig zum Pferdeschwanz zusammengezwirbelt, dazu ein dunkelblaues T- Shirt und hellgraue Dreiviertelhosen. Im Laden hatten sie noch schmeichelhaft ausgesehen, zu Hause verwandelten sie Karen auf heimtückische Weise in eine Art zweibeinigen Kartoffelsack. Egal. Sie fuhren nicht zur Modenschau, sondern in die schottischen Highlands. Der Urlaub würde ihr guttun. Sie hatte ihn jedenfalls dringend nötig.
»Karen!«, rief Bernd ihr unten auf der Straße entgegen, als sie mit einer Kühlbox aus dem Haus trat. »Leg doch mal die Sonnencreme gleich vorne ins Auto, die Sonne sticht ja jetzt schon.«
Die Hitzewelle hatte vor einer Woche begonnen und war mittlerweile völlig außer Kontrolle geraten. Die Leute lagen wie narkotisiert am Badestrand oder suchten erschöpft Zuflucht unter schattigen Bäumen. Glückspilze wie die Thiemes hingegen durften ins herrlich kühle schottische Hochland fahren. Während sich die Deutschen in Dampf auflösten, würde Familie Thieme an frischer, klarer Luft am Loch Ness stehen und Ausschau nach dem Ungeheuer halten - ja, sich am Abend vielleicht sogar eine Jacke anziehen müssen.
»Mama«, rief Teresa aus dem Autofenster. »Hast du mein Schlafschwein?«
Karen hastete wieder hoch in die Wohnung. Wo war das blöde Schwein? Sie kroch auf Knien durch Teresas Zimmer und fand es unter dem Bett. Sie konnte hören, dass Bernd unten kontrollierte Hupsignale entsandte. Sonst kamen sie nie vom Fleck, behauptete er immer. Er musste ja auch nicht jedes Mal in letzter Minute noch irgendwas finden. Karen hetzte wieder runter, vorbei an der alten Frau Zinsler aus dem Erdgeschoss, die gerade ihre Post holte.
»Wo soll's denn hingehen?«, rief sie neugierig.
»Schottland«, rief Karen zurück und stieg in den Van. Im Rückspiegel erblickte sie Mark, ein verkabeltes Wesen, dem elektronische Geräte wie zusätzliche Körperteile anhafteten. Er hatte etwas aus dem Kofferraum geholt und schleppte sich mit letzter Kraft wieder zum Rücksitz, auf den er sich stumm fallen ließ. Bernd trommelte bereits mit den Fingern aufs Lenkrad.
»Okay«, sagte Karen. »Wir können.« Sie warf im Fahren einen Blick auf ihren Wohnblock, vor dessen Haustüre die Zinsler jetzt stand und ihnen stirnrunzelnd hinterhersah. Wie Bienenwaben, dachte Karen. Die Fenster sind wie Bienenwaben, hinter denen lauter emsige, neugierige Arbeitsbienen lauerten. Irgendwann würden sie hier ausziehen. In ein eigenes Haus. Wenn Bernd sich einen besseren Job gesucht und Karen im Lotto gewonnen hatte, wenn sie nämlich Tante Marthas Erbe ... Nein, so etwas sollte sie nicht denken. Das war pietätlos. Tante Martha lebte schließlich noch und wartete wahrscheinlich gerade in diesem Moment auf sie. »Wir müssen nur noch schnell bei Tante Martha vorbei und uns verabschieden«, sagte Karen.
Von dem bisschen Fahren durch die Stadt war das Auto bereits so bullig warm geworden, dass Karens Schenkel an den Ledersitzen festklebten. Nachdem sie zehn Minuten durch die Hitze gegondelt waren, hielten sie vor Tante Marthas Haus. Mit einem schmatzenden Geräusch befreite Karen sich vom Sitz und stieg aus.
»Lass um Gottes willen die Klimaanlage an«, sagte sie zu Bernd. »Ich beeil mich.«
»Das sagst du jedes Mal. Und dann dauert es doch drei Stunden. Ist bei Frauen immer so, wirst du auch noch merken«, sagte Bernd in Richtung Mark. Der reagierte nicht, sondern wackelte nur rhythmisch mit dem Kopf zu den gedämpften Bässen, die aus seinen Kopfhörern wummerten.
