Tante Poldi und die Früchte des Herrn / Tante Poldi Bd.2
Tante Poldi ist sauer: Als wenn es nicht schlimm genug wäre, dass ihr das Wasser abgestelllt wurde, wird auch noch der Hund ihrer Freundin ums Eck gebracht....
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Tante Poldi ist sauer: Als wenn es nicht schlimm genug wäre, dass ihr das Wasser abgestelllt wurde, wird auch noch der Hund ihrer Freundin ums Eck gebracht. Kreizsacklzement! Erste Ermittlungen führen sie zum Winzer Avola. Und der ist auch noch so unverschämt attraktiv, dass die Poldi promt nach einer heißen Nacht zusammen ihre ganz auf ihre Nachforschungen vergisst.
Bis am nächsten Morgen die Polizei an Avolas Tür klingelt und den Fund einer Leiche zwischen seinen Reben kundtut. Und der gute Commissario Montana ist alles andere als begeistert, als er erfährt, dass ausgerechnet Poldi dem zwielichtigen Herren Avola ein Alibi geben kann. Offen bleibt dabei außerdem die Frage: Wer hat denn nun Giuliana wirklich getötet - und aus was für einem Grund?
Nach dem Vorgängerroman „Tante Poldi und die sizilianischen Löwen" ist Mario Giordano auch mit diesem Buch wieder ein hochvergnüglicher Krimi mit spannenden Wendungen und amüsanten Protagonisten gelungen, die ein ums andere Mal überraschen, unterhalten und gleichzeitig einen Mörder dingfest machen.
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Bis am nächsten Morgen die Polizei vor Avolas Tür steht. Denn zwischen seinen Reben wurde eine Leiche gefunden, und Commissario Montana ist alles andere als erfreut, dass ausgerechnet Poldi Avola ein Alibi geben kann. Außerdem bleibt die Frage: Wer hat Giuliana getötet - und warum?
1. Kapitel
Erzählt vom Wasser, Tölen, Schatten und Deliziosi und von
den Sorgen der Familie um Poldis inneres Gleichgewicht. Die
Poldi ist der Star von Torre Archirafi und hat Blut
geleckt. Da ist der Konflikt mit Montana praktisch
vorprogrammiert. Aber wenn der Ruf der Gene einmal
erschallt ist, ist die Poldi auch nicht durch Hitze,
Ascheregen oder schwäbische Studienreisende zu stoppen.
Irgendjemand hatte der gesamten Via Baronessa das Wasser
abgedreht, und irgendjemand hatte Lady vergiftet. Durst und
Mord - sprich: alles, was meine Tante Poldi hasste und ihr
inneres Gleichgewicht mehr erschütterte als der Anblick
eines stattlichen, tadellos uniformierten Vigile.
Lady war eine von Valéries freundlichen Tölen gewesen.
Eine kurzbeinige Promenadenmischung, eine struppige
Kläfferin mit Unterbiss, die mit ihrem Zwillingsbruder
Oscar auf Femminamorta die Ratten verjagt und die Gäste
begrüßt hatte. Jeder, einfach jeder, der sie kannte, hatte
„Läddi" geliebt, denn sie hatte ihr kleines Herz freigiebig
und großzügig an alle verschenkt. Bei jedem Besuch war sie
schier verrückt geworden vor Kennenlern- oder
Wiedersehensfreude und hatte selbst Valéries
misanthropische französische Verwandte im
Schwanzwedelstreich geknackt. Den ganzen Tag über hatte man
Valéries Arbeiter in der Palmenplantage: „Läddi! Läddi!"
rufen hören und kurz darauf Läddis heisere, begeisterte
Antwort. Bis man ihren kleinen struppigen Körper dann eines
Morgens steif und schmutzig im Hof fand. Ein Giftköder, wie
der Tierarzt diagnostizierte.
Ganz klar also, dass meine Tante Poldi, stur und
bayerisch, das Gleichgewicht wiederherstellen musste. Die
Dinge ins Lot ruckeln. Das Wasser wieder zum Fließen
bringen. Ladys Mörder finden. Gerechtigkeit schaffen.
Zumal meine Tante Poldi, darf man nicht vergessen,
ohnehin auf einem schmalen Grat zwischen Lebenslust und
Schwermut balancierte. Da wollte sie wenigstens um sich
herum Ordnung schaffen, denn Ordnung zu schaffen half der
Poldi immer ein wenig über die Schwermutsattacken hinweg.
Meine Tante Poldi war die Frau meines verstorbenen Onkels
Peppe gewesen, der im Gegensatz zu seinen Eltern und seinen
Schwestern Teresa, Caterina und Luisa in den
Siebzigerjahren nicht nach Sizilien zurückgegangen, sondern
wie mein Vater in München geblieben war. Mein Onkel Peppe
war Münchner durch und durch gewesen, kann man sagen. Ich
erinnere mich an ihn eigentlich nur mit einer Maß Bier in
der einen und einer Roth-Händle in der anderen Hand. Er hat
nur Bairisch und Sizilianisch gesprochen, ein richtiges
Italienisch oder Deutsch hat er nie hingekriegt. Mein Onkel
Peppe war immer das schwarze Schaf der Familie gewesen, der
coole Wilde mit den unzähligen Affären, den zweifelhaften
Spezis, den wilden Partys, den Abstürzen, dem Job beim
Film, den spektakulären Autounfällen, den Pleiten und
spinnerten Geschäftsideen. Sprich, mein Lieblingsonkel.
Erst die Heirat mit einer gewissen Isolde Oberreiter,
genannt Poldi, hat ihn später etwas stabilisiert. Sie waren
ein glamouröses Paar, der Peppe und die Poldi, dünn wie
Rockstars, Kettenraucher, Trinker, großzügig und freigiebig
und nach Aussage meiner Mutter die einfühlsamsten Freunde,
die man sich vorstellen konnte. Das ist alles lange her.
Irgendwann, erinnere ich mich, sprachen meine Eltern
darüber, dass Peppe und Poldi sich scheiden lassen würden,
und sie wirkten nicht sonderlich überrascht. Ein Jahr
darauf heiratete mein Onkel Peppe neu, und dann starb er,
und wir verloren den Kontakt zur Poldi. Von Tante Teresa
hörten wir einige Jahre später, dass die Poldi ein Haus in
Tansania gekauft habe, aber viel mehr wusste niemand.
Und dann war die Poldi plötzlich wieder zurück in
München, erbte das Häuschen ihrer Eltern, verkaufte alles,
brach sämtliche Brücken ab und zog an ihrem sechzigsten
Geburtstag nach Sizilien, ins beschauliche Torre Archirafi
an der Ostküste zwischen Catania und Taormina, um sich dort
gepflegt zu Tode zu saufen und dabei aufs Meer zu schauen.
Soweit der Plan. Warum und wieso jetzt genau, wusste
keiner. Nur, dass man etwas dagegen tun musste, und das
„man" schloss auch mich mit ein, da ich in den Augen meiner
Tanten ohnehin praktisch arbeitslos war. Seitdem flog ich
einmal im Monat für eine Woche nach Sizilien, um in Poldis
Gästezimmer in der Via Baronessa 29 an meinem Familienroman
zu arbeiten und nebenbei die Alkoholvorräte zu entsorgen.
Der Mord an Valentino, die Begegnung mit Vito Montana,
ihre Freundschaft mit Valérie und der traurigen Signora
Cocuzza, die Bemühungen meiner Tanten und nicht zuletzt der
Jagdinstinkt hatten der Poldi zwar einstweilen einen Strich
durch die Rechnung mit dem Tod gemacht, aber man weiß ja,
wie so was geht. Für den Augenblick ist Ruhe, alle atmen
auf, der Drops scheint gelutscht, die Sonne bricht durch
die Wolken, der Blick richtet sich erneut in die Ferne, die
Zigarette schmeckt auf einmal wieder, die Luft summt nur so
vor Leben, die ganze Welt ist ein heimeliger Ort, der dir
aus allen Ecken nur so Versprechen und Verheißung zuraunt.
Einfach herrlich, wer kennt das nicht. Doch dann - wie aus
dem Nichts, zack!, keiner hat's kommen sehen - dreht der
Wind, und das Schicksal schüttet einen Kübel Unrat über dir
aus und kichert sich eins dabei. Und du denkst nur: „Boah,
jetzt brauch ich erst mal einen Drink." Und der ganze Mist
geht wieder von vorne los.
Kein Wunder also, dass meine Tanten ein wenig alarmiert
reagierten, als die Poldi nach zwei Wochen immer noch kein
fließendes Wasser hatte und dann auch noch Lady vergiftet
wurde. Keine Frage, der Wind hatte gedreht, das Eis wurde
wieder dünner.
„Du musst kommen!", sagte mir meine Patentante Luisa am
Telefon. „Sofort."
„Geht nicht", versuchte ich, mich heraus zu winden. „Ich
arbeite gerade an einem super dringenden Pitch fürs
Fernsehen. Vorabendserie. Krimi light. Zwar nicht ganz mein
Genre, aber könnte eventuell eine große Sache werden,
verstehst du?"
„Ich reich dich mal rüber." Die Patentante seufzte und
gab den Hörer ihrer Schwester Teresa, die bei uns in der
Familie der Boss ist.
Klar, was das bedeutete: Ende der Diskussion, nämlich.
Durch die Leitung hörte ich Luisa etwas auf Italienisch
flüstern und dann die weiche, immer noch jugendliche Stimme
meiner Tante Teresa.
„Wie geht es dir, tesoro? Kommst du mit deinem Roman
voran?"
Ich hatte es geahnt.
„Geht so", druckste ich herum. „Fühlt sich eigentlich
alles ganz gut an. Erstes Kapitel so gut wie fertig. Mir
fehlt nur gerade ein bisschen ..."
„Weil du dich verzettelst", erklärte mir Tante Teresa
sanft. „Was du brauchst, ist Konzentration aufs
Wesentliche."
Wo sie recht hatte ...
„Und nebenbei könntest du ein Auge auf die Poldi haben."
Ich schwieg und Tante Teresa wechselte ins Italienische,
was immer ein Zeichen dafür ist, dass der Luftdruck fällt.
„Sie mag dich."
„Was?"
„Irgendwie. Wir sprechen jedenfalls oft über dich."
„Äh, was denn?", fragte ich misstrauisch.
Tante Teresa ging nicht darauf ein. „Diese Fernsehsache -
liegt dir die am Herzen?"
Treffer, versenkt.
Am nächsten Mittag landete ich in Catania, wurde von
Tante Teresa mit spaghetti al nero di seppie bekocht,
beantwortete brav alle Fragen nach dem Befinden der Familie
in Deutschland und saß abends bereits wieder bei meiner
Tante Poldi in Torre Archirafi auf dem Sofa. Und das
Seltsamste daran war: Ich fühlte mich wie nach Hause
zurückgekehrt und meinem verkorksten Familienroman so nah
wie lange nicht mehr.
„Du hast ein Bäuchlein bekommen", stellte die Poldi fest,
als sie mir die Tür öffnete.
„Hab ich nicht! Aber danke, ich freu mich auch, wieder
hier zu sein."
