Tiefer Schmerz / A-Gruppe Bd.4
Ein toter Nobelpreiskandidat und eine bis zur Unkenntlichkeit verstümmelte Leiche in einem Stockholmer Freizeitpark - haben sie etwas miteinander zu tun?
Fieberhaft suchen die...
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Ein toter Nobelpreiskandidat und eine bis zur Unkenntlichkeit verstümmelte Leiche in einem Stockholmer Freizeitpark - haben sie etwas miteinander zu tun?
Fieberhaft suchen die Sonderermittler um Paul Hjelm und Kerstin Holm nach dem Verbindungsglied in einer bizarren Mordserie. Der Fall führt sie nicht nur durch halb Europa, sondern auch in die Vergangenheit, bis hin zu einem monströsen Verbrechen vor langer Zeit.
TieferSchmerz von Arne Dahl
LESEPROBE
1
Es war ein Abend Anfang Mai. Und es war vollkommenwindstill.
Nichtder kleinste Windhauch kräuselte das Wasser von Saltsjön. Der Wimpel desKastells draußen auf Kastellholmen hing schlaff herunter. Die gezacktenFassaden von Skeppsbron lagen wie eine Kulisse in der Ferne. Kein Zucken fuhrdurch die Flaggen um Stadsgården, nicht eine Baumkrone regte sich oben an derFjällgata, und das Grün von Mosebacke zeigte nicht die kleinste Bewegung. Daseinzige, was das dunkle Wasser des Beckholmsunds von einem Spiegel unterschied,war der vorübertreibende regenbogenfarbene Schimmer von ausgelaufenem Öl.
Einen Augenblick lang war das Spiegelbild des jungen Mannesvon einem fast perfekten konzentrischen Regenbogenkreis umgeben, wie imFadenkreuz eines Zielfernrohrs, doch dann löste der Kreis sich auf und glittlangsam, in ständig wechselnden Formen hinunter nach Beckholmsbron. Der jungeMann schüttelte das Unbehagen ab, das ihn flüchtig gestreift hatte, und zogsich die erste Straße rein.
Dann lehnte er sich auf der Parkbank zurück, ließ die Armeüber die Rückenlehne hängen und hob das Gesicht zu dem glasklaren Himmel auf,der sich spürbar verdunkelte. Er horchte in sich hinein: keine nennenswerteWirkung. Nur die selbstsichere Ruhe, die für einen kurzen Augenblickerschüttert worden war. Mit einem herausfordernden Lächeln betrachtete er dieSpielkarte, die offen auf der Parkbank neben ihm lag. Pikdame. Darauf lag diezweite Straße bereit.
Er rollte den Schein auseinander und leckte die Reste desweißen Pulvers ab. Dann hielt er ihn vor sich und betrachtete ihn. TausendKronen. Ein schwedischer Tausender. Alter Mann mit Bart. An dem alten Sackwürde er sich in den nächsten Monaten satt sehen, soviel war klar. Er rollteden alten Sack wieder zusammen und hob vorsichtig die Pikdame hoch. Er fühltesich doppelt mutig, doppelt stark. Sich nach nur ein paar Wochen in einer neuenStadt in einem neuen Land auf eine öffentliche Parkbank zu setzen und Kokain zuschnupfen, das war schon mutig genug, aber es wurde doppelt mutig durch dasRisiko, daß ein plötzlicher Windstoß sich mit dem ganzen Rausch auf und davonmachte.
Doch es war ja vollkommen windstill.
Es waren inzwischen zwei Straßen nötig, damit der Rauschsich einstellte. Daß er bald drei brauchen würde, bald vier und bald fünf,daran verschwendete er keinen Gedanken, als er die Röhrenform des alten Sacksan die Köstlichkeiten der schwarzen Dame führte und sich das Paradies reinzog.
Es kam. Wenn auch nicht mit einem Schlag wie früher, diesemBaseballschläger mitten in die Fresse, sondern schleichend, ein unmittelbares,unersättliches Verlangen nach mehr.
Der Rausch nahm langsam aber sicher zu und ließ allmählichdas Gesichtsfeld zur Seite abdriften, leicht geneigt, aber Windstöße brachte ernicht hervor. Die dunkler werdende Stadt lag noch immer in völliger Windstilleda, fast wie auf einer Ansichtskarte. An den Fassaden gingen schon hier und daLichter an, in der Ferne glitten lautlos die Lichtkegel der Autos dahin, undder ein wenig modrige Duft erstaunten Frühlings wurde plötzlich verstärkt zueiner Kloake, zum Kot von ein paar gigantischen Giraffen, die sich zu demverzerrten Geräusch greller, hallender Kinderschreie wie aus dem Nichts überihm erhoben. Das ihm, der Tiere haßte. Tiere jagten ihm Angst ein, seit seinerKindheit hatte er Tiere gehaßt. Und dann diese monströsen, stinkenden, schreiendenGiraffen, ein Alptraum. Eine kurze Ahnung von Panik durchfuhr ihn, bevor ererkannte, daß die Giraffen große Werftkräne waren, und hörte, daß dieKinderschreie vom nahe gelegenen Tivoli kamen, das gerade für die Saisoneröffnet worden war. Und der Gestank von Giraffenkot verzog sich und war wiederein Stück erstaunter Frühling.
