Todesschiff
Ein Island-Krimi
Eine Luxusyacht treibt verlassen im Hafen von Reykjavik. Was ist aus den Menschen an Bord geworden? Sind sie auf einem Rettungsboot, hilflos im Atlantik? Dann wird ein Toter an Land gespült - eindeutig nicht ertrunken. Wurde er auf dem Geisterschiff getötet?
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Produktinformationen zu „Todesschiff “
Eine Luxusyacht treibt verlassen im Hafen von Reykjavik. Was ist aus den Menschen an Bord geworden? Sind sie auf einem Rettungsboot, hilflos im Atlantik? Dann wird ein Toter an Land gespült - eindeutig nicht ertrunken. Wurde er auf dem Geisterschiff getötet?
Klappentext zu „Todesschiff “
Islands Nummer 1 Bestseller-AutorinEine Luxusjacht treibt führerlos in den Hafen von Reykjavík - ein Geisterschiff. Wo sind die sieben Menschen, die eigentlich auf dem Schiff sein sollen? Gerieten sie in Seenot und treiben jetzt draußen auf dem Atlantik in einem Rettungsboot? Doch dann wird eine Leiche an Land gespült. Dieser Mensch ist eindeutig nicht im Wasser umgekommen. Wurde er auf dem Geisterschiff umgebracht?
Lese-Probe zu „Todesschiff “
Todesschiff von Yrsa SigurðardóttirProlog
... mehr
Brynjar zog in der abendlichen Kälte seine Jacke fester zu. Er freute sich darauf, wieder ins Wächterhäuschen zu kommen, und überlegte, warum er eigentlich rausgegangen war. Vielleicht zeigte das ja nur, wie langweilig sein Job war - er nutzte jede Gelegenheit zur Abwechslung, selbst wenn er sich dem beißenden Wind aussetzte. Der Hafen, den er bewachen sollte, war wie ausgestorben, wie meistens spät abends und nachts, und plötzlich fiel ihm auf, dass er ihn gar nicht anders kannte. Er mied den Ort tagsüber, wenn er voller Leben war, und wollte ihn genau so haben: die schwarze Wasseroberfläche, die verlassenen Schiffe. Am liebsten wollte er gar nicht sehen, wie der Hafen in seiner Abwesenheit zum Leben erwachte, um nicht feststellen zu müssen, wie unwichtig er letztendlich war.
Brynjar beobachtete ein altes Ehepaar, das mit einem kleinen Mädchen an der Hand an der Hafenmole entlangspazierte. Kurz hinter ihnen humpelte ein junger Mann auf Krücken, der ihm ebenfalls merkwürdig vorkam. Er schaute auf die Uhr. Kurz vor Mitternacht. Obwohl er keine Kinder hatte, wusste er, dass das für ein höchstens zweijähriges Kind eine ungewöhnliche Zeit war, um draußen zu sein. Vielleicht hatten diese Leute dieselbe Absicht wie er: Sie trotzten der Kälte, um die berühmt-berüchtigte Yacht zu sehen, die jeden Moment erwartet wurde. Je länger er darüber nachdachte, desto sicherer war er sich, dass die Leute die Besatzung in Empfang nehmen wollten. Brynjar ging lieber nicht zu ihnen, falls er mit seiner Vermutung richtig lag. Sie hatten nämlich einen Anlass, während er von purer Neugier getrieben wurde. Natürlich konnte er ihnen vorflunkern, er hätte etwas zu erledigen, aber er war ein schlechter Lügner und fürchtete, sich dabei nur noch tiefer zu verstricken.
Um nicht tatenlos herumzustehen, ging er zu dem kleinen Lieferwagen mit dem Logo vom Zoll. Das Fahrzeug war vor einer halben Stunde aufs Hafengelände gefahren und parkte an einer Stelle, von der man den Hafen gut überblicken konnte. Vielleicht würden ihn die Zöllner in den Wagen lassen, dann müsste er nicht mehr frieren. Er klopfte auf der Fahrerseite an die Scheibe und wunderte sich, dass drei Zöllner in dem Auto saßen. Normalerweise kam nur einer, höchstens zwei. Die Scheibe glitt quietschend nach unten, wahrscheinlich war Sand im Fensterschlitz.
»Guten Abend«, sagte Brynjar.