Sie ließ mich eintreten und ging zurück ins Haus. „I sag
ja nur. Ein kleines Bäuchlein, des steht jedem Mann.
Kompakt muss es halt sein. In der Kunst und der Erotik ist
alles nur eine Frage der Proportion, merk dir des für
deinen Roman."
Ich ignorierte den Kommentar und sah mich um. Eines
beruhigte mich: Das Projekt Totsaufen mit Meerblick schien
vorerst immer noch on the rocks zu liegen. Ich entdeckte
nirgendwo Nester mit leeren Schnapsflaschen, das Haus
wirkte frisch geputzt und aufgeräumt, die Kübelpflanzen auf
der Terrasse ausreichend gewässert, der Kühlschrank voller
Gemüse. Kein Anzeichen von Verwahrlosung. Aber wie gesagt,
schmaler Grat, ein somnambuler Tanz auf dem Vulkan. Nicht
mal die Tanten erwarteten ernsthaft, dass die Poldi von
einem auf den anderen Tag stocknüchtern bleiben würde, aber
tatsächlich trank die Poldi nicht mehr als eine Flasche
Prosecco am Tag, das halbe Weizen zum pranzo und der kleine
corretto am Nachmittag mal nicht mitgerechnet. Die Poldi
wirkte frisch und wie neu erblüht. Aufgetufft und duftend,
im wallenden Seidenkaftan mit tüchtig Ausschnitt, die
Perücke kunstvoll toupiert, flanierte sie täglich zur
passeggiata den lungomare auf und ab. Montags ging sie zum
Strand, dienstags begleitete sie Onkel Martino zum
Fischmarkt in Catania, mittwochs Tante Luisa in den Lido
dei Ciclopi. Donnerstags Tee mit Valérie, freitags legte
die Poldi Commissario Montana flach, samstags dann Rommé
mit Signora Cocuzza und Padre Paolo, sonntags ging sie
manchmal mit Teresa und Martino in die Pilze und genoss im
Übrigen ihre neue lokale Prominenz, nachdem sie den
Candela-Fall auf so spektakuläre Weise aufgeklärt hatte.
Was sage ich, lokal! Sogar der Augsburger Heimatkurier
hatte sie dazu interviewt.
Mit einem Wort: Meine Tante Poldi hatte einen Flow. Sie
war der Star von Torre Archirafi. Sie wurde allenthalben um
Selfies gebeten. Sie erhielt Hochzeitseinladungen. Sie ging
sogar regelmäßig sonntags zur Messe bei Padre Paolo, weil
das mehr oder weniger ihrer neuen sozialen Stellung in
Torre Archirafi entsprach. Sie hatte sich eine Vespa
zugelegt. Und zwar nicht irgendeine, sondern ein
restauriertes 125er PX-Modell, von meinem Cousin Marco, der
ein Händchen für so was hat, bemalt wie ein caretto
siciliano. Das traditionelle Design sizilianischer
Eselskarren also, gegen das selbst indische Tuk-Tuks
langweilig abstinken. Mit knallbunten Ornamenten, viel
Schnickschnack und kleinen Moritatenbildern von Ritter
Rinaldo und der schönen Angelica, und in diesem speziellen
Fall auch kunstvollen Airbrush-Episoden der Poldi im
Candela-Fall.
„Weiß schon", sagte ich ein bisschen neidisch, als sie
mir die Vespa präsentierte. „Dezenz ist Schwäche."
„Mei, nicht, dass du denkst, i wär jetzt vollkommen
überg'schnappt. I hab's halt gern bunt. Mit Eitelkeit hat
des fei gar nix zu tun. Des ist einfach ein Bekenntnis zu
unseren Traditionen."
„Unseren."
„Sizilianer sein, des ist keine Frage der Gene, sondern
des Herzens, merk dir des. Und von Herzensfragen versteh i
was. I hab des immer g'wusst, dass i in einem früheren
Leben eine Sizilianerin war. Massai und Sizilianerin,
weißt. I spür des einfach. Des hat mir damals in Los
Angeles auch die Käschrin g'sagt."
„Äh, welche Käschrin jetzt?"
„Na, die Käschrin Hepburn, natürlich. Die hatte die Gabe,
des weiß fast keiner. Tolle Frau. Überg'schnappt, aber
herzensgut. Du, vielleicht geh i demnächst einmal zu einer
Wahrsagerin und mach eine Rückführung, was meinst?"
Meine Tante Poldi war kein Mensch, der die Dinge gerne
auf die lange Bank schob. Oder eben Durst und unaufgeklärte
Mordfälle gut ertragen konnte.
Und damit fingen die Schwierigkeiten immer an.
Der Oktober ist ja einer der schönsten Monate in
Sizilien. Wenn der Sommer seine Faust wieder öffnet und ein
wenig Wind ins Haus und dich wieder zu Atem kommen lässt.
Wenn das Licht so weich wird wie der limoncello meiner
Tante Caterina und du jetzt abends wieder einen Pullover
mitnimmst, nur für alle Fälle. Wenn die Bretterbuden und
Holzplattformen am lungomare von Torre Archirafi verpufft
sind wie der wirbelnde Spuk aus Kindergeschrei, Lachen,
Geflirte, kleinen Dramen und heimlichen Blicken auf
sonnengebräunte Haut. Wenn du immer noch neidische
Textnachrichten aus Deutschland bekommst, wegen des
Wetters. Wenn die Kellner in den Bars wieder gesprächig
werden und oben am Ätna der allererste Schnee fällt. Wenn
etwas weiter unten zwischen Trecastagni und Zafferana die
Weinernte anläuft und wenn dich nun morgens die bange Frage
in die Bar weht, ob es noch granita di gelsi gibt,
Maulbeersorbet. Also, ich mag den Oktober. Aber dieser
Oktober war anders. Nämlich immer noch knallheiß, eine
Blase aus geschmolzenem Glas, die trotzig auf das ganze
Land drückte, entschlossen, auch noch das letzte Fitzelchen
Grün zu verdörren. Von Nordafrika fauchte ein Schirokko die
halbe Sahara übers Meer, um Autolacke und Kehlen stumpf zu
schmirgeln, und überall im Land loderten Migränen und
Buschbrände. Verschärfend hinzu kam die ungebrochene
Aktivität des Ätna. Seit Wochen stand eine über tausend
Meter hohe Rauchsäule über dem Hauptkrater, und jede Nacht
konnte man spektakuläre Eruptionen und Lavaströme
bewundern. Der Mongibello, der Berg der Berge, ächzte und
schnaufte im Minutentakt. Jeden Tag. Jede Nacht. Ein
uralter, dumpfer Gruß aus den Eingeweiden der Erde, der an
den Nerven rüttelte und jedem durch und durch ging. Wenn
der Schirokko eine Pause einlegte, übernahm der Ätna, ließ
Bimssteinbröckchen und Vulkanasche über Torre Archirafi
schneien, die sich zentimeterhoch in die Straßen und auf
die Dachterrassen legten, bis man ihnen nur noch mit dem
Schneeschieber Herr wurde. Sizilien machte es meiner Tante
Poldi mal wieder nicht leicht. Hinzu kam, dass eine alte
Krone links oben sie in letzter Zeit mit einem hartnäckigen
Pulsieren an den längst überfälligen Zahnarztbesuch
erinnerte. Ein lästiges Zipperlein, nicht mehr. Aber seit
die Poldi sich suffmäßig wieder besser im Griff hatte, ließ
sich dieses Zipperlein leider nicht mehr mal eben in
einigen strammen Martinis auflösen, sondern nur noch durch
stures Ignorieren und einer halben Ibuprofen. Für einen
sizilianischen Zahnarzt war die Poldi bei aller Liebe noch
nicht bereit.
Und als wäre das alles nicht genug, versiegten in der
gesamten Via Baronessa dann eines Morgens mit einem
trockenen Husten sämtliche Wasserhähne. Normalerweise kein
Grund zur Panik. Mal liegt es an den alten Leitungen, mal
einfach an der Dürre. Meist dauert so ein Wasserausfall
nicht mehr als ein, maximal zwei Tage, und zur Überbrückung
hast du schließlich die blaue Plastikzisterne auf dem Dach.
Blöd nur, wenn der Wasserausfall länger anhält. Vielleicht
gar eine Woche. Oder zwei. Oder, wie in diesem Fall,
bereits drei. Noch blöder, wenn die Ursache nicht gefunden
werden kann und wenn es auch nur eine bestimmte Straße
betrifft. Nämlich deine. Damit ist für einen Sizilianer der
Fall meist klar: Die Cosa Nostra setzt gerade einen deiner
Nachbarn unter Druck.
Die Gründe dafür können vielfältig sein. Vielleicht soll
der Nachbar zum Abschluss eines für ihn eher
unvorteilhaften Dienstleistungsvertrages motiviert werden.
Vielleicht ist er bei einem bereits bestehenden Vertrag mit
den Zahlungen in Verzug geraten und der Wasserausfall ist
Stufe Eins des zweistufigen Mahnverfahrens. Erste Stufe:
Die kaum verhüllte Warnung. Zweite Stufe: Gewalt gegen dich
und deine Familie. Vielleicht will man deinem Nachbarn auch
einfach nur eine Nachricht schicken, um ihm nahe zu legen,
in einem laufenden Verfahren besser die Klappe zu halten.
Man weiß es nicht genau, aber die ganze Straße leidet in
jedem Fall mit. Soll sie auch, denn das erhöht den Druck.
Wasserentzug ist seit jeher eines der wirkungsvollsten
Druckmittel der Cosa Nostra. Damit demonstriert sie, dass
sie alles Leben vollkommen in ihrer Gewalt hat. Wer über
das Wasser herrscht, herrscht über Sizilien.
Seit drei Wochen musste sich die Poldi ihr Wasser wie
alle in der Via Baronessa in Kanistern von der öffentlichen
Zapfstelle der alten Mineralwasserfabrik holen. Keine
wirklich befriedigende Option, denn vor den vier
Wasserhähnen bildeten sich den ganzen Tag über Schlangen.
War die Poldi endlich dran, dauerte es ewig, bis sie ihren
Kanister gefüllt hatte, und dann musste sie das Trumm auch
noch nach Hause schleppen. Beziehungsweise auf die Vespa
wuchten. Ein Kanister reichte so gerade für eine Person am
Tag. Duschen, Toilettengang, Waschen, Kochen - alles wurde
kompliziert. Der gesamte Tagesablauf drehte sich auf einmal
nur noch ums Wasser, der Wasserstand des Kanisters wurde
zum Maß der inneren Ausgeglichenheit, und „Voll" war nur
noch ein flüchtiger Moment, ein Pünktchen auf dem
Zeitstrahl.
„Einen Durst hab i, des kannst du dir nicht vorstellen",
schnaufte die Poldi und tupfte sich die Stirn.
Den Gefallen, kurz die Perücke abzunehmen, tat sie mir
allerdings nicht.
„Jetzt sagst natürlich gleich, des ist bloß
psychologisch, und gell, des weiß i fei selbst. Hilft aber
nix, verstehst, einen Mordsdurst hab i trotzdem. Magst
vielleicht noch ein Bier?"
