VIRALS - Tote können nicht mehr reden / Tory Brennan Trilogie Bd.1
Der erste Fall für Tory Brennan, die Nichte der berühmten Forensikerin: Auf einer Insel entdeckt sie die Knochen eines vor 30 Jahren gestorbenen Mädchens. Die Spuren des Verbrechens reichen bis in die Gegenwart - zu einem Labor, in dem Gefährliches vor sich geht.
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Produktinformationen zu „VIRALS - Tote können nicht mehr reden / Tory Brennan Trilogie Bd.1 “
Der erste Fall für Tory Brennan, die Nichte der berühmten Forensikerin: Auf einer Insel entdeckt sie die Knochen eines vor 30 Jahren gestorbenen Mädchens. Die Spuren des Verbrechens reichen bis in die Gegenwart - zu einem Labor, in dem Gefährliches vor sich geht.
Klappentext zu „VIRALS - Tote können nicht mehr reden / Tory Brennan Trilogie Bd.1 “
Kathy Reichs' aufregender Thriller für Jugendliche - jetzt im Taschenbuch!Auf einer einsamen Insel findet Tory die Knochen eines vor vierzig Jahren verstorbenen jungen Mädchens. Torys Versuch, gemeinsam mit ihren Freunden die Identität des Mädchens zu lüften, ist gefährlicher als erwartet: Bei der Toten handelt es sich um die sechzehnjährige Katherine Heaton, deren Verschwinden nie aufgeklärt wurde. Die Spuren reichen bis in die Gegenwart, bis in ein Labor, in dem wissenschaftliche Experimente mit dem gefährlichen Parvovirus durchgeführt werden. Tory und ihre Freunde infizieren sich - und erlangen dadurch eine erhöhte Wahrnehmungsfähigkeit, die ihnen bei ihren Recherchen zugute kommt. Denn der Mörder von Katherine Heaton tut alles dafür, dass sein Verbrechen nicht ans Tageslicht kommt ...
Lese-Probe zu „VIRALS - Tote können nicht mehr reden / Tory Brennan Trilogie Bd.1 “
VIRALS - Tote können nicht mehr reden von Kathy Reichs und Brendan Reichs Aus dem Amerikanischen von Knut Krüger
PROLOG
Ein Gewehrschuss ist das lauteste Geräusch des Universums.
Vor allem, wenn die Kugel dir entgegenfliegt.
Peng! Peng!
Kugeln rissen das Blätterdach des Waldes auf. Über mir flüchteten kreischend die Affen.
Ich rannte davon.
Blindlings, mit trommeln den Füßen, jagte ich durch das Gestrüpp. Kopflos. Panisch.
Du musst den Pfad finden!
Schemenhafte Gebilde schossen aus dem Dunkel auf mich zu. Bäume. Büsche. Auf geschreckte Kreaturen. Bewaffnete Killer? Ich wusste es nicht. Mein Herz hämmerte, ich hetzte weiter. Ins Nirgend wo.
Eine Wurzel riss mich zu Bo den. Der Schmerz explodierte in meinem Bein.
Steh auf! Steh auf! Steh auf!
Ein großer schwarzer Schatten huschte durch das Dunkel. Ich er starrte.
»Ben?!?«
Keine Antwort. Absolute Stille.
Warten heißt Tod. Beweg dich!
Ich rappelte mich auf und stürzte in die Nacht. War Hi vor mir? Shelton war nach links gelaufen, hinein ins Laubwerk.
Bitte lass es Ben sein, der an mir vorbei gelaufen ist.
Wir hatten keinen Plan gehabt. Warum auch? Niemand wusste, dass wir hier waren oder was wir taten.
Verdammt, wer schießt denn da auf mich?
Ich schnappte nach Luft, ausgepumpt.
Später, nach der Veränderung, hätte ich ewig laufen können. Schnell. Unermüdlich. Mein geschärftes Sehvermögen hätte die nächtlichen Schatten durchdrungen. Kein Keuchen, keine Orientierungslosigkeit im Dunkeln.
... mehr
Gegen unsere entfesselten Kräfte hätten die se Banditen - wer auch immer sie waren - keine Chance gehabt. Mein Rudel hätte ihnen auf gelauert wie kleinen Kätzchen. Hätte sie instinktiv aufgespürt - und in Stücke gerissen. Aber nicht in dieser Nacht. Ich war in Schwierigkeiten. Hatte eine höllische Angst.
