Tödliche Verlockung
Roman. Deutsche Erstausgabe
Die Malerin Sweeney lernt den Millionär Richard Worth kennen - und erliegt seinem Charme. Doch bald darauf gerät sie in ein Netz aus Eifersucht und Intrigen. Richard ist immer noch der Ehemann von Sweeneys Galeristin Als ein Bekannter Sweeneys ermordet wird, fällt der Verdacht auf sie.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Tödliche Verlockung “
Die Malerin Sweeney lernt den Millionär Richard Worth kennen - und erliegt seinem Charme. Doch bald darauf gerät sie in ein Netz aus Eifersucht und Intrigen. Richard ist immer noch der Ehemann von Sweeneys Galeristin Als ein Bekannter Sweeneys ermordet wird, fällt der Verdacht auf sie.
Klappentext zu „Tödliche Verlockung “
Ein verheirateter Mann? Der Selfmade-Millionär Richard Worth wird für die junge New Yorker Malerin Sweeney zur Versuchung. Als er heiß mit ihr flirtet, erliegt sie tatsächlich seinem Charme. Mit dramatischen Folgen: Kaum kommt ihre Liebe an die Öffentlichkeit, verfängt Sweeney sich in einem gefährlichen Netz aus Eifersucht und Intrigen. Richard ist ausgerechnet der Noch-Ehemann von Sweeneys Galeristin Candra, die plötzlich alles daran setzt, die Scheidung zu verhindern. Kurz darauf wird jemand aus Sweeneys Bekanntenkreis ermordet und sofort gerät die Künstlerin unter Verdacht: Man findet ein rätselhaftes Gemälde in ihrem Atelier mit Einzelheiten der Tat, die nur der Mörder kennen kann
Lese-Probe zu „Tödliche Verlockung “
Tödliche Verlockung von Linda HowardÜbersetzerin: Christiane Meyer
PROLOG
Clayton, New York
Der dritte September war einer dieser perfekten, wolkenlosen Tage zwischen der Hitze des Sommers und der allmählich hereinbrechenden Kälte des Winters. Der Himmel war so blau, dass Sweeney auf dem Supermarktparkplatz aus ihrem Wagen stieg und erst einmal stehen blieb, um nach oben zu schauen. Regungslos betrachtete sie den unglaublich klaren Himmel, als hätte sie ihn noch nie gesehen. Tatsächlich hatte sie das Gefühl, ihn noch nie gesehen zu haben - jedenfalls nicht so.
Wenn es etwas gab, von dem sie Ahnung hatte, dann waren es Farben. Und noch nie hatte sie einen solchen Blauton gesehen. Er war unfassbar, tiefer und leuchtender als ein Himmel eigentlich sein dürfte. Für diesen einen makellosen Tag schien die trennende Luftschicht zwischen Himmel und Erde sich beinahe aufgelöst zu haben. Sweeney glaubte, dem Universum näher zu sein als jemals zuvor. So nahe, dass sie fast fürchtete, von der Erde weg in das Blau hineingesogen zu werden.
Ob sie diesen Ton wiedergeben könnte? In Gedanken mischte sie verschiedene Farbpigmente und verwarf einige wieder, während vor ihrem inneren Auge langsam das Ergebnis entstand. Nein, dieser Hauch von Weiß würde das Blau wie ein Babyblau wirken lassen. Und es war kein blasses Blau - es war das kraftvollste Blau, das sie je gesehen hatte. Es war pur und fesselnd, riss sie mit und überwältigte sie mit seiner Pracht. Den Kopf in den Nacken gelegt, stand sie auf dem Parkplatz und hatte ihren Einkauf ganz vergessen. Sie fühlte sich erhaben durch die Farbe, so erfüllt, dass sie glaubte, überzusprudeln, das Herz weit und sehnsüchtig vor Verzückung.
... mehr
Nachdem ihr schließlich einfiel, den Blick mal wieder auf die Erde zu senken, war sie geblendet. Sie nahm einen Schein von ... irgendetwas wahr. Und obwohl sie nicht direkt in die Sonne geschaut hatte, schoss ihr durch den Sinn, dass der Himmel heller gewesen sein musste, als sie gedacht hätte, denn ihre Augen mussten sich erst allmählich wieder an die Lichtverhältnisse gewöhnen. Sie kniff die Augen zusammen und blinzelte dann. Es war ein festes Objekt und doch nicht ... Es war ein Kind, aber seltsam zweidimensional.
Sie betrachtete das Kind, blinzelte wieder und schaute noch einmal genauer hin. Der Schock traf sie wie ein Schlag. Ihr gefror das Blut in den Adern, und ihre Fingerspitzen waren mit einem Mal taub.
Das Kind war tot. Vor einem Monat hatte sie an seiner Beerdigung teilgenommen.
An diesem perfekten Tag allerdings, während eines vollkommen normalen Einkaufstrips, sah sie ein totes Kind über den Parkplatz rennen.
Sprachlos richtete Sweeney den Blick auf die Frau, dem der Kleine folgte: Es handelte sich um seine Mutter. Sue Beresford trug in einem Arm eine Tüte mit Lebensmitteln. Mit der anderen Hand umklammerte sie das Händchen ihres lebhaften vier Jahre alten Sohnes Corbin. Ihr Gesicht wirkte angespannt, ihre Augen waren überschattet von der Trauer einer Mutter, die ihren älteren Sohn erst einen Monat zuvor durch Leukämie verloren hatte.
Aber da war der kleine Sam, der seit einem Monat tot war, und lief ihr hinterher.
Sweeney war wie gelähmt. Ihr gesamter Körper schien versteinert. Sie konnte sich nicht rühren und beobachtete stumm, wie der kleine Junge hinter seiner Mutter herrannte und versuchte, ihre Aufmerksamkeit zu erregen. „Mom", rief der zehnjährige Samuel Beresford wieder und wieder. In seiner dünnen Stimme lag Verzweiflung. „Mom!" Doch Sue antwortete nicht, sondern ging weiter und zog Corbin hinter sich her. Sam wollte nach ihrer Bluse greifen, allerdings glitt ihm der Stoff durch den körperlosen Griff. Er schaute Sweeney an, und sie erkannte seine Enttäuschung, seine Verwirrung und die Angst. „Sie kann mich nicht hören", sagte er. Seine Worte klangen abgehackt, als würde sie sie durch einen Lautsprecher wahrnehmen, der nicht ganz in Ordnung war. Er beeilte sich, um mit seiner Mutter Schritt zu halten. Seine schlaksigen Beine blitzten bleich unter den knallbunten Karoshorts hervor.
Geschockt schwankte Sweeney und stützte sich Halt suchend mit der Hand auf der Kühlerhaube ihres Wagens ab. Das von der Sonne erhitzte Metall fühlte sich unter ihren Finger rau an. Der blaue Himmel wirkte plötzlich bedrohlich und erdrückend, als würde er sie jeden Moment verschlucken. Stumm blickte sie dem toten Kind hinterher.
Die schmale Gestalt beeilte sich, damit sie neben Corbin auf den Rücksitz des Autos klettern konnte, ehe ihre Mutter die Tür schloss. Sue setzte sich ans Steuer und lenkte den Wagen vom Parkplatz. Sams blasses, durchscheinendes Gesicht tauchte kurz in der Heckscheibe auf, als er zu Sweeney sah. Traurig hob er die Hand zu einem letzten Winken. Ohne sich dessen bewusst zu sein, winkte sie zurück.
In ihrem Kopf formte sich ein Wort.
Geist.
1. KAPITEL
New York City
Ein Jahr später
Es war eine Sache, an Geister zu glauben. Etwas vollkommen anderes war es, sie tatsächlich zu sehen. Sweeney hatte inzwischen herausgefunden, dass es entscheidend war, ob sie den Geist kannte oder nicht. In der Kleinstadt Clayton im Bundesstaat New York, wo sie bis vor einem Jahr noch gelebt hatte, wusste sie, wer die meisten Bewohner waren. Dazu zählten auch die Toten. In New York City kannte sie keinen von ihnen. So konnte sie an den durchsichtigen Gesichtern in der Menschenmenge vorbeischauen und so tun, als hätte sie sie gar nicht bemerkt. Nachdem sie in Clayton den Geist von Sam Beresford gesehen hatte, hatte sie jederzeit damit rechnen müssen, dass ein weiterer Geist stehen blieb und mit ihr redete. Und sie war nie stark genug gewesen, um in solchen Momenten unbeteiligt zu wirken und vorzugeben, es wäre nichts geschehen. Nein, sie hatte jedes Mal reagieren müssen. Irgendwann hatten die Menschen angefangen, ihr Blicke zuwerfen, die keinen Zweifel daran gelassen hatten, dass sie sich fragten, ob sie allmählich den Verstand verlor. Also hatte sie ihre Sachen gepackt und war umgezogen, ehe die Leute auf der Straße noch mit dem Finger auf sie zeigten.
Ja, in der Stadt war es besser. Und wärmer. Ungefähr zu dem Zeitpunkt, als sie begonnen hatte, Geister zu sehen, fror sie immerzu. Seit einem Jahr. Vielleicht war das Kältegefühl aber auch schon da gewesen, bevor sie Sam Beresford gesehen hatte. Sie konnte sich nicht genau erinnern. Wer achtete schon auf solche Dinge? Es war schließlich nichts, das man sich im Kalender notierte: 29. August: Mir war kalt. Genau.
Sweeney konnte sich nicht erklären, warum sie an diesem strahlend schönen Septembermorgen an die Geister denken musste. Doch sie waren das Erste, das ihr beim Aufwachen in den Sinn kam. Sie und die Kälte, die noch schlimmer zu sein schien als sonst. Sie kletterte aus dem Bett, zog sich eilig ihren Pyjama aus, schlüpfte in einen Jogginganzug und ging in die Küche, um sich Kaffee zu holen. Stumm dankte sie Gott für die Erfindung der Zeitschaltuhr. Es war so schön, dass frischer heißer Kaffee auf sie wartete, sobald sie aufstand. Gerade heute glaubte sie, dass sie vermutlich erfroren wäre, wenn sie noch darauf hätte warten müssen, dass der Kaffee erst durch die Maschine lief.
Der erste Schluck wärmte sie von innen, und sie seufzte erleichtert auf. Erst den zweiten Schluck schmeckte sie richtig und wollte gerade den dritten trinken, da klingelte ihr Telefon.
Telefone waren ein notwendiges Übel, aber trotzdem ein Übel. Wer zur Hölle rief sie um - sie warf einen Blick auf ihre Uhr - sieben Uhr dreiundvierzig am Morgen an? Missmutig stellte sie die Tasse ab, schlurfte zum Telefon an der Wand und nahm den Hörer ab.
„Hier ist Candra", meldete sich eine warmherzige Stimme auf ihre verhaltene Begrüßung hin. „Es tut mir leid, dass ich dich so früh stören muss. Ich wusste nicht, was du heute vorhast, und ich wollte dich unbedingt noch erreichen."
„Du hast mich beim ersten Wurf erwischt", erwiderte Sweeney, und ihre Verärgerung verflog. Candra Worth war die Besitzerin der Galerie, in der Sweeneys Arbeiten verkauft wurden.
„Wie bitte?"
„Schon gut. Das ist ein Begriff aus dem Angelsport. Ich schätze mal, du warst noch nie angeln?"
„Gott, nein." Wie ihre Stimme klang auch Candras Lachen warmherzig und vertraut. „Ich rufe an, weil ich dich etwas fragen wollte: Könntest du gegen eins hier sein, damit du ein paar potenzielle Kunden kennenlernen kannst? Gestern Abend haben wir uns auf einer Party unterhalten, und sie haben erwähnt, dass sie sich gern porträtieren lassen würden. Natürlich habe ich sofort an dich gedacht. Mrs McMillan wollte sowieso in der Galerie vorbeischauen, um sich eine Arbeit anzusehen, die ich gerade erst reinbekommen habe. Es wäre doch schön, wenn ihr euch bei der Gelegenheit gleich bekannt macht."
„Ich werde da sein", versprach Sweeney, obwohl sie sich auf einen Tag gefreut hatte, an dem sie ungestört malen konnte.
„Gut. Bis dann."
Sweeney zitterte, während sie auflegte, und eilte zurück zu ihrer Kaffeetasse. Sie traf sich nicht besonders gern mit möglichen Kunden, allerdings liebte sie es, Porträts anzufertigen. Außerdem brauchte sie Arbeit. Zu der Zeit, als sie angefangen hatte, Geister zu sehen, war auch ihre Kunst, ihr Stil den Bach runtergegangen. Die typische Zartheit ihrer Landschaften und Stillleben war einer untypischen Lebhaftigkeit gewichen, die sie nicht mochte. Die Farben ihrer Bilder waren immer durchscheinend gewesen, als wären es Wasserfarben und keine Ölfarben. Doch jetzt neigte sie dazu, tiefe, leuchtende, leidenschaftliche, unrealistische Töne zu verwenden - und sie konnte nichts dagegen tun. Seit Monaten hatte sie kein Bild mehr zu Candra in die Galerie gebracht. Auch wenn sich ihre alten Arbeiten noch verkauften, konnten nicht mehr viele davon übrig sein.
