Taxi für eine Leiche
Ein Wien-Krimi. Roman zum Film
MORD IM VORSTADTKINO - KRIMISPANNUNG MIT ORIGINAL WIENER SCHMÄH!KINOBESITZERIN AUF MÖRDERJAGDIn einem schäbigen Wiener Vorstadtkino wird die Leiche eines alten Mannes gefunden. Schon der dritte Tote in einem Monat - wieder ein älterer Mann und wieder mit...
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Produktinformationen zu „Taxi für eine Leiche “
Klappentext zu „Taxi für eine Leiche “
MORD IM VORSTADTKINO - KRIMISPANNUNG MIT ORIGINAL WIENER SCHMÄH!KINOBESITZERIN AUF MÖRDERJAGDIn einem schäbigen Wiener Vorstadtkino wird die Leiche eines alten Mannes gefunden. Schon der dritte Tote in einem Monat - wieder ein älterer Mann und wieder mit durchgeschnittener Kehle. Weil die Polizei nicht weiterkommt, geht die Kinobesitzerin Hermine selbst auf Mörderjagd. Sie trifft einige Besucher der Spätvorstellung im Café und stellt einen Kreis der Verdächtigen auf, vom Taxifahrer Schurli bis zu den betagten Kinogeherinnen Ella und Klara. Immer tiefer wird Hermine in Intrigen verwickelt, die mindestens so düster, grotesk und bedrohlich sind wie die Filme, die sie in ihrem Kino zeigt.EIN RAFFINIERTER PSYCHO-KRIMI MIT ABGRÜNDIGEM WIENER HUMOREdith Kneifl spielt in ihrem Roman vergnügt mit Bezügen zu bekannten Kriminalfilmen. So schafft es die "Grande Dame des österreichischen Kriminalromans" (Die Presse), eine psychologisch raffinierte Story mit abgründigem Wiener Humor zu verbinden.DAS BUCH ZUM KULTFILM VON WOLFGANG MURNBERGERDie Verfilmung des Romans von Wolfgang Murnberger, dem Regisseur der beliebten Brenner-Filme mit Josef Hader, wurde prompt mit einer Romy ausgezeichnet."Abgründig und eigentümlich wie die Wiener Seele selbst - hier liegen Komik und Grauen nah beieinander!""Hier kriegt man das urtypische Wiener-Vorstadt-Flair, präsentiert in einer spannenden Krimihandlung. Das ist besser als jeder TV-Film am Abend!"
Lese-Probe zu „Taxi für eine Leiche “
Edith Kneifl - Taxi für eine LeicheDer Mörder hielt den aufgeklappten Taschenfeitl wie
einen Dolch in der erhobenen Hand. Er stieß seinem
Opfer die kleine scharfe Klinge in die rechte Seite des
Halses. Ein schneller sauberer Schnitt. Das Blut schoss
mit solcher Macht heraus, dass kleine Fleischfetzen
bis an die Wand spritzten …
1
Schritte. Schwere Schritte. Ein kühler Luftzug. Ein
dumpfer Knall. Ein schwacher Lichtschein. Eine zerbeulte
Cola-Dose.
Sie steckte die Dose in den Mistsack, bückte sich,
hob Kaugummipapier und Popcornbecher auf.
Zwei Beine, schwarze Strümpfe, schwarze Schuhe.
Ihre Finger berührten weiches warmes Fleisch. Sie
roch an ihren Fingern. Frisches Blut.
Sie schrie.
Das grelle Licht ihrer Taschenlampe tastete schonungslos
über die fahlen eingefallenen Züge eines Mannes.
Sein Mund stand o*en. Seine Augen waren weit
aufgerissen.
„Scheiße“, schimpfte sie leise, als fürchtete sie, der
Tote könnte sie hören.
Zum Glück hatte es wieder einen alten Mann
erwischt. Nach jeder Vorstellung hatte sie Angst, ein
junges Gesicht unter den Sitzen zu entdecken.
Sie wusste, dass sie nichts anrühren sollte. Es war
schon ein Fehler gewesen, die Finger auf die o*ene
Wunde in seinem Hals zu legen. Der Strahl ihrer Lampe
richtete sich auf den zusammengekrümmten Körper
unter den hochgeklappten Sitzen.
Erst jetzt bemerkte sie, dass dem Alten nicht nur
die Kehle durchgeschnitten, sondern auch Brust und
Bauch aufgeschlitzt worden waren. Blut, nichts als Blut.
Auch rund um sein Hosentürl breitete sich ein großer
dunkler Fleck aus.
Erschüttert wandte sie sich ab und wankte leicht
benommen zurück ins Foyer.
Im Spiegel gegenüber der Kasse erblickte sie das
Gesicht einer alten Frau. Die Wangen grau wie ihr zer-
rauftes Haar, die Lippen farblos,
... mehr
Angst und Entsetzen
in ihren Augen.
Sie strich sich das Haar aus der Stirn. Ihre Finger
waren blutbeschmiert.
Angeekelt stürzte sie aufs Klo, drehte den Wasserhahn
auf und hielt die Hände unter den eiskalten Strahl.
Neben dem Waschbecken lag ein Stück Kernseife
am Boden. Sie hob die Seife auf, schrubbte ihre Hände,
bis sie sich röteten, wusch sich auch das Gesicht und
kontrollierte ihre Kleidung. Keine Blutflecken.
Vielleicht ist die Glühbirne im Klo zu schwach?
Im Foyer musterte sie sich noch einmal gründlich im
großen Spiegel.
Ihr graute vor morgen früh. Milena war auf Besuch
bei Verwandten in Kroatien. Der Kinobesitzerin würde
also nichts anderes übrig bleiben, als in ihrem Kino
selbst Putzfrau zu spielen.
Das Haus hatte ihrer Mutter gehört. Um die notwendigsten
Renovierungsarbeiten bezahlen zu können,
hatte sie ihre letzte, eiserne Reserve geplündert.
„Das Kapitalsparbuch darfst du nicht anrühren, das ist
deine Altersversorgung“, klangen ihr die letzten Worte
ihrer Frau Mama noch in den Ohren.
Ihre Zimmer-Küche-Kabinett-Wohnung lag im
ersten Stock. Bad und Küche waren durch einen
geblümten Plastikvorhang voneinander getrennt.
Die Toilette hatte sie bis vor kurzem mit einer Studentin
geteilt, die in der Zimmer-Küche-Wohnung
nebenan hauste. Nachdem die junge Frau ihr Studium
beendet hatte, schaute sie sich nach einer besseren
Bleibe um. Hermine K. hatte erst gar nicht versucht,
neue Mieter für die desolaten Räume zu finden,
sondern benützte sie als Lager für ihre Filmutensilien
und für das Gerümpel ihrer Mutter. Der
zweite Stock des Hauses war unbewohnbar, diente
ihr schon länger als Rumpelkammer.
Obwohl die alte Frau Karpfinger vor zwanzig Jahren
sanft entschlummert war, bewahrte die Kinobesitzerin
bis heute alle ihre Sachen auf. Sie brachte es
einfach nicht übers Herz, sich von den wurmstichigen
Möbeln und der mottenzerfressenen Garderobe ihrer
Frau Mama zu trennen.
In der unbewohnten Ein-Zimmer-Wohnung sah
es aus wie in einem Gruselkabinett. Zwischen einem
lebensgroßen Humphrey Bogart aus Pappmaché und
einer ramponierten Marilyn Monroe – eine Schaufensterpuppe
bekleidet mit einem weißen Fetzen –,
stapelten sich Kartons voller Zeitungsausschnitte,
Autogrammfotos und vergilbter Ansichtskarten, Hüte
in allen Farben und Größen, verstaubte Filmrollen und
kaputte Beleuchtungslampen. Bei jedem Schritt stolperte
man über ein Sammelsurium von leeren Zigarrendosen,
Bonbonschachteln, Bierdeckeln und Schwedenbombenkartons.
Jedes Mal, wenn Hermine K. nicht
wusste, womit sie die nächste Gasrechnung bezahlen
sollte, nahm sie sich vor, die Wohnung zu entrümpeln
und erneut zu vermieten.
Die karpfinger-lichtspiele nahmen das ganze
Parterre eines alten zweistöckigen Hauses ein. In der
Linzer Straße gab es noch eine ganze Reihe dieser typischen
Wiener Vorstadthäuser. In den letzten Jahren
hatte allerdings so manch schmuckes kleines Häuschen
einem mehrstöckigen Neubau weichen müssen.
Hermine K. hatte sich bisher erfolgreich gegen den
Abbruch ihres Hauses gewehrt. Obwohl ihre finanzielle
Situation von Jahr zu Jahr trister wurde, hatte sie
durchaus lukrative Angebote ausgeschlagen.
Der Kinosaal fasste hundert Leute. Hermine K. war
überglücklich, wenn sie in einer Vorstellung fünfzig
zahlende Besucher hatte. Das kam jedoch nur alle heiligen
Zeiten einmal vor. Von Jahr zu Jahr ging es finanziell
bergab. Die Einnahmen deckten oft nicht einmal
die laufenden Betriebskosten.
Mord hin, Mord her, ich muss mich jetzt um die
Abrechnung kümmern, sagte sich die Kinobesitzerin.
Die Steuer fahnder jagten ihr mehr Angst ein als die
Kriminal polizei.
Sie setzte sich hinter die Kasse und trug die dürftigen
Einnahmen ordentlich in ein großes schwarzes
Buch ein. Akuter Besucherschwund. Fünfzehn zahlende
Besucher in der Samstagabendvorstellung. Wenn
das so weitergeht, kann ich nicht einmal die nächste
Stromrechnung bezahlen.
Auch ihren Freunden schien die triste Lage bewusst
zu sein. Jean Gabin blickte ernst und traurig auf sie herab.
Robert Mitchum runzelte leicht verärgert die schöne
Stirn. Edward G. Robinson und James Cagney dagegen
hatten nur ein hintergründiges Grinsen für sie übrig.
Die alten Filmplakate, mit denen sie den kleinen
Kassenraum austapeziert hatte, waren vergilbt und völlig
zerschlissen. Hermine K. konnte sich jedoch nicht
dazu entschließen, ihre Lieblinge gegen Robert de Niro,
Al Pacino oder gar gegen Schimanski auszutauschen.
Nach einem letzten verzweifelten Blick auf ihr Kassabuch
beschloss sie, dem „Café Nachtlberger“ noch
einen kurzen Besuch abzustatten. Trotz der winterlichen
Temperaturen sehnte sie sich nach einem kühlen
Blonden. Im karpfinger-kino herrschte striktes
Alkoholverbot. Sie hielt sich auch selbst daran. Im Eiskasten
hinter der Kasse kugelten nur Coca-Cola-Dosen
und Limonadeflaschen herum. Sogar Almdudler und
Frucade führte sie seit einiger Zeit.
Für den Toten konnte sie sowieso nichts mehr tun.
Sie wollte sich bis morgen überlegen, ob sie die Polizei
verständigen oder ihn einfach verschwinden lassen
sollte. Die Kriminalpolizei hatte nach den letzten
beiden Morden die Presse angelockt. Und die
Zeitungsleute hatten eine Menge ungustiöser Artikel
über ihr Kino verbrochen. Sie war stinksauer auf
diese „Schmierfinke“.
Sorgfältig sperrte sie die kleine Handkasse ab,
steckte den Schlüssel in ihre Rocktasche und schob die
Stahlkassette in die oberste Schublade ihres Schreibtisches.
Dann kletterte sie die Wendeltreppe hinauf in
den Vorführraum und vergewisserte sich, dass Karl alle
Lampen ausgeschaltet hatte. Der alte Operateur war
ziemlich vergesslich geworden. Sie befürchtete, eines
Tages abzubrennen. Vielleicht wäre das gar nicht die
schlechteste Lösung? Gegen Brand bin ich wenigstens
versichert, dachte sie.
Der Schalter für das Notlicht befand sich gleich
neben der Saaltür. Froh, den Kinosaal nicht noch einmal
betreten zu müssen, drehte sie auch das Licht im
Foyer ab. Tote fürchten sich nicht in der Dunkelheit.
Sie schlüpfte in ihren schäbigen Pelzmantel, setzte den
neuen Hut auf und verließ das Kino.
Als sie die Glastür zusperrte, fiel ihr ein, dass sie
auch die Seitenausgänge kontrollieren sollte.
2
Der Himmel über Wien war schwarz. Der Mond versteckte
sich hinter den Wolken. Es hatte zu nieseln begonnen.
Feuchtkalter Novembernebel umhüllte die baufälligen
Häuser in der Nachbarschaft.
Hermine K. zog ihren Hut tiefer ins Gesicht, stellte
den Kragen ihres Mantels hoch und vergrub die Hände
in den Taschen. „So ein Sauwetter“, schimpfte sie leise
und rempelte unabsichtlich einen Mann an, der die
Plakate und Fotos in den Schaukästen ihres Lichtspieltheaters
studierte.
„Entschuldigung.“
Er rührte sich nicht.
Sie schenkte ihm einen zweiten Blick und erkannte
ihn. Ein Besucher der Spätvorstellung. Der junge Mann
war ihr nicht nur wegen seiner exorbitanten Größe aufgefallen,
sondern auch, weil er fast den gleichen Hut
trug wie sie. Hermine K. lächelte ihn freundlich an.
Versunken in den Anblick von Jack Nicholson, der
gerade Jessica Lange über den Küchentisch legte,
reagierte er nicht auf ihr Lächeln.
Die Schaukästen befanden sich neben dem vorderen
Seitenausgang. Sie zögerte einen Moment, rüttelte
dann doch an der Tür, hinter der, keine paar Meter entfernt,
der Tote lag. Erleichtert, weil die morsche Holztür
nicht nachgab, überquerte sie die Straße.
Schritte folgten ihr. Laut und selbstsicher hallten
sie auf dem Kopfsteinpflaster wider. Ihre Finger in
der rechten Manteltasche umklammerten den schweren
Schlüsselbund. Ängstlich drehte sie sich um. Der
Fremde ging knapp hinter ihr.