„Nein danke", log ich. „Und wer ist es, deiner Meinung
nach?"
„Wer ist was?"
„Der Nachbar, den die Mafia unter Druck setzen will."
Die Poldi starrte mich fassungslos an. „Gell, was soll
jetzt diese bescheuerte Frage? I bin des natürlich, was
denkst denn du? Des ist doch sonnenklar, dass i da jetzt
ins Fadenkreuz der Mafia g'raten bin, nachdem i den Mord an
Valentino aufgeklärt hab."
„Ich dachte, die Mafia hätte nichts mit Valentinos Tod zu
tun gehabt."
„Nicht direkt halt. Aber indirekt steckt natürlich der
Russo dahinter. Und der ist, des sag i dir", raunte sie,
„ein Capomafioso, Boss der Bosse."
„Was du inzwischen beweisen kannst."
Die Poldi sah mich mitleidig an. „Mei, i steh da freilich
noch ganz am Anfang der Ermittlungen. Aber für Mafiosi,
erzkapitalistische Blutsauger und Hundemörder hab i einen
Instinkt, davon versteh i was."
Die Poldi war nicht davon abzubringen, dass Ladys Tod und
die Sabotage an der Wasserleitung nur den einen Zweck
verfolgten: sie einzuschüchtern.
„Der Valérie hat's fast des Herz gebrochen. Und der arme
kleine Oscar ist total down. Jault den ganzen Tag vor
Sehnsucht."
„Aber warum wurde nur Lady vergiftet und nicht auch
Oscar?", fragte ich.
„Pfeilgrad des hab i mich auch g'fragt. Weil, die waren
ja praktisch unzertrennlich, die beiden. Ständig haben's um
jedes Leckerli g'rauft. Also ist die einzig schlüssige
Antwort welche?"
„Äh ..."
„Dass die Lady gezielt ermordet wurde, natürlich. Und
warum hat er die Lady herg'nommen und nicht den Oscar? Weil
sie weiblich war, natürlich. Weil des eine Botschaft an
mich sein sollte, verstehst?"
„Ist das nicht ein bisschen weit herge..."
Unwirsche Handbewegung. „Und wenn i den Scheißkerl nicht
bald erwisch, nachert ist auch der arme Oscar seines Lebens
nicht mehr sicher, des sag i dir. Jedenfalls hab i bereits
erste Ermittlungen aufg'nommen."
Und da schwante mir endlich was. „Der Jagdinstinkt, was?"
„Mei, so langsam verstehen wir uns. So langsam kommst an.
Benvenuto in Sicilia."
Klare Sache, die Poldi hatte Blut geleckt, hatte den Ruf
des Schicksals und ihrer Oberreiterschen Gene vernommen und
war bereit, den ihr vorstimmten Weg der Kriminalistik und
der Gerechtigkeit zu gehen. Ärgerlich nur, dass es keinen
neuen Mordfall in der Nachbarschaft gab. Was in Verbindung
mit dem Wassermangel und der Hitze zu heftigem Durst,
Zahnweh, schlimmen Schwermutsattacken und zu einer Art
kriminalistischem Cold Turkey führte, einem besonderen
Entzugssymptom, unter dem, meiner Tante Poldi zufolge, vor
allem pensionierte und suspendierte Kriminalbeamte leiden.
Man stelle sich ein Superhirn in voller Fahrt vor, und
irgendwer tritt plötzlich voll auf die Bremse. Kann echt
nicht gut sein.
„I mein, so ein Hochleistungssportler, der kann ja auch
nicht so von einem auf den anderen Tag aufhören zu
trainieren. Des macht des Herz gar nicht mit. Und dann,
zack, Exitus. Siehst, und genau so geht's dem Gehirn eines
Ermittlers, wenn es nix zum Ermitteln hat. Wie einem Hund,
der nix zum Jagen und Totschütteln hat. Der nimmt dann halt
irgendwann deinen Pullover her. Oder einen Kinderarm im
schlimmsten Fall. Und was bleibt mir?"
Wie sich herausstellte, hatte die Poldi daher, quasi als
Gesundheitsvorsorge, die vergangenen Wochen seit meinem
letzten Besuch damit zugebracht, Russo eine Verbindung zur
Mafia nachzuweisen. Vergeblich bislang, aber auch kein
Wunder, da ihr einziger Anhaltspunkt das Foto einer
topografischen Karte war, über die Russo mit Patanè
diskutiert hatte. Die Poldi hatte das betreffende Gelände
zwar immer noch nicht gefunden, dennoch war sie überzeugt,
dass Russo bereits kalte Füße bekommen hatte und ihr durch
das Abdrehen des Wasserhahns und den Mord an Läddi
unmissverständlich bedeutete, die Ermittlungen unverzüglich
einzustellen. Andernfalls, so die Logik meiner Tante: morto
sicuro.
„Aber gell, da hat er sich fei g'schnitten, der feine
Herr. Seh i etwa so aus, als ob i mir in die Hosen scheiß,
wenn so ein herg'laufener G'schwollschädel mir droht? I hab
dem Tod schon ins Auge geblickt, des sag i dir. I weiß fei
schon, dass i kurz vorm Verfallsdatum bin. Aber so lange,
Burschi, lass ich's fei noch krachen, verstehst.
Amoremäßig, kriminalistisch und überhaupt. Und wenn's dann
so weit ist, nachert weiß i auch, wie man eine Bühne
verlässt. Unter Applaus, nämlich."
Denn von Amore, Kriminalistik und Tod verstand meine
Tante Poldi was. Daher ging sie ihre Ermittlungen im Fall
Läddi auch total professionell an. Heißt: Jeder war
verdächtig.
Und so rauschte die Poldi nun in ihrem dunkelblauen
Hosenanzug, der hie und da schon etwas zwackte, in
Femminamorta ein, wie so eine reinigende Riesenwelle, die
an einem verschmutzten, verkommenen Gestade bricht. Stelle
ich mir vor.
„War das nicht ... ein wenig zu warm in dem Hosenanzug?",
fragte ich dazwischen. „Ich meine, bei der Mörderhitze?!"
„Schmarrn! Des musste so. Weil, merke: Ein blauer
Hosenanzug ist der ideale No-fun-Look für jede Frau bei
Vertragsabschlüssen, Verhaftungen oder Dates mit
Volltrotteln aller Art. In den amerikanischen Serien tragen
des immer die grantigen Latina-Detectives mit dem strengen
Pferdeschwanz, schon mal g'sehen? I weiß, nicht dein Typ,
eh klar. Denn diese Latina-Detectives, gell, die sind total
humorlos. Ein blöder Spruch - und zack, liegst am Boden,
ein spitzes Knie im Kreuz, und die Handschellen klicken."
„Und du mit der Perücke. No fun, schon klar."
Die Poldi seufzte und schüttelte tadelnd den Kopf.
„Und was hat Valérie dazu gesagt?", fragte ich, um sie
wieder ins Gleis zu ruckeln.
„Mei, was schon!"
„Mon dieu!" Valérie schlug die Hand vor den Mund, als die
Poldi sich schwitzend und schnaufend auf einen der
Plastikstühle im Garten fallen ließ, dass die Nähte des
alten Hosenanzugs nur so ächzten. „Du meinst, jeder ist
verdächtig? Ich auch?"
„Du natürlich nicht, Valérie!" Die Poldi seufzte und
klappte schwungvoll ihren Notizblock auf, den Onkel Martino
ihr kürzlich geschenkt hatte.
So einen, wie die FBI-Typen im Fernsehen ihn immer
dabeihaben, obwohl dem Onkel schon klar war, dass Matula
aus seiner Lieblingsserie Un caso per due natürlich niemals
einen Notizblock brauchte, um sich irgendwas zu merken.
Aber Matula war eben auch ein detektivisches Genie, und was
meine Tante Poldi betraf, war sich Onkel Martino nicht so
sicher, zumal wegen der Trinkerei.
Ich muss sagen, Poldis Beschreibungen von Femminamorta
und insbesondere von Valérie hatten meine Fantasie lebhaft
entzündet. Ich stellte mir das alte, rosa getünchte,
jasmin- und bougainvilleumrankte Landhaus mit der
verstaubten Einrichtung, der alten Bibliothek, den
verblichenen Fotos und bröckelnden Fresken, den Palmen und
dem wilden Garten als einen verwunschenen Ort vor, an dem
die Zeit stillstand. Ein kleines Paradies, wo die Geister
bourbonischer Adliger umgingen, wo freundliche Tölen
herumtollten und Schicksale sich erfüllten. Und mittendrin,
so stellte ich sie mir zumeist abends vor: Valérie, blass
und kompliziert und sinnlich und wunderschön, mon dieu, wie
aus einem französischen Schwarz-Weiß-Film. Doch obwohl
Femminamorta keine fünf Autominuten von Torre Archirafi
entfernt lag, schien die Poldi ihre neue Freundin und ihr
kleines Paradies mit niemandem teilen zu wollen. Immer,
wenn ich ganz nebenbei vorschlug, sie doch einmal dorthin
zu begleiten, fand sie einen fadenscheinigen Vorwand, mich
nicht mitzunehmen. Ich nahm ihr das zwar nicht übel,
schließlich habe ich Geschwister, ich weiß, was Neid ist,
aber umso lebhafter braute sich meine Fantasie einen
magischen Ort mit einer geheimnisvollen Herrscherin
zusammen, den mir Joseph Conrad oder Rider Haggard nicht
dämmriger und prächtiger hätten ausmalen können. Daher fand
ich es nur recht und billig, Poldis Beschreibungen für
meinen verkorksten Roman zu nutzen. Und als ich Valérie und
Femminamorta viel später dann doch endlich kennenlernte,
war alles ganz genau so.
Valérie hatte den kleinen Hundekörper in ein Seidentuch
gewickelt und neben der Weinpresse in der stillgelegten
alten Kelterei aufgebahrt. Dort war es kühl und dunkel und
still. Ein guter Ort für die kleine Läddi, die am Ende
ihres viel zu kurzen Lebens noch so viel Agonie hatte
ertragen müssen, denn dem Vernehmen des Tierarztes nach,
war Läddi qualvoll erstickt. Den Eintritt des Todes
schätzte der Veterinario auf etwa drei Uhr morgens. An der
Stelle im Hof, wo man Läddi wenige Stunden später gefunden
hatte, gab es keine Spuren des Giftköders.
Die Poldi glaubte daher nicht, dass Läddi den Köder im
Hof gefressen hatte, sondern, dass Läddi später
demonstrativ dort abgelegt worden war. Und genau das
sprach, in Poldis Logik, für den Tötungsvorsatz. Auf der
anderen Seite wusste die Poldi genau, dass den Erfolg
kriminalistischer Ermittlungen nichts so sehr gefährdet wie
vorschnelle Hypothesen. Daher wollte sie keine Variante
ausschließen, in sämtliche Richtungen ermitteln und
zunächst streng objektiv und professionell nur Fakten
sammeln.
„Hatte Lady irgendwelche Feinde?"
„Pardon?"
„Ich meine, gab es jemanden, der sie nicht mochte? Den
sie mal im Schreck gezwickt oder angeknurrt hat? Vielleicht
jemanden, der Hunde eh nicht mag?"