Sie schuldete es Candra, den Auftrag anzunehmen, falls dem Pärchen ihr Stil gefiel. Sweeney war sich bewusst, dass ihre Werke sich gerade zwar gut, aber eben nicht besonders gut verkauften und dass sich daran in Zukunft wahrscheinlich auch nichts ändern würde. Ihre Kunst galt als zu traditionell. Nichtsdestotrotz hatte Candra immer die Kunden auf sie aufmerksam gemacht, die den traditionellen Ansatz bevorzugten. So hatte sie Sweeney ein relativ geregeltes und recht einträgliches Einkommen gesichert. Nachdem Sweeney im letzten Jahr verkündet hatte, Clayton zu verlassen, war es ebenfalls Candra gewesen, die ihr dieses Apartment besorgt hatte.
Es war nicht so, dass New York Sweeneys erste Wahl gewesen wäre. Sie hatte eigentlich an einen wärmeren Ort gedacht. Natürlich war es in New York wärmer als in Clayton, das am St. Lawrence River, östlich vom Lake Ontario, lag. Jeden Winter hatte es dort Schnee gegeben. New York City befand sich an der Küste. Zwar schneite es hier im Winter auch, doch längst nicht so oft und so viel wie in Clayton. Insgesamt war es ein gemäßigteres Klima. Aber nicht gemäßigt genug. Sweeney hatte eher mit dem Gedanken gespielt, in Richtung Miami zu ziehen. Allerdings hatte Candra sie davon überzeugt, in die Stadt zu kommen, und Sweeney hatte es bisher nicht bereut. Es war immer was los, und das bot Ablenkung genug, wenn Sweeney das Gefühl hatte, vor Frust laut schreien zu müssen.
Das Beste war, dass New York so groß war, dass sie keinen der toten Menschen kannte und dass sie sich nicht durch ihre guten Manieren gezwungen fühlte, sie zur Kenntnis zu nehmen. Außerdem bot die Stadt einen nie versiegenden Quell an Gesichtern - an lebendigen Gesichtern. Sie liebte Gesichter und studierte sie gern. Deshalb wuchs die Anzahl der von ihr gemalten Porträts stetig weiter. Und das war gut so, denn sonst wäre sie in ernsthaften finanziellen Schwierigkeiten gewesen anstatt nur in finanziellen Schwierigkeiten.
Im Moment passte und gefiel ihr die Stadt, und für New Yorker Verhältnisse war ihre Miete angemessen. Candra hatte von der freien Wohnung erfahren, weil ihrem Ehemann, Richard Worth, das Haus gehörte. Er war eine Art Finanzgenie an der Wall Street und ein Selfmade-Millionär. Ein paarmal hatte Sweeney ihn getroffen und versuchte so gut es ging, einen großen Bogen um ihn zu machen. Richards Gesicht war interessant, aber es wirkte auch einschüchternd. Sie hatte den Eindruck, dass er zu den Menschen zählte, die alle, die ihnen im Weg standen, einfach überrollten. Also achtete sie darauf, ihm nicht im Weg zu stehen.
Die Wohngegend war nicht die beste, und auch das Gebäude hatte schon bessere Zeiten gesehen, doch ihr Apartment lag außen und hatte riesige Fenster. Sie hätte selbst in einer Scheune gewohnt, solange das Licht stimmte - und solange es eine Zentralheizung gab.
Dank des Kaffees hatte das Zittern nachgelassen. Ihr war immer ein bisschen kalt, doch morgens war es am schlimmsten. Sie wäre ja zu einem Arzt gegangen, allerdings wenn sie sich vorstellte, wie ein Gespräch mit einem Außenstehenden über ihr Problem ablaufen würde, hielt ihr gesunder Menschenverstand sie davon ab. „Seit einem Jahr sehe ich Gespenster, Doktor, und seitdem ist mir immer kalt. Ach übrigens: Wenn ich an eine Ampel komme, springt sie automatisch auf Grün um. Und meine Pflanzen blühen auch außerhalb der Saison. Also, was stimmt mit mir nicht?" Sicher. Nicht in diesem Leben. Man hatte in ihrer Kindheit schon genug mit dem Finger auf sie gezeigt. Und eine Künstlerin zu sein war schon ungewöhnlich genug. Sie würde sich nicht auch noch als Spinnerin abstempeln lassen.
Das vergangene Jahr war nicht nur wegen der Geister schwierig gewesen. Sweeney widerstand Veränderungen mit einer Entschlossenheit, die vielleicht nicht leidenschaftlich, aber dennoch eisern war. Sweeneys einzige Passion war die Malerei. Trotzdem hatten diejenigen, die sie kannten, im Laufe der Zeit gelernt, wie beharrlich sie sein konnte. Sie liebte die Gewohnheit, liebte es, dass ihr Leben in geregelten Bahnen verlief. Sie konnte sehr gut ohne Drama, Verzweiflung und Aufregung leben. Als Kind hatte sie das alles schon zur Genüge gehabt. Für sie bedeuteten Routine und Normalität Sicherheit. Doch wie sollte sie sich sicher fühlen, wenn sie selbst sich verändert hatte? Wenn sie wusste, dass sie nicht mehr normal war, auch wenn sie es vor dem Rest der Welt geheim halten konnte? Und jetzt schien sie ihre Orientierung, wenn nicht sogar ihr Talent verloren zu haben - aber was brachte ein Talent, wenn sie keine Ahnung hatte, was sie damit anstellte?
Sie schaltete den Fernseher ein, damit sie sich nicht so allein vorkam, während sie sich Frühstück machte. Viel Arbeit machte die Zubereitung der Cornflakes allerdings nicht. Sie aß sie trocken, ohne Milch, denn die Milch war gekühlt, und sie hatte gerade erst die Kälte vertrieben und war nicht erpicht darauf, das warme Gefühl wieder aufs Spiel zu setzen. Als sie aß, lief der sexy Werbespot für Cola light. Mitten in der Bewegung hielt Sweeney inne, riss die Augen auf und formte mit den Lippen ein stummes "Wow!".
Nach dem Spot war ihr fast heiß. Vielleicht war Fernsehwerbung der Schlüssel, um nicht länger zu frieren.
Nachdem sie einige Stunden in ihrem kleinen Atelier gearbeitet hatte, wurde Sweeney bewusst, dass es beinahe ein Uhr war. Sie musste sich fertig machen und zur Galerie aufbrechen. Zwar hasste sie es, sich aufzubrezeln, doch sie ertappte sich dabei, dass sie nach einem Rock und einem Top griff, statt sich wie üblich für eine Jeans und einen Pullover zu entscheiden. Plötzlich erregte etwas Rotes in ihrem Schrank ihre Aufmerksamkeit. Sie schob die Kleiderbügel zur Seite, um einen roten Pullover hervorzuziehen, den ihr irgendwann einmal irgendjemand zu Weihnachten geschenkt hatte. Sie hatte ihn nie getragen. Sogar die Schildchen hingen noch an dem weichen Stoff. Sie betrachtete den leuchtenden satten Farbton und beschloss, dass es genau das war, was sie heute wollte und brauchte.
Vermutlich sollte sie sich auch etwas Mühe mit ihren Haaren geben. Stirnrunzelnd stand sie vor dem Spiegel. Sie war gesegnet - oder verflucht - mit sehr lockigem, unzähmbarem Haar. Für gewöhnlich trug sie es mindestens schulterlang, da das Gewicht dabei half, die Locken zumindest ein bisschen im Zaum zu halten. Die Möglichkeiten, das Haar zu frisieren, waren begrenzt: Sie konnte es im Nacken zusammenbinden und wie ein Schulmädchen aussehen; sie konnte versuchen, es hochzustecken, und hoffen, dass ihr die einzelnen Locken nicht wie Korkenzieher vom Kopf abstanden; oder sie konnte es einfach offen tragen. Sie entschied sich dafür, die Haare offen zu lassen - so war die Chance, sich nicht zu blamieren, ein bisschen größer.
Sie nahm einen Kamm und richtete das Gröbste. Als sie klein war, hatte sie ihre Haare gehasst. Die wilden Locken hatte sie von ihrer Mutter geerbt. Ihre Mutter hatte ihre unzähmbare Mähne allerdings geliebt. Sie hatte das Ganze noch unterstrichen, indem sie das Haar in unterschiedlichsten Rotschattierungen gefärbt hatte. Eigentlich hatte sie auch Sweeneys Haarfarbe ändern wollen, aber selbst damals hatte Sweeney sich zumindest ein bisschen Normalität bewahren wollen und stur an ihrem natürlichen Ton festgehalten. Ihr Haar war braun, und sie würde es braun lassen. Nicht rot, nicht schwarz, nicht blond. Braun. Die Farbe war wenigstens nicht außergewöhnlich, wenn ihre Locken schon auffällig waren.
Sie legte den Kamm weg und betrachtete kritisch ihr Spiegelbild. So. Bis auf ihr Haar gab es an ihr nichts, das aufsehenerregend gewesen wäre. Sie war schlank und durchschnittlich groß - na ja, beinahe. Gegen einen oder zwei Zentimeter mehr hätte sie nichts einzuwenden gehabt. Ihre Augen waren blau, ihre lockigen Haare braun. Ihre Haut war zart und weich. Und obwohl sie einunddreißig war, zeigte sich noch kein Fältchen in ihrem Gesicht. Der schwarze Rock endete kurz über ihren Knien. Ihre Schuhe waren bequem genug, um darin zur Galerie zu laufen, wirkten dabei jedoch nicht altbacken, und der rote Pullover war ... einfach toll. Fast hätte sie ihn wieder ausgezogen, aber sie war zu verzaubert von der Farbe.
Zum Schluss noch etwas Make-up. Da sie nicht sehr geübt im Schminken war, beschränkte sie sich zumeist auf das Wesentliche: Mascara und Lippenstift. Das war ihre Versicherung dagegen, am Ende wie ein Clown auszusehen. Oder wie Mom, warf die kleine Stimme in ihrem Kopf ein. Sweeney bemühte sich immer darum, ihrer Mutter nicht zu ähneln oder sich wie sie zu benehmen. Künstlerin zu sein war schon Ähnlichkeit genug.
Sie war sich sicher, dass Candra in der Galerie nur noch Landschaftsbilder von ihr vorrätig hatte, also durchsuchte sie einen Stapel mit Skizzen, die sie von unterschiedlichen Menschen angefertigt hatte. Sie wählte die Bilder aus, die so gut wie vollendet waren, und legte sie in eine Mappe, um sie den McMillans zu präsentieren. Fertige Porträts hatte sie nicht vorzuweisen, denn es waren Auftragswerke, die sofort verschickt wurden, sobald sie die Arbeit daran abgeschlossen hatte.
Mit der Mappe unter dem Arm verließ sie die Wohnung und machte sich auf den Weg zur Galerie. Die warme Septembersonne strahlte, als sie auf den Gehweg trat. Sie holte tief Luft und genoss die Wärme. Die meisten Leute, an denen sie vorbeilief, hatten kurzärmelige Oberteile an - bis auf die Geschäftsleute, die vermutlich von morgens bis abends Anzug und Krawatte trugen. Eine Anzeigetafel, auf der abwechselnd die Zeit und die Temperatur abzulesen waren, verkündete, dass es neunundzwanzig Grad waren.
Es war ein schöner Tag. An einem solchen Tag machte es Spaß, spazieren zu gehen.
Sie kam an die Ecke, an der ihr Lieblingshotdogverkäufer seinen Stand hatte, und blieb stehen.
Der alte Mann hatte eines der liebsten Gesichter, das sie je gesehen hatte. Er lächelte immer. Seine geraden weißen Zähne blitzten in seinem dunklen Gesicht auf. Wahrscheinlich war es ein Gebiss, da Menschen in seinem Alter nur noch selten die eigenen Zähne hatten. Er war achtundsechzig, wie er ihr einmal erzählt hatte. Allmählich wurde es für ihn Zeit, sich zur Ruhe zu setzen. Ältere Menschen wie er sollten Platz machen, damit die jüngeren ihr Leben bestreiten konnten - als er das gesagt hatte, hatte er allerdings gelacht. Und Sweeney hatte gewusst, dass er nicht die Absicht hatte, in Rente zu gehen. Er verkaufte also noch immer seine Hotdogs und schenkte den Kunden sein freundliches Lächeln. Schon in ihrer ersten Woche in New York war er ihr aufgefallen. Seitdem versuchte sie, so oft wie möglich bei ihm vorbeizuschauen, damit sie sein Gesicht studieren konnte.
Sein Ausdruck faszinierte sie. Ein paarmal hatte sie den Mann gezeichnet. Es waren schnelle, grobe Skizzen gewesen, denn sie hatte vermeiden wollen, dass er bemerkte, was sie tat, und dann womöglich unsicher wurde. Bisher hatte sie diesen besonderen Ausdruck - die Miene eines Menschen, der mit seiner Welt im Einklang war - noch nicht einfangen können. Der Mann genoss das Leben einfach. Genau das war es: In seinem Blick fehlte wie bei einem Kind jeder Hauch von Zynismus. Deshalb juckte es sie in den Fingern, ihn auf Papier und Leinwand zu bannen.
„Hier, Sweeney." Er tauschte den Hotdog gegen das Geld in ihrer Hand. Vorsichtig klemmte sie die Mappe zwischen ihre Beine, während sie eine Riesenportion Senf auf das Würstchen gab. „Sie sehen heute so chic aus. Haben Sie ein heißes Date?"