Karen verdrehte die Augen. »Ja, ja.« Warum musste Bernd ständig alle so antreiben? Sie waren doch hier nicht auf seiner Baustelle, wo er irgendwelchen Maurern Beine machen musste.
»Nichts ja, ja. Sie ist verrückt und berechnend, und du lässt dich immer wieder von ihr einwickeln.«
»Was soll ich denn machen? Sie ist die Schwester meiner Oma und meine einzige lebende Verwandte, von meiner abwesenden Mutter mal abgesehen!«
»Ach so? Ich wusste gar nicht, dass hier im Auto drei Leichen mit dir rumfahren.«
»Also, Bernd, nun lass das doch, ich ...«
»Sind wir schon da?«, unterbrach sie Teresa.
»Nein, mein Schatz. Mama sagt nur schnell Tante Martha Tschüss. Bin gleich wieder zurück«, erwiderte Karen und betrat das dunkle Mietshaus. Drinnen roch es zwar nach altem Kohl, es war aber angenehm kühl. Einen Moment lang erwog sie, sich kurz auf die unterste Treppenstufe zu legen und ihr Gesicht auf die kalte Steintreppe zu pressen, doch dann siegte die Vernunft, und sie ging in den zweiten Stock hinauf. Sie klingelte und setzte eine feierliche, herzliche Miene auf. Die Tür öffnete sich.
»Na, Tante Martha, wollte nur schnell Tschüss sagen, weil wir doch ...« Verwirrt hielt sie inne. Tante Martha hatte einen Regenschirm in der Hand, neben ihr stand ein Köfferchen. Sie trug trotz der Hitze einen rotgrün karierten Wollrock, an dem seitlich ein kleines goldenes Glöckchen baumelte. Aus der Wohnung drang Dudelsackmusik.
Eine dunkle Vorahnung überkam Karen. »... zwei Wochen wegfahren«, beendete sie schließlich ihren Satz.
»Eben.« Tante Martha knickste anmutig und griff nach dem Koffer. »Wir fahren weg, du sagst es.«
»Martha ... ich weiß nicht, da hast du irgendwas falsch verstanden. Bernd und ich und die Kinder fahren.« Karen schluckte. »Nicht, dass wir dich nicht gern mitnehmen wollen, aber so was muss geplant werden, und dein Arzt ...«
»Mein Arzt ist ein Idiot! Der kann sich nicht mal meinen Namen merken. Und wenn du glaubst, dass ihr mich hier einfach alleine lassen könnt, dann hast du dich geschnitten!«
»Aber, Martha, du hast es doch so gemütlich hier.« Karen deutete vage in Richtung Wohnzimmer, das Martha mit selbstgeknüpften Makramee-Deckchen und kitschigen Landschaftsgemälden de koriert hatte. Sie stutzte. Auf dem kleinen Tisch vor dem Sofa lag heute eine karierte Decke, die, wenn sie nicht alles täuschte, aus demselben Stoff hergestellt worden war wie Marthas Rock. Schottenkaros.
»Gemütlich findest du es hier also? Kommst du deshalb nur alle vierzehn Tage vorbei?«
»Aber das stimmt doch gar nicht, ich ...« Karen brach irritiert ab. Auf dem Tisch stand eine Flasche Whisky. Halbvoll!
»Du trinkst Whisky?«
»Selbstverständlich. Aber jetzt lass uns endlich mal losfahren.«
»Wohin?«, fragte Karen verwirrt.
»Nach Schottland natürlich!«
»Aber, Martha, was willst du denn dort?«
»Das könnte ich dich genauso gut fragen! Da ist es schön. Und kühl. Und vielleicht habe ich ja dort etwas zu erledigen.« »Du hast in Schottland etwas zu erledigen?«
»Jawohl. Und es ist wichtig!«
»Wichtig.« Karen schluckte. »Trägst du deshalb einen Schottenrock?«
»Du hast es erfasst.«
»Den tragen doch dort nur Männer, Martha. Das hat dir wahrscheinlich noch nie jemand gesagt. Ich weiß, es ist ein bisschen eigenartig, schließlich heißt es Rock, aber ...«
»Ich bin nicht blöd«, unterbrach Martha sie. »Natürlich weiß ich, dass ein Schottenrock für Männer gedacht ist. Aber ich bin zufälligerweise der Meinung, dass ich anziehen kann, was ich will. Bin ja schließlich alt genug.« Sie lachte schallend.