Die Straßenbeleuchtung war ausgefallen. Seit gestern
Abend lag dieser Teil der Linzer Straße völlig im
Dunkeln. Die Koloniamänner hatten sich auch schon
eine Woche lang nicht blicken lassen. Vor der „Pizzeria
Rudolfo“, schräg gegenüber dem Kino, türmten
sich die Mistsäcke. Im Rinnstein schwamm, was in den
Plastik säcken keinen Platz mehr fand. Bald würden sich
die Ratten darüber hermachen. Ihr ekelte vor Ratten.
Plötzlich hörte sie keine Schritte mehr. Trotzdem
war sie froh, als sie die vermummte Gestalt vor dem
Maronistand erblickte.
Herr Bronislav schaufelte gerade glosende Holzkohlenstücke
in einen schwarzen Kübel und bedeckte den
Kohleofen mit einem Blechdeckel. Seine schwieligen
Hände waren blaugefroren, und seine große Nase leuchtete
wie ein Stopplicht über dem karierten Wollschal.
„Schluss für heute?“, fragte Hermine K.
Der serbische Maronibrater blickte auf, zog den
Schal ein Stück herunter. Ein Lächeln verschönerte
seine von unzähligen Narben entstellten Züge. „Guten
Abend, Frau Karpfinger“, begrüßte er sie freundlich.
„Möchten Sie ein paar Maroni? Ich schenke sie Ihnen,
leider sind sie nicht mehr sehr warm.“
Er gri* nach einem braunen Papiersack.
„Ich brauchen kein Sackerl. Sie mir geben nur zwei,
drei Stück.“
Sie befreite eine lauwarme Maroni von ihrer Schale,
stopfte sie in den Mund und murmelte: „Beruhigt die
Leber.“
Während Herr Bronislav Klauscek, den alle der Einfachheit
halber Branko nannten, den Rollladen an seinem
Stand herunterließ, fragte sie ihn mit vollem Mund,
ob er jemanden um ihr Kino schleichen gesehen hätte.
Er schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe niemanden
gesehen. Aber ich habe, ehrlich gesagt, nicht geschaut.“
„Geschäft gehen gut heute?“
„Leider nicht. Es ist zu kalt. Kein Mensch traut sich
bei dieser Glätte auf die Straße.“
„Du sehen Kino von hier?“
Herr Bronislav nickte. „Ich habe wirklich nichts
gesehen. – Ist wieder etwas passiert?“, fragte er besorgt.
Anstatt ihm zu antworten, stopfte sie die letzte
Maroni in den Mund und verabschiedete sich: „Bis
morgen, Branko, und danke für die Vorspeis.“
Keine zwei Leute kamen auf diesem schmalen
Streifen, der sich Gehsteig nannte, aneinander vorbei.
Sie schlängelte sich zwischen parkenden Fahrzeugen
durch, drückte sich an den Hausmauern entlang und
ging eine enge Gasse hinauf zur Hütteldorfer Straße.
Trostlos sah es aus in den Seitengassen des vierzehnten
Wiener Gemeindebezirks: Tiefe Schlaglöcher,
große Pfützen, leere Gassenlokale, eingeschlagene
Fensterscheiben, dunkle Hauseingänge, stockfinstere
Hinterhöfe, leerstehende Fabrikgebäude, eine
ehemalige Brauerei, ein aufgelassenes Stripteaselokal –
die Fotos von nackten, nicht mehr ganz taufrischen
Mädchen hingen noch immer in den Auslagen. In der
Ferne die Lichter des neuen Gemeindebaus. Die Wohnungen
waren erst vor drei Jahren, vom Herrn Bürgermeister
höchstpersönlich, an die Mieter übergeben
worden, die großteils fünf, sechs Jahre oder sogar länger
darauf gewartet hatten. In den Dachgeschosswohnungen
machte sich angeblich bereits Schimmel breit.
Wie in meinem Kino, dachte Hermine K. und konnte
sich eine gewisse Schadenfreude nicht verkneifen. Jung
verheiratet, hatten sie und ihr Mann sich jahrelang vergeblich
um eine Gemeindewohnung bemüht.
Um die Vorstadt kümmerten sich die Politiker nur
vor den Wahlen. Die restliche Zeit mussten die Leute
hier selbst schauen, wie sie zurechtkamen. Nicht ein-
mal die U-Bahn fuhr bis hierher. Ab dem Gürtel musste
man mit dem langsamen 52er oder mit dem nicht viel
schnelleren 49er vorliebnehmen. Selbst die Konsumfiliale
war vor einigen Jahren zugesperrt worden. Nur
ein Greißler hatte überlebt. Die alte Frau Hinterberger
machte ihren Laden jedoch nur mehr auf, wenn
sie wollte, oder besser gesagt, wenn ihr krankes Herz
und ihre müden Beine es erlaubten. Ihre Extrawurst
war meistens graugrün, die Äpfel waren verschrumpelt,
und in ihrem Mehl tummelten sich die Motten.
Hermine K. erledigte ihre Einkäufe immer Samstag
vormittags in einem Supermarkt, drei Straßenbahnstationen
stadteinwärts. Bei der Greißlerin kaufte sie seit
Jahren nur mehr Bier und die Milch für ihren Frühstückskaffee.
Ein Wagen näherte sich mit achtzig Sachen. Ihre
schwarze Schnürlsamthose und ihr Pelzmantel bekamen
ein paar Spritzer ab. Sie hatte den Nerz, ein Erbstück
ihrer Mutter, vor Jahren, als Mini modern war,
kürzen lassen. Seit die Rocklänge wieder unters Knie
gerutscht war, vor allem für Damen ihres Alters, kam
sie sich richtig armselig damit vor, so als hätte das Geld
nicht gereicht.
Verärgert versuchte sie mit einem Papiertaschentuch
den Dreck von Hose und Mantel zu entfernen.
„Um diese Zeit sind nur mehr lauter Arschlöcher
unterwegs“, sagte eine junge Stricherin, die unter dem
Vordach eines Wäschemodengeschäftes auf und ab stiefelte.
Hermine K. gab ihr Recht.
„Tun S’ nicht lang herumreiben, das macht alles nur
schlimmer. Geben S’ die Sachen lieber in die Putzerei.“
Die Schöne der Nacht schien, trotz ihres jugendlichen
Alters, bereits gewisse Erfahrungen mit rücksichtslosen
Autofahrern gemacht zu haben.
3
Sissis Würstelstand war noch geöffnet. An dieser Stelle
hatte früher einmal ein hübsches kleines Barockhaus
gestanden. Hermine K. hatte damals, als der Abbruch
bereits eine beschlossene Sache war, gegen diesen
barbarischen Akt protestiert. Sie war sogar einer Bürgerinitiative
beigetreten und hatte in ihrem Kino jede
Menge Unterschriften gesammelt. Trotz Unterstützung
der „Grünen“ hatten sie keine Chance gehabt.
Der Besitzer, wohnhaft in der schönen Schweiz, war
froh gewesen, dieses Sandlerparadies endlich loszuwerden.
Seit zwei Jahren gähnte hier nun eine Baugrube.
Die Gerüchteküche prophezeite einen Supermarkt oder
ein Bürogebäude – ein Parkhaus würde es wohl werden.
Inzwischen entwickelte sich Sissis „Würstelhex“
zu einer wahren Goldgrube. Ihr Würstelstand war der
einzige im Umkreis von einem Kilometer.
Die Kinobesitzerin konnte die fesche Sissi nicht
ausstehen. Sie mochte keine schlanken dunkelhaarigen
Frauen, vermisste an ihnen die Gutmütigkeit und
Großzügigkeit, die Frauen ihres eigenen Kalibers auszeichneten.
Für ordinäre Frankfurter verlangte „dieses
geldgierige Luder“ einen Dreißiger und für eine
Extraportion Senf noch einmal fünf Schilling. Das Brot
brachte man sich am besten selbst mit. Sissis Scheiben
waren meist einige Tage alt und dünn wie Löschpapier.
„Guten Abend, Frau Karpfinger.“ Ein süßes falsches
Lächeln, ein böser Blick. Die Antipathie war gegenseitig,
auch Sissi konnte „diese präpotente Kinobesitzerin“,
wie sie Hermine K. anderen Stammgästen
gegenüber zu nennen pflegte, nicht ausstehen. „Was
darf’s denn sein?“
„Eine Heiße, und tun Sie mir dieses Mal ein bisschen
mehr Senf drauf.“ Hermine K. war nicht gewillt,
fünf Schilling extra hinzulegen.
„Aber freilich, Frau Nachbarin. Süß oder scharf?“
„Einen Süßen, wie immer.“
„Darf’s vielleicht auch ein Pfe*eroni sein?“
„Ja, von mir aus, geben Sie mir auch noch einen
Rachenputzer.“
„Ist wieder spät geworden heute Abend?“
„Auch nicht später als sonst.“
„Es ist schon gleich halb!“
„Ja und?“
„Normalerweise machen Sie doch um zehn Schluss …“
„Allzu viel dürfte bei Ihnen nicht gerade los sein,
sonst bliebe Ihnen wohl kaum Zeit, mich zu bespitzeln.“
„Seien Sie nicht gleich so angerührt, Frau Karpfinger,
ich hab’s ja nicht bös gemeint. Aber Sie haben
schon Recht, das Geschäft geht schlecht. Unsere
Leute hocken abends alle vorm Fernseher. Außer den
Nutten und den Tschuschen kommt keiner mehr nach
acht. Auf die Jugos könnt ich gern verzichten. Warum
müssen die gleich immer zu viert oder zu fünft anrücken?
Jedes Mal denke ich, meine letzte Stunde
hat geschlagen. Die gehen mir bestimmt eines Tages
an die Kassa.“
„Passiert ist Ihnen, bisher jedenfalls, nichts.“
„Nein, aber sie sind wirklich zum Fürchten. Allein
wie die schon ausschauen …
„Wie Verbrecher, ich weiß“, unterbrach sie Hermine
K. „Jung sind sie halt und ein bisserl ausgeflippt. –
Mein Gott, wir waren doch auch einmal jung.“
„Ihr Wort in Gottes Ohr!“
In den abbruchreifen Häusern wohnten fast nur
mehr kroatische, serbische oder türkische Gastarbeiter. Manche Familien lebten schon seit Jahren hier und
hatten hinter den Häusern kleine Gärten angelegt. In
den Sommermonaten kauften die Österreicherinnen
bei ihnen Erdbeeren und frischen Salat zu Spottpreisen.
Den Rest des Jahres schimpften sie über „dieses
Zigeunerpack“.
Ein Betrunkener wankte auf den Würstelstand zu
und bestellte stammelnd: „Eine Eitrige mit Buck…ckel
und zwei Hül…Hülsen.“
„Ein kleines Momenterl. – Hier, bitte schön, Ihr
Burenhäutel mit extra viel Süßem.“
Die Kinobesitzerin aß schnell und gierig. Sie hatte
seit der Früh keinen Bissen zu sich genommen.
Sissi reichte dem Betrunkenen eine fette Käsekrainer
mit einem Scherzel und zwei Dosen Bier und
bestand darauf, dass er sofort bezahlte.
Er zog einen zerknitterten Hunderter aus seiner
Hosentasche und murmelte: „Stimmt so.“
Sogleich wurde Sissi eine Spur freundlicher und
fragte ihn, ob sie ihm die Dosen aufmachen solle.
„Nein danke, Madame, das schaff ich schon alleine.“
Sie wandte sich wieder dem Bildschirm ihres kleinen
Fernsehapparats zu. „An sich mag ich den Fendrich,
ein fescher Bursch, aber mit der Zeit werden seine
Schmäh auch immer schwächer.“
„Reinhard Fendrich, jetzt um halb elf?“, fragte Hermine
K. verwundert.
„Video!“
„Ach so.“
„Hab um viertel acht keine Zeit gehabt, mir die Show
anzuschauen.“
„Herzbla…blatt“, lallte der Betrunkene.
„Ja genau. Ist meine Lieblingssendung, obwohl er
immer nur junge hübsche Pupperl bringt. Dabei gibt
es gerade unter unsereins jede Menge einsame Herzen,
nicht wahr, Frau Karpfinger?“
Angewidert zog Hermine K. die Augenbrauen hoch,
schluckte den letzten Bissen Burenwurst hinunter,
wischte sich mit der rauen Papierserviette den Mund
ab und sagte: „Wenn einer in unserem Alter einsam ist,
dann ist er selber schuld.“
Die junge Prostituierte verließ ihren Platz unter
dem Vordach des Wäschemodengeschäftes und näherte
sich der hellbeleuchteten „Würstelhex“.
Bei Licht sieht sie wesentlich älter aus, dachte die
Kinobesitzerin. Außerdem hat sie den schweren schleppenden
Gang einer alten Frau.
„Soll ich dir für einen Fünfziger einen blasen?“,
fragte die Kleine den Betrunkenen.
Er grinste sie nur blöde an.
Sissi und Hermine K. schenkten einander einen
pikierten Blick.
„Möchten Sie einen Schluck Bier? Die Wurst so trocken
runterwürgen, das könnt ich nicht“, wechselte
Sissi das Thema.
„Mein Bier trinke ich im ‚Nachtlberger‘.“
„Beim Schorschi, gell?“
Hermine K. hätte ihr am liebsten eine runtergehauen,
zückte aber statt dessen ihr Portemonnaie und
legte genau vierunddreißigfünfzig neben ihren mit Senf
beschmierten Pappendeckelteller. „Auf Wiederschaun.“
„Auf Wiedersehen, Frau Karpfinger, und lassen Sie
sich das Bierchen beim Schorschi gut schmecken.“
„Danke, das werde ich“, konterte die Kinobesitzerin.
Diese alte Schlampe hat es auf meinen Schorschi abgesehen.
Aber mit solchen Bohnenstangen hat er nicht
viel am Hut. Er hat es gern etwas fester, hat gern was in
der Hand, der gute alte Schorsch, dachte sie beruhigt.