Ja, genau. Sie hatte kein Date mehr gehabt, seit ... Es war schon so lange her, dass sie sich nicht einmal mehr daran erinnern konnte, wann genau es gewesen war. Mindestens zwei Jahre waren seitdem vergangen. Wahrscheinlich sogar mehr. Sie hatte nichts vermisst. „Das ist rein geschäftlich", erwiderte sie und biss von ihrem Hotdog ab.
„Was für ein Jammer, wo Sie doch heute so heiß aussehen." Er zwinkerte ihr zu, und Sweeney zwinkerte zurück, obwohl das Kompliment sie ein bisschen überraschte. Heiß? Sie? Eigentlich kannte sie kaum jemanden, der weniger „heiß" war als sie - in jeder Hinsicht. Sie arbeitete lieber jeden Tag und verlor sich in Farben und Formen, in Licht und Texturen, als Zeit darauf zu verschwenden, sich Gedanken darüber zu machen, was ein Mann über ihre Haare dachte oder ob er sich auch noch mit anderen traf.
Während des Colleges hatte sie das Spielchen mitgespielt, weil sie geglaubt hatte, dass das von ihr erwartet wurde. Doch außer ein paar Schwärmereien auf der Highschool hatte ihr nie ein Mann wirklich am Herzen gelegen. Sie hatte nie auch nur eine Spur von Sinnlichkeit oder Lust empfunden, seit ... na ja, genau genommen seit dem Morgen. Sie war mehr als nur ein bisschen überrascht über sich selbst, zugelassen zu haben, dass dieser Werbespot ihr so ... nahegegangen war. Diese unerwartete Lust erstaunte sie. Sie war der festen Überzeugung gewesen, dass sie von den verrückten hormonellen Sehnsüchten verschont bleiben würde, die die kreativen Karrieren so vieler Frauen zerstörten oder zumindest bremsten.
„In dem Outfit werden Sie sie umhauen", sagte der Verkäufer und zwinkerte ihr wieder zu.
Komisch, sie hatte den schlichten Rock und den Pullover nicht für so aufregend gehalten. Es muss an der Farbe liegen, sinnierte sie. Die New Yorker trugen immer Schwarz. Manchmal hatte sie den Eindruck, dass niemand in der Stadt auch nur ein einziges buntes Kleidungsstück besaß. In ihrem roten Pullover wirkte sie bestimmt wie ein roter Kardinal zwischen lauter Krähen. Ihre Haare zu kämmen hatte definitiv dazu beigetragen. Verdammt, sie hatte sogar Ohrringe angelegt.
Sie zog die Mappe zwischen ihren Knien hervor und lief mit dem Hotdog in der Hand weiter die Straße entlang. Die Galerie war noch vier Blocks entfernt. Zeit genug, um den Hotdog zu essen und sich den Senf vom Mund zu wischen. Die McMillans mit Essensresten im Gesicht zu begrüßen würde vermutlich keinen guten Eindruck machen.
Es war nett von Candra gewesen, das Treffen zu arrangieren. Andere Galeriebesitzer hätten sich wahrscheinlich nicht so um sie gekümmert. Das große Geld war mit naiver oder mit moderner Kunst zu erwirtschaften, nicht mit dem traditionellen Ansatz, den sie verfolgte. Aber Candra handelte stets in Sweeneys Interesse, versuchte, das Beste für sie herauszuholen, und lenkte die Geschäfte in ihrem Sinne. Das tat sie für alle Künstler, deren Werke sie betreute - von demjenigen, der sich nicht so gut verkaufte, bis zu dem Künstler, dessen Werke zu astronomischen Preisen über den Ladentisch gingen. Sie kümmerte sich mit einer großen Herzlichkeit um ihre Künstler. Das blieb auch den Kunden nicht verborgen, und das sorgte dafür, dass Candra mit ihrer Galerie mit Sicherheit unglaublich viel Geld verdiente. Nicht dass Candra sich um ihre Finanzen hätte Sorgen machen müssen. Dank Richards Reichtum spielte es im Grunde genommen keine große Rolle, ob die Galerie nun gut lief oder nicht.
Bei dem Gedanken an Richard tauchte unwillkürlich sein Gesicht vor ihrem inneren Auge auf. Und im nächsten Moment war sie erfüllt von der typischen Unsicherheit, die damit einherging. Sie hätte ihn gern gezeichnet, aber sie konnte sich nicht vorstellen, ihn darum zu bitten. Seine Züge waren scharf geschnitten, seine Augen ausdrucksstark. Sie hätte ihn allerdings nicht in einem seiner zweireihigen, dreitausend Dollar teuren italienischen Anzüge aus Seide gemalt, die er so häufig trug. Sie hätte ihn am Hafen porträtiert oder hinter dem Steuer eines großen Lkws. Richard Worth wirkte eher wie ein Kerl in einem verschwitzten T-Shirt, nicht wie ein Finanzgenie an der Wall Street.
Er und Candra schienen total gegensätzlich zu sein. Candra war mit den glatten dunklen Haaren und den schokoladenbraunen Augen reizend, vornehm. Doch es war eine farblose Anmut. Unzählige Frauen verkörperten diese Art von Anmut: zwar anziehend, allerdings nicht besonders bemerkenswert. Candras eigentlicher Reiz lag in ihrer freundlichen Persönlichkeit, die wie bei dem Verkäufer hinter der äußeren Fassade verborgen lag. Richards Persönlichkeit war ihm anzusehen. Sein entschlossenes, interessantes, bedeutungsvolles Gesicht zeigte seinen Charakter. Als Paar passten sie eigentlich nicht zusammen, obwohl ihre Ehe schon seit zehn Jahre hielt. Wenn Sweeney sie gemeinsam gesehen hatte, kam es ihr immer so vor, dass es nur Zufall war, dass die beiden Seite an Seite standen. Richard wirkte zu kühl, zu arbeitsbesessen zu sein, um einen so warmherzigen Menschen wie Candra anzuziehen. Doch wer wusste schon, was zwischen zwei Menschen vorging, wenn sie allein waren? Vielleicht entspannte er sich ja manchmal.
Sowie Sweeney die nächste Kreuzung erreichte, sprang die Fußgängerampel auf Grün. Inzwischen hatte sie sich an die Annehmlichkeit gewöhnt, nie an einer roten Ampel warten zu müssen. Einige Autofahrer schien es zu verwirren, dass sie eine so kurze Grünphase gehabt hatten, doch das war nicht ihr Problem. Sie hätte beinahe gelächelt, während sie die Straße überquerte. Sie hasste es, Zeit zu vergeuden, und an einer Straßenecke zu stehen, um zu warten, dass die Ampel auf Grün sprang, gehörte ganz sicher in die Kategorie „vergeudete Zeit". Jeder Moment, den sie nicht vor ihrer Staffelei verbrachte, war verschenkt - und das ging bei ihr so weit, dass selbst die Zeit, die sie für das Essen brauchte, in ihren Augen vertan war.
Schlafen war etwas anderes. Sie schlief gern. Am liebsten arbeitete sie bis spät in die Nacht, fiel dann erschöpft ins Bett und genoss die wohlige Schwere, die sie erfasste, ehe sie in den Schlaf glitt. Noch besser war es nur, wenn es auch noch regnete. Das schöne Gefühl, in die Federn zu kriechen und dabei dem Regen zu lauschen, war beinahe sinnlich.
Zurzeit war es ein Abenteuer, schlafen zu gehen, denn mit dem Schlaf kamen die Träume. Sie hatte immer in Farbe geträumt. Doch jetzt waren ihre Träume fast schmerzhaft lebendig und in eine satte, brillante Farbenpracht getaucht. Die leuchtenden Farbtöne ihrer Träume faszinierten sie. Sie waren intensiv und kräftig. Wenn sie aufwachte, versuchte sie, die Farben selbst zu erschaffen. Aber jedes Mal stellte sie fest, dass sie nicht in ihre Arbeiten passten und dass es ihr sowieso nicht gelang, diese Farbschattierungen zu erreichen. Sie harmonierten nicht mit ihrer Technik, mit der feinen Pinselführung, die so typisch für sie war. Trotzdem liebte sie die Farben. An den Morgen, wenn sie aufwachte und sich nicht an ihre Träume erinnern konnte, war sie jedes Mal enttäuscht.
Sie aß den Hotdog auf, warf das Papier in einen Mülleimer und wischte sich mit der Hand den Mund ab, um die Senfreste zu beseitigen. Weil sie Hotdogs eigentlich nicht so gern mochte, gab sie immer eine extragroße Portion Senf auf das Würstchen. Vermutlich hätte sie auch etwas anderes essen können, doch der Verkäufer war immer da, und ihr gefiel sein Gesicht. Außerdem lag sein Verkaufsstand auf ihrem Weg, und so sparte sie Zeit, wenn sie einen Hotdog kaufte. Und nicht nur das: Sie musste auch keine Zeit mehr damit verschwenden, zu Hause etwas zu essen.
Die Leute liefen den Fußweg entlang, ohne etwas zu sagen - außer wenn sie mit dem Handy telefonierten - und ohne Blickkontakt herzustellen. Ungestört konnte Sweeney so ihre Gesichter studieren, denn sie wusste, dass sie niemals aufblicken und sie dabei ertappen würden, dass sie sie beobachtete. Die Gesichter, die zu durchscheinend waren, beachtete sie gar nicht. Das war leicht; denn da es sich um New Yorker handelte, vermieden sogar die Geister es, einem anderen in die Augen zu schauen.
Die riesige Auswahl an Gesichtern in der Stadt war eine nicht versiegen wollende Quelle von Inspiration und Erstaunen für sie. Paris ... na ja, Paris war schon schön, aber selbst der Name erfüllte sie mit Unbehagen. Sie hatte zu viele anmaßende Künstler wie ihre Mutter erlebt, die etwas ganz Besonderes darin sahen, in Paris malen zu können. Sweeney passte nicht in die Kunstszene dort. Nicht dass sie besser in die Kunstszene in New York gepasst hätte. Doch irgendwie hatte sie in New York mehr Raum und eher das Gefühl, ungestört zu sein und in Ruhe arbeiten zu können. Candras Idee, in die Stadt zu ziehen, war brillant gewesen. Obwohl Sweeney sich sicher war, nicht für immer hierzubleiben, gefiel es ihr im Moment sehr gut.
Eines Tages würde die Stadt langweilig werden. Alle Orte, an denen sie einmal gelebt hatte, hatten sie irgendwann gelangweilt. Sie hatte noch nie tropische Landschaften gemalt und konnte sich vorstellen, irgendwann das Bedürfnis zu verspüren, nach Bora Bora zu ziehen - vermutlich würde sie angesichts ihrer finanziellen Lage aber mit Florida vorliebnehmen müssen. Eine Palme war schließlich überall eine Palme. Aber im Augenblick faszinierten sie die Gesichter in der Großstadt noch zu sehr, und hier war der richtige Ort, um diese Leidenschaft auszuleben.
Die Galerie lag verborgen hinter zwei doppelten Glastüren. Die äußere Tür war aus kugelsicherem Glas. Richard hatte darauf bestanden. Die Beschriftung auf der Tür war klein und schlicht. Worth Galerie stand dort. Der Schriftzug war weder verschnörkelt noch aufdringlich, und Sweeney gefiel das. Bei kunstvollen vergoldeten Buchstaben hätte sich ihr der Magen umgedreht.
Wie immer war der erste Anblick, der sich dem Kunden bot, der die Galerie betrat, Kai. Und Sweeneys Meinung nach war er wirklich ein beeindruckender Anblick. Er war schön - das war das einzige Wort, das auf ihn zutraf. Sie nahm an, dass er die Position eines Empfangschefs oder so bekleidete, aber sie wusste nicht genau, wie seine offizielle Berufsbezeichnung lautete oder ob er so etwas hatte. Wenn sie bedachte, wie so manche weibliche Kundin ihn anstarrte, reichte seine bloße Anwesenheit aus. Er hatte glänzendes schulterlanges schwarzes Haar und schmale dunkle Augen über ausdrucksstarken Wangenknochen. Seine Lippen waren voll. Sweeney glaubte, dass er vielleicht polynesische Wurzeln hatte. Sein exotischer Anblick verstärkte ihren Wunsch, Palmen zu zeichnen. Ab und zu arbeitete er nebenbei als Model und besuchte außerdem die Abendschule. Kai war also ein viel beschäftigter junger Mann.
Sie vermutete, dass Kai und Candra eine wilde Affäre gehabt hatten - wenn die Liaison zwischen den beiden nicht sogar noch immer lief. Zwar vergaß Sweeney bei der Arbeit die Welt um sich herum und nahm nichts mehr wahr, doch Porträts zu malen hatte ihre Fähigkeit verstärkt, in Gesichtern und Mienen zu lesen. Einige Male war ihr die Vertrautheit zwischen ihm und Candra aufgefallen, auch wenn sie versuchten, sich nichts anmerken zu lassen. Es war nichts Offensichtliches gewesen, nur ein besonderer Ausdruck, der über ihre Gesichter gehuscht war, oder eine winzige besitzergreifende Geste von Kai. Candra trug ihr Herz nicht auf der Zunge, allerdings war Kai nicht so erfahren und kontrolliert. Sweeney hoffte, dass er sich nicht ernsthaft in Candra verliebt hatte, denn Candra hätte sich sicherlich niemals erlaubt, diese Gefühle zu erwidern. Richards Reichtum wog schwerer als Kais gutes Aussehen.