Zeit verging. Viel Zeit. Fremde Zeit. Er war woanders. Ineiner anderen Zeit. Der Zeit des Rauschs. Einer unbekannten Urzeit.
In seinem Innern begann es zu grollen. Er stand auf und sahdie Stadt an, als betrachtete er einen Feind. Stockholm, dachte er und hob dieHand. Du brutal schöne Miniatur einer Großstadt, dachte er und ballte die Handzur Faust. So leicht zu erobern, dachte er und erhob die Faust gegen die Stadt,als sei er der erste, der dies tat.
Er wandte sich in dem unaufhaltsam zunehmendenDämmerungsdunkel um. Sein Gesichtsfeld war noch immer ein wenig schief, dieGeräusche und Gerüche waren noch leicht verzerrt. Kein Mensch in der Nähe. Inder ganzen Zeit hatte er keinen einzigen Menschen gesehen. Dennoch hatte er dasGefühl, nicht allein zu sein. Ein vages Gefühl, wie eine Ahnung. Dinge, dieknapp außerhalb seines Gesichtsfelds vorbeizugleiten schienen. Er schüttelte esvon sich ab. Das waren keine Gefühle für einen Mann, der eine Stadt erobernwollte.
Er nahm die Pikdame von der Parkbank, leckte sie genüßlichsauber, steckte sie in die Innentasche, dem Herzen am nächsten, und klopftesich an die Brust seines hellrosafarbenen leichten Sommerjacketts. Dann rollteer den Tausender auseinander, der während der unmeßbaren Zeit des Rauschs anseiner Hand geklebt hatte. Wieder schleckte er Reste von weißem Pulver auf undriß dann den Tausendkronenschein demonstrativ in lange Streifen, die er zuBoden fallen ließ. Sie rührten sich nicht vom Fleck. Es war vollkommenwindstill.
Als er sich in Bewegung setzte, gab er ein Klappern vonsich. Das tat er jetzt immer. Für ihn war Reichtum noch an der Dicke derGoldkette zu messen, die er um den Hals trug. Die Leute sollten seinen Erfolghören.
Er war erstaunt, daß die Vattugränd, deren Namen auf demStraßenschild er mühsam buchstabierte, vollständig menschenleer war. GingenSchweden abends nicht auf die Straße? Jetzt erst spürte er, wie kalt esgeworden war. Und fast pechschwarz. Und vollkommen still. Nicht ein einzigerjubelnder Kinderschrei vom Tivoli.
Wie lange hatte er, in seinen Rausch versunken, dort untenam Wasser gesessen?
Etwas wuselte zu seinen Füßen. Einen Moment lang dachte er,es wären sich windende Schlangen. Tiere. Ein kurzer Schreck.
Dann sah er, was es war.
Streifen von einem Tausendkronenschein.
Er drehte sich um. Schaumkronen auf Saltsjön. Und der Windzog eiskalt geradewegs durch ihn hindurch. Die Tausendkronenscheinschlangenwirbelten weiter, auf Djurgårdsstaden zu.
Da war ihm wieder so eigentümlich, als wäre er nicht allein.Nichts. Überhaupt nichts. Und dennoch dieses Gefühl. Eine eisige Gegenwart vonetwas. Ein Eiswind durch die Seele. Und auch wieder gar nicht. Als befände essich die ganze Zeit gerade an dem Punkt, den sein Blick nicht mehr erreichte.
Er kam hinaus auf die große Straße. Kein Mensch. KeinFahrzeug. Er überquerte sie und drang in den Wald ein. Es kam ihm vor wie Wald.Bäume überall. Und die Gegenwart von etwas immer deutlicher. Ein Käuzchen rief.
Ein Käuzchen? dachte er. Tiere, dachte er.
Und da sah er aus dem Augenwinkel einen Schatten, der hintereinen Baum glitt. Und noch einen.
Er stand still. Das Käuzchen rief wieder. Minerva, dachteer. Die Mythologie der Alten, die ihm in seiner Schulzeit in den Armenviertelnvon Athen eingetrichtert worden war.