4
Bierdunst strömte Hermine K. entgegen. Gelächter
und lautes Stimmengewirr dröhnten bis hinaus auf
die Straße.
Das „Nachtlberger“ war das einzige Lokal weit und
breit, das nach Mitternacht geö*net hatte. O=zielle
Sperrstunde war um zwei. Allzu oft wurde es aber drei
oder gar vier, bis der Oberkellner Schorsch, gemeinsam
mit seinen letzten Gästen, das Café verließ.
Die Kinobesitzerin schob den schweren dunkelgrünen
Vorhang hinter der Eingangstür beiseite und
betrat das Lokal mit einem freundlichen „Guten Abend
allerseits“.
„Hallo, Mimi“, grölte ein betrunkener Stammgast,
mit dem sie nicht einmal per Du war.
„Servus, Mimi-Maus“, begrüßte Schorschi sie. Sein
drittes Gebiss leuchtete wie eine Zahnpastareklame.
„Ein Bierchen?“
„Ja, ein Seidel.“
„Warum bestellst nicht gleich ein Krügerl? Auf die
Dauer kommen dich die ewigen Seidel ganz schön teuer.“
„Möcht wissen, was dich das angeht. – Mir schmeckt’s
eben im Seidel besser.“
„Tschuldigen Sie schon, Frau Karpfinger, ich hab’s
ja nur gut gemeint.“
„Ja, ja, ich weiß, du meinst es immer nur gut mit
mir. Aber sag, was ist denn mit deinen Stimmbandeln
passiert? Du hörst dich an, als hättest ein Reibeisen
verschluckt.“
Er räusperte sich lautstark und krächzte: „Halsweh
hab ich.“
„Hast wieder geraucht wie ein Schlot, gib es wenigstens
zu.“
„Nein, ehrlich nicht. Ich hab eine Angina pectoris.“
„Du weißt ja nicht einmal, was das ist“, sagte Hermine
K. lachend und zog ihren Pelzmantel aus.
Das „Nachtlberger“ war im Winter immer überheizt.
Die kleinen Kohleöfen spuckten die Wärme aus
wie kalorische Kraftwerke.
„Du kannst mir den Buckel runterrutschen!“ Schorschi
drehte sich um und zapfte für seine Freundin
besonders langsam ein kleines Bier. Zärtlich strich er
mit einer Holzspachtel den Schaum weg und füllte das
Glas bis zum obersten Rand. „Bitte sehr, Ihr Seidel,
Madame.“
„Bist heute auch nicht gerade der Schnellste.“
Er hustete demonstrativ. „Ich möcht dich einmal
hinter der Theke erleben, wenn alle auf einmal einen
Durst kriegen. Man könnt fast glauben, je mehr sie saufen,
desto durstiger werden s’.“
Sie stürzte ihr Bier in zwei Zügen hinunter. „Noch
eins, Schorschi.“
„Du bist eine Alkoholikerin, du willst es nur nicht
wahrhaben.“
„Verschon mich mit deiner Moralpredigt. Gib mir
lieber was zu trinken. Ich hab einen Durst.“
Er schüttelte den Kopf, beeilte sich aber, ihr ein
zweites Bier hinzustellen. „Warum musst du immer so
viel saufen, Mimi? Ich kapier das nicht. Du bist doch
eine attraktive Frau, eine Frau in den besten Jahren …“
Hermine K. hatte sich tatsächlich gut gehalten.
Zwar wirkte sie auf den ersten Blick wie eine etwas
füllig gewordene Hausfrau, aber ihre dreiundfünfzig
Jahre sah man ihr trotzdem nicht an. Nur ihre
Beine waren etwas aus der Fasson geraten, deshalb
trug sie auch jahrein, jahraus lange Hosen und bequemes
Schuhzeug – flache dunkle Halbschuhe mit Ein'
lagen. Ihre zarte, fast faltenlose Haut mit den vielen
Sommersprossen und ihre kleine lustige Stupsnase
ließen sie jedoch um mindestens zehn Jahre
jünger aussehen. Ihr dichtes graues Haar war kinnlang.
Stirnfransen verdeckten ihre spärlichen hellblonden
Brauen. Sie dachte nicht im Traum daran,
ihre ursprünglich rotblonde Haarfarbe wieder aufzufrischen,
war heilfroh, den lästigen Spitznamen
„Karotte“ endlich los zu sein.
Obwohl sie sich über das Kompliment ihres alten
Freundes insgeheim freute, sagte sie: „Hör mit dem
Gesäusel auf, Schorschiboy. Geh doch rüber zu deiner
Sissi, die hört sich dein Süßholzgeraspel bestimmt liebend
gerne an. Ich hab gerade ein Würstel bei ihr verdrückt,
und sie hat mir die ganze Zeit wieder nur von
dir vorgeschwärmt.“
„Lass mich mit dieser alten Pritschen in Frieden.
Du weißt, dass ich sie nicht ausstehen kann. Wenn
ich ihr auf der Straße begegne, wechsle ich die Seite.“
Etwas leiser fuhr er fort: „Aber ich mach mir wirklich
ernsthaft Sorgen um dich, Mimi. Kein Tag ohne
Alkohol, du bist eine Spiegeltrinkerin. Du hast jeden
Abend deine sechs, sieben Bierchen, das ist einfach zu
viel für eine Frau.“
„Die ‚Frau‘ habe ich überhört, du Chauvi! Aber vielleicht
kannst du Supergscheiterl mir verraten, womit
ich meinen Ärger sonst hinunterspülen soll? Von eurem
gepantschten Wein krieg ich Kopfweh und vom Mineral
Läuse im Bauch.“
„Was hast denn für einen Ärger? Schon wieder eine
Leich?“
„Sehr witzig!“ Sie beugte sich über die Theke und
flüsterte: „Ich hab wirklich wieder eine …“
„Jessasmarandjosef! Schmäh ohne?“
„Um Himmels willen schrei nicht so! Willst, dass
gleich das ganze Lokal auf Mörderjagd geht, so unter
dem Motto: Eine Stadt sucht einen Mörder? Eine Leiche
pro Woche, wenn das so weitergeht, werde ich
mein Kino bald zusperren müssen. Schon nach dem
ersten Mord sind die Hälfte der Leute ausgeblieben.“
„Ach deswegen bist so grantig. – Du kannst ihnen
nicht verübeln, dass sie wegbleiben. Wer setzt sich
schon freiwillig in ein hiniges Vorstadtkino, wo ein
Wahnsinniger einen nach dem anderen abkragelt?“
Ihr war bewusst, dass er Recht hatte. Die karpfin-
ger-lichtspiele befanden sich in einem katastrophalen
Zustand, sie schrien geradezu nach Generalsanierung.
Hermine K. hatte nicht nur berechtigte Angst
vor der Baupolizei, sondern befürchtete auch, dass die
alte Bude eines schönen Tages einfach über ihr zusammenkrachen
würde.
Das Dach war undicht. Nächsten Sommer würde
sie den Freiluftlichtspielen im Augarten ernsthafte
Konkurrenz machen und ebenfalls Open-Air-Vorstellungen
unter dem Motto „Kino unter den Sternen“
anbieten. Im Winter konnte man auf dem Dachboden
Schlittschuh laufen. Und hübscher schwarzer Schimmel
zierte nicht nur die Wände in ihrem Bad, sondern
machte sich auch im Kinosaal breit.
Die Eingangstür war mit ordinären Graffiti
geschmückt und aus karpfinger-lichtspiele waren
karpf’n’’’-lichtspiele geworden. „I“ und „GER“ hatten
sich längst verabschiedet, leuchteten einfach nicht
mehr. Die vergilbten Plakate und die uralten Fotografien
in den Schaukästen besaßen zwar einen gewissen
nostalgischen Charme, lockten aber gewiss keine
neuen Besucher an. Doch Hermine K. hatte keine Zeit,
sich um solche Kleinigkeiten zu kümmern.
5
Aus den Boxen über der Theke dröhnte in unerträglicher
Lautstärke „Junge, komm bald wieder“.
„Würdest du bitte dieses Gejeier ausmachen“, sagte
Hermine K. gereizt. „Ich kann den Freddy nicht mehr
hören, auch wenn er ein echter Wiener ist.“
„Nur seine Mutter war Wienerin“, korrigierte Schorschi
sie.
„Ja, ja, ich weiß, ich kenne seine Biografie auswendig.
Früher bin ich auf ihn gestanden. Aber stell ihn
jetzt bitte ab, ich ertrag solchen Schmus nicht mehr.
Von mir aus soll der Junge endlich untergehen …“
„Dem Wurli den Saft abdrehen? Nein, das kann ich
nicht machen. Da würden sich die anderen Gäste sauber
beschweren.“
„Geht’s nicht wenigstens ein bisschen leiser? Meine
armen Nerven …“
„Kein Wunder, wenn in deinem Kino schon wieder
einer abgekratzt ist. Ich hab gar kein Blaulicht gesehen
und keine Sirenen gehört.“
„Da hat es auch weder was zu sehen noch zu hören
gegeben. Mein Bedarf an Polizei ist gedeckt. Hast du
gewusst, dass sie mir seit neustens in jede Vorstellung
einen Wappler in Zivil reinsetzen? Der von heut
Abend hat nicht einmal zahlt, und seine Begleiterin
wollt er auch umsonst reinschmuggeln …“
„Über den hast du dich schon letzte Woche beschwert,
gell?“
„Dieser Schauer hat den Mord natürlich auch nicht
verhindert, scheint nichts mitgekriegt zu haben, obwohl
sich das Drama direkt vor seinen Augen abgespielt
haben muss. Wahrscheinlich liegt er längst zu Hause
in seinem Bett und sieht sich den Kojak an.“
„Ist das der mit dem Schlecker?“
„Bravo, Schorschi! Du schaust dir also doch hin und
wieder Kultursendungen an.“
„Und was ist mit deiner Leich passiert?“
„Nichts. Was soll ihr schon passiert sein. – Ich hab
den Laden einfach dichtgemacht. Morgen früh werde
ich dann weitersehen.“
„Bist deppert, Mimi? Du kannst doch den Toten
nicht über die Nacht in deinem Kino liegen lassen.“
„Wieso nicht? Tote schlafen fest.“
„Du bist echt leiwand.“
„Dem Alten kann es doch wurscht sein, wann er für
tot erklärt wird.“
„Dem Alten schon, aber ob’s den Bullen wurscht
sein wird …?“
„Tote haben es nicht eilig, der läuft mir nicht davon.“
„Du rufst jetzt sofort die Kripo an! – Brauchst einen
Schilling?“
„Morgen, Schorschi, morgen. Jetzt möchte ich erst
einmal in Ruhe mein Bier trinken.“
„Du spinnst wirklich! Wenn sie dir drau?ommen,
landest selber im Häfen.“
„Ich werde die Kieberer gleich in der Früh verständigen,
werd halt sagen, dass ich die Leiche erst beim Putzen
entdeckt hab, alles genau so wie beim ersten Mal.“
„Du bist einfach nicht mehr zu retten!“ Schorschi
tippte sich mit dem Zeigefinger auf die Stirn.
„Ich darf gar nicht an diese fürchterliche Schweinerei
denken …“ Angeekelt verzog sie das Gesicht und
schüttelte sich. „Im Saal hat’s furchtbar nach Schweiß
und Urin gestunken. Wahrscheinlich hat er sich angemacht
vor Angst. Und das Blut muss wieder weggespritzt
sein …, genau wie bei den anderen beiden. Nicht
einmal zugedeckt habe ich den armen Kerl, hab ihn
einfach so liegengelassen mit der durchgeschnittenen
Kehle und dem aufgeschlitzten Bauch. Ich hab mich
nicht getraut, genauer hinzuschauen. Bestimmt hängen
ihm die Gedärme raus.“
„Pfui Teufel!“
„Das kannst du laut sagen. Ich schwör dir, der Francis
Ford Coppola hätte dieses Blutbad auch nicht besser
hingekriegt.“
„Aber dein Palma schon, oder?“
„Meinst du den Brian de Palma oder den Robert
Palmer? Ist eh wurscht, keiner von beiden hätte das
gescha*t. Wenn du willst, kannst du dich selbst davon
überzeugen. Wir können ja nach der Sperrstund noch
einmal gemeinsam rüberschauen.“
Der Oberkellner schien nicht sehr begeistert von
dieser Idee. Er kehrte ihr den Rücken zu und leerte
ein paar Aschenbecher aus.
„Dass ein alter Mensch noch so viel Blut in den
Adern hat! Wie soll ich den Boden bloß je wieder sauberbekommen?
Drei solche Riesenflecken und alle drei
in den vorderen Reihen. Kein Mensch wird sich mehr
dort vorne hinsetzen wollen. Auch der Sessel ist blutdurchtränkt
– echt scheußlich, sag ich dir.“
„Wen hat’s denn dieses Mal erwischt?“, fragte
Schorschi neugierig.
„Kenn ihn nicht, hab das Gesicht vorher nie gesehen.“
„Hast ihn also nicht identifizieren können.“
Sie starrte missmutig in ihr Bierglas und fluchte
leise: „Verdammter Mist! Ich muss wirklich noch mal
rüber. Kommst du mit?“
„Spinnst? Ich kann jetzt unmöglich weg, wir haben
Hochbetrieb – das siehst doch.“
„Ich hab nicht einmal geschaut, ob seine Brief tasche
noch da ist. Vielleicht hat er irgendeinen Ausweis bei
sich …“
„Na, sag einmal, das weiß doch jedes Kind, dass man
bei einem Toten zuerst nach der Brieftaschen schaut.“
„Ich hab ein Hirn wie ein Nudelsieb“, übte sie sich
in Selbstkritik.
Ausnahmsweise widersprach er ihr nicht.
Am Tisch gegenüber der Theke saßen vier Männer
und spielten Karten. Ohne ihr Spiel zu unterbrechen,
riefen sie nach dem Kellner: „Schorschi, schläfst du
heut?“, schrie der eine.