»N' Abend.« Der Mann am Steuer übernahm das Reden. Die anderen beobachteten aufmerksam den Hafen.
»Sind Sie wegen der Motoryacht hier?«, fragte Brynjar. Er bereute es bereits, zu ihnen gegangen zu sein, und seine Hoffnung, eingelassen zu werden, schwand.
»Ja.« Der Fahrer wandte seinen Blick von Brynjar ab und glotzte ebenfalls auf den Hafen. »Wir sind nicht wegen der Aussicht hier.«
»Warum sind Sie denn zu dritt?« Brynjars Worte wurden von kleinen Atemwölkchen begleitet, aber die Männer schenkten ihnen keine Beachtung.
»Da stimmt was nicht. Hoffentlich nichts Schlimmes, aber es war Anlass genug, uns loszuschicken.« Der Fahrer zog den Reißverschluss seines Anoraks hoch. »Sie haben nicht auf den Funkruf reagiert, vielleicht ist ihre Anlage kaputt, aber man kann ja nie wissen.«
Brynjar zeigte auf die Leute, die an der Hafenmole standen und warteten. Der ältere Herr hatte das Kind auf den Arm genommen, und der Typ mit den Krücken hatte sich auf einen Poller gesetzt.
»Ich glaube, die wollen die Mannschaft begrüßen. Soll ich mal rübergehen und nachfragen?«, sagte er.
»Wenn Sie wollen.« Dem Mann war offensichtlich egal, was Brynjar machte, solange er nicht weiter bei ihnen herumstand.
»Die sind bestimmt nicht hier, um Schmuggelware in Empfang zu nehmen. Wir haben sie kommen sehen, die würde man doch sogar im Rollstuhl einholen. Das sind irgendwelche Verwandte der Besatzung oder so.«
Brynjar nahm seinen Arm aus der Fensteröffnung und richtete sich auf. »Ich gehe mal rüber. Kann ja nicht schaden.«
Zum Abschied hörte er nur das Quietschen der Fensterscheibe, die wieder hochfuhr. Brynjar stellte seinen Kragen auf. Die Leute da hinten waren bestimmt freundlicher als die Zöllner, auch wenn sie ihn nicht in ein warmes Auto einladen konnten. Eine einzelne Möwe machte mit einem Kreischen auf sich aufmerksam und erhob sich von einer erloschenen Laterne zum Flug. Brynjar beschleunigte seine Schritte, während er der Möwe nachsah, die auf die schwarze Konzerthalle Harpa zuflog und dann verschwand.
»Hallo«, sagte er. Die Leute erwiderten seinen Gruß nur zögerlich.
»Ich bin der Hafenwärter. Warten Sie auf jemanden?«
Trotz der Dunkelheit war die Erleichterung in den Gesichtern der beiden älteren Herrschaften nicht zu übersehen.
»Ja, unser Sohn und seine Familie müssten jeden Moment eintreffen. Und das hier ist ihre jüngste Tochter. Sie ist schon ganz aufgeregt, weil ihre Mama und ihr Papa wieder nach Hause kommen, deshalb haben wir beschlossen, sie als Überraschung abzuholen.«
Der alte Mann lächelte verlegen. »Das ist doch in Ordnung, oder?«
»Ja, klar.« Brynjar lächelte der Kleinen zu, die schüchtern unter dem Schirm einer bunten Wollmütze hervorlugte und sich an ihren Opa kuschelte. »Ist Ihr Sohn auf der Motoryacht?«
»Ja«, antwortete die Frau verwundert. »Woher wissen Sie das?«
»Weil es das einzige Schiff ist, das erwartet wird.« Brynjar wandte sich dem jungen Mann zu. »Warten Sie auch auf jemanden von der Yacht?«
Der Mann nickte und rappelte sich hoch. Er schien sich darüber zu freuen, miteinbezogen zu werden, und humpelte zu ihnen herüber.
»Mein Freund ist Schiffsmechaniker an Bord. Ich bringe ihn nach Hause. Aber wenn ich gewusst hätte, wie schweinekalt es ist, hätte er sich ein Taxi nehmen können«, knurrte er und zog sich seine schwarze Mütze über die Ohren.