„Mon dieu, nein!"
Die Poldi machte sich eine Notiz. „Ist gestern irgendwas
vorgefallen? Irgendwas Ungewöhnliches?"
„Nein, wieso?"
„Denk genau nach. Jedes Detail kann wichtig sein."
„Mon dieu, nein!"
Nächste Notiz.
Profi am Werk.
„Wann hast du Lady zuletzt gesehen?"
„Das war so gegen neun Uhr, gestern Abend. Ich habe die
beiden im Hof gefüttert, danach hab ich sie noch eine Weile
gehört, weil sie sich um so ein Gummispielzeug gezankt
haben, das ständig quietschte."
Noch eine Notiz. „Und danach?"
Valérie schüttelte den Kopf.
Die Poldi klappte ihr Notizbuch zu. „Dann würde ich jetzt
gerne deine Gäste befragen."
„Mon dieu, ist das wirklich nötig?"
Valérie hatte Femminamorta von ihrem Vater, einem
Nachkommen des sizilianischen Landadels, geerbt und betrieb
auf dem kleinen Landgut, das nach etlichen Generationen der
Verschwendung, der Ignoranz und der Misswirtschaft den Rest
des einst immensen Familienbesitzes darstellte, eine kleine
Palmenzucht. Was bei Weitem nicht reichte, um die laufenden
Kosten zu decken. Also führte Valérie zusätzlich und nicht
ganz offiziell ein kleines Bed & Breakfast und vermietete
die zahlreichen leerstehenden Zimmer des Hauses an Gäste,
denen sie ein eigenwilliges Frühstück aus Milchkaffee,
getoastetem Brot, Keksen, frischen Avocados und
quietschsüßen französischen Marmeladen und
Familiengeschichten servierte.
Alles andere Land ringsum gehörte inzwischen genau jenem
Italo Russo, den die Poldi auf dem Kieker hatte und dem sie
alles Schlechte auf der Welt zutraute. Auch Russo züchtete
Palmen, aber in sehr viel größerem Stil und nicht nur
Palmen, sondern auch Olivenbäume, Zitronen- und
Orangenbäume, Bougainville, Strelizien und Oleander, und
belieferte damit Hotels und Eigentümer größerer Anwesen.
Piante Russo war ein Gartenimperium, in den Augen meiner
Tante jedoch eine Seuche, die sich immer weiter über das
Land ausbreitete und alles daransetzte, sich auch noch
Femminamorta einzuverleiben.
„Denn das", erklärte mir die Poldi einmal, „wäre der
endgültige Triumph eines skrupellosen Aufsteigers über den
degenerierten Adel gewesen."
Ich habe nie erfahren, ob Russo nicht im Grunde nur
Valérie wollte. Verständlich genug wäre es gewesen, trotz
des Altersunterschieds, aber Valérie stritt dies stets
lebhaft ab, und nach allem, was später passiert ist, habe
auch ich inzwischen meine Zweifel. Auf der anderen Seite
kann ich mir nicht vorstellen, dass irgendjemand ein
Schmuckstück begehrt, ohne den Juwel zu wollen. Aber zurück
zur Ermittlung.
„Erzähl mir was über deine Gäste", sagte die Poldi.
„Es sind Deutsche", antwortete Valérie. „Aber, mon dieu,
absolut delizioso!"
Für Valérie, ähnlich wie für die Poldi, besaß das Glück
eine einfache binäre Struktur, spannte sich alle
menschliche Existenz zwischen zwei mehr oder weniger weit
entfernten Polen auf. Zwischen Himmel und Abgrund, zwischen
Liebe und Ignoranz, Verantwortung und Ballast, Pracht und
Krempel, Wesen und Gedöns. Und in diesem dualen kosmischen
Gefüge existierten eben nur zwei Sorten von Menschen: die
Deliziosi und die Spaventosi, die Reizenden und die
Schrecklichen. Einfache Regel: Hausgäste, Freunde und Tölen
immer Deliziosi, der Rest Spaventosi. Jedenfalls bis zum
Nachweis des Gegenteils.
„Weil", erklärte mir die Poldi einmal, „die Valérie hat
halt verstanden, dass des Glück eine simple Gleichung ist.
Nämlich: Glück gleich Realität minus Erwartung. Wenn du
nicht viel erwartest, wirst nachert weniger enttäuscht und
bist schneller glücklich, verstehst? Umgekehrt, logisch,
wenn du zu viel erwartest ..." Sie sah mich an. „Na ja, wem
erzähl i des."
Meine Tante Poldi war eben eine Meisterin der positiven
Verstärkung.
Die Deliziosi hatten jedoch angeblich nichts gehört oder
gesehen, und auch weder Turi noch Mario, die sich auf
Femminamorta um die Palmenschößlinge kümmerten, konnten
mehr als ihr Bedauern über Ladys Tod zur Aufklärung
beitragen.
„Des isch arg", stellte die ältere Dame, die sich der
Poldi als Doris vorgestellt hatte, nüchtern fest. „Aber
jetzt müsset wir weiter, wir machet doch heute die
Gipfeltour zum Ätna."
Doris war die graue Eminenz einer fünfköpfigen Gruppe
schwäbischer Deliziosi. Ehemalige Realschullehrerinnen aus
Bad Cannstatt auf Studienreise, geführt von einem
pensionierten Oberstudienrat aus Filderstadt. Aber wie
gesagt, das Wort führte meist Doris, eine sportliche
Endsechzigerin in praktischer Funktionskleidung,
Wanderschuhen, mit wachsamen Augen und klarer Weltordnung.
Und ein toter Hund war nichts, was diese Ordnung groß
erschütterte. Die anderen vier Deliziosi wirkten zwar
weniger sportlich, trugen aber ebenfalls Funktionskleidung
und Rucksäcke, als ginge es ins Herz der Finsternis. Die
kleine Reisegruppe und ihr Tourguide belegten seit drei
Tagen sämtliche freien Zimmer in Femminamorta und hatten
sich auf Valéries Bitte im Garten eingefunden, damit die
Poldi sie befragen konnte.
Der Poldi war sofort klar, dass diese Deliziosi eine
echte Herausforderung an ihre kriminalistische Neutralität
und Herzensgüte darstellten.
„Weil sie Windjacken-Spießer waren?", plapperte ich
dazwischen, als sie mich am Abend meiner Ankunft auf den
Stand der Dinge brachte. Vielleicht hoffte ich bloß auf ein
klitzekleines Zeichen des Einvernehmens, ich weiß nicht,
was mich da geritten hat. Aber wie gesagt, Glück gleich
Realität minus Erwartung.
Die Poldi sah mich nur tadelnd an, wie einen jungen Hund,
der die einfachste „Platz"-Übung immer noch nicht
geschnallt hat. „Geh Schmarrn!" rief sie fassungslos. „Wer
andere Spießer nennt, ist bloß selbst einer, merk dir des.
I mein, es geht doch nicht um Mode oder G'schmack oder
Lebensentwürfe!"
„Sondern?"
„Um die Schatten der Vergangenheit! Weil, des hab i doch
sofort g'schnallt, dass diese Doris genau die Sorte
Besserwisser und Pessimist war, die mich mein Leben lang
verfolgt und g'schurigelt hat."
Da war man baff.
„Aber, äh ..." Ich suchte nach Worten. „Das kann dir doch
völlig egal sein! Ich meine, du bist doch ..."
„Jetzt redest schon wie die Teresa." Sie stöhnte. „Ja
freilich kann mir des Wurst sein. Ist es blöderweise aber
eben nicht, schnallst des nicht? Weil, des nennt man eine
Backstory Wound! Merk dir des für deinen Roman. Ohne eine
krachlederne Backstory Wound sind deine Figuren bloß
Kasperletheater. An jedem von uns, im Leben wie im Roman,
pappt halt immer ein Schatten dran, der flüstert dir
dauernd zu: ‚Werd so wie ich, dann geht's dir gleich
besser!' Dagegen kannst nix machen, und aussuchen kannst
dir deinen Schatten schon lange nicht. Und an mir ..." Die
Poldi schnappte sich meine halbvolle Flasche Bier. „... pappt
halt schon mein ganzes Leben lang eine Doris. Prost,
Namaste, lecktsmialleamarsch."
Kriminalistisch trat die Poldi also praktisch auf der
Stelle, und das setzte ihr ziemlich zu.
„Und sonst so?", fragte ich, um das Thema zu wechseln.
„Wie läuft's mit Montana?"
„Meinst jetzt im Bett oder ganz allgemein?"
„Allgemein reicht mir fürs Erste."
„Mei. Kompliziert halt." Sie räusperte sich. „Er ist
eifersüchtig."
„Äh ... Auf wen jetzt?"
„Auf meine kriminalistischen Erfolge natürlich. Und ..."
Sie druckste herum. „... na ja, auf den Achille halt."
Meine Tante Poldi. Ich fasste es nicht.
„Welchen Achille denn jetzt?"
„Magst noch ein Bier? Oder ein panino vielleicht?"
„Jetzt lenk bloß nicht ab!"
„Und du, gell, hetz mich nicht. I bin eine alte Schachtel
mit einem Sprung in der Schüssel und außerdem fei immer
noch deine Tante. Also quasi Respektsperson, gell!"
Kurzes Schweigen, dann wuchtete sie sich ächzend aus dem
Sofa heraus, schlurfte ohne weiteren Kommentar in die Küche
und kam mit einer Flasche Rotwein zurück, die sie vor mir
auf den Tisch knallte.
„Danke, lass mal." Ich winkte ab.
„Die sollst auch nicht trinken, sondern anschauen. Fällt
dir nix auf?"
Ich sah mir die Flasche an. Ein Nerello Mascalese vom
Ätna namens Polifemo von einem Weingut namens Avola. Sagte
mir beides nichts, aber ich bin auch eher nicht so der
Weinexperte. Ich drehte die Flasche ratlos hin und her. Das
Etikett zeigte eine Art topografische Karte des Weinbergs,
der Schriftzug und die ganze Typo sollten wohl klassisch
wirken, sahen aber tatsächlich aus wie von einem
Schülerpraktikanten einer Provinzwerbeagentur kurz vor der
Mittagspause hingehudelt. Nun ja.
„Hübsches Etikett."
„Gell!" Die Poldi strahlte. „Des hat der Vito auch
g'sagt. Na ja, und dann hab i den Achille kennen g'lernt,
und alles ist ein bisserl kompliziert g'worden."
2. Kapitel
Erzählt von der reifen Liebe, von Restposten und
Brusthaaren, von Asche und Wein, von verträumten Orten, dem
Geschmack von Mordwaffen und von Montana und seinem
aktuellen Fall. Die Poldi erhält eine Abfuhr und kriegt es
mit der Wut. Sie stößt auf eine erste Spur, trifft zwei
alte Bekannte und kriegt es wieder mit der Wut. Sie wird
gerettet, steht in Flammen und - nein, kriegt es nicht mit
der Wut, sondern lügt nur ein bisschen, was sich kurz
darauf schon rächt.