„Wo bleibt mein Gspritzter?“, rief der andere.
„Ich hab ein Krügerl bestellt, aber bracht hast mir
ein pickertes Cola. Sind wir in einem Kasperltheater?“,
empörte sich der dritte.
Der vierte schwieg und machte den nächsten Stich.
„Nur nicht hudeln“, rief Schorschi. „Bin schon unterwegs,
meine Herren. – Den Wurschtel kann keiner derschlagen“,
sagte er lachend zu Hermine K.
„Heut Abend geht’s hier wieder zu wie in einem
Irrenhaus“, meckerte sie.
„Die Kartentippler haben es immer eilig mit der
Bestellung, und dann karteln sie seelenruhig stundenlang
bei einem Bier oder einem Achtel. Aber ich muss
mich jetzt trotzdem um sie kümmern.“
Sie nickte verständnisvoll.
„Du verzupfst dich eh noch nicht, gell?“ Er streichelte
ihre Hand und schenkte ihr einen langen, sehr
verliebten Blick.
Dann brachte er den Kartenspielern die Getränke
und schaute ihnen eine Weile beim Tarockieren zu.
6
Das „Nachtlberger“ war ein freundliches und gemütliches
Café, wenn man von den Tapeten absah, die von
Rauch und Küchendunst zerfressen und voll gelber Flecken
waren. Auch die graue abblätternde Decke hatte
dringend einen neuen Anstrich nötig, und der Parkettboden
gehörte wieder einmal ordentlich eingelassen.
Aber dafür blieb Milena, die auch im „Nachtlberger“
jeden Morgen aufräumte, wohl kaum genügend Zeit.
Als das Café vor ein paar Jahren renoviert wurde,
überzog man, dem damaligen Modetrend entsprechend,
die alten Polstermöbel mit einem geblümten Sto*. Der
alte beige Kunstlederbezug hatte viel besser zu den
einfachen braunen Holztischen gepasst. Im Sommer
war man allerdings mit den verschwitzten Schenkeln
darauf kleben geblieben.
Hermine K. hatte sich bei Schorschi über das
scheußliche Blümchenmuster beklagt. Auch die durchsichtigen
gelbbraunen Plastiktischtücher, die neuestens
die Tische schmückten, missfielen ihr. „Seid ihr
denn alle Mitglieder beim örtlichen Verschönerungsverein
geworden? Gratuliere, wirklich gelungen! Die
sind ja richtig appetitlich kakerlgelb“, hatte sie damals
die Bemühungen des Ka*eehausbesitzers kommentiert.
Seither legte der Oberkellner die Plastiktischtücher
nur mehr zu Mittag auf, wenn die Arbeiter und kleinen
Angestellten aus der Umgebung im „Nachtlberger“
schnell das billige Einser-Menü oder das etwas teurere
Zweier-Menü hinunterschlangen. Abends kamen die
Gäste wieder in den Genuss meist unbefleckter, gestärkter
weißer Tischtücher.
Die hübschen kleinen Lampen mit den hellgelben
Schirmen hatten die Renovierung überlebt. Sie spendeten reichlich warmes Licht. Jeder Tisch wurde durch
eine eigene Lampe gut ausgeleuchtet.
Plötzlich spürte Hermine K. einen Ellbogen in
ihrem Kreuz. Verärgert drehte sie sich um.
Knapp hinter ihr stand der große, junge Mann, dem
sie vorhin auf der Straße begegnet war. Er würdigte
sie keines Blickes, entschuldigte sich auch nicht für
den Rempler, stand einfach nur da und starrte in den
Spiegel hinter der Theke. Während sie noch überlegte,
ob sie ihn ansprechen sollte, verschwand er in Richtung
Toiletten. Sie sah ihm nach, folgte mit ihren Blicken
den langsamen, gleichförmigen Bewegungen seines
Hinterteils.
„Schorschi, komm her!“
Der Oberkellner, fasziniert von der hohen Kunst
des Tarockierens, stellte sich taub.
„Bist dearisch? Dein Typ ist gefragt“, schnauzte ihn
einer der Spieler an.
„Na geh schon, wir mögen sowieso keine Kiebitze“,
forderte ihn ein anderer auf.
Leicht indigniert kehrte er hinter die Theke zurück.
„Kennst du den?“, empfing ihn Hermine K. aufgeregt.
„Wen?“
„Den großen Dünnen mit dem Hut.“ Sie kniff die
Augen zusammen und zeigte mit dem Finger zu den Toiletten.
„Macht der nicht gerade irgendwelche Schweinereien?“
„Ich glaub, du siehst Gespenster …“
„Da hinten beim Klo – der Lulatsch mit dem schwarzen
Ledermantel.“
„Der dünne Mann? Na was wird der schon machen?
Ein kleines Spielchen halt. Wozu glaubst, haben wir
uns extra einen einarmigen Banditen angescha*t? Die
heutige Jugend wird ihren Frust und ihren Schoder
liebend gern bei den Automaten los. Früher haben sie
immer gewuzelt, während wir uns damals mit Taschenbillard
oder einem echten Fetzenlaberl begnügt haben.“
„Mein Gott, bin ich ein Depp! Weißt du, was ich
gedacht habe? Nein, lieber nicht …“
„Na, sag’s schon?“
„Nein, ich bin total übergeschnappt.“
„Was ist denn heut bloß mit dir los, Mimi-Mauserl?“
„Ich werd schön langsam verrückt, hab mir eingebildet,
dass mich der Typ verfolgt, dass das so ein perverses
Schwein ist, du weißt schon, ein Exhibitionist oder
so was Ähnliches. Ich fürcht, ich bin echt paranoid.“
Schorschi tätschelte beruhigend ihre Hand und
murmelte: „Na, na …“
„Aber ich trau mich trotzdem nicht aufs Klo, nicht
solange dieser Mensch dort steht. Du musst zugeben,
der sieht aus wie der Leibhaftige. – Dressed to kill.“
„Was hast gesagt?“
„Der schaut aus wie der Sohn vom Michael Caine.
Stell dir den mal um einen Kopf kleiner und in Frauenkleidern
vor.“
„Du redest heut nur Stuss daher, Mimi.“
„Bitte, geh mit. Du könntest doch inzwischen eine
Schachtel Zigaretten aus dem Automaten drücken.“
„Ich glaub, du spinnst echt. Was soll dir denn auf
unserem Klo schon passieren, außer dass du dir die
Blase verkühlst.“
„Hör auf, Schorschi. Ich fürcht mich wirklich vor
diesem unheimlichen Kerl, er erinnert mich an den
Killer aus dem Dunkel. Bitte komm …“
„Jetzt stell dich nicht so an. Die große Detektivin
macht sich vor Angst fast in die Hosen, wenn der erste
Verdächtige auftaucht.“
„Du bist gemein.“
„Jetzt geh endlich, ich pass schon auf dich auf. Ich
lass ihn nicht aus den Augen. Sobald der Hintern von
diesem Vorstadtcasanova aus meinem Blickfeld verschwindet,
bin ich dort.“
„Okay, aber pass wirklich auf!“
Zögernd begab sie sich aufs Klo. Und Schorschi
schaute tatsächlich immer wieder besorgt zur Toilettentür.
„Nichts ist passiert, der alte Schorsch hat gut auf
dich aufgepasst. Alles in Ordnung, mein kleiner Angsthase?“,
fragte er, als sie zurückkam.
Hermine K. nickte sichtlich erleichtert. „Aber mir
reicht’s für heute. Ich mag jetzt nicht allein ins Kino
rübergehen. Ich warte, bis das Geschäft weniger wird,
und dann kommst mit, gell Schorschi?“
Gegen ihren treuherzigen Augenaufschlag war er
machtlos. Er strich ihr über den Kopf und sagte: „Aber
ja, du Dummerl, hab ich dich schon jemals im Stich
gelassen?“
Anstatt gegen das „Dummerl“ massiv zu protestieren,
wie sie es bei jedem anderen getan hätte, schenkte
sie ihm ein dankbares Lächeln. Schorschi war der einzige
Mann, der sie manchmal wie ein dummes, kleines
Mädchen behandeln durfte.
Auch nach dem ersten Mord hatte sie sich weder in
ihrem Kino noch im „Nachtlberger“ allein auf die Toilette
gewagt. Und Karli, der alte Filmvorführer, hatte
jeden Abend mit ihr im Foyer warten müssen, bis Schorschi
gekommen war, sie abzuholen.
Der pensionierte Oberschulrat hatte an einem
Sonntag das Zeitliche gesegnet. Damals hatte sich
Hermine K. mit einer schlimmen Erkältung herumgeschlagen
und war gleich nach dem Ende der letzten
Vorstellung zu Bett gegangen.
7
Montagmorgen: Hermine K. betritt, bewaffnet mit
Eimer, Besen und Fetzen, den Kinosaal – die Augen
verquollen, die Nase gerötet, die Lippen trocken und
rissig.
Es ist stockfinster im Saal. Sie schaltet die Notbeleuchtung
ein. Schwaches, gelbliches Licht erhellt den
Gang neben den Sitzreihen. Unter den Sitzen Abfälle.
Sie schnäuzt sich, hustet gequält und macht ihre
Taschenlampe an. Ein greller Lichtkegel fällt auf Popcornreste
und Limonadedosen am Rand der letzten
Reihe. Stöhnend bückt sie sich, hebt das Popcorn und
die zerquetschten Dosen auf und stopft alles in einen
großen, schwarzen Müllsack.
„So wenige Besucher und so viel Mist!“, schimpft
sie leise.
In den mittleren Reihen liegt Staub unter den Sitzen.
Sie wischt mit dem feuchten Fetzen einmal drüber.
Raschelndes Papier. Der vordere Seitenausgang
steht einen Spalt o*en.
Hermine K. lässt Besen, Eimer und Müllsack stehen
und geht zur Tür.
Auf dem Gang liegen zwei Füße. Sie stolpert darüber,
landet neben den ausgestreckten Beinen. Fluchend
steht sie wieder auf, reibt sich die Knie und
niest lautstark.
Der Strahl ihrer Taschenlampe tastet über die
schwarzen Hosenbeine hinunter zu den Füßen. Beide
Füße sind verrenkt. Dunkle, hohe Schnürschuhe und
helle Strümpfe. Ein Schuh liegt etwa einen halben
Meter neben dem rechten Fuß. Der helle Socken hat
zwei Löcher: Die große Zehe schaut raus, und die
Ferse ist bloß.
Kopf und Oberkörper des Mannes sind zur Hälfte von
den hochgeklappten Sitzen der ersten Reihe verdeckt.
Hermine K. richtet die Lampe auf das Gesicht.
Geschlossene Augen, bleiche Wangen, rund um den
Mund ein Milchbart.
„Er wird doch nicht an einem epileptischen Anfall
gestorben sein?“, murmelt sie.
In seinem Hals kla*t ein großer, dunkler, verkrusteter
Spalt.
Sakko und Hemd sind zerfetzt und voll schwarzem
Blut. Seine rechte Hand bedeckt das Hosentürl.
Die Finger sind seltsam verkrampft.
Sie schreit. Das Licht der Taschenlampe flackert
unruhig über die dunkelbraunen Flecken am Boden,
erhellt noch einmal Brust und Bauch des Toten. Ihre
Hände zittern. Die Taschenlampe gleitet ihr aus der Hand.
Sie lässt sich auf den Notsitz fallen, wischt sich mit
einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn und
atmet schwer.
Nach einer Weile erhebt sie sich wieder und verlässt,
torkelnd wie eine Betrunkene, den Saal.
Schnupfend und hustend schleppt sie sich zur Toilette,
wäscht sich Gesicht und Hände, schnäuzt sich
noch einmal herzhaft in ihr Taschentuch und geht dann
zum Telefonautomaten im Foyer.
Sie wählt eine dreistellige Nummer. Zweimal wiederholt
sie ihren Namen und die Adresse ihres Kinos,
beim dritten Mal klingt ihre Stimme weniger zittrig.
Mehrmals schildert sie den Zustand der Leiche und
wird von Mal zu Mal detaillierter in ihrer Beschreibung.
Etwa eine Viertelstunde später ertönt Sirenengeheul.
Ein Polizeiauto mit eingeschaltetem Blaulicht
nähert sich und hält mit quietschenden Bremsen auf
dem Gehsteig vor den KARPFINGER-LICHTSPIELEN.
Ein großer, fettleibiger Polizist wälzt sich aus dem
Wagen. Ein kleiner, dünner Wachtmeister stapft im
Gleichschritt hinter ihm her.
Hermine K. ö*net die Eingangstür.
Die Herren führen die Rechte ans Kapperl und fragen
im Chor: „Wo ist die Leich?“
„Im Saal“, antwortet sie und geht voran.
Die beiden Polizisten folgen ihr.
Sie werfen einen kurzen Blick auf den toten Mann.
Der Dicke zückt ein Handy, und dann läuft alles wie
am Schnürchen: Kriminalpolizei, Spurensicherung,
Abtransport des Leichnams, erste Einvernahme der
Kinobesitzerin …
Mit vor Fieber glänzenden Augen verfolgt sie das
hektische Treiben der Beamten. „Kann ich Ihnen
irgendwie behilflich sein?“, fragt sie mehrmals,
bekommt jedoch keine Antwort.