Kai verließ seinen Stuhl hinter dem Queen-Anne-Schreibtisch, von dem aus er alle Eingänge im Auge hatte. Strahlend lächelnd schritt er auf sie zu. „Sweeney. Wow." Sein Blick glitt über sie. „Du siehst heiß aus." Er hatte einen leichten Akzent, eine besondere Sprachmelodie, die hawaiianischen Ursprungs sein musste. Seine Miene war voller unverhohlener Bewunderung.
Ein wenig beunruhigt schaute Sweeney an sich selbst herunter. Jetzt hatten bereits zwei Männer in einem Zeitraum von zehn Minuten behauptet, dass sie „heiß" aussah. Der schlichte rote Pullover hatte offenbar eine weitaus stärkere Wirkung, als sie gedacht hätte. Von jetzt an würde sie sich gründlich überlegen, ob und wann sie ihn anzog. Trotzdem gefiel ihr die Farbe.
„Die McMillans sind noch nicht hier", sagte Kai. Er berührte sie am Ellbogen und ließ seine Hand etwas länger liegen, als nötig gewesen wäre. „Möchtest du eine Tasse Tee, während du wartest?"
So behandelte er normalerweise Kunden. Ihre Beunruhigung wich echter Sorge. Was auch immer die Farbe Rot für magische Fähigkeiten hatte, die männliche Aufmerksamkeit behagte ihr nicht. Männer bedeuteten nur Ärger. Sie hatte keine Zeit für Männer im Allgemeinen und erst recht nicht für einen pflegeintensiven Gespielen wie Kai. Sie war sieben Jahre älter als Kai und hatte einiges über sich selbst gelernt. Vor allem wusste sie, dass sie allein besser zurechtkam.
Trotzdem klang die Tasse Tee in ihren Ohren nach einer guten Idee.
„Earl Grey. Einen Löffel braunen Zucker." Candra hielt sich an die europäische Gepflogenheit, zum Tee, den sie den Kunden anbot, braunen und weißen Zucker zu reichen. Sweeneys Meinung nach war das unglaublich kultiviert.
„Kommt sofort." Kai schenkte ihr wieder sein strahlendes Lächeln und verschwand in der kleinen Nische, wo sich die Teeküche befand. Sweeney schaute sich um und fragte sich, wo Candra stecken mochte. Wenn die McMillans erwartet wurden, hätte Candra schon da sein sollen. Sie war sehr pünktlich und begrüßte die Leute, mit denen sie Termine hatte, immer persönlich.
Von ihrem Platz aus hatte Sweeney einen Überblick über die gesamte Galerie. Die Galerie erstreckte sich über zwei Etagen. Majestätische geschwungene Treppen führten an beiden Seiten des Raumes nach oben. Ansonsten war der Raum offen und herrlich hell, sodass sie alles gut erkennen konnte. Candra war jedoch nirgends zu entdecken.
Kai kehrte zurück. Er brachte eine feine Porzellantasse, in der der Tee vor sich hin dampfte. „Ist Candra da?", fragte Sweeney, während sie ihm die Tasse abnahm und ganz unwillkürlich das köstliche Aroma einatmete.
„Sie ist mit Richard in ihrem Büro." Er sah über seine Schulter zu einer geschlossenen Tür. „Ich fürchte, die einvernehmliche Einigung geht doch nicht so einvernehmlich über die Bühne."
Sweeney runzelte die Stirn und dachte über Worte nach. „Welche Einigung?"
Erstaunt starrte Kai sie an. „Die Scheidung natürlich."
„Scheidung?" Sweeney war überrascht und enttäuscht. Sie hatte schon vermutet, dass Candras Ehe nicht perfekt war, dennoch hasste sie es, wenn Paare sich trennten. Es quälte sie immer, weil es sie an die vielen Trennungen erinnerte, die sie als Kind hatte durchstehen müssen.
„Mein Gott, sag nicht, dass du keine Ahnung davon hattest. Seit gut einem Jahr arbeiten sie an der Scheidung. Eigentlich kurz nachdem du nach New York gezogen bist. Ich kann nicht glauben, dass du das nicht mitbekommen hast."
Trotz des Schreckens hätte Sweeney beinahe geschnaubt. Während ihrer Arbeit vergaß sie sogar, dass Wahlen waren. Wie hätte sie also etwas von der Trennung der beiden mitkriegen sollen? Sie bewegte sich nicht in Candras Kreisen, und obwohl sie freundschaftlich miteinander umgingen und eine Geschäftsbeziehung hatten, die für beide gewinnbringend war - zumindest meistens -, waren sie nicht unbedingt Busenfreundinnen. Vielleicht hielt Candra die Scheidung auch für nicht so bedeutsam, um darüber mit ihr zu sprechen. In der Kunstwelt waren Trennungen an der Tagesordnung, und manchmal fragte Sweeney sich, warum die Leute sich überhaupt die Mühe machten, zu heiraten.
Ihre eigenen Eltern waren viermal verheiratet gewesen, davon zweimal miteinander. Sweeney hatte einen jüngeren Bruder. Nach seiner Geburt hatte Sweeneys Mom beschlossen, dass Mutter zu sein sie von ihrer Hingabe für die Kunst ablenkte, und hatte sich die Eierstöcke entfernen lassen. Ihr Vater dagegen hatte mit seinen verschiedenen Frauen munter Kinder gezeugt. Sweeney hatte zwei Halbbrüder und drei Halbschwestern, die sie allerdings nur ein paarmal pro Jahr sah. Ob Vater zu sein ihn davon ablenkte, sich seiner Kunst - dem Filmemachen - zu widmen, hatte nie zur Diskussion gestanden. Das Letzte, was Sweeney von ihm gehört hatte, war, dass er zum fünften Mal den Bund fürs Leben schließen wollte. Doch das war schon mindestens zwei Jahre her, also war es durchaus möglich, dass er mittlerweile schon Ehefrau Nummer sechs hatte. Oder vielleicht war er zu Ehefrau Nummer vier zurückgekehrt. Es war sogar denkbar, dass er wieder mit ihrer Mutter angebändelt hatte. Sweeney hielt keinen engen Kontakt zu den beiden.
„Candra ist letztes Jahr nach Thanksgiving ausgezogen, glaube ich." Kais Augen funkelten, als er Sweeney die Klatschgeschichte erzählte. „Ich weiß, dass es vor Weihnachten gewesen sein muss, denn sie hat in ihrer neuen Wohnung in der Upper East Side eine Zwölf-Weihnachtstage-Party gefeiert. Sie nannte sie ihre Zwölf- Freiheitstage-Party. Erinnerst du dich nicht?"
„Ich gehe nicht auf Partys", erwiderte sie so höflich, wie sie konnte. Die letzte Party, die sie besucht hatte, war die Feier zu ihrem eigenen achten Geburtstag gewesen. Sie war in ihr Zimmer geflüchtet, ehe das Eis serviert worden war, und hatte die kleinen Hooligans, die ihre Mutter eingeladen hatte, alleingelassen, damit sie ungestört weiterschreien und sich prügeln konnten. Es war Fürst-Pückler-Eis gewesen, das sie sowieso hasste. Ihre Mutter war dagegen der Auffassung gewesen, auf diese Weise für alle unterschiedlichen Geschmacksvorlieben der Kinder gesorgt zu haben.
Die Wahrheit war, dass Sweeney sich in Gruppen nicht wohlfühlte. Punktum. Kontakte zu knüpfen gehörte nicht zu ihren Stärken, und sie war sich ihrer Unzulänglichkeit in dieser Hinsicht bewusst. Sie entspannte sich nie und fürchtete immer, etwas vollkommen Dummes zu tun. Ihre Mutter, die großartig darin war, das Selbstwertgefühl ihrer Mitmenschen zu stärken, hatte immer gesagt, dass Sweeney die soziale Kompetenz eines tibetischen Ziegenhirten hätte.
„Du hättest zu dieser Party kommen sollen." Kai trat nah an sie heran und berührte wieder die Innenseite ihres Ellbogens. „Das Essen schmeckte fantastisch, es gab unendlich viel Champagner, und es waren so viele Gäste da, dass man sich kaum bewegen konnte. Es war toll."
Kais Vorstellung von „toll" unterschied sich deutlich von ihrer. Sie war dankbar, dass sie nicht eingeladen worden war. Sie musste allerdings zugeben, dass Candra ihr möglicherweise eine Einladung geschickt hatte und dass sie es schlicht vergessen hatte. Partys waren für sie die Hölle. Und da sie gerade daran dachte: Was zur Hölle machte Kai da mit ihrem Ellbogen?
Missmutig entzog sie ihm ihren Arm. Sie war sich im Klaren darüber, dass er ein Aufreißer war, aber sie hatte er noch nie beachtet. Ihr gefiel das nicht. Sie nahm sich vor, den verdammten Pullover sofort wieder ganz hinten in den Schrank zu verbannen, sobald sie zu Hause war.
„Tut mir leid." Er war scharfsinnig genug, um zu merken, dass seine Aufmerksamkeiten nicht die gewünschte Wirkung hatten. Entschuldigend lächelte er sie an. „Wie gesagt, du siehst heiß aus. Es war den Versuch wert."
„Danke", erwiderte sie gepresst. „Ich wollte den Versuch schon immer mal wert sein."
Er lachte. Seine Belustigung war echt. „Sicher. Deshalb leuchtete dein hocherhobenes ‚Rühr mich nicht an‘-Schild auch in Neonfarben. Tja, falls du dich jemals einsam fühlen solltest, ruf mich an." Er zuckte die Achseln. „Also, was hast du so gemacht? Wenn ich mich recht erinnere, habe ich dich seit Monaten nicht gesehen. Wie läuft es mit der Kunst?"
Sie ließ die Schultern sinken. „Ich weiß nicht. Ich male. Allerdings habe ich keinen richtigen Schimmer, was ich eigentlich zeichne. Ich probiere neue Techniken aus." Das entsprach nicht ganz der Wahrheit, doch sie hatte nicht vor, sich bei Kai auszuweinen. Es ging ihn nichts an, wie niedergeschlagen sie über die Richtung war, in die ihre Malerei sich entwickelte, oder dass sie nichts daran ändern konnte. Sie hatte versucht, die gleichen feinen, beinahe ätherischen Bilder zu malen wie früher, aber sie schien diese Fähigkeit eingebüßt zu haben. Diese verdammten lebendigen Farben kamen ihr wieder und wieder in die Quere. Und obwohl sie sie verfluchte, verlor sie sich in ihnen. Nicht nur ihre Farbwahl hatte sich verändert, sondern auch ihre Perspektive. Sie wusste nicht, was los war, doch das Ergebnis war holprig, irgendwie unharmonisch. Bisher war sie sich ihres Talents immer sicher gewesen, aber zurzeit war sie vor Unsicherheit so gelähmt, dass sie niemandem ihre neuesten Werke präsentieren konnte.
„Ach wirklich?" Er wirkte interessiert. Andererseits wurde er dafür bezahlt, Interesse zu zeigen, also gab sie nicht viel auf seinen Ausdruck. „Ist schon etwas davon fertig und so weit, ausgestellt zu werden? Ich würde gern sehen, was du machst."
„Einige Bilder sind fertig. Ich habe mich allerdings noch nicht entschieden, ob ich dazu schon bereit bin."
„Ich glaube, es ist nur noch eines von deinen Werken übrig. Alles andere ist verkauft. Du musst uns neue Bilder bringen."
„Das werde ich." Sie war darauf angewiesen, auch wenn sie zögerte. Falls ihre neuen Bilder sich nicht verkauften, hatte sie nichts zu essen - so einfach war das. Und die Werke konnten sich nicht verkaufen, wenn sie es niemandem gestattete, sie anzuschauen.
Kai warf einen Blick auf die Uhr. „Die McMillans sollten bald hier sein. Ich hoffe, Richard geht vorher. Candra mag es nicht, wenn er hierherkommt. Sie zieht es vor, ihn bei ihrer Anwältin zu treffen. Sie wird wütend, wenn sie seinetwegen zu spät dran ist. Genau genommen ist sie sowieso schon wütend, weil er sich sperrt."
„Er will die Scheidung nicht?"
Erneut zuckte Kai anmutig mit den Schultern. „Wer weiß schon, was Richard will? Ich weiß nur, dass er nicht sehr kompromissbereit ist. Candra scheint im Augenblick nur zwei Gemütszustände zu kennen: besorgt oder verärgert."
„Verärgert" klang für eine Scheidung ganz verständlich, „besorgt" dagegen nicht. „Vielleicht hat sie ihre Meinung geändert und möchte sich nicht mehr scheiden lassen, hat aber keine Ahnung, wie sie Wogen glätten soll", überlegte Sweeney laut.
„Oh, sie wollte die Scheidung überhaupt nicht." Seine Augen glitzerten, weil er diesen Klatsch mit Sweeney teilen konnte. „Nach allem, was ich so gehört habe, war Richard derjenige, der die Scheidung eingereicht hat. Candra macht gute Miene zum bösen Spiel und tut so, als wäre die Entscheidung einvernehmlich getroffen worden. Doch sie ist über die Trennung überhaupt nicht glücklich."