»Dann ist er Ihnen jedenfalls was schuldig.« Brynjar sah die Autotür der Zöllner aufgehen und blickte hinaus aufs Meer. »So, jetzt müssen Sie nicht mehr lange warten.«
Er bewunderte den schön geschwungenen, weißen Steven, der an der Hafenmündung auftauchte. Die Geschichten, die er beim Schichtwechsel über die Yacht gehört hatte, waren nicht übertrieben. Jetzt kam sie ganz ins Blickfeld. Man musste wirklich keine große Ahnung von Yachten haben, um zu erkennen, dass es sich um ein außergewöhnliches Schiff handelte, zumindest für isländische Verhältnisse.
»Wow«, rutschte es ihm heraus, und er war froh, nicht mehr in der Nähe der Zöllner zu sein. Fast drei komplette Stockwerke lagen oberhalb des Wasserspiegels, und das Boot schien mindestens vier Decks zu haben. Brynjar hatte zwar schon größere Yachten gesehen, aber nicht viele. Und diese war wesentlich schnittiger als alle anderen, die es schon mal nach Island verschlug. Sie war eindeutig nicht dafür gebaut worden, im Hafen von Reykjavík zu liegen oder überhaupt nördliche Regionen zu befahren, sondern eignete sich perfekt für wärmere Temperaturen und tiefblaues Meer.
»Nicht schlecht.«
Brynjar klappte den Mund zu und hob die Augenbrauen. War der Steuermann etwa betrunken? Die Yacht steuerte gefährlich nah am Hafendamm vorbei, fuhr ungewöhnlich schnell, und bevor Brynjar etwas sagen konnte, ertönte ein ohrenbetäubendes Quietschen. Es hielt lange an und verklang dann fast ganz.
»Was zum Teufel ...« Der junge Mann mit den Krücken glotzte die Yacht verdutzt an. Sie neigte sich zum Hafendamm, kam dann wieder in die Waagerechte und fuhr im selben Stil weiter. Die Zöllner liefen los, und das alte Ehepaar verfolgte die Ereignisse mit offenem Mund. So etwas hatte Brynjar in all den Jahren, in denen er den Hafen beaufsichtigt hatte, noch nicht erlebt. Am merkwürdigsten war jedoch, dass an Bord niemand zu sehen war. Hinter den großen Fenstern der Kommandobrücke war kein Mensch, und auf den Decks stand auch niemand. Brynjar sagte den Leuten hastig, sie sollten warten, er käme gleich wieder zu ihnen. Als er losrannte, fiel sein Blick auf das kleine Mädchen, das noch größere Augen machte als vorher, doch anstatt schüchtern zu wirken, sah es jetzt nur noch traurig aus. Unsagbar traurig.
Als Brynjar endlich das andere Ende der Hafenmündung erreicht hatte, kam die Yacht an einer Landungsbrücke zum Halt. Er sah schon eine lange Nacht mit Berichteschreiben vor sich, als der massive Stahl gegen die Brücke krachte und der Lärm in den Ohren hallte. Trotzdem hörte er den Aufschrei aus der Richtung, aus der er gekommen war. Die Leute, die Zeugen dieses Vorfalls wurden, wohl wissend, dass sich ihre Freunde und Verwandten an Bord befanden, taten ihm leid. Was zum Teufel war da eigentlich los? Der Zöllner hatte von einem technischen Problem gesprochen, aber es musste doch möglich sein, eine defekte Yacht besser zu manövrieren, und wenn nicht - wie war der Kapitän dann auf die Idee gekommen, ein Anlegemanöver zu starten? Er hätte das Schiff doch genauso gut vor der Hafeneinfahrt treiben lassen und auf Hilfe warten können. Die drei Zöllner waren genauso irritiert wie Brynjar und gingen misstrauisch über die Landungsbrücke auf die Yacht zu.
»Was ist los?«
Brynjar tippte dem hintersten Zöllner auf die Schulter.
»Verdammt nochmal, wie soll ich das denn wissen?« Seine Stimme klang unsicher und passte nicht zu seinen barschen Worten. »Der Kapitän muss besoffen sein. Oder bekifft.«
Schließlich erreichten sie das Ende der Landungsbrücke, gegen die die Yacht geprallt war. Ihr Bug war nicht mehr geschwungen und glänzend, sondern eingedellt und zerkratzt. Auf die Rufe der Zöllner hatte immer noch niemand geantwortet. Einer von ihnen telefonierte jetzt mit schroffer Stimme mit der Polizei. Dann starrte er auf den mächtigen Bug, der über ihnen aufragte.