»Alt genug«, wiederholte Karen fassungslos.
Martha nickte. »Im Übrigen wollte ich dich auch gerade fragen, was du dir da für seltsame Hosen angezogen hast. Die tragen unheimlich auf. Und wirken so kindisch. Ehrlich gesagt, siehst du damit aus wie Pinocchio.«
Karen schluckte erneut. Ein Schauder überkam sie. Bernd hatte recht: Martha war verrückt. Sie war eindeutig senil, und Karen ließ sich wie eine Idiotin von ihr herumkommandieren, weil sie nicht nein sagen konnte. Warum musste Karen immer alles alleine regeln? Zwar konnte sie jederzeit auf der Arbeit mit einem Lächeln einen Kredit verweigern, aber gegen alte Damen wie Martha kam sie nicht an. Wahrscheinlich, weil Karen hoffte, dass sie dadurch auf mysteriöse Weise Pluspunkte sammeln und als Dank dafür in vierzig Jahren genauso nachsichtig behandelt werden würde. In der Wohnung roch es nach Apotheke. Die Dudelsackmusik hatte aufgehört, stattdessen sang jetzt ein Männerchor von den »bonny, bonny banks of Loch Lomond«. Sie konnte Martha doch nicht einfach mitnehmen. Gab es nicht diese jugendlichen Hippies, die herumfuhren und sich um Alte und Kranke kümmerten? Für wen arbeiteten die? Das Rote Kreuz? Die Grauen Panther? Zögernd griff sie nach dem Handy in ihrer Hosentasche. »Martha«, begann sie wieder leutselig. »Es ist doch nur für zwei Wochen.«
»Das kannst du vergessen!«, sagte Tante Martha. Sie reichte ihr gerade mal bis zum Kinn, Karen konnte die rosa Kopfhaut unter den drahtigen weißen Löckchen durchschimmern sehen. Und doch brach ihr der kalte Angstschweiß aus, als Martha fortfuhr. »Du weißt, wen ich in meinem Testament begünstige, nicht wahr? Dafür erwarte ich auch was. Schöne Sommerreisen zum Beispiel. Sonst werde ich da wohl einiges ändern müssen.«
Das war nicht fair! Tante Marthas Testament war der einzige Lichtblick am desolaten Finanzhimmel der Thiemes. Deswegen kam Karen doch dauernd hierher und kümmerte sich um Martha, kaufte ein, fuhr sie zur Fußpflege und so weiter. Na gut, nicht dauernd, aber ziemlich oft. Doch von gemeinsamen Urlauben war bislang nie die Rede gewesen. Und wer sollte eigentlich die Extrakosten bezahlen? Die Ferienkasse war ohnehin schon ziemlich mager, womit sie wieder beim Thema war. Sie konnte es sich nicht mit Tante Martha verscherzen.
Listig sah diese zu Karen hoch, die kleinen Äuglein kalt und berechnend wie die eines Reptils. »Ich bezahle natürlich meinen Anteil«, sagte sie, als ob sie Karens Gedanken lesen könnte.
Entsetzt betrachtete Karen ihre Großtante, und dann, getrieben von Panik und Eile, rutschte es ihr fast ohne ihr Zutun heraus: »Ja, Herrgott noch mal, dann komm halt mit!«
Augenblicklich verwandelte sich Martha wieder in eine harmlose alte Frau.
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Autoren-Porträt von Ulrike Herwig
Herwig, UlrikeUlrike Herwig arbeitete zehn Jahre in London als Deutschlehrerin. Seit 2001 lebt sie mit ihrem Mann und zwei Töchtern in Seattle, USA. Um sich nicht den ganzen Tag über die verrückten amerikanischen Moms wundern zu müssen, zieht sich Ulrike Herwig so oft es geht an ihren Schreibtisch zurück. Außerdem regnet es ganz schön oft in Seattle, und da will man sowieso nicht vor die Tür. Ideal für eine Autorin!
Bibliographische Angaben
- Autor: Ulrike Herwig
- 2012, 304 Seiten, Maße: 12 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548284582
- ISBN-13: 9783548284583
- Erscheinungsdatum: 13.07.2012
Kommentare zu "Tante Martha im Gepäck"
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