Also rannte ich, was ich konnte. Zwei gepeitschten gegen meine Glieder und rissen mir die Haut auf. Endlich erreichte ich eine offene Fläche.
Der Strand! Jetzt war es nicht mehr weit. »Tory! Hier!«
Shelton.
Gott sei Dank.
Im Sternenlicht konnte ich gerade so das Boot ausmachen. Ich schwang mich über die Reling, ließ mich auf das Deck fallen, drehte mich um und suchte mit den Augen die Küstenlinie ab. Nichts Verdächtiges zu sehen. Für den Augenblick.
»Hi? Ben? Wo seid ihr?«, flüsterte ich außer Atem, schweißnass. Ich war mit meinen Kräften definitiv am Ende.
»Hier bin ich.« Ben tauchte aus dem Dunkel auf. Ein schneller Sprung und er war im Boot.
Mit dem Schlüssel in der Hand glitt er hinter das Lenkrad und hielt inne.
Wagte nicht, den Motor anzulassen. Wagte nicht, es bleiben zu lassen.
Hi war immer noch da draußen.
Wir setzten uns hin, angespannt, warteten. Mein Mut sickerte förmlich aus mir heraus.
Komm schon, Hi. Bitte, oh bitte, bitte, bitte ...
TEIL 1
INSELN
Kapitel 1
Alles begann mit einer Erkennungsmarke. Oder einem Affen mit einer Erkennungsmarke. Wie ihr wollt. Ich hätte mir gleich denken können, dass die uns in Schwierigkeiten bringen würde. Hätte es spüren müssen. Doch meine Wahrnehmungsfähigkeit war damals nicht so gut entwickelt. Noch nicht.
Aber der Reihe nach.
Es war ein typischer Samstagmorgen bei mir zu Hau se, abgesehen davon, dass an meinem zu Hause überhaupt nichts typisch ist. Es ist ein zig artig - sogar ziemlich merk würdig. Also genau der richtige Platz für mich.
Da, wo ich wohne, gibt es viele interessante Dinge, vorausgesetzt ihr seid genauso gern in der freien Natur wie ich. Ach, ihr seid keine Naturliebhaber? Dann werdet ihr die Gegend viel leicht ein bisschen ... abgelegen finden.
Ich lebe nämlich auf einer verlassenen Insel. Einer schönen einsamen Insel, wollte ich sagen.
Morris Island. Meine Heimat fern jeder anderen Heimat. Endstation. Ein Ort im Nirgend wo. Der Hinterhof von Charleston. Eigentlich gar nicht so übel, wenn man nicht dazu neigt, sich einsam zu fühlen. Was ich tue. Aber was soll's. Ich kann zumindest meine Beinfreiheit genießen.
Morris ist nicht so eindrucksvoll wie andere Inseln. Vier Meilen im Quadrat, das ist alles. Die nördliche Hälfte besteht aus einer unspektakulären, sanft geschwungenen Kette sandiger Hügel. In der Mitte werden die Sandhügel zehn bis zwölf Meter hoch und erstrecken sich weiter in Richtung Süden, wo die Insel sich weitet. Der westliche Teil besteht aus ödem Marschland, das von flachen, den Gezeiten unterworfenen Buchten gesäumt wird. Und im Osten: der unermessliche Atlantik.
Dünen, Sümpfe, Strände. Und Stille. Unbegrenzte Stille.
Auf unserem kleinen Eiland gibt es zwei von Menschenhand geschaffene Dinge. Das eine ist unsere Wohnanlage, das andere eine Straße. Die Straße. Unsere einzige Verbindung zur Welt da draußen. Es handelt sich um eine einspurige, nicht markierte schmale Asphaltpiste, die sich südwärts durch Marschland und Dünen hin durch schlängelt, ehe sie Morris verlässt und an Lighthouse Creek vorbei nach Rat Island führt. Irgendwann trifft sie dann bei Folly Beach auf den Highway, der sich an Goat Island vorbei in Richtung Stadt zieht.
Rat. Goat. Folly. Wer sich über die Namen wundert, sollte mal bei der Charleston Historical Society nachfragen, wer sich die se hübschen Bezeichnungen ausgedacht hat. Und es gibt noch viel mehr davon.
Das alles war neu für mich. Bis letztes Jahr bin ich noch nie südlich von Pennsylvania gewesen. Dann brach ich in das Leben meines Dads ein.
Was meinen »Mitbewohner« an geht ...
Christopher »Kit« Howard ist mein Vater.
Das wissen wir beide jetzt seit genau sechs Monaten. Damals bin ich nach South Carolina gezogen, um mit ihm zusammen zu leben.