Minerva, die Göttin der Weisheit, Athenas Name, als sie vonden Römern gestohlen wurde.
Er blieb eine Weile stehen und versuchte, Athena zugleichen. Weise zu sein.
Geschieht dies in der Wirklichkeit? Bilde ich mir diesebeinah unmerklichen Bewegungen nicht ein? Und warum verspüre ich Angst? Habeich nicht Auge in Auge mit völlig ausgerasteten Fixern gestanden und sie mitein paar schnellen Bewegungen betäubt? Ich bin Herrscher über ein Imperium. Wasfürchte ich?
Da nimmt der Schrecken Gestalt an. Irgendwie fühlt sich dasbesser an. Als der Ast dort hinter der Fichte knackt und das Geräusch selbstden zunehmenden Wind übertönt, weiß er, daß es sie gibt. In gewisser Weise istdas schön. Eine Bekräftigung. Er sieht sie nicht, aber er nimmt Tempo auf.
Es ist fast kohlrabenschwarz, und es kommt ihm vor, alsliefe er durch einen Urwald. Die Zweige peitschen ihn. Und die dicke Goldketteklimpert und klimpert. Wie eine Kuhglocke.
Tiere, denkt er und stürzt über die Straße. Kein einzigesAuto. Es ist, als hätte die Welt aufgehört zu existieren. Nur er undirgendwelche Wesen, die er nicht versteht.
Mehr Wald. Bäume überall. Der Wind, der durch ihnhindurchpfeift. Der Eiswind. Und die Schatten, die überall an den Rändernseines Gesichtsfelds gleiten. Urzeitwesen, denkt er, überquert einen kleinenWeg und läuft direkt in einen feinmaschigen Drahtzaun. Er wirft sich auf denZaun. Der schwankt. Er klettert und klettert. Die Finger rutschen ab. Und keinGeräusch außer dem Wind. Doch, da: das Käuzchen. Gellend. Käuzchenschreiverzerrt. Ein furchtbarer Laut, der sich mit dem unablässigen Wind vereint.
Ein Urzeitschrei.
Seine Fingerspitzen sind aufgeschnitten und blutig von dennadelscharfen Maschen. Die Gegenwart von etwas ist jetzt überall. Das Spieldunklerer Schatten durch das Dunkel.
Er fummelt die Pistole aus dem Schulterhalfter. Hängt mitder einen Hand am Zaun und schießt mit der anderen. Er schießt in alleRichtungen. Wahllos. Dumpfe Schüsse in den Urwald. Keine Erwiderung. KeineReaktion. Das Gleiten um ihn her geht weiter. Unverändert. Unerschrocken.Unbezwinglich.
Er schiebt irgendwie die Pistole zurück ins Halfter, nochein paar Schuß übrig, eine letzte Sicherheitsmaßnahme, und die Nähe derSchatten verleiht ihm übermenschliche Kräfte, jedenfalls ist er selbst derMeinung, als er sich hoch und nach außen hebt und den Stacheldraht packt, derüber dem Zaun in einem nach außen weisenden Winkel verläuft.
Übermenschliche Kräfte, denkt er mit einem ironischenLächeln, windet die Drahtstacheln aus den Händen und schwingt sich hinüber.
Jetzt aber, denkt er, als er hinunter ins Grüne auf deranderen Seite des Zauns springt. Gleitet darüber, ihr da.
Und sie tun es. Er spürt sofort ihre Nähe. Er erhebt sichaus dem Gebüsch, in dem er gelandet ist, und starrt geradewegs in ein paarschräge gelbliche Augen. Er schreit unvermittelt auf. Spitze Ohren richten sichüber den Augen auf, und darunter wird eine Reihe nadelspitzer Zähne entblößt.Ein Tier, denkt er und wirft sich zur Seite. Direkt vor ein anderes,ebensolches Tier. Die gleichen schrägen gelblichen Augen, die eine ganz andereWelt sehen als er. Urzeitaugen. Und als er weiter durch das Waldgelände stürzt,ist es vor der Eiszeit.
Wölfe, schießt es ihm plötzlich durch den Kopf. Herr Gott,sind das nicht Wölfe?
Ist das hier eine Stadt? schreit es in seinem Innern.
Wie zum Teufel kann das hier eine Großstadt in Europa sein?
Er klimpert. Sein Weg ist eine geräuschvolle Autobahn. Erpackt die dicke Goldkette, reißt sie sich vom Hals und wirft sie in dieVegetation. Hinaus in die Natur.