Bis vor einigen Wochen hatte Vito Montana noch mürrisch
und einigermaßen verbittert dem Ende seines Berufslebens
als Kriminalkommissar für Tötungsdelikte bei der Polizia di
Stato in Acireale entgegengesehen. Mürrisch, weil das eben
seine Natur war, verbittert, weil ein römischer Senator,
dem er im Zuge einer Mordermittlung ein wenig auf die Füße
getreten war, seine Versetzung von Mailand nach Sizilien
erwirkt hatte, um den hartnäckigen Commissario auf Stumm zu
schalten. Und obwohl Vito Montana aus Giarre stammte,
hasste er Sizilien mit der Inbrunst eines Großinquisitors.
Dann hatte er meine Tante Poldi kennengelernt. Und auf eine
seltsame, rührende Art und Weise wirkten die beiden wie
füreinander bestimmt. Zwei etwas angestoßene Ladenhüter vom
Trödelmarkt des Lebens, mit Gebrauchskratzern und Sprüngen,
die ein übermütiges Schicksal zum Ausverkauf noch einmal
zusammen in die erste Reihe gestellt hatte. Letzte
Gelegenheit, bitte einmal genau hinsehen! Hier der
untersetzte, aber nach Poldis Maßstäben kompakt
proportionierte Endfünfziger Montana mit dem graumelierten
Vollbart, den zerknitterten Anzügen und der ewigen
Zornesfalte zwischen den grünen Augen. Seines Zeichens
hartnäckiger Ermittler und, meiner Tante Poldi zufolge,
sexuelle Naturgewalt. Und dort, eccola, gleich neben ihm
und unübersehbar: meine Tante selbst. Nur wenig älter, eine
glamouröse, barocke Erscheinung mit ihrer Perücke und dem
Nofretete-Makeup und trotz Suff und Schwermut immer noch
lodernd vor Lebenslust und einer kerngesunden bayerischen
Wut. Ein dramatisches, unbequemes Paar, diese beiden.
Kompliziert gar kein Ausdruck. Zwei aufgeladene
Elementarteilchen, vom Ringbeschleuniger des Schicksals mit
Lichtgeschwindigkeit aufeinander geschossen. Stellte ich
mir so vor. Also ähnlich wie bei meinem Urgroßvater Barnaba
und seiner unerträglich schönen Eleonora in meinem Roman,
mit dem ich in den letzten Wochen irgendwie nicht mehr so
recht vorangekommen war. Das musste sich dringend ändern.
Jedenfalls reagierte Montana ein kleines bisschen gereizt
auf Poldis Ermittlungen im Fall Läddi.
„Natürlich ist das furchtbar mit der kleinen Lady. Aber,
Madonna, in diesem Land werden jeden Tag Hunde vergiftet.
Seit der Antike legen die Bauern Giftköder aus, um Streuner
von ihrem Land fernzuhalten. Wir haben eben nicht so ein
sentimentales Verhältnis zu Tieren wie ihr."
Sie lagen nebeneinander in Poldis großem Bett in ihrem
abgedunkelten Schlafzimmer. Freitagabend. Die Klimaanlage
schaufelte Schwüle hinaus und Kühle hinein. In der Ferne
ächzte der Ätna, Palmen knisterten im Ascheregen, und
irgendwo gegenüber überschlug sich die Stimme eines
hysterischen Quizshow-Moderators, vermischt mit künstlichem
Gelächter und Applaus, als ob da draußen ein Studiopublikum
jeden erotischen Höhepunkt, jeden Seufzer, jedes
geflüsterte Wort aus der Nummer 29 verfolge und
kommentiere.
Die Poldi hörte auf, mit dem Finger kleine Löckchen in
Montanas Brusthaar zu zwirbeln, raffte sich die Bettdecke
vor die Brust und richtete sich ein wenig auf. „Und damit
willst du mir jetzt was sagen, Vito?"
Montana sagte gar nichts, rollte sich nur ein wenig zur
Seite und zündete sich umständlich eine Zigarette an.
Erschöpft und milde gestimmt nach Eruptionen der
Leidenschaft und der Verschmelzung zweier Magmaströme
reifer Libido, betrachtete die Poldi Montanas behaarten
Rücken und überlegte, ob sie diese Unterhaltung, die eine
unerfreuliche Wendung zu nehmen schien, nicht besser durch
eine sanfte Massage im Keim ersticken sollte. Aber dann war
sie erstens doch neugierig und zweitens außerdem auf
Krawall gebürstet.
„Was?!"
„Dass du wieder dabei bist, dich in etwas zu verrennen",
knurrte Montana schließlich. „Du wirst dir nur einen Haufen
Ärger einhandeln."
„Und den größeren Zusammenhang, die Intrige siehst du
nicht?"
Montana rauchte und zögerte mit der Antwort. „Was für
eine Intrige? Sieh dich doch um. Alle lieben dich."
Die Poldi sah ihn prüfend an. „Alle?"
„Ich meine, warum genießt du es nicht? Du hast einen Mord
aufgeklärt. Mit meiner Unterstützung, natürlich. Das ist
immer ein Kick, ich weiß, wovon ich rede. Und nachher fällt
man dann in ein Loch."
„Was für ein Loch? Wovon redest du da überhaupt, Vito?"
„Versteh mich nicht falsch, Poldi, ich kenne das. Man
will sofort weitermachen, will gleich den nächsten Kick."
Die Poldi drehte sich zufrieden auf den Rücken.
„Vielleicht mache ich ja eine kleine Detektei auf. Ich
werde schon überall deswegen angesprochen. Agenzia
Investigativa Oberreiter, wie klingt das?"
Montana zerquetschte die Zigarette, die er sich eben erst
angesteckt hatte, in Poldis schwerem Glasaschenbecher, als
ob ihm irgendetwas die Lust aufs Rauchen vermiest hätte,
und sah meine Tante an. „Es wird keinen weiteren Mordfall
geben. Es wird überhaupt keinen Fall mehr geben, Poldi.
Sieh der Realität ins Auge. Du bist nicht die Polizei. Und
im Grunde weißt du das auch, also versucht dein
Unterbewusstsein, einen Mord zu konstruieren."
„Ach, tut es das."
„Und es wäre besser für dich, damit aufzuhören."
„Du glaubst also, ich leide an Realitätsverlust? Dass ich
verrückt bin? Dass ich überall Verschwörung wittere?"
Montana schnalzte mit der Zunge und ruckte kurz mit dem
Kopf. Der sizilianische Urlaut für ein lässiges Nein oder
auch ein weniger lässiges: „Blödsinn, so habe ich das nicht
gemeint!" Er streckte eine Hand unter der Decke nach ihr
aus. „Du bist eben ein Mensch mit viel Fantasie, Poldi."
Womit er zwar recht, aber definitiv nicht den richtigen
Ton getroffen hatte.
Die Poldi schob diese geliebte schöne, warme Hand brüsk
beiseite und richtete sich ganz im Bett auf. „Ja,
leckmiamarsch, du g'scherter Hammel, was bildest du dir
eigentlich ein?"
„Könntest du bitte Italienisch mit mir sprechen, Poldi?
Ich versteh gar nicht, warum du jetzt so sauer reagierst."
Mit einem ärgerlichen Schnaufen verließ die Poldi ihre
satinbezogene Insel der Lust. Nackt und nicht mehr
taufrisch, ohne Make-up, ohne Perücke, aber auch ganz ohne
Scham, so stelle ich mir vor, stand sie vor ihm wie eine
lebendige Steinzeitvenus von Willendorf. „Ich bin nicht
sauer. Ich finde nur, du solltest jetzt gehen, Vito." Ganz
ruhig, geradezu hanseatische Selbstbeherrschung.
„Ach, komm, Poldi! Du weißt genau, wie ich das ..."
Noch ehe er den Satz noch zu Ende gebracht hatte, flogen
ihm sein Anzug und sein Hemd entgegen. „Und zwar sofort. So
kannst du vielleicht mit deiner Alessia reden, aber nicht
mit mir."
Das war zwar jetzt ein bisschen hässlich nachgetreten von
der Poldi, aber emotional völlig verständlich. Jede
Beziehung, auch die aufgeklärteste und längste, die ruhige
wie die stürmische, führt schließlich ein Sediment aus
unausgesprochenen Erwartungen, kleinen Verletzungen,
kleinlichen Ängsten und unbeantworteten Fragen mit sich.
Alles gut, solange alles fließt. Bis sich dieses Sediment
irgendwann zu einer Sandbank anstaut, den Fluss zerteilt,
gefährliche Strudel bildet, den Strom im schlimmsten Fall
ganz zum Erliegen bringt. Alessia war die Sandbank im Strom
von Poldis Liebe zu Vito Montana. Alessia war die Kollegin
aus der Verwaltung. Alessia war Montanas Freundin, Alessia
war fünfundzwanzig Jahre jünger, Alessia war schön und klug
und temperamentvoll und hundert andere Dinge, mit denen
sich die Poldi herumquälte, wenn sie wieder mal alleine
gegen den Durst, die Schwermut und das Verlangen nach einem
zünftigen Vollrausch ankämpfte. Alessia war Montanas
bequemer Notausgang, aber meine Tante Poldi blieb tolerant.
Ich habe mich oft gefragt, warum sie vor Eifersucht nicht
einfach durchdrehte. Aber vielleicht, stelle ich mir vor,
wollte die Poldi nur ein Mal in ihrem Leben nicht finden,
sondern gefunden werden.
Obschon Sizilianer, also schnell beleidigt, nahm Montana
den Rausschmiss sportlich. Textnachrichten - aufgebrachte,
beschwichtigende, verletzte, besänftigende, genervte,
schmutzige und zärtliche - wogten wenig später und in den
nächsten Tagen hin und her wie Gezeiten an die
entgegengesetzten Gestade eines stürmischen Ozeans, und am
Freitag darauf landeten die beiden wieder in der Kiste wie
zwei Teenies.
Und so hätte es ewig weitergehen können, wenn ... ja, wenn
das Leben nicht ewiger Wandel wäre und wir dagegen
machtlos. Irgendwann ist jeder Bogen halt überspannt oder
erschlafft, irgendwann ist die Luft raus, oder frischer
Wind weht herein. Irgendwann dreht sich das Rad einfach
weiter, da bildeten Montana und die Poldi keine Ausnahme.
Aber ich greife vor.
Also, der nächste Freitag. Montana und die Poldi fallen
übereinander her wie die Tiere, alles läuft wieder rund,
eine Feuersbrunst der Lust, kennt man ja, kleine
Verschnaufpause, Montana raucht eine, die Poldi füttert ihn
mit Mortadella-Häppchen, sie teilen sich ein Bier, und die
Poldi quetscht Montana nach seinem aktuellen Fall aus. Denn
logisch, wenn sie schon selbst nicht weiterkam im Fall
Läddi, wollte sie wenigstens am Honigtopf einer laufenden
Mordermittlung schnuppern, schon ihrer inneren
Ausgeglichenheit wegen. Und Montana, schließlich auch nicht
blöd, verstand das. Außerdem war er froh, gewisse Sandbänke
und heikle Beziehungsthemen auf diese Weise umschiffen zu
können.