Plötzlich hatte Sweeney ein schlechtes Gewissen und ärgerte sich über sich selbst. Candra hatte sie beruflich unterstützt, hatte sie gefördert, hatte die Kunden auf sie aufmerksam gemacht. Es ging ihr gegen den Strich, so über sie zu tratschen. Wenn Klatsch und Tratsch nur nicht so reizvoll wären. Sweeney bemühte sich, ein gieriges Verlangen nach weiteren Informationen zu unterdrücken und nicht auf weitere schmutzige Einzelheiten zu drängen.
Die Versuchung war groß, denn solche Details waren wie das Salz in der Suppe und gaben dem Leben die richtige Würze.
Die Tür wurde geöffnet, und sie war gerettet. Sweeney drehte sich um. Für einen winzigen Moment sah sie Richard Worth direkt in die Augen. Es war, als hätte sie einen elektrischen Schlag bekommen - wie durch eine unwillkommene, fast schmerzhafte Verbindung. Dann erschien Candra in der Tür. Ihr Gesicht war bleich vor Wut. Sie griff ihn am Arm und zog Richard rein, ehe die Tür wieder ins Schloss fiel. Die weiteren Auseinandersetzungen entzogen sich so ihren Augen und Ohren.
„Oh, oh", kommentierte Kai mit boshafter Zufriedenheit. „Das gibt noch Tote."
Copyright © 1998 by Linda Howington
Nachdem ihr schließlich einfiel, den Blick mal wieder auf die Erde zu senken, war sie geblendet. Sie nahm einen Schein von ... irgendetwas wahr. Und obwohl sie nicht direkt in die Sonne geschaut hatte, schoss ihr durch den Sinn, dass der Himmel heller gewesen sein musste, als sie gedacht hätte, denn ihre Augen mussten sich erst allmählich wieder an die Lichtverhältnisse gewöhnen. Sie kniff die Augen zusammen und blinzelte dann. Es war ein festes Objekt und doch nicht ... Es war ein Kind, aber seltsam zweidimensional.
Sie betrachtete das Kind, blinzelte wieder und schaute noch einmal genauer hin. Der Schock traf sie wie ein Schlag. Ihr gefror das Blut in den Adern, und ihre Fingerspitzen waren mit einem Mal taub.
Das Kind war tot. Vor einem Monat hatte sie an seiner Beerdigung teilgenommen.
An diesem perfekten Tag allerdings, während eines vollkommen normalen Einkaufstrips, sah sie ein totes Kind über den Parkplatz rennen.
Sprachlos richtete Sweeney den Blick auf die Frau, dem der Kleine folgte: Es handelte sich um seine Mutter. Sue Beresford trug in einem Arm eine Tüte mit Lebensmitteln. Mit der anderen Hand umklammerte sie das Händchen ihres lebhaften vier Jahre alten Sohnes Corbin. Ihr Gesicht wirkte angespannt, ihre Augen waren überschattet von der Trauer einer Mutter, die ihren älteren Sohn erst einen Monat zuvor durch Leukämie verloren hatte.
Aber da war der kleine Sam, der seit einem Monat tot war, und lief ihr hinterher.
Sweeney war wie gelähmt. Ihr gesamter Körper schien versteinert. Sie konnte sich nicht rühren und beobachtete stumm, wie der kleine Junge hinter seiner Mutter herrannte und versuchte, ihre Aufmerksamkeit zu erregen. „Mom", rief der zehnjährige Samuel Beresford wieder und wieder. In seiner dünnen Stimme lag Verzweiflung. „Mom!" Doch Sue antwortete nicht, sondern ging weiter und zog Corbin hinter sich her. Sam wollte nach ihrer Bluse greifen, allerdings glitt ihm der Stoff durch den körperlosen Griff. Er schaute Sweeney an, und sie erkannte seine Enttäuschung, seine Verwirrung und die Angst. „Sie kann mich nicht hören", sagte er. Seine Worte klangen abgehackt, als würde sie sie durch einen Lautsprecher wahrnehmen, der nicht ganz in Ordnung war. Er beeilte sich, um mit seiner Mutter Schritt zu halten. Seine schlaksigen Beine blitzten bleich unter den knallbunten Karoshorts hervor.
Geschockt schwankte Sweeney und stützte sich Halt suchend mit der Hand auf der Kühlerhaube ihres Wagens ab. Das von der Sonne erhitzte Metall fühlte sich unter ihren Finger rau an. Der blaue Himmel wirkte plötzlich bedrohlich und erdrückend, als würde er sie jeden Moment verschlucken. Stumm blickte sie dem toten Kind hinterher.
Die schmale Gestalt beeilte sich, damit sie neben Corbin auf den Rücksitz des Autos klettern konnte, ehe ihre Mutter die Tür schloss. Sue setzte sich ans Steuer und lenkte den Wagen vom Parkplatz. Sams blasses, durchscheinendes Gesicht tauchte kurz in der Heckscheibe auf, als er zu Sweeney sah. Traurig hob er die Hand zu einem letzten Winken. Ohne sich dessen bewusst zu sein, winkte sie zurück.
In ihrem Kopf formte sich ein Wort.
Geist.
1. KAPITEL
New York City
Ein Jahr später
Es war eine Sache, an Geister zu glauben. Etwas vollkommen anderes war es, sie tatsächlich zu sehen. Sweeney hatte inzwischen herausgefunden, dass es entscheidend war, ob sie den Geist kannte oder nicht. In der Kleinstadt Clayton im Bundesstaat New York, wo sie bis vor einem Jahr noch gelebt hatte, wusste sie, wer die meisten Bewohner waren. Dazu zählten auch die Toten. In New York City kannte sie keinen von ihnen. So konnte sie an den durchsichtigen Gesichtern in der Menschenmenge vorbeischauen und so tun, als hätte sie sie gar nicht bemerkt. Nachdem sie in Clayton den Geist von Sam Beresford gesehen hatte, hatte sie jederzeit damit rechnen müssen, dass ein weiterer Geist stehen blieb und mit ihr redete. Und sie war nie stark genug gewesen, um in solchen Momenten unbeteiligt zu wirken und vorzugeben, es wäre nichts geschehen. Nein, sie hatte jedes Mal reagieren müssen. Irgendwann hatten die Menschen angefangen, ihr Blicke zuwerfen, die keinen Zweifel daran gelassen hatten, dass sie sich fragten, ob sie allmählich den Verstand verlor. Also hatte sie ihre Sachen gepackt und war umgezogen, ehe die Leute auf der Straße noch mit dem Finger auf sie zeigten.
Ja, in der Stadt war es besser. Und wärmer. Ungefähr zu dem Zeitpunkt, als sie begonnen hatte, Geister zu sehen, fror sie immerzu. Seit einem Jahr. Vielleicht war das Kältegefühl aber auch schon da gewesen, bevor sie Sam Beresford gesehen hatte. Sie konnte sich nicht genau erinnern. Wer achtete schon auf solche Dinge? Es war schließlich nichts, das man sich im Kalender notierte: 29. August: Mir war kalt. Genau.
Sweeney konnte sich nicht erklären, warum sie an diesem strahlend schönen Septembermorgen an die Geister denken musste. Doch sie waren das Erste, das ihr beim Aufwachen in den Sinn kam. Sie und die Kälte, die noch schlimmer zu sein schien als sonst. Sie kletterte aus dem Bett, zog sich eilig ihren Pyjama aus, schlüpfte in einen Jogginganzug und ging in die Küche, um sich Kaffee zu holen. Stumm dankte sie Gott für die Erfindung der Zeitschaltuhr. Es war so schön, dass frischer heißer Kaffee auf sie wartete, sobald sie aufstand. Gerade heute glaubte sie, dass sie vermutlich erfroren wäre, wenn sie noch darauf hätte warten müssen, dass der Kaffee erst durch die Maschine lief.
Der erste Schluck wärmte sie von innen, und sie seufzte erleichtert auf. Erst den zweiten Schluck schmeckte sie richtig und wollte gerade den dritten trinken, da klingelte ihr Telefon.
Telefone waren ein notwendiges Übel, aber trotzdem ein Übel. Wer zur Hölle rief sie um - sie warf einen Blick auf ihre Uhr - sieben Uhr dreiundvierzig am Morgen an? Missmutig stellte sie die Tasse ab, schlurfte zum Telefon an der Wand und nahm den Hörer ab.
„Hier ist Candra", meldete sich eine warmherzige Stimme auf ihre verhaltene Begrüßung hin. „Es tut mir leid, dass ich dich so früh stören muss. Ich wusste nicht, was du heute vorhast, und ich wollte dich unbedingt noch erreichen."
„Du hast mich beim ersten Wurf erwischt", erwiderte Sweeney, und ihre Verärgerung verflog. Candra Worth war die Besitzerin der Galerie, in der Sweeneys Arbeiten verkauft wurden.
„Wie bitte?"
„Schon gut. Das ist ein Begriff aus dem Angelsport. Ich schätze mal, du warst noch nie angeln?"
„Gott, nein." Wie ihre Stimme klang auch Candras Lachen warmherzig und vertraut. „Ich rufe an, weil ich dich etwas fragen wollte: Könntest du gegen eins hier sein, damit du ein paar potenzielle Kunden kennenlernen kannst? Gestern Abend haben wir uns auf einer Party unterhalten, und sie haben erwähnt, dass sie sich gern porträtieren lassen würden. Natürlich habe ich sofort an dich gedacht. Mrs McMillan wollte sowieso in der Galerie vorbeischauen, um sich eine Arbeit anzusehen, die ich gerade erst reinbekommen habe. Es wäre doch schön, wenn ihr euch bei der Gelegenheit gleich bekannt macht."
„Ich werde da sein", versprach Sweeney, obwohl sie sich auf einen Tag gefreut hatte, an dem sie ungestört malen konnte.
„Gut. Bis dann."
Sweeney zitterte, während sie auflegte, und eilte zurück zu ihrer Kaffeetasse. Sie traf sich nicht besonders gern mit möglichen Kunden, allerdings liebte sie es, Porträts anzufertigen. Außerdem brauchte sie Arbeit. Zu der Zeit, als sie angefangen hatte, Geister zu sehen, war auch ihre Kunst, ihr Stil den Bach runtergegangen. Die typische Zartheit ihrer Landschaften und Stillleben war einer untypischen Lebhaftigkeit gewichen, die sie nicht mochte. Die Farben ihrer Bilder waren immer durchscheinend gewesen, als wären es Wasserfarben und keine Ölfarben. Doch jetzt neigte sie dazu, tiefe, leuchtende, leidenschaftliche, unrealistische Töne zu verwenden - und sie konnte nichts dagegen tun. Seit Monaten hatte sie kein Bild mehr zu Candra in die Galerie gebracht. Auch wenn sich ihre alten Arbeiten noch verkauften, konnten nicht mehr viele davon übrig sein.
Sie schuldete es Candra, den Auftrag anzunehmen, falls dem Pärchen ihr Stil gefiel. Sweeney war sich bewusst, dass ihre Werke sich gerade zwar gut, aber eben nicht besonders gut verkauften und dass sich daran in Zukunft wahrscheinlich auch nichts ändern würde. Ihre Kunst galt als zu traditionell. Nichtsdestotrotz hatte Candra immer die Kunden auf sie aufmerksam gemacht, die den traditionellen Ansatz bevorzugten. So hatte sie Sweeney ein relativ geregeltes und recht einträgliches Einkommen gesichert. Nachdem Sweeney im letzten Jahr verkündet hatte, Clayton zu verlassen, war es ebenfalls Candra gewesen, die ihr dieses Apartment besorgt hatte.
Es war nicht so, dass New York Sweeneys erste Wahl gewesen wäre. Sie hatte eigentlich an einen wärmeren Ort gedacht. Natürlich war es in New York wärmer als in Clayton, das am St. Lawrence River, östlich vom Lake Ontario, lag. Jeden Winter hatte es dort Schnee gegeben. New York City befand sich an der Küste. Zwar schneite es hier im Winter auch, doch längst nicht so oft und so viel wie in Clayton. Insgesamt war es ein gemäßigteres Klima. Aber nicht gemäßigt genug. Sweeney hatte eher mit dem Gedanken gespielt, in Richtung Miami zu ziehen. Allerdings hatte Candra sie davon überzeugt, in die Stadt zu kommen, und Sweeney hatte es bisher nicht bereut. Es war immer was los, und das bot Ablenkung genug, wenn Sweeney das Gefühl hatte, vor Frust laut schreien zu müssen.
Das Beste war, dass New York so groß war, dass sie keinen der toten Menschen kannte und dass sie sich nicht durch ihre guten Manieren gezwungen fühlte, sie zur Kenntnis zu nehmen. Außerdem bot die Stadt einen nie versiegenden Quell an Gesichtern - an lebendigen Gesichtern. Sie liebte Gesichter und studierte sie gern. Deshalb wuchs die Anzahl der von ihr gemalten Porträts stetig weiter. Und das war gut so, denn sonst wäre sie in ernsthaften finanziellen Schwierigkeiten gewesen anstatt nur in finanziellen Schwierigkeiten.