Nach dem, was mit meiner Mom passiert war, blieb mir keine andere Wahl.
Nach dem Unfall.
Ich weiß nicht genau, warum, aber Mom hat Kit nie von mir erzählt. Er hatte keine Ahnung, dass er Vater ist, und das schon seit vierzehn Jahren.
Über diesen Schock ist er immer noch nicht hinweggekommen. Manch mal sehe ich es seinem Gesicht an. Wenn er nach einem kurzen Schläfchen erwacht oder nach vielen Arbeitsstunden endlich wie der frische Luft schnappt, zuckt er regelrecht zusammen, wenn er mich sieht. Das ist meine Tochter, denkt er dann. Ich habe eine 14-jährige Tochter, die bei mir wohnt. Ich bin ihr Vater.
Ich bin nicht weniger geschockt, Paps, aber ich arbeite daran.
Wie soll ich meinen frisch entdeckten Vater beschreiben? Kit ist ein und dreißig, Meeresbiologe und Forscher am Institut von Loggerhead. Ein Workaholic.
Als Erzieher ist er ziemlich hilflos.
Vielleicht ist alles noch zu neu für ihn - ihr wisst schon, das Erstaunen darüber, plötzlich mit einem eigenen Teenager konfrontiert zu werden. Oder ich erinnere ihn an seine eigene wilde Jugend. Jeden falls hat er keine Ahnung, wie er mit mir umgehen soll. An einem Tag behandelt er mich wie einen seiner Kumpel, am nächsten wie ein kleines Kind.
Um ehrlich zu sein, trage auch ich einen Teil der Verantwortung dafür, dass alles nicht ganz einfach ist. Ich bin keine Heilige. Und die Entdeckung, einen Vater zu haben, hat mich total aus der Bahn geworfen.
Hier sind wir also. Gemeinsam. Am Ende der Welt.
An jenem Tag war ich gerade da bei, Seemuscheln zu klassifizieren. Langweilig? Vielleicht. Aber ich bin eine begeisterte Wissenschaftlerin. Ich liebe es, Dingen auf den Grund zu gehen, Antworten zu finden. Mom hat schon immer Witze da rüber gemacht, wie schwierig es sei, ein Kind groß zu ziehen, das schlauer ist als die meisten Hochschuldozenten.
Mein Motto: Ich bin, wie ich bin.
Berge von Muscheln bedeckten den Küchentisch. Sundial-Muscheln, Haiaugen, Truthahnflügel. Frisch gereinigt und poliert schimmerten sie im frühen Morgenlicht.
Ich fischte eine neue Art aus dem Eimer zu meinen Füßen und achtete da rauf, dass nichts von dem Bleichwasser auf meine Kleider tropfte. Unverkennbar eine Scotch Bonnet: weiß, eiförmig, die geriffelte Oberfläche von einem gleichmäßigen Muster rot brauner Flecken überzogen. Zufrieden mit meinem seltenen Fund, legte ich die Muschel zum Trocknen beiseite.
Das nächste Objekt war mir ein Rätsel. Herzmuschel oder Arche-Noah-Muschel? Beide Arten sind an der Küste von South Carolina weit verbreitet.
Ob wohl die Muschel fast zwei Stunden im Bleich wassergelegen hatte, war ihr Äußeres immer noch von hartnäckigen Ablagerungen übersät. Seepocken und verkrusteter Schlick verdeckten je des Detail.
Großartig. Endlich hatte ich eine Gelegenheit, mein elektrisches Werkzeug zu benutzen. Ein Geschenk meiner Großtante Tempe.
Vielleicht habt ihr schon mal von ihr gehört.
Ich war total von den Socken, als ich es herausgefunden habe. Ich bin mit Dr. Temperance Brennan verwandt, der weltbekannten forensischen Anthropologin. Sie war schon immer mein Idol. Als Kit es mir erzählt hat, wollte ich es zuerst nicht glauben, aber an der Sache gibt es nichts zu rütteln. Tempes Schwester, Harry, ist meine Großmutter.
Wir haben also eine echte Berühmtheit in unserer Familie. Eine renommierte Wissenschaftlerin. Wer hätte das gedacht.
Okay, ich war meiner Tante Tempe erst ein Mal begegnet. Aber das war nicht ihre Schuld. Schließlich wusste auch sie erst seit sechs Monaten von meiner Existenz, so wie Kit.