„Ich darf eigentlich nicht darüber reden."
Die Poldi nickte ernst. „Natürlich nicht." Sie sah
Montana an. „Madonna, jetzt erzähl schon. Dai!"
Eine Staatsanwältin aus Catania war tot in ihrer
Zweitwohnung in Acireale aufgefunden worden. Von hinten
erschlagen, mit einer vollen Weinflasche. Die Poldi sofort
elektrisiert. Wein und Mord - praktisch ihr Thema.
„Hast du Fotos?"
Montana zögerte. „Kein schöner Anblick."
„Sieh mich an, Vito. Seh ich so aus, als ob mich noch
irgendwas aus der Bahn werfen könnte?"
Montana seufzte. „Nicht hier, nicht im Bett."
Das gefiel der Poldi. Dass Montana Respekt vor den Toten
hatte. Dass er kein Zyniker war, obwohl er sich gerne so
gab.
Sie zogen sich rasch etwas über. Montana breitete einige
Abzüge der Tatortfotos auf dem Küchentisch aus und holte
sich ein Bier. Die Poldi sammelte sich kurz und sah sich
dann die Bilder an.
Das erste Foto vom Tatort zeigte die Leiche der
Staatsanwältin in einem eingetrockneten See aus Blut und
Rotwein und Glasscherben. Ihr Name war Elisa Puglisi,
alleinstehend, kein Mann, kein Exmann, keine Kinder, Eltern
bereits verstorben. Eine Single-Frau Mitte Vierzig, die
ihre Karriere offenbar über alles gestellt hat. Die
Putzfrau hatte sie erst einen Tag nach ihrer Ermordung
gefunden.
„Dabei war sie hübsch!", rief die Poldi aus, als Montana
ihr ein Foto von Elisa aus besseren Tagen zeigte.
Eine zierliche Frau mit einem schmalen, blassen Gesicht.
Sie sah direkt in die Kamera, und alles an ihr - ihre
leicht vorgebeugte Haltung, das blaue Kostüm, die Art, wie
sie ihre Aktentasche hielt, der abgespreizte kleine Finger,
der strichförmige Mund - drückte Entschlossenheit und
Missbilligung aus. Alles, bis auf die schwarzen Locken, die
Elisa Puglisi dicht und voll und ungebändigt bis über die
Schultern fielen.
Die Poldi drehte das Foto im Licht ihrer Küchenlampe hin
und her, als könne sie auf diese Weise hinter Elisas Maske
blicken. Einen Blick auf ihre Backstory Wound erhaschen.
Auf ihren Mörder.
„Weil, merk dir des", erklärte sie mir einmal, „als
Ermittler musst dich immer fragen: Was will mir des
Mordopfer sagen? Jetzt denkst natürlich, was soll mir ein
Toter schon noch groß sagen? Aber Irrtum, eine ganze Menge
nämlich. Du musst ihm halt die richtige Frage stellen. Zum
Beispiel: Was hat dich zum Mordopfer g'macht?"
„Willst du damit sagen, Mordopfer sind im Grunde immer
selbst schuld?"
„Geh, Schmarrn! Schuld ist immer der Mörder, merk dir
des. Aber bis zum Mord kann viel passiert sein. Was hat des
Opfer g'sagt, getan oder unterlassen, dass irgendwer auf
einmal hingegangen ist und es umgebracht hat? Die
Backstory, verstehst? Die musst immer kennen."
Aber die strenge Elisa auf dem Foto gab ihr Geheimnis
nicht preis. Tatzeugen gab es keine, niemand hatte
irgendwas gehört oder gesehen. Der Täter hatte mehrmals mit
der Flasche von hinten zugeschlagen, bis die Flasche
zerbrochen war. Aber zu diesem Zeitpunkt war Elisa Puglisi
bereits tot gewesen.
„Weil, so eine Weinflasche, weißt, die ist stabil",
erklärte mir die Poldi fachmännisch. „Nicht so wie im Film,
wo sie gleich zerspringt, und der Cowboy schüttelt sich
nur, und gut ist. Vergiss des. Im wahren Leben gilt meist:
Der zweite Schlag ist schon Leichenschändung."
Die Polizia Scientifica hatte weder Fingerabdrücke noch
DNA-Spuren an der Flasche gefunden. Auch an der Leiche und
in der Wohnung gab es kaum Spuren.
„Ein Profi", vermutete Montana.
Die Poldi runzelte die Stirn und breitete die Tatortfotos
auf dem Tisch aus. „Welcher Profikiller tötet mit einer
Weinflasche?"
„Vielleicht sollte es nach einer Beziehungstat aussehen."
Die Poldi war nicht überzeugt, zumal sie Montanas
Unbehagen spürte.
„Sie hatte ein paar Stunden vorher noch Sex gehabt",
sagte er.
„Mit wem?"
„Wir arbeiten dran."
Die Poldi dachte nach. „Staatsanwältin, ja? Da macht man
sich ja leicht mal Feinde. Hast du ihre Fälle überprüft?"
„Wir sind dran."
„Geht's vielleicht auch ein bisschen konkreter?"
Montana stöhnte. „Ich darf dir das nicht sagen, Poldi."
Die Poldi sah ihn an. „Aber?"
Montana trank sein Bier, bevor er antwortete. „Elisa
Puglisi leitete die DDA der Provinz Catania."
„Die was?"
„Direzione Distrettuale Antimafia, die Antimafia-
Staatsanwaltschaft."
„Leckmiamarsch!", rief die Poldi begeistert aus. Und auf
Italienisch weiter: „Dann ist doch alles klar."
„Nichts ist klar, solange nichts klar ist", knurrte
Montana. „Wir ermitteln einstweilen in alle Richtungen.
Aber gut möglich, dass mir demnächst ein paar schneidige
Jungs aus Rom von der Direzione Investigativa Antimafia den
Fall abnehmen."
„Schöne Scheiße."
„Du sagst es."
„Du brauchst meine Hilfe, Vito."
„Vergiss es, Poldi."
„Ich meine, ich könnte doch ..."
„Ich sagte, vergiss es!"
Er wollte die Fotos wieder an sich nehmen, aber die Poldi
war noch nicht ganz fertig. Irgendetwas an den Bildern
hatte sie irritiert. Und zwar nicht der Anblick der Leiche,
sondern ein Detail, das ihr kurz ins Auge, aber noch nicht
ganz ins Bewusstsein gesprungen war. Gründlich betrachtete
sie ein Foto nach dem anderen.
Bis sie es entdeckte.
Um ein Haar hätte sie aufgeschrien, aber sie hatte sich
gerade noch so im Griff. Sie drehte das Foto einmal um
neunzig Grad und zeigte es dann Montana. „Was sagst du
dazu?"
„Was meinst du?"
„Die Weinflasche. Hast du dir die mal genau angesehen?"
Montana nahm das Foto in die Hand und betrachtete es
genauer. „Ein Etna Rosso", sagte er schulterzuckend.
„Hübsches Etikett. Was ist dir daran aufgefallen?"
Die Poldi überlegte kurz, ob sie es ihm sagen sollte.
Aber dann fand sie, dass sein Ton vorhin ihr dann doch ganz
und gar nicht gefallen habe. „Ach, vergiss es", flötete
sie. „Ein sehr hübsches Etikett, finde ich eben auch. Und
so eine originelle Idee mit der topografischen Karte des
Weinbergs. Kennst du dieses Weingut Avola?"
Montana sah die Poldi misstrauisch an. „Was soll diese
Frage, Poldi?"
Aber da war die Poldi bereits aufgestanden, ließ ihren
Seidenkimono fallen und ging zurück in Schlafzimmer. „Genug
ermittelt, Vito. Namaste, das Leben ruft!"
„Erklärst du's wenigstens mir?", fragte ich, als sie mir
die Episode später dann erzählte.
„Hast du's fei immer noch nicht g'schnallt!", rief sie
fassungslos. „Mei, des liegt doch so was von auf der Hand!"
„Dann bitte einmal für die Unterbelichteten zum
Mitschreiben."
Die Poldi ging kurz ins Schlafzimmer und kam dann mit
einem Foto zurück, das sie vor die Weinflasche legte. Das
Foto zeigte eine topografische Karte, die mir entfernt
bekannt vorkam. Und dann verstand auch ich es endlich.
Das Etikett der Weinflasche zeigte die gleiche
topografische Karte, über die Russo und der inzwischen
verhaftete Patanè damals gesprochen hatten, als die Poldi
die beiden im Fall Valentino observiert hatte.
„Forza Poldi!", flüsterte ich beeindruckt.
„Des ist gar kein schlechter Wein, dieser Polifemo",
sagte sie triumphierend. „Ein echter Etna Rosso! Kräftig,
dunkel und elegant, mit Halt und Wumms, einem spektakulären
Abgang und einer zarten, geheimnisvollen Mandelnote.
Flüssiger Commissario, sozusagen. Vierundneunzig Parker-
Punkte, so einen Stoff kriegst nicht im Supermarkt. Eine
Sauerei, so einen edlen Tropfen als Tatwaffe zu
missbrauchen. Magst jetzt vielleicht doch einen Schluck
probieren?"
„Lass mal", winkte ich ab. „Ich trink halt nicht so gerne
aus Mordwerkzeugen."
„Sind wir heute im Karl-Valentin-Modus, oder was? Aber
gell, du siehst schon, dass damit die Verbindung natürlich
klar war? Staatsanwältin - Mafia - Russo - Mord."
„Findest du das nicht ein bisschen ... ich meine, weit
hergeholt?"
„Die Fantasielosigkeit ist die kleine Schwester des
Kleinmuts. So wird des nie was mit deinem Roman."
Wirklich, meine Tante Poldi meinte es nur gut mit mir.
„Und wie hängt das nun mit diesem Achille und Montanas
Eifersucht zusammen?"
Die Poldi tippte auf das Weinetikett.
„Mei, der Achille, des ist halt der Winzer."
Die Geschichte des Weinanbaus in Sizilien ist wie so
vieles in Sizilien eine Ballade über paradiesische
Ressourcen, Ignoranz, Gier, Mittelmäßigkeit, Verwahrlosung,
Zerstörung, Besinnung, Aufbruch und Triumph. Niemand weiß
das besser als mein Onkel Martino, denn der weiß sowieso
alles über Sizilien. Und die Lücken verfugt er großflächig
mit seiner Fantasie. Wie alles in Sizilien ist eben auch
der Wein uralt, gewachsen in der Furche von Eroberung und
Besatzung. Onkel Martino zufolge brachten bereits die
Phönizier die ersten Rebsorten mit. Aber erst seit Ende des
neunzehnten Jahrhunderts wird in Sizilien
Qualitätsweinanbau betrieben. Na ja, Qualität. Seelenlose
Massenware für den englischen Markt, die schnurstracks in
die Produktion von billigem Marsala wanderte. Quietschsüßes
Zeug, das gerne auch mal mit Mandelsirup verhunzt wurde.
Kriegt man immer noch in Souvenirläden, viel Spaß damit.