»Wir gehen an Bord. Die Polizei ist unterwegs, aber wir sollten nicht auf sie warten. Die Sache gefällt mir nicht. Hol die Leiter, Stebbi«, befahl er.
Besagter Stebbi wirkte nicht gerade begeistert, drehte sich aber kommentarlos um und rannte zurück zum Wagen. Unterdessen sagte niemand etwas. Immer wieder riefen sie nach der Besatzung - ohne Erfolg. Brynjar fand es immer unheimlicher, dass ihre Rufe in der Stille verhallten, und war froh, als der Zöllner mit der Leiter zurückkam. Der älteste Zöllner, der vorausgegangen war, kletterte hinauf. Brynjar sollte die Leiter festhalten, und da stand er immer noch, als die drei Männer an Bord verschwunden waren und die Polizei eintraf. Er erklärte den kopfschüttelnden Polizisten, wer er war. Plötzlich lehnte sich ein Zöllner über die Reling und rief aufgeregt: »Hier ist kein Mensch an Bord!«
»Was meinen Sie?«, entgegnete ein Polizist und machte Anstalten, die Leiter hinaufzuklettern. »Das ist doch völlig unmöglich.«
»Ich sage es doch. Hier ist niemand, keine Menschenseele!«
Der Polizist blieb auf der vierten Sprosse der Leiter stehen. Er lehnte seinen Oberkörper zurück und schaute dem Zöllner direkt ins Gesicht.
»Wie kann das sein?«
»Ich weiß es nicht. Aber hier ist niemand. Die Yacht ist verlassen.«
Niemand sagte etwas. Brynjar blickte zum Hafen und sah das ältere Ehepaar, das kleine Mädchen und den Mann mit den Krücken am Ende der Landungsbrücke stehen. Verständlicherweise wollten sie nicht auf der anderen Hafenseite warten. Die Polizisten hatten die Leute gar nicht bemerkt und beachteten sie nicht. Brynjar wollte sich um sie kümmern und beschleunigte seinen Schritt, als er sah, dass sie ihm entgegenkamen. Sie hatten nichts bei der Yacht verloren, obwohl ausgerechnet sie von allen Anwesenden am meisten betroffen waren. Aber die Polizei musste in Ruhe ihre Arbeit machen.
»Nicht näherkommen! Die Brücke könnte einstürzen!«, rief er ihnen zu, obwohl das ziemlich unwahrscheinlich war, aber ihm fiel nichts anderes ein, um sie zurückzuhalten. »Was ist passiert? Warum hat der Mann gesagt, es wäre niemand an Bord?« Die Stimme der Frau zitterte. »Natürlich sind sie an Bord! Ægir, Lára und die Zwillinge sind auf dem Schiff. Die müssen nur richtig suchen!«
»Kommen Sie.« Brynjar wusste nicht, wohin er mit den Leuten gehen sollte, hier konnten sie jedenfalls nicht bleiben. »Das ist bestimmt nur ein Missverständnis, beruhigen Sie sich.« Er überlegte, ob sie alle ins Wächterhäuschen passen würden. Es war eng, aber immerhin hatte er Kaffee. »Sie sind bestimmt alle gesund und munter.«
Der junge Mann mit den Krücken starrte Brynjar in die Augen. Als er sprach, zitterte seine Stimme nicht weniger als die der alten Frau: »Ich hätte an Bord sein sollen.«
Er schien weitersprechen zu wollen, verstummte aber, als er sah, dass das kleine Mädchen jedes Wort mitverfolgte. »Mein Gott«, stöhnte er nur.
»Kommen Sie.« Brynjar musste dem alten Mann den Arm um die Schultern legen und ihn wegführen. Mit gebrochenen Augen starrte er auf den beschädigten Bug der Yacht, der spöttisch auf die kleine Gruppe hinuntergaffte.
»Denken Sie an die Kleine.«
Brynjar nickte in Richtung des Enkelkindes. »Es ist nicht gut, wenn sie hier ist, wir sollten sie wegbringen. Das klärt sich hoffentlich alles schnell.«
Aber es war zu spät, der Schaden war geschehen.
»Mama tot!« Die helle Kinderstimme war unangenehm klar. Das war das Letzte, was Brynjar und die anderen in diesem Moment hören wollten.
»Papa tot!« Und es wurde noch schlimmer.
