Tonio Kröger, illustrierte Geschenkausgabe
"Sehnsucht ist darin und schwermütiger Neid und ein...
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"Sehnsucht ist darin und schwermütiger Neid und ein kleinwenig Verachtung und eine ganze keusche Seligkeit." Thomas Mann
Tonio Kröger von Thomas Mann
LESEPROBE
DieWintersonne stand nur als ein armer Schein, milchig und matt hinterWolkenschichten über der engen Stadt. Naß und zugig war's in den giebeligenGassen, und manchmal fiel eine Art von weichem Hagel, nicht Eis, nicht Schnee.
Die Schule war aus. Ueber den gepflasterten Hof und herausaus der Gatterpforte strömten die Scharen der Befreiten, teilten sich undenteilten nach rechts und links. Große Schüler hielten mit Würde ihr Bücherpäckchenhoch gegen die linke Schulter gedrückt, indem sie mit dem rechten Arm wider denWind dem Mittagessen entgegen ruderten; kleines Volk setzte sich lustig in Trab, daß der Eisbreiumherspritzte und die Sieben Sachen der Wissenschaft in den Seehundsränzelnklapperten. Aber hie und da riß alles mit frommen Augen die Mützen heruntervor dem Wotanshut und dem Jupiterbart eines gemessen hinschreitenden Oberlehrers...
»Kommst du endlich, Hans?« sagte Tonio Kröger, der lange aufdem Fahrdamm gewartet hatte; lächelnd trat er dem Freunde entgegen, der imGespräch mit anderen Kameraden aus der Pforte kam und schon im Begriffe war,mit ihnen davon zu gehen ... »Wieso?« fragte er und sah Tonio an ... »ja, dasist wahr! Nun gehen wir noch ein bißchen.«
Tonio verstummte, und seine Augen trübten sich. Hatte Hanses vergessen, fiel es ihm erst jetzt wieder ein, daß sie heute Mittag ein wenigzusammen spazieren gehen wollten? Und er selbst hatte sich seit der Verabredungbeinahe unausgesetzt darauf gefreut!
»Ja, adieu, ihr! « sagte Hans Hansen zu den Kameraden.»Dann gehe ich noch ein bißchen mit Kröger.« - Und die Beiden wandten sich nachlinks, indes die Anderen nach rechts schlenderten.
Hans und Tonio hatten Zeit, nach der Schule spazieren zugehen, weil sie beide Häusern angehörten, in denen erst um vier Uhr zu Mittaggegessen wurde. Ihre Väter waren große Kaufleute, die öffentliche Aemterbekleideten und mächtig waren in der Stadt. Den Hansens gehörten schon seitmanchem Menschenalter die weitläufigen Holz-Lagerplätze drunten am Fluß, wogewaltige Sägemaschinen unter Fauchen und Zischen die Stämme zerlegten. AberTonio war Konsul Krögers Sohn, dessen Getreidesäcke mit dem breiten schwarzenFirmendruck man Tag für Tag durch die Straßen kutschieren sah; und seinerVorfahren großes altes Haus war das herrschaftlichste der ganzen Stadt ... Beständigmußten die Freunde, der vielen Bekannten wegen, die Mützen herunter nehmen,ja, von manchen Leuten wurden die Vierzehnjährigen zuerst gegrüßt ...
Beide hatten die Schulmappen über die Schultern gehängt, undbeide waren sie gut und warm gekleidet; Hans in eine kurze Seemanns-Ueberjacke,über welcher auf Schultern und Rücken der breite, blaue Kragen seinesMarine-Anzuges lag, und Tonio in einen grauen Gurt-Paletot. Hans trug einedänische Matrosenmütze mit kurzen Bändern, unter der ein Schopf seinesbastblonden Haares hervorquoll. Er war außerordentlich hübsch undwohlgestaltet, breit in den Schultern und schmal in den Hüften, mit freiliegendenund scharf blickenden stahlblauen Augen. Aber unter Tonios runder Pelzmützeblickten aus einem brünetten und ganz südlich scharfgeschnittenen Gesichtdunkle und zart umschattete Augen mit zu schweren Lidern träumerisch und einwenig zaghaft hervor ... Mund und Kinn waren ihm ungewöhnlich weich gebildet.Er ging nachlässig und ungleichmäßig, während Hansens schlanke Beine in den schwarzenStrümpfen so elastisch und taktfest einherschritten ... (...)
© S. Fischer GmbH, Frankfurt am Main 2003
- Autor: Thomas Mann
- 2005, 3. Aufl., 110 Seiten, mit Abbildungen, Maße: 11,1 x 18,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: S. Fischer Verlag GmbH
- ISBN-10: 3100482816
- ISBN-13: 9783100482815
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