Er erreicht eine Mauer, und mit seinen blutigen, pochendenFingerspitzen, die den Schmerz durch den Körper pulsieren lassen, findet ersogleich Halt, und wie ein Bergsteiger klettert er die senkrechte Mauer hinauf,er hievt sich hinüber, über einen Zaun auf der Mauerkrone, und unter ihm istdie Natur wie in gleitende Schatten gehüllt, die Bäume scheinen sich zubewegen, ein Wald, der sich nähert, die stillstehenden Wölfe scheinen mit ihrergesammelten Urzeitgleichgültigkeit an dem Gleiten teilzuhaben. Und er bekommtdie Pistole hoch, und er schießt auf die Tiere, auf die von gleitenden Schattenerfüllte Natur. Nichts verändert sich. Nur daß die Pistole klickt. Er wirft sienach den Schatten. Sein Gesichtsfeld ist außer Funktion. Er weiß nicht, was siegetroffen hat.
Er ist oben auf einem Weg. Asphalt. Endlich Asphalt. Und erhetzt weiter eine Anhöhe hinauf, und von überallher starren Tiere ihn an,dunkel, gleichgültig, und Gestank und Geräusche füllen die pfeifende Luft, under versucht einen Namen zu finden für diese gleitenden Schattenwesen, die ihnverfolgen und die nie, nie, nie aufzugeben scheinen.
Namen beruhigen.
Furien, denkt er, während er läuft. Gorgonen, Harpyien.Nein, falsch. Nein, wie heißen sie noch? Rachegöttinnen?
Und plötzlich versteht er, daß es tatsächlich Rachegöttinnensind. Daß es tatsächlich Göttinnen der Rache sind, die Fliegen, dieunbezwingbaren Urzeitgottheiten. Die weibliche Rache. Aber wie hießen sie noch?Mitten im Wahnsinn sucht er einen Namen.
Namen beruhigen.
Er läuft und läuft, doch es ist, als käme er nicht vomFleck. Er läuft auf einem Rollband, er läuft in klebendem Asphalt. Und sie sindda, sie nehmen Gestalt an, sie gleiten weiter, aber werden zu Körpern. Erglaubt, daß er sie sieht. Er fällt. Wird gefällt.
Er fühlt, wie er hochgehoben wird. Es ist stockdunkel.Urzeitdunkel. Der eisige Wind heult. Sein Körper dreht sich. Oder dreht er sichnicht? Er weiß nicht. Plötzlich weiß er nichts mehr. Plötzlich ist alles zueinem namenlosen, unstrukturierten Chaos geworden. Alles, was er tut, ist,einen Namen zu suchen. Den Namen von mythischen Wesen. Er will wissen, wer siesind, die ihn töten.
Und er sieht ein Gesicht. Vielleicht ist es ein Gesicht.Vielleicht sind es viele. Frauengesichter. Rachegöttinnen.
Und er dreht sich. Alles steht auf dem Kopf. Er siehtzwischen seinen Füßen den Mond hervorkommen. Er hört die Sterne inLichtjahrgesang ausbrechen. Und er sieht das Dunkel sich verdunkeln.
Jetzt sieht er ein Gesicht. Es steht kopf. Es ist eine Frau,die alle Frauen ist, denen er je etwas angetan, die er vergewaltigt,mißhandelt, erniedrigt hat. Es ist eine Frau, die alle Frauen ist, die ein Tierwird, das eine Frau wird, die ein Tier wird. Ein goldiges kleinesmarderähnliches Gesicht, das zerbirst zu einem riesenhaften, mörderischenRachen. Es verbeißt sich in sein Gesicht, und er fühlt, wie seine blutendenFingerspitzen auf erdigem Boden tanzen und verspürt einen Schmerz, der jedeVorstellungskraft übersteigt, der den Angriff des Tieres, des Tieres, das sichgerade mit seiner Backe davonmacht, wie ein Streicheln erscheinen läßt. Und erversteht nichts, absolut nichts.
Außer daß er stirbt.
Daß er vor reinem Schmerz stirbt.
Und da, mit einem letzten Schub von Genugtuung, erinnert ersich an den Namen der Schattengestalten.
Das letzte, was er spürt, ist Erde, die in die blutendenFingerspitzen gesogen wird.
Das beruhigt.
© Piper Verlag
Übersetzung: Wolfgang Butt
Wolfgang Butt zählt zu den meistgelesenen Übersetzern aus den nordischen Sprachen, mit Übertragungen von Per Olov Enquist, Henning Mankell, Arne Dahl, Zlatan Ibrahimovic u. a.
- Autor: Arne Dahl
- 2010, 15. Aufl., 416 Seiten, Maße: 12 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Wolfgang Butt
- Verlag: Piper
- ISBN-10: 3492246974
- ISBN-13: 9783492246972
- Erscheinungsdatum: 01.05.2006
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Tiefer Schmerz / A-Gruppe Bd.4".
Kommentar verfassen