»Adda tot, Bygga tot!« Das Kind seufzte und umschlang das Bein seiner Großmutter.
»Alle tot!« Dann weinte es leise schluchzend.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Brynjar zog in der abendlichen Kälte seine Jacke fester zu. Er freute sich darauf, wieder ins Wächterhäuschen zu kommen, und überlegte, warum er eigentlich rausgegangen war. Vielleicht zeigte das ja nur, wie langweilig sein Job war - er nutzte jede Gelegenheit zur Abwechslung, selbst wenn er sich dem beißenden Wind aussetzte. Der Hafen, den er bewachen sollte, war wie ausgestorben, wie meistens spät abends und nachts, und plötzlich fiel ihm auf, dass er ihn gar nicht anders kannte. Er mied den Ort tagsüber, wenn er voller Leben war, und wollte ihn genau so haben: die schwarze Wasseroberfläche, die verlassenen Schiffe. Am liebsten wollte er gar nicht sehen, wie der Hafen in seiner Abwesenheit zum Leben erwachte, um nicht feststellen zu müssen, wie unwichtig er letztendlich war.
Brynjar beobachtete ein altes Ehepaar, das mit einem kleinen Mädchen an der Hand an der Hafenmole entlangspazierte. Kurz hinter ihnen humpelte ein junger Mann auf Krücken, der ihm ebenfalls merkwürdig vorkam. Er schaute auf die Uhr. Kurz vor Mitternacht. Obwohl er keine Kinder hatte, wusste er, dass das für ein höchstens zweijähriges Kind eine ungewöhnliche Zeit war, um draußen zu sein. Vielleicht hatten diese Leute dieselbe Absicht wie er: Sie trotzten der Kälte, um die berühmt-berüchtigte Yacht zu sehen, die jeden Moment erwartet wurde. Je länger er darüber nachdachte, desto sicherer war er sich, dass die Leute die Besatzung in Empfang nehmen wollten. Brynjar ging lieber nicht zu ihnen, falls er mit seiner Vermutung richtig lag. Sie hatten nämlich einen Anlass, während er von purer Neugier getrieben wurde. Natürlich konnte er ihnen vorflunkern, er hätte etwas zu erledigen, aber er war ein schlechter Lügner und fürchtete, sich dabei nur noch tiefer zu verstricken.
Um nicht tatenlos herumzustehen, ging er zu dem kleinen Lieferwagen mit dem Logo vom Zoll. Das Fahrzeug war vor einer halben Stunde aufs Hafengelände gefahren und parkte an einer Stelle, von der man den Hafen gut überblicken konnte. Vielleicht würden ihn die Zöllner in den Wagen lassen, dann müsste er nicht mehr frieren. Er klopfte auf der Fahrerseite an die Scheibe und wunderte sich, dass drei Zöllner in dem Auto saßen. Normalerweise kam nur einer, höchstens zwei. Die Scheibe glitt quietschend nach unten, wahrscheinlich war Sand im Fensterschlitz.
»Guten Abend«, sagte Brynjar.
»N' Abend.« Der Mann am Steuer übernahm das Reden. Die anderen beobachteten aufmerksam den Hafen.
»Sind Sie wegen der Motoryacht hier?«, fragte Brynjar. Er bereute es bereits, zu ihnen gegangen zu sein, und seine Hoffnung, eingelassen zu werden, schwand.
»Ja.« Der Fahrer wandte seinen Blick von Brynjar ab und glotzte ebenfalls auf den Hafen. »Wir sind nicht wegen der Aussicht hier.«
»Warum sind Sie denn zu dritt?« Brynjars Worte wurden von kleinen Atemwölkchen begleitet, aber die Männer schenkten ihnen keine Beachtung.
»Da stimmt was nicht. Hoffentlich nichts Schlimmes, aber es war Anlass genug, uns loszuschicken.« Der Fahrer zog den Reißverschluss seines Anoraks hoch. »Sie haben nicht auf den Funkruf reagiert, vielleicht ist ihre Anlage kaputt, aber man kann ja nie wissen.«
Brynjar zeigte auf die Leute, die an der Hafenmole standen und warteten. Der ältere Herr hatte das Kind auf den Arm genommen, und der Typ mit den Krücken hatte sich auf einen Poller gesetzt.