Dabei wundert man sich eigentlich über diese Ignoranz und
die miese Qualität, ich meine, bei der Bedeutung, die gutes
Essen in Sizilien hat, bei der paradiesischen Fülle von
Lebensmitteln und Zutaten. Aber der Sizilianer trinkt eben
höchstens ein halbes Gläschen zum Essen, und selbst Onkel
Martino, der niemals woanders als bei seiner Frau Teresa
essen würde, genügt ein saurer Spritzer, den er im Fünfzig-
Liter-Ballon von einem Bauern in Randazzo holt. Dabei sind
auch die Voraussetzungen für den Weinanbau in Sizilien
paradiesisch, vor allem an den alten Steilterrassen am Ätna
zwischen fünfhundert und tausend Metern Höhe. Der
vulkanische Boden ist reich an Kupfer, Phosphor und
Magnesium, und eingefasst von alten Trockensteinmauern aus
Lavatuff wachsen dort Jahrhunderte alte Rebbüsche: der
Nerello Mascalese, der Nerello Cappuccio, der Carricante
und der Cataratto. Die extremen Temperaturschwankungen, die
mühevolle Arbeit, der mäßige Ertrag und hin und wieder ein
Vulkanausbruch machen dem Winzer halt das Leben schwer.
Also vielleicht auch wieder kein Wunder, dass sich lange
Zeit niemand wirklich Mühe mit dem Ätnawein gab. Nicht gut
genug für den Export, kaum Bedarf im Inland - der Anbau
lohnte sich nicht mehr, Krisen, Pleiten, Gejammer,
Fatalismus, Notverkäufe. Das alte Lied. Erst vor dreißig
Jahren dann: die Wende. Besinnung. Neuanfang. Zurück zu den
Wurzeln sozusagen. Die ersten Winzergenossenschaften
setzten wieder auf einheimische Rebsorten, die in Büschen
angebaut und gepflegt werden, auf Qualität statt Masse.
Beziehungsweise, wer hätte es gedacht, auf EU-Fördergelder.
Mit Erfolg, denn der sizilianische Wein schraubte sich
seitdem in die Klasse der besten Gewächse der Welt vor und
gilt längst nicht mehr als Geheimtipp. Kirsche, Maulbeere,
Nelke, Zimt, Orangenschale, Rosmarin, Thymian, Lavendel,
Rauch, Stein, Karamell und Mandel - ein Schluck Nerello
Mascalese kann eine Reise ins Herz Siziliens sein, denn wie
auch seine Küche ist Siziliens Wein ein sinnliches barockes
Fest, eine Überfülle an Aromen, alles in einem Glas.
„Des ist eben ein Sizilianer", erklärte mir die Poldi,
bevor ich das erste Glas Polifemo probierte. „Also wundere
dich nicht, wenn er am Anfang ein bisserl sperrig und
verschlossen ist. Aber wenn ihr euch erst mal bekannt
g'macht habt, dann kommt er fei schon, verlass dich drauf.
Überbordernd vor Herzlichkeit und Leben, verschwenderisch
großzügig, laut und eruptiv und sanft und zärtlich,
verstehst? Und gleich drauf, zack, reißt ihn wieder die
Schwermut, und nachert zieht er sich in seine Kraterhöhle
zurück, der Polifemo, und raunt dir von dort uralte
Geheimnisse zu. Dieser Wein, des sag i dir, des ist ein
Zyklop. Eine Naturgewalt. Ein Kerl, von dem jede Frau
träumt. Also trink und lerne."
Kein Wunder, dass die Poldi darauf brannte, den Schöpfer
dieses Weines kennenzulernen.
Achille Avola hatte den Weinberg oberhalb von Trecastagni
von seinem Vater geerbt. Seit drei Generationen baute die
Familie Avola dort an den Hängen des Ätna schon Wein an.
Bis in die Neunzigerjahre noch eine ziemlich mittelmäßige
Plörre, bis schließlich der neue Geist und die EU-Gelder
auch die Avolas erreichten und Achille und sein Wein zu
Hochform aufliefen.
Für die Poldi war es natürlich ein Klacks, das kleine
Weingut ausfindig zu machen. Zwei Mausklicks, ein Anruf bei
Onkel Martino, ein Blick auf die Straßenkarte - ecco,
pronto! Dem Ambiente entsprechend gekleidet - nämlich
figurbetont im rot-weiß-grünen Dirndl mit tüchtig
Ausschnitt und einem Seidenkopftuch mit Traubenornamenten -
setzte sie sich gleich am Samstagmittag auf ihre Vespa und
bretterte hinauf nach Trecastagni.
Wenn ich an Trecastagni denke, muss ich auch immer an
meinen Vater denken, der ein Baumarktjunkie war und der an
seinen Wochenenden gerne mal Holzpaneele an sämtliche
Zimmerdecken dübelte. Als mein Vater damals anfing, laut
über die Zeit nach seiner Pensionierung nachzudenken,
verfiel er auf die beknackte Idee, eine Ruine in
Trecastagni zu kaufen und sie eigenhändig, mit
Akkuschrauber, Schlagbohrmaschine, Maurerkelle, beherztem
Heimwerkerspirit und meiner zwar ungeschickten, aber nicht
weniger tatkräftigen Hilfe zu einem Juwel auszubauen.
„Mehr als die Grundmauern brauchen wir gar nicht, weißt.
Des machen wir alles fei selbst, gell. Da mieten wir uns
einen Transporter, den packen wir mit allem voll, was man
in einem richtigen deutschen Baumarkt kriegt, weil da in
Sizilien kriegst ja des alles nicht, und dann fahren wir
nachert zusammen runter, und wirst schon sehen, in zwei bis
fünf Jahren haben wir da ein rechtes Schmuckstück stehen.
Ein Juwel, des sag i dir."
Irgendwie hat mir die Vorstellung, fünf Jahre eine
Hausleiche zu reanimieren, Trecastagni immer madig gemacht.
Zu Unrecht. Immerhin hätte ich dann heute ein Haus in
Sizilien und meinen Vater ein wenig besser kennengelernt.
Trecastagni ist ein verträumter Ort, auf halber Höhe
zwischen Himmel und Erde, von einem freundlichen Gott mit
leichter Hand an die Ostseite des Ätna zwischen alte
Nebenkrater getupft. Eines der an die zwanzig Ätnadörfer,
die den Berg wie eine nachlässig geknüpfte Kette umgürten,
weitgehend unverschandelt, wo die Sommer mild und die
Winter klamm sind. Wo man aufs Meer in der Ferne blickt wie
auf einen Gutschein für eine bessere Zukunft, den man nie
einlösen wird. Wo man den Heiligen Sankt Alfio verehrt. Wo
man als Mann reiferen Alters mit seinen Kumpels noch in
Ruhe auf der Piazza chillen und über den Verfall der Sitten
und der eigenen Männlichkeit klagen kann. Wo die
Verkehrspolizisten schnurbärtig, die Mädchen zugewandt und
die Mobilfunkverbindungen launisch sind. Wo der Wein
gedeiht und auch die Kirsche, die Maulbeere, die Feige, der
Pfirsich und was nicht noch alles. Wo der Ginster geduldig
über Jahrhunderte den Vulkanboden zerbröselt. Wo der
Hauptkrater des Ätna hinterm Haus aufragt wie ein Dom. Wo
keine Tigermücke sirrt und kein Mord geschieht.
Das jedenfalls war Poldis erster Eindruck, als sie an der
Piazza von der Vespa stieg, dabei die Blicke der örtlichen
Verkehrspolizisten genoss und sich dann erst mal einen
Caffè in der nächsten Bar gönnte. Einer der Senioren vom
Platz beschrieb ihr den Weg zum Weingut Avola, und keine
zehn Minuten später stand die Poldi vor einem großen
Eisentor an der Provinzialstraße. Weit und breit nicht viel
zu sehen, Lavasteinmauern zu beiden Seiten der Straße,
dahinter Zypressen zu erkennen, und dahinter dann Spaliere
von Weinstöcken, die sich einen alten, kleinen Nebenkrater
hinaufzogen. Durch das Eisengitter konnte die Poldi
geparkte Fahrzeuge unter den Zypressen sehen, darunter
einen Kleinbus mit dem Aufdruck eines Reisebüros aus
Acireale und einen alten Pick-up mit dem Logo von Vini
Avola, beladen mit leeren roten Plastikkörben für die
Weinlese. Menschen sah sie keine.
Die Poldi ließ den Zweitakter laufen und hupte. Einmal.
Zweimal. Pröööt-pröööt!
„Wenn italienische Ingenieure eines verstanden haben",
erklärte sie mir einmal, „dann die Bedeutung und
Konstruktion der Hupe. Weil, die Hupe, des ist die Stimme
und des Herz und die Seele des Fahrzeugs. Weil, auch das
Fahrzeug will ja eine Bella figura machen, will gut
klingen, nicht aufdringlich sein, niemanden dumm dastehen
lassen. Eine deutsche Hupe, des ist immer eine
Kriegserklärung, die Invasionstruppen quasi bereits an der
Grenze. Eine italienische Hupe dagegen klingt wie ein
freundliches Räuspern, wie ein geflötetes: ‚Permesso?‘,
oder wie ein sanftes: ‚Ach, Signora, würden Sie wohl bitte
anhalten, denn ich bin eh schon dabei, Ihnen die Vorfahrt
zu nehmen, grazie, molto gentile.‘ Mit einer italienischen
Hupe kannst auch einem Vigile ein Kompliment für seine
schönen Augen machen. Sogar einen Heiratsantrag, jetzt lach
nicht, kannst mit einer italienischen Hupe machen. Und die
allerschönste Hupe der Welt hat immer noch die Vespa, da
gibt's nix. Wenn Romeo eine Vespa g'habt hätte, nachert
hätte er seiner Giulietta unterm Balkon garantiert was
vorg'hupt, und des wär fei keinen Strich weniger romantisch
g'wesen."
Pröööt-pröööt! Poldis Vespa räusperte sich und trötete
ihr heiseres: „Permesso?", aber niemand antwortete, niemand
erschien. Also Vespa aus, absteigen, mal am Tor rütteln,
probehalber. Und siehe da - es ließ sich öffnen. Nun ist ja
ein offenes Tor immer noch keine Einladung für unbefugtes
Eindringen auf ein Privatgrundstück, selbst meine Tante
Poldi weiß das. In Texas kann man dafür ungestraft über den
Haufen geschossen werden. Aber erstens, fand die Poldi, war
dies nicht Texas, und zweitens war sie in einer
Mordermittlung tätig, also praktisch befugt. Drittens war
sie nun schon mal da, und viertens - trug sie ein Dirndl.
Also nicht wirklich die Tracht von Einbrechern und
Autoknackern.
Sie nahm ihr Kopftuch ab, weil es ohne den Fahrtwind doch
wieder heiß wurde, tupfte sich die Stirn und dachte nach.
Kurz. Dann drückte sie entschlossen das Tor auf, zückte ihr
Handy, warf einen scharfen Blick in jedes der geparkten
Fahrzeuge und machte Fotos von allen Kennzeichen. Besonders
der weiße Avola-Pick-up interessierte sie. Im Wageninnern
lagerten volle Weinkartons mit dem gleichen Aufdruck wie
das Etikett, Plastikschläuche, Werkzeug und nachlässig
gehortete Papiere, die amtlich wirkten oder wie
Kontoauszüge. In den roten Plastikkörben auf der Ladefläche
trocknete verklebter Most und verbreitete einen säuerlichen
Geruch. Die Poldi machte von allem Fotos, nur für alle
Fälle.