Am gleichen Abend im „Nachtlberger“, allein an
ihrem Stammtisch beim Eingang, vor sich ein Glas Jagatee,
sagt sie zu ihrer Bekannten, Lotte Blasicek: „Ich
weiß, dass du mit dem Oberschulrat in der Vorstellung
warst. Er hat zwei Karten gekauft und eine Karte für
dich an der Kasse hinterlegt.“
„Ich hab doch nur dem Schurli gegenüber abgestritten,
dass ich mit dem alten Oczwirk im Kino war. Der
Polizei werd ich eh die Wahrheit sagen. Außerdem bin
ich nur ein paar Minuten zu spät gekommen.“
„Der Hauptfilm ‚Out of the past‘ ist bereits gelaufen,
als ich dich zu den vorderen Reihen geführt hab.“
„Ja, du hast Recht, aber das ist doch jetzt egal.“
„Und warum bist du noch vorm Ende der Vorstellung
abgehauen?“
„Weil ich mit dem Schurli im ‚Nachtlberger‘ verabredet
gewesen bin, auch das werd ich den Bullen erzählen. Der Schorschi und der Schurli können das übrigens
bestätigen.“ Mit unschuldigem Augenaufschlag
fährt sie fort: „Ich hab den Oberschulrat einfach im
Kino sitzengelassen. Stell dir vor, der ist kurz vorm
Schluss eingeschlafen. Außerdem hab ich Angst gehabt,
dass mich mein Spatzi erwischt. Du weißt, wie eifersüchtig
er ist. Meistens passt er mich sogar vorm Kino
ab und chau=ert mich dann die paar Meter rüber ins
‚Nachtlberger‘. Ich wollt nicht riskieren, dass er mich
mit einem Mannsbild rauskommen sieht. Selbst auf so
einen alten Knacker wie den Oczwirk war er immer
eifersüchtig.“
Die Kinobesitzerin trinkt ihren Jagatee aus, verlässt
das Café und geht nach Hause. Nachdem sie alle
Kinoeingänge zweimal versperrt und die Sicherheitskette
an ihrer Wohnungstür vorgelegt hat, lässt sie sich
ein heißes Bad ein.
Sie schrubbt und bürstet ihren Körper, bis sich ihre
Haut krebsrot verfärbt. Dann trinkt sie einen halben
Liter Kamillentee, steckt sich das Fieberthermometer
unter die linke Achsel – 38,6 – und legt sich mit einer
Wärmflasche ins Bett.
© Haymon Verlag
in ihren Augen.
Sie strich sich das Haar aus der Stirn. Ihre Finger
waren blutbeschmiert.
Angeekelt stürzte sie aufs Klo, drehte den Wasserhahn
auf und hielt die Hände unter den eiskalten Strahl.
Neben dem Waschbecken lag ein Stück Kernseife
am Boden. Sie hob die Seife auf, schrubbte ihre Hände,
bis sie sich röteten, wusch sich auch das Gesicht und
kontrollierte ihre Kleidung. Keine Blutflecken.
Vielleicht ist die Glühbirne im Klo zu schwach?
Im Foyer musterte sie sich noch einmal gründlich im
großen Spiegel.
Ihr graute vor morgen früh. Milena war auf Besuch
bei Verwandten in Kroatien. Der Kinobesitzerin würde
also nichts anderes übrig bleiben, als in ihrem Kino
selbst Putzfrau zu spielen.
Das Haus hatte ihrer Mutter gehört. Um die notwendigsten
Renovierungsarbeiten bezahlen zu können,
hatte sie ihre letzte, eiserne Reserve geplündert.
„Das Kapitalsparbuch darfst du nicht anrühren, das ist
deine Altersversorgung“, klangen ihr die letzten Worte
ihrer Frau Mama noch in den Ohren.
Ihre Zimmer-Küche-Kabinett-Wohnung lag im
ersten Stock. Bad und Küche waren durch einen
geblümten Plastikvorhang voneinander getrennt.
Die Toilette hatte sie bis vor kurzem mit einer Studentin
geteilt, die in der Zimmer-Küche-Wohnung
nebenan hauste. Nachdem die junge Frau ihr Studium
beendet hatte, schaute sie sich nach einer besseren
Bleibe um. Hermine K. hatte erst gar nicht versucht,
neue Mieter für die desolaten Räume zu finden,
sondern benützte sie als Lager für ihre Filmutensilien
und für das Gerümpel ihrer Mutter. Der
zweite Stock des Hauses war unbewohnbar, diente
ihr schon länger als Rumpelkammer.
Obwohl die alte Frau Karpfinger vor zwanzig Jahren
sanft entschlummert war, bewahrte die Kinobesitzerin
bis heute alle ihre Sachen auf. Sie brachte es
einfach nicht übers Herz, sich von den wurmstichigen
Möbeln und der mottenzerfressenen Garderobe ihrer
Frau Mama zu trennen.
In der unbewohnten Ein-Zimmer-Wohnung sah
es aus wie in einem Gruselkabinett. Zwischen einem
lebensgroßen Humphrey Bogart aus Pappmaché und
einer ramponierten Marilyn Monroe – eine Schaufensterpuppe
bekleidet mit einem weißen Fetzen –,
stapelten sich Kartons voller Zeitungsausschnitte,
Autogrammfotos und vergilbter Ansichtskarten, Hüte
in allen Farben und Größen, verstaubte Filmrollen und
kaputte Beleuchtungslampen. Bei jedem Schritt stolperte
man über ein Sammelsurium von leeren Zigarrendosen,
Bonbonschachteln, Bierdeckeln und Schwedenbombenkartons.
Jedes Mal, wenn Hermine K. nicht
wusste, womit sie die nächste Gasrechnung bezahlen
sollte, nahm sie sich vor, die Wohnung zu entrümpeln
und erneut zu vermieten.
Die karpfinger-lichtspiele nahmen das ganze
Parterre eines alten zweistöckigen Hauses ein. In der
Linzer Straße gab es noch eine ganze Reihe dieser typischen
Wiener Vorstadthäuser. In den letzten Jahren
hatte allerdings so manch schmuckes kleines Häuschen
einem mehrstöckigen Neubau weichen müssen.
Hermine K. hatte sich bisher erfolgreich gegen den
Abbruch ihres Hauses gewehrt. Obwohl ihre finanzielle
Situation von Jahr zu Jahr trister wurde, hatte sie
durchaus lukrative Angebote ausgeschlagen.
Der Kinosaal fasste hundert Leute. Hermine K. war
überglücklich, wenn sie in einer Vorstellung fünfzig
zahlende Besucher hatte. Das kam jedoch nur alle heiligen
Zeiten einmal vor. Von Jahr zu Jahr ging es finanziell
bergab. Die Einnahmen deckten oft nicht einmal
die laufenden Betriebskosten.
Mord hin, Mord her, ich muss mich jetzt um die
Abrechnung kümmern, sagte sich die Kinobesitzerin.
Die Steuer fahnder jagten ihr mehr Angst ein als die
Kriminal polizei.
Sie setzte sich hinter die Kasse und trug die dürftigen
Einnahmen ordentlich in ein großes schwarzes
Buch ein. Akuter Besucherschwund. Fünfzehn zahlende
Besucher in der Samstagabendvorstellung. Wenn
das so weitergeht, kann ich nicht einmal die nächste
Stromrechnung bezahlen.
Auch ihren Freunden schien die triste Lage bewusst
zu sein. Jean Gabin blickte ernst und traurig auf sie herab.
Robert Mitchum runzelte leicht verärgert die schöne
Stirn. Edward G. Robinson und James Cagney dagegen
hatten nur ein hintergründiges Grinsen für sie übrig.
Die alten Filmplakate, mit denen sie den kleinen
Kassenraum austapeziert hatte, waren vergilbt und völlig
zerschlissen. Hermine K. konnte sich jedoch nicht
dazu entschließen, ihre Lieblinge gegen Robert de Niro,
Al Pacino oder gar gegen Schimanski auszutauschen.
Nach einem letzten verzweifelten Blick auf ihr Kassabuch
beschloss sie, dem „Café Nachtlberger“ noch
einen kurzen Besuch abzustatten. Trotz der winterlichen
Temperaturen sehnte sie sich nach einem kühlen
Blonden. Im karpfinger-kino herrschte striktes
Alkoholverbot. Sie hielt sich auch selbst daran. Im Eiskasten
hinter der Kasse kugelten nur Coca-Cola-Dosen
und Limonadeflaschen herum. Sogar Almdudler und
Frucade führte sie seit einiger Zeit.
Für den Toten konnte sie sowieso nichts mehr tun.
Sie wollte sich bis morgen überlegen, ob sie die Polizei
verständigen oder ihn einfach verschwinden lassen
sollte. Die Kriminalpolizei hatte nach den letzten
beiden Morden die Presse angelockt. Und die
Zeitungsleute hatten eine Menge ungustiöser Artikel
über ihr Kino verbrochen. Sie war stinksauer auf
diese „Schmierfinke“.
Sorgfältig sperrte sie die kleine Handkasse ab,
steckte den Schlüssel in ihre Rocktasche und schob die
Stahlkassette in die oberste Schublade ihres Schreibtisches.
Dann kletterte sie die Wendeltreppe hinauf in
den Vorführraum und vergewisserte sich, dass Karl alle
Lampen ausgeschaltet hatte. Der alte Operateur war
ziemlich vergesslich geworden. Sie befürchtete, eines
Tages abzubrennen. Vielleicht wäre das gar nicht die
schlechteste Lösung? Gegen Brand bin ich wenigstens
versichert, dachte sie.
Der Schalter für das Notlicht befand sich gleich
neben der Saaltür. Froh, den Kinosaal nicht noch einmal
betreten zu müssen, drehte sie auch das Licht im
Foyer ab. Tote fürchten sich nicht in der Dunkelheit.
Sie schlüpfte in ihren schäbigen Pelzmantel, setzte den
neuen Hut auf und verließ das Kino.
Als sie die Glastür zusperrte, fiel ihr ein, dass sie
auch die Seitenausgänge kontrollieren sollte.
2
Der Himmel über Wien war schwarz. Der Mond versteckte
sich hinter den Wolken. Es hatte zu nieseln begonnen.
Feuchtkalter Novembernebel umhüllte die baufälligen
Häuser in der Nachbarschaft.
Hermine K. zog ihren Hut tiefer ins Gesicht, stellte
den Kragen ihres Mantels hoch und vergrub die Hände
in den Taschen. „So ein Sauwetter“, schimpfte sie leise
und rempelte unabsichtlich einen Mann an, der die
Plakate und Fotos in den Schaukästen ihres Lichtspieltheaters
studierte.
„Entschuldigung.“
Er rührte sich nicht.
Sie schenkte ihm einen zweiten Blick und erkannte
ihn. Ein Besucher der Spätvorstellung. Der junge Mann
war ihr nicht nur wegen seiner exorbitanten Größe aufgefallen,
sondern auch, weil er fast den gleichen Hut
trug wie sie. Hermine K. lächelte ihn freundlich an.
Versunken in den Anblick von Jack Nicholson, der
gerade Jessica Lange über den Küchentisch legte,
reagierte er nicht auf ihr Lächeln.
Die Schaukästen befanden sich neben dem vorderen
Seitenausgang. Sie zögerte einen Moment, rüttelte
dann doch an der Tür, hinter der, keine paar Meter entfernt,
der Tote lag. Erleichtert, weil die morsche Holztür
nicht nachgab, überquerte sie die Straße.
Schritte folgten ihr. Laut und selbstsicher hallten
sie auf dem Kopfsteinpflaster wider. Ihre Finger in
der rechten Manteltasche umklammerten den schweren
Schlüsselbund. Ängstlich drehte sie sich um. Der
Fremde ging knapp hinter ihr.
Die Straßenbeleuchtung war ausgefallen. Seit gestern
Abend lag dieser Teil der Linzer Straße völlig im
Dunkeln. Die Koloniamänner hatten sich auch schon
eine Woche lang nicht blicken lassen. Vor der „Pizzeria
Rudolfo“, schräg gegenüber dem Kino, türmten
sich die Mistsäcke. Im Rinnstein schwamm, was in den
Plastik säcken keinen Platz mehr fand. Bald würden sich
die Ratten darüber hermachen. Ihr ekelte vor Ratten.
Plötzlich hörte sie keine Schritte mehr. Trotzdem
war sie froh, als sie die vermummte Gestalt vor dem
Maronistand erblickte.
Herr Bronislav schaufelte gerade glosende Holzkohlenstücke
in einen schwarzen Kübel und bedeckte den
Kohleofen mit einem Blechdeckel. Seine schwieligen
Hände waren blaugefroren, und seine große Nase leuchtete
wie ein Stopplicht über dem karierten Wollschal.
„Schluss für heute?“, fragte Hermine K.
Der serbische Maronibrater blickte auf, zog den
Schal ein Stück herunter. Ein Lächeln verschönerte
seine von unzähligen Narben entstellten Züge. „Guten
Abend, Frau Karpfinger“, begrüßte er sie freundlich.
„Möchten Sie ein paar Maroni? Ich schenke sie Ihnen,
leider sind sie nicht mehr sehr warm.“
Er gri* nach einem braunen Papiersack.
„Ich brauchen kein Sackerl. Sie mir geben nur zwei,
drei Stück.“
Sie befreite eine lauwarme Maroni von ihrer Schale,
stopfte sie in den Mund und murmelte: „Beruhigt die
Leber.“
Während Herr Bronislav Klauscek, den alle der Einfachheit
halber Branko nannten, den Rollladen an seinem
Stand herunterließ, fragte sie ihn mit vollem Mund,
ob er jemanden um ihr Kino schleichen gesehen hätte.
Er schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe niemanden
gesehen. Aber ich habe, ehrlich gesagt, nicht geschaut.“
„Geschäft gehen gut heute?“
„Leider nicht. Es ist zu kalt. Kein Mensch traut sich
bei dieser Glätte auf die Straße.“
„Du sehen Kino von hier?“
Herr Bronislav nickte. „Ich habe wirklich nichts
gesehen. – Ist wieder etwas passiert?“, fragte er besorgt.
Anstatt ihm zu antworten, stopfte sie die letzte
Maroni in den Mund und verabschiedete sich: „Bis
morgen, Branko, und danke für die Vorspeis.“
Keine zwei Leute kamen auf diesem schmalen
Streifen, der sich Gehsteig nannte, aneinander vorbei.
Sie schlängelte sich zwischen parkenden Fahrzeugen
durch, drückte sich an den Hausmauern entlang und
ging eine enge Gasse hinauf zur Hütteldorfer Straße.