»Ich glaube, die wollen die Mannschaft begrüßen. Soll ich mal rübergehen und nachfragen?«, sagte er.
»Wenn Sie wollen.« Dem Mann war offensichtlich egal, was Brynjar machte, solange er nicht weiter bei ihnen herumstand.
»Die sind bestimmt nicht hier, um Schmuggelware in Empfang zu nehmen. Wir haben sie kommen sehen, die würde man doch sogar im Rollstuhl einholen. Das sind irgendwelche Verwandte der Besatzung oder so.«
Brynjar nahm seinen Arm aus der Fensteröffnung und richtete sich auf. »Ich gehe mal rüber. Kann ja nicht schaden.«
Zum Abschied hörte er nur das Quietschen der Fensterscheibe, die wieder hochfuhr. Brynjar stellte seinen Kragen auf. Die Leute da hinten waren bestimmt freundlicher als die Zöllner, auch wenn sie ihn nicht in ein warmes Auto einladen konnten. Eine einzelne Möwe machte mit einem Kreischen auf sich aufmerksam und erhob sich von einer erloschenen Laterne zum Flug. Brynjar beschleunigte seine Schritte, während er der Möwe nachsah, die auf die schwarze Konzerthalle Harpa zuflog und dann verschwand.
»Hallo«, sagte er. Die Leute erwiderten seinen Gruß nur zögerlich.
»Ich bin der Hafenwärter. Warten Sie auf jemanden?«
Trotz der Dunkelheit war die Erleichterung in den Gesichtern der beiden älteren Herrschaften nicht zu übersehen.
»Ja, unser Sohn und seine Familie müssten jeden Moment eintreffen. Und das hier ist ihre jüngste Tochter. Sie ist schon ganz aufgeregt, weil ihre Mama und ihr Papa wieder nach Hause kommen, deshalb haben wir beschlossen, sie als Überraschung abzuholen.«
Der alte Mann lächelte verlegen. »Das ist doch in Ordnung, oder?«
»Ja, klar.« Brynjar lächelte der Kleinen zu, die schüchtern unter dem Schirm einer bunten Wollmütze hervorlugte und sich an ihren Opa kuschelte. »Ist Ihr Sohn auf der Motoryacht?«
»Ja«, antwortete die Frau verwundert. »Woher wissen Sie das?«
»Weil es das einzige Schiff ist, das erwartet wird.« Brynjar wandte sich dem jungen Mann zu. »Warten Sie auch auf jemanden von der Yacht?«
Der Mann nickte und rappelte sich hoch. Er schien sich darüber zu freuen, miteinbezogen zu werden, und humpelte zu ihnen herüber.
»Mein Freund ist Schiffsmechaniker an Bord. Ich bringe ihn nach Hause. Aber wenn ich gewusst hätte, wie schweinekalt es ist, hätte er sich ein Taxi nehmen können«, knurrte er und zog sich seine schwarze Mütze über die Ohren.
»Dann ist er Ihnen jedenfalls was schuldig.« Brynjar sah die Autotür der Zöllner aufgehen und blickte hinaus aufs Meer. »So, jetzt müssen Sie nicht mehr lange warten.«
Er bewunderte den schön geschwungenen, weißen Steven, der an der Hafenmündung auftauchte. Die Geschichten, die er beim Schichtwechsel über die Yacht gehört hatte, waren nicht übertrieben. Jetzt kam sie ganz ins Blickfeld. Man musste wirklich keine große Ahnung von Yachten haben, um zu erkennen, dass es sich um ein außergewöhnliches Schiff handelte, zumindest für isländische Verhältnisse.
»Wow«, rutschte es ihm heraus, und er war froh, nicht mehr in der Nähe der Zöllner zu sein. Fast drei komplette Stockwerke lagen oberhalb des Wasserspiegels, und das Boot schien mindestens vier Decks zu haben. Brynjar hatte zwar schon größere Yachten gesehen, aber nicht viele. Und diese war wesentlich schnittiger als alle anderen, die es schon mal nach Island verschlug. Sie war eindeutig nicht dafür gebaut worden, im Hafen von Reykjavík zu liegen oder überhaupt nördliche Regionen zu befahren, sondern eignete sich perfekt für wärmere Temperaturen und tiefblaues Meer.