Im Moment passte und gefiel ihr die Stadt, und für New Yorker Verhältnisse war ihre Miete angemessen. Candra hatte von der freien Wohnung erfahren, weil ihrem Ehemann, Richard Worth, das Haus gehörte. Er war eine Art Finanzgenie an der Wall Street und ein Selfmade-Millionär. Ein paarmal hatte Sweeney ihn getroffen und versuchte so gut es ging, einen großen Bogen um ihn zu machen. Richards Gesicht war interessant, aber es wirkte auch einschüchternd. Sie hatte den Eindruck, dass er zu den Menschen zählte, die alle, die ihnen im Weg standen, einfach überrollten. Also achtete sie darauf, ihm nicht im Weg zu stehen.
Die Wohngegend war nicht die beste, und auch das Gebäude hatte schon bessere Zeiten gesehen, doch ihr Apartment lag außen und hatte riesige Fenster. Sie hätte selbst in einer Scheune gewohnt, solange das Licht stimmte - und solange es eine Zentralheizung gab.
Dank des Kaffees hatte das Zittern nachgelassen. Ihr war immer ein bisschen kalt, doch morgens war es am schlimmsten. Sie wäre ja zu einem Arzt gegangen, allerdings wenn sie sich vorstellte, wie ein Gespräch mit einem Außenstehenden über ihr Problem ablaufen würde, hielt ihr gesunder Menschenverstand sie davon ab. „Seit einem Jahr sehe ich Gespenster, Doktor, und seitdem ist mir immer kalt. Ach übrigens: Wenn ich an eine Ampel komme, springt sie automatisch auf Grün um. Und meine Pflanzen blühen auch außerhalb der Saison. Also, was stimmt mit mir nicht?" Sicher. Nicht in diesem Leben. Man hatte in ihrer Kindheit schon genug mit dem Finger auf sie gezeigt. Und eine Künstlerin zu sein war schon ungewöhnlich genug. Sie würde sich nicht auch noch als Spinnerin abstempeln lassen.
Das vergangene Jahr war nicht nur wegen der Geister schwierig gewesen. Sweeney widerstand Veränderungen mit einer Entschlossenheit, die vielleicht nicht leidenschaftlich, aber dennoch eisern war. Sweeneys einzige Passion war die Malerei. Trotzdem hatten diejenigen, die sie kannten, im Laufe der Zeit gelernt, wie beharrlich sie sein konnte. Sie liebte die Gewohnheit, liebte es, dass ihr Leben in geregelten Bahnen verlief. Sie konnte sehr gut ohne Drama, Verzweiflung und Aufregung leben. Als Kind hatte sie das alles schon zur Genüge gehabt. Für sie bedeuteten Routine und Normalität Sicherheit. Doch wie sollte sie sich sicher fühlen, wenn sie selbst sich verändert hatte? Wenn sie wusste, dass sie nicht mehr normal war, auch wenn sie es vor dem Rest der Welt geheim halten konnte? Und jetzt schien sie ihre Orientierung, wenn nicht sogar ihr Talent verloren zu haben - aber was brachte ein Talent, wenn sie keine Ahnung hatte, was sie damit anstellte?
Sie schaltete den Fernseher ein, damit sie sich nicht so allein vorkam, während sie sich Frühstück machte. Viel Arbeit machte die Zubereitung der Cornflakes allerdings nicht. Sie aß sie trocken, ohne Milch, denn die Milch war gekühlt, und sie hatte gerade erst die Kälte vertrieben und war nicht erpicht darauf, das warme Gefühl wieder aufs Spiel zu setzen. Als sie aß, lief der sexy Werbespot für Cola light. Mitten in der Bewegung hielt Sweeney inne, riss die Augen auf und formte mit den Lippen ein stummes "Wow!".
Nach dem Spot war ihr fast heiß. Vielleicht war Fernsehwerbung der Schlüssel, um nicht länger zu frieren.
Nachdem sie einige Stunden in ihrem kleinen Atelier gearbeitet hatte, wurde Sweeney bewusst, dass es beinahe ein Uhr war. Sie musste sich fertig machen und zur Galerie aufbrechen. Zwar hasste sie es, sich aufzubrezeln, doch sie ertappte sich dabei, dass sie nach einem Rock und einem Top griff, statt sich wie üblich für eine Jeans und einen Pullover zu entscheiden. Plötzlich erregte etwas Rotes in ihrem Schrank ihre Aufmerksamkeit. Sie schob die Kleiderbügel zur Seite, um einen roten Pullover hervorzuziehen, den ihr irgendwann einmal irgendjemand zu Weihnachten geschenkt hatte. Sie hatte ihn nie getragen. Sogar die Schildchen hingen noch an dem weichen Stoff. Sie betrachtete den leuchtenden satten Farbton und beschloss, dass es genau das war, was sie heute wollte und brauchte.
Vermutlich sollte sie sich auch etwas Mühe mit ihren Haaren geben. Stirnrunzelnd stand sie vor dem Spiegel. Sie war gesegnet - oder verflucht - mit sehr lockigem, unzähmbarem Haar. Für gewöhnlich trug sie es mindestens schulterlang, da das Gewicht dabei half, die Locken zumindest ein bisschen im Zaum zu halten. Die Möglichkeiten, das Haar zu frisieren, waren begrenzt: Sie konnte es im Nacken zusammenbinden und wie ein Schulmädchen aussehen; sie konnte versuchen, es hochzustecken, und hoffen, dass ihr die einzelnen Locken nicht wie Korkenzieher vom Kopf abstanden; oder sie konnte es einfach offen tragen. Sie entschied sich dafür, die Haare offen zu lassen - so war die Chance, sich nicht zu blamieren, ein bisschen größer.
Sie nahm einen Kamm und richtete das Gröbste. Als sie klein war, hatte sie ihre Haare gehasst. Die wilden Locken hatte sie von ihrer Mutter geerbt. Ihre Mutter hatte ihre unzähmbare Mähne allerdings geliebt. Sie hatte das Ganze noch unterstrichen, indem sie das Haar in unterschiedlichsten Rotschattierungen gefärbt hatte. Eigentlich hatte sie auch Sweeneys Haarfarbe ändern wollen, aber selbst damals hatte Sweeney sich zumindest ein bisschen Normalität bewahren wollen und stur an ihrem natürlichen Ton festgehalten. Ihr Haar war braun, und sie würde es braun lassen. Nicht rot, nicht schwarz, nicht blond. Braun. Die Farbe war wenigstens nicht außergewöhnlich, wenn ihre Locken schon auffällig waren.
Sie legte den Kamm weg und betrachtete kritisch ihr Spiegelbild. So. Bis auf ihr Haar gab es an ihr nichts, das aufsehenerregend gewesen wäre. Sie war schlank und durchschnittlich groß - na ja, beinahe. Gegen einen oder zwei Zentimeter mehr hätte sie nichts einzuwenden gehabt. Ihre Augen waren blau, ihre lockigen Haare braun. Ihre Haut war zart und weich. Und obwohl sie einunddreißig war, zeigte sich noch kein Fältchen in ihrem Gesicht. Der schwarze Rock endete kurz über ihren Knien. Ihre Schuhe waren bequem genug, um darin zur Galerie zu laufen, wirkten dabei jedoch nicht altbacken, und der rote Pullover war ... einfach toll. Fast hätte sie ihn wieder ausgezogen, aber sie war zu verzaubert von der Farbe.
Zum Schluss noch etwas Make-up. Da sie nicht sehr geübt im Schminken war, beschränkte sie sich zumeist auf das Wesentliche: Mascara und Lippenstift. Das war ihre Versicherung dagegen, am Ende wie ein Clown auszusehen. Oder wie Mom, warf die kleine Stimme in ihrem Kopf ein. Sweeney bemühte sich immer darum, ihrer Mutter nicht zu ähneln oder sich wie sie zu benehmen. Künstlerin zu sein war schon Ähnlichkeit genug.
Sie war sich sicher, dass Candra in der Galerie nur noch Landschaftsbilder von ihr vorrätig hatte, also durchsuchte sie einen Stapel mit Skizzen, die sie von unterschiedlichen Menschen angefertigt hatte. Sie wählte die Bilder aus, die so gut wie vollendet waren, und legte sie in eine Mappe, um sie den McMillans zu präsentieren. Fertige Porträts hatte sie nicht vorzuweisen, denn es waren Auftragswerke, die sofort verschickt wurden, sobald sie die Arbeit daran abgeschlossen hatte.
Mit der Mappe unter dem Arm verließ sie die Wohnung und machte sich auf den Weg zur Galerie. Die warme Septembersonne strahlte, als sie auf den Gehweg trat. Sie holte tief Luft und genoss die Wärme. Die meisten Leute, an denen sie vorbeilief, hatten kurzärmelige Oberteile an - bis auf die Geschäftsleute, die vermutlich von morgens bis abends Anzug und Krawatte trugen. Eine Anzeigetafel, auf der abwechselnd die Zeit und die Temperatur abzulesen waren, verkündete, dass es neunundzwanzig Grad waren.
Es war ein schöner Tag. An einem solchen Tag machte es Spaß, spazieren zu gehen.
Sie kam an die Ecke, an der ihr Lieblingshotdogverkäufer seinen Stand hatte, und blieb stehen.
Der alte Mann hatte eines der liebsten Gesichter, das sie je gesehen hatte. Er lächelte immer. Seine geraden weißen Zähne blitzten in seinem dunklen Gesicht auf. Wahrscheinlich war es ein Gebiss, da Menschen in seinem Alter nur noch selten die eigenen Zähne hatten. Er war achtundsechzig, wie er ihr einmal erzählt hatte. Allmählich wurde es für ihn Zeit, sich zur Ruhe zu setzen. Ältere Menschen wie er sollten Platz machen, damit die jüngeren ihr Leben bestreiten konnten - als er das gesagt hatte, hatte er allerdings gelacht. Und Sweeney hatte gewusst, dass er nicht die Absicht hatte, in Rente zu gehen. Er verkaufte also noch immer seine Hotdogs und schenkte den Kunden sein freundliches Lächeln. Schon in ihrer ersten Woche in New York war er ihr aufgefallen. Seitdem versuchte sie, so oft wie möglich bei ihm vorbeizuschauen, damit sie sein Gesicht studieren konnte.
Sein Ausdruck faszinierte sie. Ein paarmal hatte sie den Mann gezeichnet. Es waren schnelle, grobe Skizzen gewesen, denn sie hatte vermeiden wollen, dass er bemerkte, was sie tat, und dann womöglich unsicher wurde. Bisher hatte sie diesen besonderen Ausdruck - die Miene eines Menschen, der mit seiner Welt im Einklang war - noch nicht einfangen können. Der Mann genoss das Leben einfach. Genau das war es: In seinem Blick fehlte wie bei einem Kind jeder Hauch von Zynismus. Deshalb juckte es sie in den Fingern, ihn auf Papier und Leinwand zu bannen.
„Hier, Sweeney." Er tauschte den Hotdog gegen das Geld in ihrer Hand. Vorsichtig klemmte sie die Mappe zwischen ihre Beine, während sie eine Riesenportion Senf auf das Würstchen gab. „Sie sehen heute so chic aus. Haben Sie ein heißes Date?"
Ja, genau. Sie hatte kein Date mehr gehabt, seit ... Es war schon so lange her, dass sie sich nicht einmal mehr daran erinnern konnte, wann genau es gewesen war. Mindestens zwei Jahre waren seitdem vergangen. Wahrscheinlich sogar mehr. Sie hatte nichts vermisst. „Das ist rein geschäftlich", erwiderte sie und biss von ihrem Hotdog ab.
„Was für ein Jammer, wo Sie doch heute so heiß aussehen." Er zwinkerte ihr zu, und Sweeney zwinkerte zurück, obwohl das Kompliment sie ein bisschen überraschte. Heiß? Sie? Eigentlich kannte sie kaum jemanden, der weniger „heiß" war als sie - in jeder Hinsicht. Sie arbeitete lieber jeden Tag und verlor sich in Farben und Formen, in Licht und Texturen, als Zeit darauf zu verschwenden, sich Gedanken darüber zu machen, was ein Mann über ihre Haare dachte oder ob er sich auch noch mit anderen traf.
Während des Colleges hatte sie das Spielchen mitgespielt, weil sie geglaubt hatte, dass das von ihr erwartet wurde. Doch außer ein paar Schwärmereien auf der Highschool hatte ihr nie ein Mann wirklich am Herzen gelegen. Sie hatte nie auch nur eine Spur von Sinnlichkeit oder Lust empfunden, seit ... na ja, genau genommen seit dem Morgen. Sie war mehr als nur ein bisschen überrascht über sich selbst, zugelassen zu haben, dass dieser Werbespot ihr so ... nahegegangen war. Diese unerwartete Lust erstaunte sie. Sie war der festen Überzeugung gewesen, dass sie von den verrückten hormonellen Sehnsüchten verschont bleiben würde, die die kreativen Karrieren so vieler Frauen zerstörten oder zumindest bremsten.
„In dem Outfit werden Sie sie umhauen", sagte der Verkäufer und zwinkerte ihr wieder zu.
Komisch, sie hatte den schlichten Rock und den Pullover nicht für so aufregend gehalten. Es muss an der Farbe liegen, sinnierte sie. Die New Yorker trugen immer Schwarz. Manchmal hatte sie den Eindruck, dass niemand in der Stadt auch nur ein einziges buntes Kleidungsstück besaß. In ihrem roten Pullover wirkte sie bestimmt wie ein roter Kardinal zwischen lauter Krähen. Ihre Haare zu kämmen hatte definitiv dazu beigetragen. Verdammt, sie hatte sogar Ohrringe angelegt.