Trostlos sah es aus in den Seitengassen des vierzehnten
Wiener Gemeindebezirks: Tiefe Schlaglöcher,
große Pfützen, leere Gassenlokale, eingeschlagene
Fensterscheiben, dunkle Hauseingänge, stockfinstere
Hinterhöfe, leerstehende Fabrikgebäude, eine
ehemalige Brauerei, ein aufgelassenes Stripteaselokal –
die Fotos von nackten, nicht mehr ganz taufrischen
Mädchen hingen noch immer in den Auslagen. In der
Ferne die Lichter des neuen Gemeindebaus. Die Wohnungen
waren erst vor drei Jahren, vom Herrn Bürgermeister
höchstpersönlich, an die Mieter übergeben
worden, die großteils fünf, sechs Jahre oder sogar länger
darauf gewartet hatten. In den Dachgeschosswohnungen
machte sich angeblich bereits Schimmel breit.
Wie in meinem Kino, dachte Hermine K. und konnte
sich eine gewisse Schadenfreude nicht verkneifen. Jung
verheiratet, hatten sie und ihr Mann sich jahrelang vergeblich
um eine Gemeindewohnung bemüht.
Um die Vorstadt kümmerten sich die Politiker nur
vor den Wahlen. Die restliche Zeit mussten die Leute
hier selbst schauen, wie sie zurechtkamen. Nicht ein-
mal die U-Bahn fuhr bis hierher. Ab dem Gürtel musste
man mit dem langsamen 52er oder mit dem nicht viel
schnelleren 49er vorliebnehmen. Selbst die Konsumfiliale
war vor einigen Jahren zugesperrt worden. Nur
ein Greißler hatte überlebt. Die alte Frau Hinterberger
machte ihren Laden jedoch nur mehr auf, wenn
sie wollte, oder besser gesagt, wenn ihr krankes Herz
und ihre müden Beine es erlaubten. Ihre Extrawurst
war meistens graugrün, die Äpfel waren verschrumpelt,
und in ihrem Mehl tummelten sich die Motten.
Hermine K. erledigte ihre Einkäufe immer Samstag
vormittags in einem Supermarkt, drei Straßenbahnstationen
stadteinwärts. Bei der Greißlerin kaufte sie seit
Jahren nur mehr Bier und die Milch für ihren Frühstückskaffee.
Ein Wagen näherte sich mit achtzig Sachen. Ihre
schwarze Schnürlsamthose und ihr Pelzmantel bekamen
ein paar Spritzer ab. Sie hatte den Nerz, ein Erbstück
ihrer Mutter, vor Jahren, als Mini modern war,
kürzen lassen. Seit die Rocklänge wieder unters Knie
gerutscht war, vor allem für Damen ihres Alters, kam
sie sich richtig armselig damit vor, so als hätte das Geld
nicht gereicht.
Verärgert versuchte sie mit einem Papiertaschentuch
den Dreck von Hose und Mantel zu entfernen.
„Um diese Zeit sind nur mehr lauter Arschlöcher
unterwegs“, sagte eine junge Stricherin, die unter dem
Vordach eines Wäschemodengeschäftes auf und ab stiefelte.
Hermine K. gab ihr Recht.
„Tun S’ nicht lang herumreiben, das macht alles nur
schlimmer. Geben S’ die Sachen lieber in die Putzerei.“
Die Schöne der Nacht schien, trotz ihres jugendlichen
Alters, bereits gewisse Erfahrungen mit rücksichtslosen
Autofahrern gemacht zu haben.
3
Sissis Würstelstand war noch geöffnet. An dieser Stelle
hatte früher einmal ein hübsches kleines Barockhaus
gestanden. Hermine K. hatte damals, als der Abbruch
bereits eine beschlossene Sache war, gegen diesen
barbarischen Akt protestiert. Sie war sogar einer Bürgerinitiative
beigetreten und hatte in ihrem Kino jede
Menge Unterschriften gesammelt. Trotz Unterstützung
der „Grünen“ hatten sie keine Chance gehabt.
Der Besitzer, wohnhaft in der schönen Schweiz, war
froh gewesen, dieses Sandlerparadies endlich loszuwerden.
Seit zwei Jahren gähnte hier nun eine Baugrube.
Die Gerüchteküche prophezeite einen Supermarkt oder
ein Bürogebäude – ein Parkhaus würde es wohl werden.
Inzwischen entwickelte sich Sissis „Würstelhex“
zu einer wahren Goldgrube. Ihr Würstelstand war der
einzige im Umkreis von einem Kilometer.
Die Kinobesitzerin konnte die fesche Sissi nicht
ausstehen. Sie mochte keine schlanken dunkelhaarigen
Frauen, vermisste an ihnen die Gutmütigkeit und
Großzügigkeit, die Frauen ihres eigenen Kalibers auszeichneten.
Für ordinäre Frankfurter verlangte „dieses
geldgierige Luder“ einen Dreißiger und für eine
Extraportion Senf noch einmal fünf Schilling. Das Brot
brachte man sich am besten selbst mit. Sissis Scheiben
waren meist einige Tage alt und dünn wie Löschpapier.
„Guten Abend, Frau Karpfinger.“ Ein süßes falsches
Lächeln, ein böser Blick. Die Antipathie war gegenseitig,
auch Sissi konnte „diese präpotente Kinobesitzerin“,
wie sie Hermine K. anderen Stammgästen
gegenüber zu nennen pflegte, nicht ausstehen. „Was
darf’s denn sein?“
„Eine Heiße, und tun Sie mir dieses Mal ein bisschen
mehr Senf drauf.“ Hermine K. war nicht gewillt,
fünf Schilling extra hinzulegen.
„Aber freilich, Frau Nachbarin. Süß oder scharf?“
„Einen Süßen, wie immer.“
„Darf’s vielleicht auch ein Pfe*eroni sein?“
„Ja, von mir aus, geben Sie mir auch noch einen
Rachenputzer.“
„Ist wieder spät geworden heute Abend?“
„Auch nicht später als sonst.“
„Es ist schon gleich halb!“
„Ja und?“
„Normalerweise machen Sie doch um zehn Schluss …“
„Allzu viel dürfte bei Ihnen nicht gerade los sein,
sonst bliebe Ihnen wohl kaum Zeit, mich zu bespitzeln.“
„Seien Sie nicht gleich so angerührt, Frau Karpfinger,
ich hab’s ja nicht bös gemeint. Aber Sie haben
schon Recht, das Geschäft geht schlecht. Unsere
Leute hocken abends alle vorm Fernseher. Außer den
Nutten und den Tschuschen kommt keiner mehr nach
acht. Auf die Jugos könnt ich gern verzichten. Warum
müssen die gleich immer zu viert oder zu fünft anrücken?
Jedes Mal denke ich, meine letzte Stunde
hat geschlagen. Die gehen mir bestimmt eines Tages
an die Kassa.“
„Passiert ist Ihnen, bisher jedenfalls, nichts.“
„Nein, aber sie sind wirklich zum Fürchten. Allein
wie die schon ausschauen …
„Wie Verbrecher, ich weiß“, unterbrach sie Hermine
K. „Jung sind sie halt und ein bisserl ausgeflippt. –
Mein Gott, wir waren doch auch einmal jung.“
„Ihr Wort in Gottes Ohr!“
In den abbruchreifen Häusern wohnten fast nur
mehr kroatische, serbische oder türkische Gastarbeiter. Manche Familien lebten schon seit Jahren hier und
hatten hinter den Häusern kleine Gärten angelegt. In
den Sommermonaten kauften die Österreicherinnen
bei ihnen Erdbeeren und frischen Salat zu Spottpreisen.
Den Rest des Jahres schimpften sie über „dieses
Zigeunerpack“.
Ein Betrunkener wankte auf den Würstelstand zu
und bestellte stammelnd: „Eine Eitrige mit Buck…ckel
und zwei Hül…Hülsen.“
„Ein kleines Momenterl. – Hier, bitte schön, Ihr
Burenhäutel mit extra viel Süßem.“
Die Kinobesitzerin aß schnell und gierig. Sie hatte
seit der Früh keinen Bissen zu sich genommen.
Sissi reichte dem Betrunkenen eine fette Käsekrainer
mit einem Scherzel und zwei Dosen Bier und
bestand darauf, dass er sofort bezahlte.
Er zog einen zerknitterten Hunderter aus seiner
Hosentasche und murmelte: „Stimmt so.“
Sogleich wurde Sissi eine Spur freundlicher und
fragte ihn, ob sie ihm die Dosen aufmachen solle.
„Nein danke, Madame, das schaff ich schon alleine.“
Sie wandte sich wieder dem Bildschirm ihres kleinen
Fernsehapparats zu. „An sich mag ich den Fendrich,
ein fescher Bursch, aber mit der Zeit werden seine
Schmäh auch immer schwächer.“
„Reinhard Fendrich, jetzt um halb elf?“, fragte Hermine
K. verwundert.
„Video!“
„Ach so.“
„Hab um viertel acht keine Zeit gehabt, mir die Show
anzuschauen.“
„Herzbla…blatt“, lallte der Betrunkene.
„Ja genau. Ist meine Lieblingssendung, obwohl er
immer nur junge hübsche Pupperl bringt. Dabei gibt
es gerade unter unsereins jede Menge einsame Herzen,
nicht wahr, Frau Karpfinger?“
Angewidert zog Hermine K. die Augenbrauen hoch,
schluckte den letzten Bissen Burenwurst hinunter,
wischte sich mit der rauen Papierserviette den Mund
ab und sagte: „Wenn einer in unserem Alter einsam ist,
dann ist er selber schuld.“
Die junge Prostituierte verließ ihren Platz unter
dem Vordach des Wäschemodengeschäftes und näherte
sich der hellbeleuchteten „Würstelhex“.
Bei Licht sieht sie wesentlich älter aus, dachte die
Kinobesitzerin. Außerdem hat sie den schweren schleppenden
Gang einer alten Frau.
„Soll ich dir für einen Fünfziger einen blasen?“,
fragte die Kleine den Betrunkenen.
Er grinste sie nur blöde an.
Sissi und Hermine K. schenkten einander einen
pikierten Blick.
„Möchten Sie einen Schluck Bier? Die Wurst so trocken
runterwürgen, das könnt ich nicht“, wechselte
Sissi das Thema.
„Mein Bier trinke ich im ‚Nachtlberger‘.“
„Beim Schorschi, gell?“
Hermine K. hätte ihr am liebsten eine runtergehauen,
zückte aber statt dessen ihr Portemonnaie und
legte genau vierunddreißigfünfzig neben ihren mit Senf
beschmierten Pappendeckelteller. „Auf Wiederschaun.“
„Auf Wiedersehen, Frau Karpfinger, und lassen Sie
sich das Bierchen beim Schorschi gut schmecken.“
„Danke, das werde ich“, konterte die Kinobesitzerin.
Diese alte Schlampe hat es auf meinen Schorschi abgesehen.
Aber mit solchen Bohnenstangen hat er nicht
viel am Hut. Er hat es gern etwas fester, hat gern was in
der Hand, der gute alte Schorsch, dachte sie beruhigt.
4
Bierdunst strömte Hermine K. entgegen. Gelächter
und lautes Stimmengewirr dröhnten bis hinaus auf
die Straße.
Das „Nachtlberger“ war das einzige Lokal weit und
breit, das nach Mitternacht geö*net hatte. O=zielle
Sperrstunde war um zwei. Allzu oft wurde es aber drei
oder gar vier, bis der Oberkellner Schorsch, gemeinsam
mit seinen letzten Gästen, das Café verließ.
Die Kinobesitzerin schob den schweren dunkelgrünen
Vorhang hinter der Eingangstür beiseite und
betrat das Lokal mit einem freundlichen „Guten Abend
allerseits“.
„Hallo, Mimi“, grölte ein betrunkener Stammgast,
mit dem sie nicht einmal per Du war.
„Servus, Mimi-Maus“, begrüßte Schorschi sie. Sein
drittes Gebiss leuchtete wie eine Zahnpastareklame.
„Ein Bierchen?“
„Ja, ein Seidel.“
„Warum bestellst nicht gleich ein Krügerl? Auf die
Dauer kommen dich die ewigen Seidel ganz schön teuer.“
„Möcht wissen, was dich das angeht. – Mir schmeckt’s
eben im Seidel besser.“
„Tschuldigen Sie schon, Frau Karpfinger, ich hab’s
ja nur gut gemeint.“
„Ja, ja, ich weiß, du meinst es immer nur gut mit
mir. Aber sag, was ist denn mit deinen Stimmbandeln
passiert? Du hörst dich an, als hättest ein Reibeisen
verschluckt.“
Er räusperte sich lautstark und krächzte: „Halsweh
hab ich.“
„Hast wieder geraucht wie ein Schlot, gib es wenigstens
zu.“
„Nein, ehrlich nicht. Ich hab eine Angina pectoris.“
„Du weißt ja nicht einmal, was das ist“, sagte Hermine
K. lachend und zog ihren Pelzmantel aus.
Das „Nachtlberger“ war im Winter immer überheizt.
Die kleinen Kohleöfen spuckten die Wärme aus
wie kalorische Kraftwerke.
„Du kannst mir den Buckel runterrutschen!“ Schorschi
drehte sich um und zapfte für seine Freundin
besonders langsam ein kleines Bier. Zärtlich strich er
mit einer Holzspachtel den Schaum weg und füllte das
Glas bis zum obersten Rand. „Bitte sehr, Ihr Seidel,
Madame.“
„Bist heute auch nicht gerade der Schnellste.“
Er hustete demonstrativ. „Ich möcht dich einmal
hinter der Theke erleben, wenn alle auf einmal einen
Durst kriegen. Man könnt fast glauben, je mehr sie saufen,
desto durstiger werden s’.“
Sie stürzte ihr Bier in zwei Zügen hinunter. „Noch
eins, Schorschi.“
„Du bist eine Alkoholikerin, du willst es nur nicht
wahrhaben.“
„Verschon mich mit deiner Moralpredigt. Gib mir
lieber was zu trinken. Ich hab einen Durst.“
Er schüttelte den Kopf, beeilte sich aber, ihr ein
zweites Bier hinzustellen. „Warum musst du immer so
viel saufen, Mimi? Ich kapier das nicht. Du bist doch
eine attraktive Frau, eine Frau in den besten Jahren …“
Hermine K. hatte sich tatsächlich gut gehalten.