»Nicht schlecht.«
Brynjar klappte den Mund zu und hob die Augenbrauen. War der Steuermann etwa betrunken? Die Yacht steuerte gefährlich nah am Hafendamm vorbei, fuhr ungewöhnlich schnell, und bevor Brynjar etwas sagen konnte, ertönte ein ohrenbetäubendes Quietschen. Es hielt lange an und verklang dann fast ganz.
»Was zum Teufel ...« Der junge Mann mit den Krücken glotzte die Yacht verdutzt an. Sie neigte sich zum Hafendamm, kam dann wieder in die Waagerechte und fuhr im selben Stil weiter. Die Zöllner liefen los, und das alte Ehepaar verfolgte die Ereignisse mit offenem Mund. So etwas hatte Brynjar in all den Jahren, in denen er den Hafen beaufsichtigt hatte, noch nicht erlebt. Am merkwürdigsten war jedoch, dass an Bord niemand zu sehen war. Hinter den großen Fenstern der Kommandobrücke war kein Mensch, und auf den Decks stand auch niemand. Brynjar sagte den Leuten hastig, sie sollten warten, er käme gleich wieder zu ihnen. Als er losrannte, fiel sein Blick auf das kleine Mädchen, das noch größere Augen machte als vorher, doch anstatt schüchtern zu wirken, sah es jetzt nur noch traurig aus. Unsagbar traurig.
Als Brynjar endlich das andere Ende der Hafenmündung erreicht hatte, kam die Yacht an einer Landungsbrücke zum Halt. Er sah schon eine lange Nacht mit Berichteschreiben vor sich, als der massive Stahl gegen die Brücke krachte und der Lärm in den Ohren hallte. Trotzdem hörte er den Aufschrei aus der Richtung, aus der er gekommen war. Die Leute, die Zeugen dieses Vorfalls wurden, wohl wissend, dass sich ihre Freunde und Verwandten an Bord befanden, taten ihm leid. Was zum Teufel war da eigentlich los? Der Zöllner hatte von einem technischen Problem gesprochen, aber es musste doch möglich sein, eine defekte Yacht besser zu manövrieren, und wenn nicht - wie war der Kapitän dann auf die Idee gekommen, ein Anlegemanöver zu starten? Er hätte das Schiff doch genauso gut vor der Hafeneinfahrt treiben lassen und auf Hilfe warten können. Die drei Zöllner waren genauso irritiert wie Brynjar und gingen misstrauisch über die Landungsbrücke auf die Yacht zu.
»Was ist los?«
Brynjar tippte dem hintersten Zöllner auf die Schulter.
»Verdammt nochmal, wie soll ich das denn wissen?« Seine Stimme klang unsicher und passte nicht zu seinen barschen Worten. »Der Kapitän muss besoffen sein. Oder bekifft.«
Schließlich erreichten sie das Ende der Landungsbrücke, gegen die die Yacht geprallt war. Ihr Bug war nicht mehr geschwungen und glänzend, sondern eingedellt und zerkratzt. Auf die Rufe der Zöllner hatte immer noch niemand geantwortet. Einer von ihnen telefonierte jetzt mit schroffer Stimme mit der Polizei. Dann starrte er auf den mächtigen Bug, der über ihnen aufragte.
»Wir gehen an Bord. Die Polizei ist unterwegs, aber wir sollten nicht auf sie warten. Die Sache gefällt mir nicht. Hol die Leiter, Stebbi«, befahl er.
Besagter Stebbi wirkte nicht gerade begeistert, drehte sich aber kommentarlos um und rannte zurück zum Wagen. Unterdessen sagte niemand etwas. Immer wieder riefen sie nach der Besatzung - ohne Erfolg. Brynjar fand es immer unheimlicher, dass ihre Rufe in der Stille verhallten, und war froh, als der Zöllner mit der Leiter zurückkam. Der älteste Zöllner, der vorausgegangen war, kletterte hinauf. Brynjar sollte die Leiter festhalten, und da stand er immer noch, als die drei Männer an Bord verschwunden waren und die Polizei eintraf. Er erklärte den kopfschüttelnden Polizisten, wer er war. Plötzlich lehnte sich ein Zöllner über die Reling und rief aufgeregt: »Hier ist kein Mensch an Bord!«
»Was meinen Sie?«, entgegnete ein Polizist und machte Anstalten, die Leiter hinaufzuklettern. »Das ist doch völlig unmöglich.«
»Ich sage es doch. Hier ist niemand, keine Menschenseele!«
Der Polizist blieb auf der vierten Sprosse der Leiter stehen. Er lehnte seinen Oberkörper zurück und schaute dem Zöllner direkt ins Gesicht.