Sie zog die Mappe zwischen ihren Knien hervor und lief mit dem Hotdog in der Hand weiter die Straße entlang. Die Galerie war noch vier Blocks entfernt. Zeit genug, um den Hotdog zu essen und sich den Senf vom Mund zu wischen. Die McMillans mit Essensresten im Gesicht zu begrüßen würde vermutlich keinen guten Eindruck machen.
Es war nett von Candra gewesen, das Treffen zu arrangieren. Andere Galeriebesitzer hätten sich wahrscheinlich nicht so um sie gekümmert. Das große Geld war mit naiver oder mit moderner Kunst zu erwirtschaften, nicht mit dem traditionellen Ansatz, den sie verfolgte. Aber Candra handelte stets in Sweeneys Interesse, versuchte, das Beste für sie herauszuholen, und lenkte die Geschäfte in ihrem Sinne. Das tat sie für alle Künstler, deren Werke sie betreute - von demjenigen, der sich nicht so gut verkaufte, bis zu dem Künstler, dessen Werke zu astronomischen Preisen über den Ladentisch gingen. Sie kümmerte sich mit einer großen Herzlichkeit um ihre Künstler. Das blieb auch den Kunden nicht verborgen, und das sorgte dafür, dass Candra mit ihrer Galerie mit Sicherheit unglaublich viel Geld verdiente. Nicht dass Candra sich um ihre Finanzen hätte Sorgen machen müssen. Dank Richards Reichtum spielte es im Grunde genommen keine große Rolle, ob die Galerie nun gut lief oder nicht.
Bei dem Gedanken an Richard tauchte unwillkürlich sein Gesicht vor ihrem inneren Auge auf. Und im nächsten Moment war sie erfüllt von der typischen Unsicherheit, die damit einherging. Sie hätte ihn gern gezeichnet, aber sie konnte sich nicht vorstellen, ihn darum zu bitten. Seine Züge waren scharf geschnitten, seine Augen ausdrucksstark. Sie hätte ihn allerdings nicht in einem seiner zweireihigen, dreitausend Dollar teuren italienischen Anzüge aus Seide gemalt, die er so häufig trug. Sie hätte ihn am Hafen porträtiert oder hinter dem Steuer eines großen Lkws. Richard Worth wirkte eher wie ein Kerl in einem verschwitzten T-Shirt, nicht wie ein Finanzgenie an der Wall Street.
Er und Candra schienen total gegensätzlich zu sein. Candra war mit den glatten dunklen Haaren und den schokoladenbraunen Augen reizend, vornehm. Doch es war eine farblose Anmut. Unzählige Frauen verkörperten diese Art von Anmut: zwar anziehend, allerdings nicht besonders bemerkenswert. Candras eigentlicher Reiz lag in ihrer freundlichen Persönlichkeit, die wie bei dem Verkäufer hinter der äußeren Fassade verborgen lag. Richards Persönlichkeit war ihm anzusehen. Sein entschlossenes, interessantes, bedeutungsvolles Gesicht zeigte seinen Charakter. Als Paar passten sie eigentlich nicht zusammen, obwohl ihre Ehe schon seit zehn Jahre hielt. Wenn Sweeney sie gemeinsam gesehen hatte, kam es ihr immer so vor, dass es nur Zufall war, dass die beiden Seite an Seite standen. Richard wirkte zu kühl, zu arbeitsbesessen zu sein, um einen so warmherzigen Menschen wie Candra anzuziehen. Doch wer wusste schon, was zwischen zwei Menschen vorging, wenn sie allein waren? Vielleicht entspannte er sich ja manchmal.
Sowie Sweeney die nächste Kreuzung erreichte, sprang die Fußgängerampel auf Grün. Inzwischen hatte sie sich an die Annehmlichkeit gewöhnt, nie an einer roten Ampel warten zu müssen. Einige Autofahrer schien es zu verwirren, dass sie eine so kurze Grünphase gehabt hatten, doch das war nicht ihr Problem. Sie hätte beinahe gelächelt, während sie die Straße überquerte. Sie hasste es, Zeit zu vergeuden, und an einer Straßenecke zu stehen, um zu warten, dass die Ampel auf Grün sprang, gehörte ganz sicher in die Kategorie „vergeudete Zeit". Jeder Moment, den sie nicht vor ihrer Staffelei verbrachte, war verschenkt - und das ging bei ihr so weit, dass selbst die Zeit, die sie für das Essen brauchte, in ihren Augen vertan war.
Schlafen war etwas anderes. Sie schlief gern. Am liebsten arbeitete sie bis spät in die Nacht, fiel dann erschöpft ins Bett und genoss die wohlige Schwere, die sie erfasste, ehe sie in den Schlaf glitt. Noch besser war es nur, wenn es auch noch regnete. Das schöne Gefühl, in die Federn zu kriechen und dabei dem Regen zu lauschen, war beinahe sinnlich.
Zurzeit war es ein Abenteuer, schlafen zu gehen, denn mit dem Schlaf kamen die Träume. Sie hatte immer in Farbe geträumt. Doch jetzt waren ihre Träume fast schmerzhaft lebendig und in eine satte, brillante Farbenpracht getaucht. Die leuchtenden Farbtöne ihrer Träume faszinierten sie. Sie waren intensiv und kräftig. Wenn sie aufwachte, versuchte sie, die Farben selbst zu erschaffen. Aber jedes Mal stellte sie fest, dass sie nicht in ihre Arbeiten passten und dass es ihr sowieso nicht gelang, diese Farbschattierungen zu erreichen. Sie harmonierten nicht mit ihrer Technik, mit der feinen Pinselführung, die so typisch für sie war. Trotzdem liebte sie die Farben. An den Morgen, wenn sie aufwachte und sich nicht an ihre Träume erinnern konnte, war sie jedes Mal enttäuscht.
Sie aß den Hotdog auf, warf das Papier in einen Mülleimer und wischte sich mit der Hand den Mund ab, um die Senfreste zu beseitigen. Weil sie Hotdogs eigentlich nicht so gern mochte, gab sie immer eine extragroße Portion Senf auf das Würstchen. Vermutlich hätte sie auch etwas anderes essen können, doch der Verkäufer war immer da, und ihr gefiel sein Gesicht. Außerdem lag sein Verkaufsstand auf ihrem Weg, und so sparte sie Zeit, wenn sie einen Hotdog kaufte. Und nicht nur das: Sie musste auch keine Zeit mehr damit verschwenden, zu Hause etwas zu essen.
Die Leute liefen den Fußweg entlang, ohne etwas zu sagen - außer wenn sie mit dem Handy telefonierten - und ohne Blickkontakt herzustellen. Ungestört konnte Sweeney so ihre Gesichter studieren, denn sie wusste, dass sie niemals aufblicken und sie dabei ertappen würden, dass sie sie beobachtete. Die Gesichter, die zu durchscheinend waren, beachtete sie gar nicht. Das war leicht; denn da es sich um New Yorker handelte, vermieden sogar die Geister es, einem anderen in die Augen zu schauen.
Die riesige Auswahl an Gesichtern in der Stadt war eine nicht versiegen wollende Quelle von Inspiration und Erstaunen für sie. Paris ... na ja, Paris war schon schön, aber selbst der Name erfüllte sie mit Unbehagen. Sie hatte zu viele anmaßende Künstler wie ihre Mutter erlebt, die etwas ganz Besonderes darin sahen, in Paris malen zu können. Sweeney passte nicht in die Kunstszene dort. Nicht dass sie besser in die Kunstszene in New York gepasst hätte. Doch irgendwie hatte sie in New York mehr Raum und eher das Gefühl, ungestört zu sein und in Ruhe arbeiten zu können. Candras Idee, in die Stadt zu ziehen, war brillant gewesen. Obwohl Sweeney sich sicher war, nicht für immer hierzubleiben, gefiel es ihr im Moment sehr gut.
Eines Tages würde die Stadt langweilig werden. Alle Orte, an denen sie einmal gelebt hatte, hatten sie irgendwann gelangweilt. Sie hatte noch nie tropische Landschaften gemalt und konnte sich vorstellen, irgendwann das Bedürfnis zu verspüren, nach Bora Bora zu ziehen - vermutlich würde sie angesichts ihrer finanziellen Lage aber mit Florida vorliebnehmen müssen. Eine Palme war schließlich überall eine Palme. Aber im Augenblick faszinierten sie die Gesichter in der Großstadt noch zu sehr, und hier war der richtige Ort, um diese Leidenschaft auszuleben.
Die Galerie lag verborgen hinter zwei doppelten Glastüren. Die äußere Tür war aus kugelsicherem Glas. Richard hatte darauf bestanden. Die Beschriftung auf der Tür war klein und schlicht. Worth Galerie stand dort. Der Schriftzug war weder verschnörkelt noch aufdringlich, und Sweeney gefiel das. Bei kunstvollen vergoldeten Buchstaben hätte sich ihr der Magen umgedreht.
Wie immer war der erste Anblick, der sich dem Kunden bot, der die Galerie betrat, Kai. Und Sweeneys Meinung nach war er wirklich ein beeindruckender Anblick. Er war schön - das war das einzige Wort, das auf ihn zutraf. Sie nahm an, dass er die Position eines Empfangschefs oder so bekleidete, aber sie wusste nicht genau, wie seine offizielle Berufsbezeichnung lautete oder ob er so etwas hatte. Wenn sie bedachte, wie so manche weibliche Kundin ihn anstarrte, reichte seine bloße Anwesenheit aus. Er hatte glänzendes schulterlanges schwarzes Haar und schmale dunkle Augen über ausdrucksstarken Wangenknochen. Seine Lippen waren voll. Sweeney glaubte, dass er vielleicht polynesische Wurzeln hatte. Sein exotischer Anblick verstärkte ihren Wunsch, Palmen zu zeichnen. Ab und zu arbeitete er nebenbei als Model und besuchte außerdem die Abendschule. Kai war also ein viel beschäftigter junger Mann.
Sie vermutete, dass Kai und Candra eine wilde Affäre gehabt hatten - wenn die Liaison zwischen den beiden nicht sogar noch immer lief. Zwar vergaß Sweeney bei der Arbeit die Welt um sich herum und nahm nichts mehr wahr, doch Porträts zu malen hatte ihre Fähigkeit verstärkt, in Gesichtern und Mienen zu lesen. Einige Male war ihr die Vertrautheit zwischen ihm und Candra aufgefallen, auch wenn sie versuchten, sich nichts anmerken zu lassen. Es war nichts Offensichtliches gewesen, nur ein besonderer Ausdruck, der über ihre Gesichter gehuscht war, oder eine winzige besitzergreifende Geste von Kai. Candra trug ihr Herz nicht auf der Zunge, allerdings war Kai nicht so erfahren und kontrolliert. Sweeney hoffte, dass er sich nicht ernsthaft in Candra verliebt hatte, denn Candra hätte sich sicherlich niemals erlaubt, diese Gefühle zu erwidern. Richards Reichtum wog schwerer als Kais gutes Aussehen.
Kai verließ seinen Stuhl hinter dem Queen-Anne-Schreibtisch, von dem aus er alle Eingänge im Auge hatte. Strahlend lächelnd schritt er auf sie zu. „Sweeney. Wow." Sein Blick glitt über sie. „Du siehst heiß aus." Er hatte einen leichten Akzent, eine besondere Sprachmelodie, die hawaiianischen Ursprungs sein musste. Seine Miene war voller unverhohlener Bewunderung.
Ein wenig beunruhigt schaute Sweeney an sich selbst herunter. Jetzt hatten bereits zwei Männer in einem Zeitraum von zehn Minuten behauptet, dass sie „heiß" aussah. Der schlichte rote Pullover hatte offenbar eine weitaus stärkere Wirkung, als sie gedacht hätte. Von jetzt an würde sie sich gründlich überlegen, ob und wann sie ihn anzog. Trotzdem gefiel ihr die Farbe.
„Die McMillans sind noch nicht hier", sagte Kai. Er berührte sie am Ellbogen und ließ seine Hand etwas länger liegen, als nötig gewesen wäre. „Möchtest du eine Tasse Tee, während du wartest?"
So behandelte er normalerweise Kunden. Ihre Beunruhigung wich echter Sorge. Was auch immer die Farbe Rot für magische Fähigkeiten hatte, die männliche Aufmerksamkeit behagte ihr nicht. Männer bedeuteten nur Ärger. Sie hatte keine Zeit für Männer im Allgemeinen und erst recht nicht für einen pflegeintensiven Gespielen wie Kai. Sie war sieben Jahre älter als Kai und hatte einiges über sich selbst gelernt. Vor allem wusste sie, dass sie allein besser zurechtkam.
Trotzdem klang die Tasse Tee in ihren Ohren nach einer guten Idee.
„Earl Grey. Einen Löffel braunen Zucker." Candra hielt sich an die europäische Gepflogenheit, zum Tee, den sie den Kunden anbot, braunen und weißen Zucker zu reichen. Sweeneys Meinung nach war das unglaublich kultiviert.
„Kommt sofort." Kai schenkte ihr wieder sein strahlendes Lächeln und verschwand in der kleinen Nische, wo sich die Teeküche befand. Sweeney schaute sich um und fragte sich, wo Candra stecken mochte. Wenn die McMillans erwartet wurden, hätte Candra schon da sein sollen. Sie war sehr pünktlich und begrüßte die Leute, mit denen sie Termine hatte, immer persönlich.