Zwar wirkte sie auf den ersten Blick wie eine etwas
füllig gewordene Hausfrau, aber ihre dreiundfünfzig
Jahre sah man ihr trotzdem nicht an. Nur ihre
Beine waren etwas aus der Fasson geraten, deshalb
trug sie auch jahrein, jahraus lange Hosen und bequemes
Schuhzeug – flache dunkle Halbschuhe mit Ein'
lagen. Ihre zarte, fast faltenlose Haut mit den vielen
Sommersprossen und ihre kleine lustige Stupsnase
ließen sie jedoch um mindestens zehn Jahre
jünger aussehen. Ihr dichtes graues Haar war kinnlang.
Stirnfransen verdeckten ihre spärlichen hellblonden
Brauen. Sie dachte nicht im Traum daran,
ihre ursprünglich rotblonde Haarfarbe wieder aufzufrischen,
war heilfroh, den lästigen Spitznamen
„Karotte“ endlich los zu sein.
Obwohl sie sich über das Kompliment ihres alten
Freundes insgeheim freute, sagte sie: „Hör mit dem
Gesäusel auf, Schorschiboy. Geh doch rüber zu deiner
Sissi, die hört sich dein Süßholzgeraspel bestimmt liebend
gerne an. Ich hab gerade ein Würstel bei ihr verdrückt,
und sie hat mir die ganze Zeit wieder nur von
dir vorgeschwärmt.“
„Lass mich mit dieser alten Pritschen in Frieden.
Du weißt, dass ich sie nicht ausstehen kann. Wenn
ich ihr auf der Straße begegne, wechsle ich die Seite.“
Etwas leiser fuhr er fort: „Aber ich mach mir wirklich
ernsthaft Sorgen um dich, Mimi. Kein Tag ohne
Alkohol, du bist eine Spiegeltrinkerin. Du hast jeden
Abend deine sechs, sieben Bierchen, das ist einfach zu
viel für eine Frau.“
„Die ‚Frau‘ habe ich überhört, du Chauvi! Aber vielleicht
kannst du Supergscheiterl mir verraten, womit
ich meinen Ärger sonst hinunterspülen soll? Von eurem
gepantschten Wein krieg ich Kopfweh und vom Mineral
Läuse im Bauch.“
„Was hast denn für einen Ärger? Schon wieder eine
Leich?“
„Sehr witzig!“ Sie beugte sich über die Theke und
flüsterte: „Ich hab wirklich wieder eine …“
„Jessasmarandjosef! Schmäh ohne?“
„Um Himmels willen schrei nicht so! Willst, dass
gleich das ganze Lokal auf Mörderjagd geht, so unter
dem Motto: Eine Stadt sucht einen Mörder? Eine Leiche
pro Woche, wenn das so weitergeht, werde ich
mein Kino bald zusperren müssen. Schon nach dem
ersten Mord sind die Hälfte der Leute ausgeblieben.“
„Ach deswegen bist so grantig. – Du kannst ihnen
nicht verübeln, dass sie wegbleiben. Wer setzt sich
schon freiwillig in ein hiniges Vorstadtkino, wo ein
Wahnsinniger einen nach dem anderen abkragelt?“
Ihr war bewusst, dass er Recht hatte. Die karpfin-
ger-lichtspiele befanden sich in einem katastrophalen
Zustand, sie schrien geradezu nach Generalsanierung.
Hermine K. hatte nicht nur berechtigte Angst
vor der Baupolizei, sondern befürchtete auch, dass die
alte Bude eines schönen Tages einfach über ihr zusammenkrachen
würde.
Das Dach war undicht. Nächsten Sommer würde
sie den Freiluftlichtspielen im Augarten ernsthafte
Konkurrenz machen und ebenfalls Open-Air-Vorstellungen
unter dem Motto „Kino unter den Sternen“
anbieten. Im Winter konnte man auf dem Dachboden
Schlittschuh laufen. Und hübscher schwarzer Schimmel
zierte nicht nur die Wände in ihrem Bad, sondern
machte sich auch im Kinosaal breit.
Die Eingangstür war mit ordinären Graffiti
geschmückt und aus karpfinger-lichtspiele waren
karpf’n’’’-lichtspiele geworden. „I“ und „GER“ hatten
sich längst verabschiedet, leuchteten einfach nicht
mehr. Die vergilbten Plakate und die uralten Fotografien
in den Schaukästen besaßen zwar einen gewissen
nostalgischen Charme, lockten aber gewiss keine
neuen Besucher an. Doch Hermine K. hatte keine Zeit,
sich um solche Kleinigkeiten zu kümmern.
5
Aus den Boxen über der Theke dröhnte in unerträglicher
Lautstärke „Junge, komm bald wieder“.
„Würdest du bitte dieses Gejeier ausmachen“, sagte
Hermine K. gereizt. „Ich kann den Freddy nicht mehr
hören, auch wenn er ein echter Wiener ist.“
„Nur seine Mutter war Wienerin“, korrigierte Schorschi
sie.
„Ja, ja, ich weiß, ich kenne seine Biografie auswendig.
Früher bin ich auf ihn gestanden. Aber stell ihn
jetzt bitte ab, ich ertrag solchen Schmus nicht mehr.
Von mir aus soll der Junge endlich untergehen …“
„Dem Wurli den Saft abdrehen? Nein, das kann ich
nicht machen. Da würden sich die anderen Gäste sauber
beschweren.“
„Geht’s nicht wenigstens ein bisschen leiser? Meine
armen Nerven …“
„Kein Wunder, wenn in deinem Kino schon wieder
einer abgekratzt ist. Ich hab gar kein Blaulicht gesehen
und keine Sirenen gehört.“
„Da hat es auch weder was zu sehen noch zu hören
gegeben. Mein Bedarf an Polizei ist gedeckt. Hast du
gewusst, dass sie mir seit neustens in jede Vorstellung
einen Wappler in Zivil reinsetzen? Der von heut
Abend hat nicht einmal zahlt, und seine Begleiterin
wollt er auch umsonst reinschmuggeln …“
„Über den hast du dich schon letzte Woche beschwert,
gell?“
„Dieser Schauer hat den Mord natürlich auch nicht
verhindert, scheint nichts mitgekriegt zu haben, obwohl
sich das Drama direkt vor seinen Augen abgespielt
haben muss. Wahrscheinlich liegt er längst zu Hause
in seinem Bett und sieht sich den Kojak an.“
„Ist das der mit dem Schlecker?“
„Bravo, Schorschi! Du schaust dir also doch hin und
wieder Kultursendungen an.“
„Und was ist mit deiner Leich passiert?“
„Nichts. Was soll ihr schon passiert sein. – Ich hab
den Laden einfach dichtgemacht. Morgen früh werde
ich dann weitersehen.“
„Bist deppert, Mimi? Du kannst doch den Toten
nicht über die Nacht in deinem Kino liegen lassen.“
„Wieso nicht? Tote schlafen fest.“
„Du bist echt leiwand.“
„Dem Alten kann es doch wurscht sein, wann er für
tot erklärt wird.“
„Dem Alten schon, aber ob’s den Bullen wurscht
sein wird …?“
„Tote haben es nicht eilig, der läuft mir nicht davon.“
„Du rufst jetzt sofort die Kripo an! – Brauchst einen
Schilling?“
„Morgen, Schorschi, morgen. Jetzt möchte ich erst
einmal in Ruhe mein Bier trinken.“
„Du spinnst wirklich! Wenn sie dir drau?ommen,
landest selber im Häfen.“
„Ich werde die Kieberer gleich in der Früh verständigen,
werd halt sagen, dass ich die Leiche erst beim Putzen
entdeckt hab, alles genau so wie beim ersten Mal.“
„Du bist einfach nicht mehr zu retten!“ Schorschi
tippte sich mit dem Zeigefinger auf die Stirn.
„Ich darf gar nicht an diese fürchterliche Schweinerei
denken …“ Angeekelt verzog sie das Gesicht und
schüttelte sich. „Im Saal hat’s furchtbar nach Schweiß
und Urin gestunken. Wahrscheinlich hat er sich angemacht
vor Angst. Und das Blut muss wieder weggespritzt
sein …, genau wie bei den anderen beiden. Nicht
einmal zugedeckt habe ich den armen Kerl, hab ihn
einfach so liegengelassen mit der durchgeschnittenen
Kehle und dem aufgeschlitzten Bauch. Ich hab mich
nicht getraut, genauer hinzuschauen. Bestimmt hängen
ihm die Gedärme raus.“
„Pfui Teufel!“
„Das kannst du laut sagen. Ich schwör dir, der Francis
Ford Coppola hätte dieses Blutbad auch nicht besser
hingekriegt.“
„Aber dein Palma schon, oder?“
„Meinst du den Brian de Palma oder den Robert
Palmer? Ist eh wurscht, keiner von beiden hätte das
gescha*t. Wenn du willst, kannst du dich selbst davon
überzeugen. Wir können ja nach der Sperrstund noch
einmal gemeinsam rüberschauen.“
Der Oberkellner schien nicht sehr begeistert von
dieser Idee. Er kehrte ihr den Rücken zu und leerte
ein paar Aschenbecher aus.
„Dass ein alter Mensch noch so viel Blut in den
Adern hat! Wie soll ich den Boden bloß je wieder sauberbekommen?
Drei solche Riesenflecken und alle drei
in den vorderen Reihen. Kein Mensch wird sich mehr
dort vorne hinsetzen wollen. Auch der Sessel ist blutdurchtränkt
– echt scheußlich, sag ich dir.“
„Wen hat’s denn dieses Mal erwischt?“, fragte
Schorschi neugierig.
„Kenn ihn nicht, hab das Gesicht vorher nie gesehen.“
„Hast ihn also nicht identifizieren können.“
Sie starrte missmutig in ihr Bierglas und fluchte
leise: „Verdammter Mist! Ich muss wirklich noch mal
rüber. Kommst du mit?“
„Spinnst? Ich kann jetzt unmöglich weg, wir haben
Hochbetrieb – das siehst doch.“
„Ich hab nicht einmal geschaut, ob seine Brief tasche
noch da ist. Vielleicht hat er irgendeinen Ausweis bei
sich …“
„Na, sag einmal, das weiß doch jedes Kind, dass man
bei einem Toten zuerst nach der Brieftaschen schaut.“
„Ich hab ein Hirn wie ein Nudelsieb“, übte sie sich
in Selbstkritik.
Ausnahmsweise widersprach er ihr nicht.
Am Tisch gegenüber der Theke saßen vier Männer
und spielten Karten. Ohne ihr Spiel zu unterbrechen,
riefen sie nach dem Kellner: „Schorschi, schläfst du
heut?“, schrie der eine.
„Wo bleibt mein Gspritzter?“, rief der andere.
„Ich hab ein Krügerl bestellt, aber bracht hast mir
ein pickertes Cola. Sind wir in einem Kasperltheater?“,
empörte sich der dritte.
Der vierte schwieg und machte den nächsten Stich.
„Nur nicht hudeln“, rief Schorschi. „Bin schon unterwegs,
meine Herren. – Den Wurschtel kann keiner derschlagen“,
sagte er lachend zu Hermine K.
„Heut Abend geht’s hier wieder zu wie in einem
Irrenhaus“, meckerte sie.
„Die Kartentippler haben es immer eilig mit der
Bestellung, und dann karteln sie seelenruhig stundenlang
bei einem Bier oder einem Achtel. Aber ich muss
mich jetzt trotzdem um sie kümmern.“
Sie nickte verständnisvoll.
„Du verzupfst dich eh noch nicht, gell?“ Er streichelte
ihre Hand und schenkte ihr einen langen, sehr
verliebten Blick.
Dann brachte er den Kartenspielern die Getränke
und schaute ihnen eine Weile beim Tarockieren zu.
6
Das „Nachtlberger“ war ein freundliches und gemütliches
Café, wenn man von den Tapeten absah, die von
Rauch und Küchendunst zerfressen und voll gelber Flecken
waren. Auch die graue abblätternde Decke hatte
dringend einen neuen Anstrich nötig, und der Parkettboden
gehörte wieder einmal ordentlich eingelassen.
Aber dafür blieb Milena, die auch im „Nachtlberger“
jeden Morgen aufräumte, wohl kaum genügend Zeit.
Als das Café vor ein paar Jahren renoviert wurde,
überzog man, dem damaligen Modetrend entsprechend,
die alten Polstermöbel mit einem geblümten Sto*. Der
alte beige Kunstlederbezug hatte viel besser zu den
einfachen braunen Holztischen gepasst. Im Sommer
war man allerdings mit den verschwitzten Schenkeln
darauf kleben geblieben.
Hermine K. hatte sich bei Schorschi über das
scheußliche Blümchenmuster beklagt. Auch die durchsichtigen
gelbbraunen Plastiktischtücher, die neuestens
die Tische schmückten, missfielen ihr. „Seid ihr
denn alle Mitglieder beim örtlichen Verschönerungsverein
geworden? Gratuliere, wirklich gelungen! Die
sind ja richtig appetitlich kakerlgelb“, hatte sie damals
die Bemühungen des Ka*eehausbesitzers kommentiert.
Seither legte der Oberkellner die Plastiktischtücher
nur mehr zu Mittag auf, wenn die Arbeiter und kleinen
Angestellten aus der Umgebung im „Nachtlberger“
schnell das billige Einser-Menü oder das etwas teurere
Zweier-Menü hinunterschlangen. Abends kamen die
Gäste wieder in den Genuss meist unbefleckter, gestärkter
weißer Tischtücher.