»Wie kann das sein?«
»Ich weiß es nicht. Aber hier ist niemand. Die Yacht ist verlassen.«
Niemand sagte etwas. Brynjar blickte zum Hafen und sah das ältere Ehepaar, das kleine Mädchen und den Mann mit den Krücken am Ende der Landungsbrücke stehen. Verständlicherweise wollten sie nicht auf der anderen Hafenseite warten. Die Polizisten hatten die Leute gar nicht bemerkt und beachteten sie nicht. Brynjar wollte sich um sie kümmern und beschleunigte seinen Schritt, als er sah, dass sie ihm entgegenkamen. Sie hatten nichts bei der Yacht verloren, obwohl ausgerechnet sie von allen Anwesenden am meisten betroffen waren. Aber die Polizei musste in Ruhe ihre Arbeit machen.
»Nicht näherkommen! Die Brücke könnte einstürzen!«, rief er ihnen zu, obwohl das ziemlich unwahrscheinlich war, aber ihm fiel nichts anderes ein, um sie zurückzuhalten. »Was ist passiert? Warum hat der Mann gesagt, es wäre niemand an Bord?« Die Stimme der Frau zitterte. »Natürlich sind sie an Bord! Ægir, Lára und die Zwillinge sind auf dem Schiff. Die müssen nur richtig suchen!«
»Kommen Sie.« Brynjar wusste nicht, wohin er mit den Leuten gehen sollte, hier konnten sie jedenfalls nicht bleiben. »Das ist bestimmt nur ein Missverständnis, beruhigen Sie sich.« Er überlegte, ob sie alle ins Wächterhäuschen passen würden. Es war eng, aber immerhin hatte er Kaffee. »Sie sind bestimmt alle gesund und munter.«
Der junge Mann mit den Krücken starrte Brynjar in die Augen. Als er sprach, zitterte seine Stimme nicht weniger als die der alten Frau: »Ich hätte an Bord sein sollen.«
Er schien weitersprechen zu wollen, verstummte aber, als er sah, dass das kleine Mädchen jedes Wort mitverfolgte. »Mein Gott«, stöhnte er nur.
»Kommen Sie.« Brynjar musste dem alten Mann den Arm um die Schultern legen und ihn wegführen. Mit gebrochenen Augen starrte er auf den beschädigten Bug der Yacht, der spöttisch auf die kleine Gruppe hinuntergaffte.
»Denken Sie an die Kleine.«
Brynjar nickte in Richtung des Enkelkindes. »Es ist nicht gut, wenn sie hier ist, wir sollten sie wegbringen. Das klärt sich hoffentlich alles schnell.«
Aber es war zu spät, der Schaden war geschehen.
»Mama tot!« Die helle Kinderstimme war unangenehm klar. Das war das Letzte, was Brynjar und die anderen in diesem Moment hören wollten.
»Papa tot!« Und es wurde noch schlimmer.
»Adda tot, Bygga tot!« Das Kind seufzte und umschlang das Bein seiner Großmutter.
»Alle tot!« Dann weinte es leise schluchzend.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Yrsa Sigurdardóttir
Sigurdardóttir, YrsaYrsa Sigurðardóttir studierte Bauingenieurwesen in Reykjavík und Montreal. Seit 1998 schreibt sie Kinderbücher, im Jahre 2005 erschien ihr erster Kriminalroman »Das letzte Ritual«. Ihre Bücher sind mittlerweile in 30 Sprachen übersetzt. Neben dem Schreiben arbeitet sie als Ingenieurin in Reykjavík.Literaturpreise:
2000 IBBY Honour List (International Board on Books for Young People) für "Við viljum jólin í júlí"
2011 Blóðdropinn (nationaler isländischer Preis für Kriminalliteratur) für Ég man þig (dt. Geisterfjord. Fischer, Frankfurt/M. 2011)
Bibliographische Angaben
- Autor: Yrsa Sigurdardóttir
- 409 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung: Flecken, Tina
- Übersetzer: Tina Flecken
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596194938
- ISBN-13: 9783596194933
- Erscheinungsdatum: 21.11.2012
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