Von ihrem Platz aus hatte Sweeney einen Überblick über die gesamte Galerie. Die Galerie erstreckte sich über zwei Etagen. Majestätische geschwungene Treppen führten an beiden Seiten des Raumes nach oben. Ansonsten war der Raum offen und herrlich hell, sodass sie alles gut erkennen konnte. Candra war jedoch nirgends zu entdecken.
Kai kehrte zurück. Er brachte eine feine Porzellantasse, in der der Tee vor sich hin dampfte. „Ist Candra da?", fragte Sweeney, während sie ihm die Tasse abnahm und ganz unwillkürlich das köstliche Aroma einatmete.
„Sie ist mit Richard in ihrem Büro." Er sah über seine Schulter zu einer geschlossenen Tür. „Ich fürchte, die einvernehmliche Einigung geht doch nicht so einvernehmlich über die Bühne."
Sweeney runzelte die Stirn und dachte über Worte nach. „Welche Einigung?"
Erstaunt starrte Kai sie an. „Die Scheidung natürlich."
„Scheidung?" Sweeney war überrascht und enttäuscht. Sie hatte schon vermutet, dass Candras Ehe nicht perfekt war, dennoch hasste sie es, wenn Paare sich trennten. Es quälte sie immer, weil es sie an die vielen Trennungen erinnerte, die sie als Kind hatte durchstehen müssen.
„Mein Gott, sag nicht, dass du keine Ahnung davon hattest. Seit gut einem Jahr arbeiten sie an der Scheidung. Eigentlich kurz nachdem du nach New York gezogen bist. Ich kann nicht glauben, dass du das nicht mitbekommen hast."
Trotz des Schreckens hätte Sweeney beinahe geschnaubt. Während ihrer Arbeit vergaß sie sogar, dass Wahlen waren. Wie hätte sie also etwas von der Trennung der beiden mitkriegen sollen? Sie bewegte sich nicht in Candras Kreisen, und obwohl sie freundschaftlich miteinander umgingen und eine Geschäftsbeziehung hatten, die für beide gewinnbringend war - zumindest meistens -, waren sie nicht unbedingt Busenfreundinnen. Vielleicht hielt Candra die Scheidung auch für nicht so bedeutsam, um darüber mit ihr zu sprechen. In der Kunstwelt waren Trennungen an der Tagesordnung, und manchmal fragte Sweeney sich, warum die Leute sich überhaupt die Mühe machten, zu heiraten.
Ihre eigenen Eltern waren viermal verheiratet gewesen, davon zweimal miteinander. Sweeney hatte einen jüngeren Bruder. Nach seiner Geburt hatte Sweeneys Mom beschlossen, dass Mutter zu sein sie von ihrer Hingabe für die Kunst ablenkte, und hatte sich die Eierstöcke entfernen lassen. Ihr Vater dagegen hatte mit seinen verschiedenen Frauen munter Kinder gezeugt. Sweeney hatte zwei Halbbrüder und drei Halbschwestern, die sie allerdings nur ein paarmal pro Jahr sah. Ob Vater zu sein ihn davon ablenkte, sich seiner Kunst - dem Filmemachen - zu widmen, hatte nie zur Diskussion gestanden. Das Letzte, was Sweeney von ihm gehört hatte, war, dass er zum fünften Mal den Bund fürs Leben schließen wollte. Doch das war schon mindestens zwei Jahre her, also war es durchaus möglich, dass er mittlerweile schon Ehefrau Nummer sechs hatte. Oder vielleicht war er zu Ehefrau Nummer vier zurückgekehrt. Es war sogar denkbar, dass er wieder mit ihrer Mutter angebändelt hatte. Sweeney hielt keinen engen Kontakt zu den beiden.
„Candra ist letztes Jahr nach Thanksgiving ausgezogen, glaube ich." Kais Augen funkelten, als er Sweeney die Klatschgeschichte erzählte. „Ich weiß, dass es vor Weihnachten gewesen sein muss, denn sie hat in ihrer neuen Wohnung in der Upper East Side eine Zwölf-Weihnachtstage-Party gefeiert. Sie nannte sie ihre Zwölf- Freiheitstage-Party. Erinnerst du dich nicht?"
„Ich gehe nicht auf Partys", erwiderte sie so höflich, wie sie konnte. Die letzte Party, die sie besucht hatte, war die Feier zu ihrem eigenen achten Geburtstag gewesen. Sie war in ihr Zimmer geflüchtet, ehe das Eis serviert worden war, und hatte die kleinen Hooligans, die ihre Mutter eingeladen hatte, alleingelassen, damit sie ungestört weiterschreien und sich prügeln konnten. Es war Fürst-Pückler-Eis gewesen, das sie sowieso hasste. Ihre Mutter war dagegen der Auffassung gewesen, auf diese Weise für alle unterschiedlichen Geschmacksvorlieben der Kinder gesorgt zu haben.
Die Wahrheit war, dass Sweeney sich in Gruppen nicht wohlfühlte. Punktum. Kontakte zu knüpfen gehörte nicht zu ihren Stärken, und sie war sich ihrer Unzulänglichkeit in dieser Hinsicht bewusst. Sie entspannte sich nie und fürchtete immer, etwas vollkommen Dummes zu tun. Ihre Mutter, die großartig darin war, das Selbstwertgefühl ihrer Mitmenschen zu stärken, hatte immer gesagt, dass Sweeney die soziale Kompetenz eines tibetischen Ziegenhirten hätte.
„Du hättest zu dieser Party kommen sollen." Kai trat nah an sie heran und berührte wieder die Innenseite ihres Ellbogens. „Das Essen schmeckte fantastisch, es gab unendlich viel Champagner, und es waren so viele Gäste da, dass man sich kaum bewegen konnte. Es war toll."
Kais Vorstellung von „toll" unterschied sich deutlich von ihrer. Sie war dankbar, dass sie nicht eingeladen worden war. Sie musste allerdings zugeben, dass Candra ihr möglicherweise eine Einladung geschickt hatte und dass sie es schlicht vergessen hatte. Partys waren für sie die Hölle. Und da sie gerade daran dachte: Was zur Hölle machte Kai da mit ihrem Ellbogen?
Missmutig entzog sie ihm ihren Arm. Sie war sich im Klaren darüber, dass er ein Aufreißer war, aber sie hatte er noch nie beachtet. Ihr gefiel das nicht. Sie nahm sich vor, den verdammten Pullover sofort wieder ganz hinten in den Schrank zu verbannen, sobald sie zu Hause war.
„Tut mir leid." Er war scharfsinnig genug, um zu merken, dass seine Aufmerksamkeiten nicht die gewünschte Wirkung hatten. Entschuldigend lächelte er sie an. „Wie gesagt, du siehst heiß aus. Es war den Versuch wert."
„Danke", erwiderte sie gepresst. „Ich wollte den Versuch schon immer mal wert sein."
Er lachte. Seine Belustigung war echt. „Sicher. Deshalb leuchtete dein hocherhobenes ‚Rühr mich nicht an‘-Schild auch in Neonfarben. Tja, falls du dich jemals einsam fühlen solltest, ruf mich an." Er zuckte die Achseln. „Also, was hast du so gemacht? Wenn ich mich recht erinnere, habe ich dich seit Monaten nicht gesehen. Wie läuft es mit der Kunst?"
Sie ließ die Schultern sinken. „Ich weiß nicht. Ich male. Allerdings habe ich keinen richtigen Schimmer, was ich eigentlich zeichne. Ich probiere neue Techniken aus." Das entsprach nicht ganz der Wahrheit, doch sie hatte nicht vor, sich bei Kai auszuweinen. Es ging ihn nichts an, wie niedergeschlagen sie über die Richtung war, in die ihre Malerei sich entwickelte, oder dass sie nichts daran ändern konnte. Sie hatte versucht, die gleichen feinen, beinahe ätherischen Bilder zu malen wie früher, aber sie schien diese Fähigkeit eingebüßt zu haben. Diese verdammten lebendigen Farben kamen ihr wieder und wieder in die Quere. Und obwohl sie sie verfluchte, verlor sie sich in ihnen. Nicht nur ihre Farbwahl hatte sich verändert, sondern auch ihre Perspektive. Sie wusste nicht, was los war, doch das Ergebnis war holprig, irgendwie unharmonisch. Bisher war sie sich ihres Talents immer sicher gewesen, aber zurzeit war sie vor Unsicherheit so gelähmt, dass sie niemandem ihre neuesten Werke präsentieren konnte.
„Ach wirklich?" Er wirkte interessiert. Andererseits wurde er dafür bezahlt, Interesse zu zeigen, also gab sie nicht viel auf seinen Ausdruck. „Ist schon etwas davon fertig und so weit, ausgestellt zu werden? Ich würde gern sehen, was du machst."
„Einige Bilder sind fertig. Ich habe mich allerdings noch nicht entschieden, ob ich dazu schon bereit bin."
„Ich glaube, es ist nur noch eines von deinen Werken übrig. Alles andere ist verkauft. Du musst uns neue Bilder bringen."
„Das werde ich." Sie war darauf angewiesen, auch wenn sie zögerte. Falls ihre neuen Bilder sich nicht verkauften, hatte sie nichts zu essen - so einfach war das. Und die Werke konnten sich nicht verkaufen, wenn sie es niemandem gestattete, sie anzuschauen.
Kai warf einen Blick auf die Uhr. „Die McMillans sollten bald hier sein. Ich hoffe, Richard geht vorher. Candra mag es nicht, wenn er hierherkommt. Sie zieht es vor, ihn bei ihrer Anwältin zu treffen. Sie wird wütend, wenn sie seinetwegen zu spät dran ist. Genau genommen ist sie sowieso schon wütend, weil er sich sperrt."
„Er will die Scheidung nicht?"
Erneut zuckte Kai anmutig mit den Schultern. „Wer weiß schon, was Richard will? Ich weiß nur, dass er nicht sehr kompromissbereit ist. Candra scheint im Augenblick nur zwei Gemütszustände zu kennen: besorgt oder verärgert."
„Verärgert" klang für eine Scheidung ganz verständlich, „besorgt" dagegen nicht. „Vielleicht hat sie ihre Meinung geändert und möchte sich nicht mehr scheiden lassen, hat aber keine Ahnung, wie sie Wogen glätten soll", überlegte Sweeney laut.
„Oh, sie wollte die Scheidung überhaupt nicht." Seine Augen glitzerten, weil er diesen Klatsch mit Sweeney teilen konnte. „Nach allem, was ich so gehört habe, war Richard derjenige, der die Scheidung eingereicht hat. Candra macht gute Miene zum bösen Spiel und tut so, als wäre die Entscheidung einvernehmlich getroffen worden. Doch sie ist über die Trennung überhaupt nicht glücklich."
Plötzlich hatte Sweeney ein schlechtes Gewissen und ärgerte sich über sich selbst. Candra hatte sie beruflich unterstützt, hatte sie gefördert, hatte die Kunden auf sie aufmerksam gemacht. Es ging ihr gegen den Strich, so über sie zu tratschen. Wenn Klatsch und Tratsch nur nicht so reizvoll wären. Sweeney bemühte sich, ein gieriges Verlangen nach weiteren Informationen zu unterdrücken und nicht auf weitere schmutzige Einzelheiten zu drängen.
Die Versuchung war groß, denn solche Details waren wie das Salz in der Suppe und gaben dem Leben die richtige Würze.
Die Tür wurde geöffnet, und sie war gerettet. Sweeney drehte sich um. Für einen winzigen Moment sah sie Richard Worth direkt in die Augen. Es war, als hätte sie einen elektrischen Schlag bekommen - wie durch eine unwillkommene, fast schmerzhafte Verbindung. Dann erschien Candra in der Tür. Ihr Gesicht war bleich vor Wut. Sie griff ihn am Arm und zog Richard rein, ehe die Tür wieder ins Schloss fiel. Die weiteren Auseinandersetzungen entzogen sich so ihren Augen und Ohren.
„Oh, oh", kommentierte Kai mit boshafter Zufriedenheit. „Das gibt noch Tote."
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Autoren-Porträt von Linda Howard
Seit Linda Howards Karriere als vielfach beachtete Autorin begann, hat sie mehr als 25 Romane geschrieben, die weltweit eine begeisterte Leserschaft gefunden haben und zehn Millionen Mal verkauft wurden. Zahlreiche Auszeichnungen sprechen für den internationalen Ruhm, den sie durch ihr Werk erreicht hat.
Bibliographische Angaben
- Autor: Linda Howard
- 336 Seiten, Maße: 12,4 x 18,6 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung: Meyer, Christiane
- Übersetzer: Christiane Meyer
- Verlag: MIRA Taschenbuch
- ISBN-10: 3862788261
- ISBN-13: 9783862788262
- Erscheinungsdatum: 01.10.2013
Rezension zu „Tödliche Verlockung “
Eine leidenschaftliche Liebesgeschichte wird zu einem mörderischen Rätsel. People Eine sinnliche Lektüre, die einen so schnell nicht mehr loslässt: Linda Howard bringt heißen Sex und tödliche Gefahr in das Leben einer attraktiven jungen Malerin. Amazon
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