Die hübschen kleinen Lampen mit den hellgelben
Schirmen hatten die Renovierung überlebt. Sie spendeten reichlich warmes Licht. Jeder Tisch wurde durch
eine eigene Lampe gut ausgeleuchtet.
Plötzlich spürte Hermine K. einen Ellbogen in
ihrem Kreuz. Verärgert drehte sie sich um.
Knapp hinter ihr stand der große, junge Mann, dem
sie vorhin auf der Straße begegnet war. Er würdigte
sie keines Blickes, entschuldigte sich auch nicht für
den Rempler, stand einfach nur da und starrte in den
Spiegel hinter der Theke. Während sie noch überlegte,
ob sie ihn ansprechen sollte, verschwand er in Richtung
Toiletten. Sie sah ihm nach, folgte mit ihren Blicken
den langsamen, gleichförmigen Bewegungen seines
Hinterteils.
„Schorschi, komm her!“
Der Oberkellner, fasziniert von der hohen Kunst
des Tarockierens, stellte sich taub.
„Bist dearisch? Dein Typ ist gefragt“, schnauzte ihn
einer der Spieler an.
„Na geh schon, wir mögen sowieso keine Kiebitze“,
forderte ihn ein anderer auf.
Leicht indigniert kehrte er hinter die Theke zurück.
„Kennst du den?“, empfing ihn Hermine K. aufgeregt.
„Wen?“
„Den großen Dünnen mit dem Hut.“ Sie kniff die
Augen zusammen und zeigte mit dem Finger zu den Toiletten.
„Macht der nicht gerade irgendwelche Schweinereien?“
„Ich glaub, du siehst Gespenster …“
„Da hinten beim Klo – der Lulatsch mit dem schwarzen
Ledermantel.“
„Der dünne Mann? Na was wird der schon machen?
Ein kleines Spielchen halt. Wozu glaubst, haben wir
uns extra einen einarmigen Banditen angescha*t? Die
heutige Jugend wird ihren Frust und ihren Schoder
liebend gern bei den Automaten los. Früher haben sie
immer gewuzelt, während wir uns damals mit Taschenbillard
oder einem echten Fetzenlaberl begnügt haben.“
„Mein Gott, bin ich ein Depp! Weißt du, was ich
gedacht habe? Nein, lieber nicht …“
„Na, sag’s schon?“
„Nein, ich bin total übergeschnappt.“
„Was ist denn heut bloß mit dir los, Mimi-Mauserl?“
„Ich werd schön langsam verrückt, hab mir eingebildet,
dass mich der Typ verfolgt, dass das so ein perverses
Schwein ist, du weißt schon, ein Exhibitionist oder
so was Ähnliches. Ich fürcht, ich bin echt paranoid.“
Schorschi tätschelte beruhigend ihre Hand und
murmelte: „Na, na …“
„Aber ich trau mich trotzdem nicht aufs Klo, nicht
solange dieser Mensch dort steht. Du musst zugeben,
der sieht aus wie der Leibhaftige. – Dressed to kill.“
„Was hast gesagt?“
„Der schaut aus wie der Sohn vom Michael Caine.
Stell dir den mal um einen Kopf kleiner und in Frauenkleidern
vor.“
„Du redest heut nur Stuss daher, Mimi.“
„Bitte, geh mit. Du könntest doch inzwischen eine
Schachtel Zigaretten aus dem Automaten drücken.“
„Ich glaub, du spinnst echt. Was soll dir denn auf
unserem Klo schon passieren, außer dass du dir die
Blase verkühlst.“
„Hör auf, Schorschi. Ich fürcht mich wirklich vor
diesem unheimlichen Kerl, er erinnert mich an den
Killer aus dem Dunkel. Bitte komm …“
„Jetzt stell dich nicht so an. Die große Detektivin
macht sich vor Angst fast in die Hosen, wenn der erste
Verdächtige auftaucht.“
„Du bist gemein.“
„Jetzt geh endlich, ich pass schon auf dich auf. Ich
lass ihn nicht aus den Augen. Sobald der Hintern von
diesem Vorstadtcasanova aus meinem Blickfeld verschwindet,
bin ich dort.“
„Okay, aber pass wirklich auf!“
Zögernd begab sie sich aufs Klo. Und Schorschi
schaute tatsächlich immer wieder besorgt zur Toilettentür.
„Nichts ist passiert, der alte Schorsch hat gut auf
dich aufgepasst. Alles in Ordnung, mein kleiner Angsthase?“,
fragte er, als sie zurückkam.
Hermine K. nickte sichtlich erleichtert. „Aber mir
reicht’s für heute. Ich mag jetzt nicht allein ins Kino
rübergehen. Ich warte, bis das Geschäft weniger wird,
und dann kommst mit, gell Schorschi?“
Gegen ihren treuherzigen Augenaufschlag war er
machtlos. Er strich ihr über den Kopf und sagte: „Aber
ja, du Dummerl, hab ich dich schon jemals im Stich
gelassen?“
Anstatt gegen das „Dummerl“ massiv zu protestieren,
wie sie es bei jedem anderen getan hätte, schenkte
sie ihm ein dankbares Lächeln. Schorschi war der einzige
Mann, der sie manchmal wie ein dummes, kleines
Mädchen behandeln durfte.
Auch nach dem ersten Mord hatte sie sich weder in
ihrem Kino noch im „Nachtlberger“ allein auf die Toilette
gewagt. Und Karli, der alte Filmvorführer, hatte
jeden Abend mit ihr im Foyer warten müssen, bis Schorschi
gekommen war, sie abzuholen.
Der pensionierte Oberschulrat hatte an einem
Sonntag das Zeitliche gesegnet. Damals hatte sich
Hermine K. mit einer schlimmen Erkältung herumgeschlagen
und war gleich nach dem Ende der letzten
Vorstellung zu Bett gegangen.
7
Montagmorgen: Hermine K. betritt, bewaffnet mit
Eimer, Besen und Fetzen, den Kinosaal – die Augen
verquollen, die Nase gerötet, die Lippen trocken und
rissig.
Es ist stockfinster im Saal. Sie schaltet die Notbeleuchtung
ein. Schwaches, gelbliches Licht erhellt den
Gang neben den Sitzreihen. Unter den Sitzen Abfälle.
Sie schnäuzt sich, hustet gequält und macht ihre
Taschenlampe an. Ein greller Lichtkegel fällt auf Popcornreste
und Limonadedosen am Rand der letzten
Reihe. Stöhnend bückt sie sich, hebt das Popcorn und
die zerquetschten Dosen auf und stopft alles in einen
großen, schwarzen Müllsack.
„So wenige Besucher und so viel Mist!“, schimpft
sie leise.
In den mittleren Reihen liegt Staub unter den Sitzen.
Sie wischt mit dem feuchten Fetzen einmal drüber.
Raschelndes Papier. Der vordere Seitenausgang
steht einen Spalt o*en.
Hermine K. lässt Besen, Eimer und Müllsack stehen
und geht zur Tür.
Auf dem Gang liegen zwei Füße. Sie stolpert darüber,
landet neben den ausgestreckten Beinen. Fluchend
steht sie wieder auf, reibt sich die Knie und
niest lautstark.
Der Strahl ihrer Taschenlampe tastet über die
schwarzen Hosenbeine hinunter zu den Füßen. Beide
Füße sind verrenkt. Dunkle, hohe Schnürschuhe und
helle Strümpfe. Ein Schuh liegt etwa einen halben
Meter neben dem rechten Fuß. Der helle Socken hat
zwei Löcher: Die große Zehe schaut raus, und die
Ferse ist bloß.
Kopf und Oberkörper des Mannes sind zur Hälfte von
den hochgeklappten Sitzen der ersten Reihe verdeckt.
Hermine K. richtet die Lampe auf das Gesicht.
Geschlossene Augen, bleiche Wangen, rund um den
Mund ein Milchbart.
„Er wird doch nicht an einem epileptischen Anfall
gestorben sein?“, murmelt sie.
In seinem Hals kla*t ein großer, dunkler, verkrusteter
Spalt.
Sakko und Hemd sind zerfetzt und voll schwarzem
Blut. Seine rechte Hand bedeckt das Hosentürl.
Die Finger sind seltsam verkrampft.
Sie schreit. Das Licht der Taschenlampe flackert
unruhig über die dunkelbraunen Flecken am Boden,
erhellt noch einmal Brust und Bauch des Toten. Ihre
Hände zittern. Die Taschenlampe gleitet ihr aus der Hand.
Sie lässt sich auf den Notsitz fallen, wischt sich mit
einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn und
atmet schwer.
Nach einer Weile erhebt sie sich wieder und verlässt,
torkelnd wie eine Betrunkene, den Saal.
Schnupfend und hustend schleppt sie sich zur Toilette,
wäscht sich Gesicht und Hände, schnäuzt sich
noch einmal herzhaft in ihr Taschentuch und geht dann
zum Telefonautomaten im Foyer.
Sie wählt eine dreistellige Nummer. Zweimal wiederholt
sie ihren Namen und die Adresse ihres Kinos,
beim dritten Mal klingt ihre Stimme weniger zittrig.
Mehrmals schildert sie den Zustand der Leiche und
wird von Mal zu Mal detaillierter in ihrer Beschreibung.
Etwa eine Viertelstunde später ertönt Sirenengeheul.
Ein Polizeiauto mit eingeschaltetem Blaulicht
nähert sich und hält mit quietschenden Bremsen auf
dem Gehsteig vor den KARPFINGER-LICHTSPIELEN.
Ein großer, fettleibiger Polizist wälzt sich aus dem
Wagen. Ein kleiner, dünner Wachtmeister stapft im
Gleichschritt hinter ihm her.
Hermine K. ö*net die Eingangstür.
Die Herren führen die Rechte ans Kapperl und fragen
im Chor: „Wo ist die Leich?“
„Im Saal“, antwortet sie und geht voran.
Die beiden Polizisten folgen ihr.
Sie werfen einen kurzen Blick auf den toten Mann.
Der Dicke zückt ein Handy, und dann läuft alles wie
am Schnürchen: Kriminalpolizei, Spurensicherung,
Abtransport des Leichnams, erste Einvernahme der
Kinobesitzerin …
Mit vor Fieber glänzenden Augen verfolgt sie das
hektische Treiben der Beamten. „Kann ich Ihnen
irgendwie behilflich sein?“, fragt sie mehrmals,
bekommt jedoch keine Antwort.
Am gleichen Abend im „Nachtlberger“, allein an
ihrem Stammtisch beim Eingang, vor sich ein Glas Jagatee,
sagt sie zu ihrer Bekannten, Lotte Blasicek: „Ich
weiß, dass du mit dem Oberschulrat in der Vorstellung
warst. Er hat zwei Karten gekauft und eine Karte für
dich an der Kasse hinterlegt.“
„Ich hab doch nur dem Schurli gegenüber abgestritten,
dass ich mit dem alten Oczwirk im Kino war. Der
Polizei werd ich eh die Wahrheit sagen. Außerdem bin
ich nur ein paar Minuten zu spät gekommen.“
„Der Hauptfilm ‚Out of the past‘ ist bereits gelaufen,
als ich dich zu den vorderen Reihen geführt hab.“
„Ja, du hast Recht, aber das ist doch jetzt egal.“
„Und warum bist du noch vorm Ende der Vorstellung
abgehauen?“
„Weil ich mit dem Schurli im ‚Nachtlberger‘ verabredet
gewesen bin, auch das werd ich den Bullen erzählen. Der Schorschi und der Schurli können das übrigens
bestätigen.“ Mit unschuldigem Augenaufschlag
fährt sie fort: „Ich hab den Oberschulrat einfach im
Kino sitzengelassen. Stell dir vor, der ist kurz vorm
Schluss eingeschlafen. Außerdem hab ich Angst gehabt,
dass mich mein Spatzi erwischt. Du weißt, wie eifersüchtig
er ist. Meistens passt er mich sogar vorm Kino
ab und chau=ert mich dann die paar Meter rüber ins
‚Nachtlberger‘. Ich wollt nicht riskieren, dass er mich
mit einem Mannsbild rauskommen sieht. Selbst auf so
einen alten Knacker wie den Oczwirk war er immer
eifersüchtig.“
Die Kinobesitzerin trinkt ihren Jagatee aus, verlässt
das Café und geht nach Hause. Nachdem sie alle
Kinoeingänge zweimal versperrt und die Sicherheitskette
an ihrer Wohnungstür vorgelegt hat, lässt sie sich
ein heißes Bad ein.
Sie schrubbt und bürstet ihren Körper, bis sich ihre
Haut krebsrot verfärbt. Dann trinkt sie einen halben
Liter Kamillentee, steckt sich das Fieberthermometer
unter die linke Achsel – 38,6 – und legt sich mit einer
Wärmflasche ins Bett.
© Haymon Verlag
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Autoren-Porträt von Edith Kneifl
Edith Kneifl, geboren 1954 in Wels, lebt und arbeitet als Schriftstellerin in Wien. Zahlreiche Veröffentlichungen. Ihre Werke wurden mehrfach ausgezeichnet und in mehrere Sprachen übersetzt. Bei HAYMONtb erschienen u.a. die ersten beiden Teile ihrer Serie historischer Wien-Krimis "Der Tod fährt Riesenrad" (2012) und "Die Tote von Schönbrunn" (2013) sowie zuletzt: "Endstation Donau". Ein Wien-Krimi (2014).www.kneifl.at
Bibliographische Angaben
- Autor: Edith Kneifl
- 2015, 2. Aufl., 224 Seiten, Maße: 11,4 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Haymon Verlag
- ISBN-10: 3709978149
- ISBN-13: 9783709978146
- Erscheinungsdatum: 19.02.2015
Pressezitat
"Das ist die schöne Kunst Edith Kneifls, dass sie die abgestiegenen und ausgetretenen Protagonisten des Milieus mit cineastischen Mitteln würdigt. So entsteht im Leser großes Kino." Podium, Helmuth Schönauer
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