„Weil, merke", dozierte sie wieder mal ein bisschen, als
sie mir von ihrem Besuch im Weinberg berichtete, „in der
Kriminalistik wie in der Liebe gilt: Was man hat, des hat
man. Des gilt vor allem für den Ersten Angriff."
„Erster Angriff?"
„Gell, so nennen wir halt die ersten Untersuchungen, wenn
du an einen frischen Tatort kommst und Spuren sicherst. Da
ist alles wichtig, verstehst, ein Fitzerl kann entscheidend
sein."
„Was denn für ein Tatort!?", rief ich fassungslos. „Ich
meine, das ist doch nicht dein Ernst!"
„Bildlich gesprochen", ruderte sie zurück. „Aber mir war
doch klar, dass i da auf einer heißen Spur war, und da
hakt's halt aus bei mir. Da packt mich der Jagdinstinkt. Da
bin ich in the zone."
Daher bemerkte sie auch die Hunde nicht. Sie hörte
eigentlich nur eine Art rachitisches Rasseln hinter sich,
und als sie erschrocken herumwirbelte, waren sie schon im
Anflug. Zwei Deutsche Schäferhunde, mit wehenden Lefzen, so
braunschwarz und sortenrein und unterbelichtet und
schäferhundig wie sie nur ein polnischer Karikaturist
hinkriegt. Die hätten meine Tante eigentlich zerfleischen
müssen, bei ihrer genetischen Programmierung. Taten sie
aber seltsamerweise nicht. Sie fielen meine Tante einfach
nur an, fletschten, was sie hatten, und bellten sich ihre
kleinkarierte Wachhundseele aus dem Leib.
Die Poldi schrie auf und knallte rückwärts gegen den
Pick-up. Ihre Perücke allerdings nahm, den Gesetzen von
Trägheit und Masse und des Impulserhaltungssatzes
gehorchend, die andere Richtung und flog mit einem
anmutigen Lupfer über die beiden Rüden hinweg zu Boden.
Die beiden Schäferhunde standen auf ihren Hinterpfoten
und pressten die Poldi gegen das Auto wie so zwei
miesgelaunte Cops. Meine Tante roch ihren üblen
Feuchtfutteratem, starrte entsetzt auf Lefzen und Zahnstein
und begriff dann, dass sie es hier mit alten Bekannten zu
tun hatte. Das brach den Bann.
„DREEEEECKSVIECHER! SCHEISSKLUMPVERRECKTE ROTZRÜBEN!"
Und noch andere Preziosen aus dem Wörterbuch
baiuwarischer Schimpfwörter. Voller Inbrunst brüllte die
Poldi die beiden Hunde an, und - oh Wunder oder vielleicht
auch nur wegen der Wirkung des deutschen O-Tons - Hans und
Franz ließen von ihr ab und kläfften nur noch
pflichtschuldig herum.
Außer sich vor Wut trat die Poldi nach den beiden.
„Saubande, gscherte! Haut bloß ab! Schleicht euch!
Kschschsch! Ich zieh euch des Fell ab!"
Hans und Franz kuschten.
Die Poldi bückte sich und griff rasch nach ihrer Perücke
und band sich auch rasch das Kopftuch wieder um.
Rechtzeitig, muss man sagen, denn vom Weinberg her näherte
sich ein Mann in Jeans und aufgekrempeltem karierten Hemd.
Mitte fünfzig, große, schlaksige Gestalt mit vollem, wenn
auch grauem Haar und buschigen Augenbrauen. Die Poldi
registrierte jedes Detail, selbst auf die Entfernung.
„Weil, für Männer hab i einen Autofokus", erklärte sie
mir seufzend. „Die nehm i mit allen Sinnen wahr, mit meinem
ganzen Körper, verstehst? Des hat mir auch der Bob damals
bestätigt."
Sie machte eine kleine Pause, damit ich nachfragen
konnte, welchen ihrer Promifreunde sie denn nun wieder
meinte, aber den Gefallen tat ich ihr diesmal nicht.
„Mei", fuhr sie schließlich missbilligend fort. „Und bei
dem Apennin-Leptosom ... da war mir sofort alles klar. Die
großen Hände. Der prächtige Adamsapfel wie eine zweite Nase
oder ein zweiter ... na ja, egal, weißt schon. Der
Stoppelbart, wo du schon ahnst, wie zerschunden du am
anderen Morgen nachert ausschauen wirst. Die vollen Lippen,
da muss i jetzt nix dazu sagen. Mei, und diese bekümmerten
Augen, die du einfach nur trösten willst. Und halt diesen
verwitterten, typisch sizilianischen Olivenholzteint eines
starken Rauchers mit guten Genen. Da hab i mir gleich
vorstellen müssen, wie der in einer Polizeiuniform
ausschauen würde."
Kurz gesagt: Der Mann, der ihr da entgegenkam und die
Hunde zur Ruhe rief, sah aus wie die Poldi sich manchmal
meinen Onkel Peppe vorstellte, wenn er je so alt geworden
wäre. Kein Wunder, dass meine Tante lichterloh in Flammen
stand - trotz Hans und Franz, die sie immer noch in Schach
hielten.
„Alles in Ordnung, Signora?"
Die Poldi zupfte sich ihre Perücke zurecht. „Nein. Sieht
das etwa so aus?"
Der Mann kam näher. Und mit jedem Schritt wurden Poldis
Knie weicher, und die Hitze wurde stärker. Was aber auch
eine Nachwirkung des Schrecks sein mochte. Der Mann
scheuchte die Hunde weg, die sich sofort beleidigt
trollten.
„Sind das Ihre Hunde?"
„Nein. Aber mein Grundstück. Was machen Sie hier?"
„Das Tor war auf."
Der Mann sah sie prüfend an. „Sie sind nicht von hier,
Signora, nicht wahr?"
„Aus München."
„Und in Deutschland ist ein offenes Tor also eine
Einladung, ein Privatgrundstück zu betreten?"
Sein Hemd war weit genug aufgeknöpft, dass die Poldi
graue Brusthaare sehen konnte, und obwohl er fast
anorektisch schmächtig war, wirkten seine Arme kraftvoll.
Seine Unterarme vor allem, und auf kaum etwas anderes stand
die Poldi mehr als auf kräftige Unterarme. Seine
schlaksigen, aber selbstsicheren Bewegungen, seine Art, den
Kopf beim Sprechen ein wenig schräg zu legen, die Fältchen
um seine Augen - alles erinnerte die Poldi so schmerzlich
an ihren Peppe, dass ihr fast schlecht wurde.
„Ich habe gerufen", verteidigte sie sich, ganz matt vor
Schreck und Sehnsucht. „Ich ... bin Journalistin."
„Selbst im Ausnahmezustand nie um eine Lüge verlegen",
kommentierte ich, als sie es mir später erzählte.
„Ja, was denkst denn du, i war doch undercover."
„Aber ... Ich meine, du konntest dir doch denken, dass dir
diese Lüge gleich um die Ohren fliegen würde."
„Im Gegensatz zu dir bin i halt mehr so der spontane
Typ."
„Verstehe. Du Epimetheus, ich Prometheus."
„Was meinst?"
„Du Tarzan, ich Jane."
„Sag mal, machst du dich etwa über mich lustig?"
„I wo."
„Schade. Und i dacht schon, es gäb Hoffnung. Darf i jetzt
nachert weitererzählen?"
„Forza Poldi!"
„Wein und Weib", improvisierte die Poldi rasch drauflos
weiter. „Wir sind ein neues Wein-Portal für Frauen, und ich
arbeite an einer Strecke über sizilianische Weine und ihre
Winzer."
Das schien den Grauhaarigen zu amüsieren. „Müssen die
sich dazu ausziehen?"
„Hemd reicht", entfuhr es der Poldi. „Ich meine ... nein,
natürlich nicht." Sie streckte dem Mann die Hand entgegen.
„Isolde Oberreiter. Nennen Sie mich Poldi."
Der Mann ergriff ihre Hand, dass es der Poldi einfach nur
durch und durch ging, und sah ihr fest in die Augen.
„Achille Avola. Achille. Möchten Sie die Kellerei sehen?"
„Ich will Sie nicht aufhalten."
„Ich bitte Sie!"
Er führte sie um den Hang herum durch Spaliere von
abgeernteten Weinstöcken. Die beiden Schäferhunde liefen
vor, um schon mal Bericht zu erstatten.
„Sie haben Glück", sagte Avola. „Heute ist der letzte Tag
der Weinlese."
„Und? Wie wird der Jahrgang?"
„Wir sind optimistisch. Das Frühjahr war zu nass, aber
der Sommer hat uns nicht im Stich gelassen." Er zog eine
Packung Roth-Händle aus der Hemdtasche, klopfte eine
Zigarette heraus und hielt sie der Poldi hin.
Dieselbe Marke, die gleiche traumwandlerisch lässige
Bewegung wie der Peppe. Seine Hände waren verfärbt vom
Most.
„Rauchen Sie?"
Die Poldi nickte. Sie hielten an und rauchten, ganz
allein, so mitten zwischen den Reben, als gäbe es die Welt
nicht mehr, nur noch sie beide. Eine schöne Vorstellung,
fand die Poldi und sah Avola beim Rauchen zu. Ein leichter
Wind wehte den Rauch von seinen Lippen, er deutete den Hang
hinauf.
„Wir stehen auf einem alten Krater. Die Geologen schätzen
ihn auf um die zwanzigtausend Jahre. Schon die Griechen
haben hier Wein angebaut. Das hier sind übrigens
Carricante-Reben."
Die Poldi schwieg nur. Auch ein seltener Zustand. Um
Avola nicht weiter anzustarren, wandte sie sich ein wenig
zur Seite und bemerkte, dass sie doch nicht allein waren.
Ein drahtiger Mann mittleren Alters mit einer Basecap
bewegte sich zwischen den Reben langsam auf sie zu. Er
hielt eine Wünschelrute aus Metalldraht vor sich
ausgestreckt und wirkte ganz auf sein Tun konzentriert. Der
Poldi wurde plötzlich kalt.
„Was macht der da?"
Avola trat seine Zigarette aus. „Ich habe nicht die
leiseste Ahnung. Irgendwer hat ihn mitgebracht."
© Bastei Lübbe
Mario Giordano, geboren 1963 in München, schreibt Romane (u.a. Apocalypsis-Trilogie), Jugendbücher und Drehbücher (u.a. Tatort, Schimanski, Polizeiruf 110, Das Experiment). Er lebt in Köln.
- Autor: Mario Giordano
- Altersempfehlung: 16 - 99 Jahre
- 2016, 1. Aufl., 368 Seiten, Maße: 13,5 x 21,6 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Ehrenwirth
- ISBN-10: 3431039480
- ISBN-13: 9783431039481
- Erscheinungsdatum: 13.05.2016
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