Tante Tempe hat einen echt spannen den Job. Sie identifiziert Leichen. Kein Witz. Egal ob ein toter Körper verbrannt, verfault oder mumifiziert ist. Von Maden zerfressen oder nur noch ein Skelett. Tante Tempe stellt fest, wer das ist. War. Dann versucht sie gemeinsam mit der Polizei heraus zu finden, was mit ihr oder ihm passiert ist.
Cooler Job, wenn man einen robusten Magen hat. Hab ich.
Das Wissen um die Verwandtschaft mit meiner Tante hat mir geholfen, mich selbst zu verstehen. Warum ich auf jede Frage eine Antwort finden muss. Warum ich mich lieber mit fossilen Raubvögeln oder der globalen Erderwärmung beschäftige, als shoppen zu gehen.
Ich kann nichts dafür. Das liegt an meiner DNA.
Tante Tempe hat sich da rauf spezialisiert, Knochen zu analysieren und aus ihrem Zustand spezifische Schlussfolgerungen zu ziehen. Warum sollte ich also meine Begabung nicht dazu nutzen, die Schale von Weichtieren zu reinigen?
Denn Muscheln sind im Grunde nichts anderes als Knochen.
Ich nahm den kabellosen elektrischen Minischleifer aus meinem Werkzeugkasten, befestigte den Bürstenkopf daran und entfernte behutsam die Verschmutzungen, die an der Schalenoberfläche hafteten. Danach tauschte ich den Bürstenkopf gegen einen kleinen Schleifstein aus, um die Verkrustungen ab zu schmirgeln.
Nach dem die größeren Seepocken verschwunden waren, schloss ich mein Sandstrahlgerät an meinen Druckluftkompressor an und benetzte die Muschel vor sichtig mit Aluminiumoxid. Als Nächstes benutzte ich einen Dentalreiniger, um die hartnäckigsten Partikel zu beseitigen. Ich spülte den verbliebenen Sand mit einer Munddusche ab und nahm ein weiteres Mal mein Multielektrogerät zur Hand, dies mal mit einem Polierkopf. Fertig.
Eine glänzende ovale Muschel lag vor mir auf dem Tisch. Außenbraun getupft, innen purpurn. Zehn Zentimeter lang. Die zahlreichen radialstrahligen Rippen ließen keinen Zweifel aufkommen.
Ich schaute vorsichtshalber noch mal in meinem Handbuch der Küste South Carolinas nach. Richtig, die Dinocardium robustum, eine Herzmuschel.
Rätsel gelöst. Ich legte die Muschel auf den entsprechenden Haufen und streckte meine Hand erneut in den Eimer. Leer.
Zeit für eine andere Beschäftigung.
Ich beschloss, mir einen kleinen Snack zu machen. Die Auswahl war äußerst dürftig, da Kit schon seit über einer Woche nicht mehr eingekauft hatte. Ich unterdrückte einen Anflug von Verärgerung. Der Supermarkt befand sich dreißig Minuten entfernt auf James Island, da kam er schließlich nicht jeden Tag vorbei.
Wir leben hier wie Schiffbrüchige. Es ist wirklich ein Elend.
Also begnügte ich mich mit ein paar Karottenstangen, die nicht mehr ganz frisch waren, und konnte der Versuchung nicht widerstehen, mir eine Cola Light auf zu machen. Ich bemühe mich durchaus, mich gesund zu ernähren - Hauptsache, ich kriege genug Koffein. Ich brauche das.
Ich warf einen Blick auf mein Handy. Schon ziemlich spät, und sie waren immer noch nicht da. Auch keine SMS.
Ich ging meine verschiedenen Möglichkeiten durch. Nix in der Glotze - immer nur dasselbe. Der Stapel meiner ungelesenen Bücher lockte mich nicht. Das Internet langweilte mich. Nichts Neues auf Facebook.
Keine Hausaufgaben an diesem Wochenende. Es war Ende Mai, und den meisten Lehrern fiel es offenbar ebenso schwer wie den Schülern, das Jahr anständig zu Ende zu bringen.
Ich saß hier fest. Als Vierzehnjährige kann ich mich ja nicht einfach ins Auto setzen und von hier verschwinden. Und wo sollte ich auch hinfahren? Etwa in die Stadt, um dort mit meinen Freunden abzuhängen? Toller Witz! Alle, die mich mögen, sind eben falls einsame Inselbewohner. Blieben also die Möglichkeiten vor Ort, die, gelinde gesagt, begrenzt sind.
Aber trotz dem - wo steckten sie bloß?
Habe ich schon erwähnt, dass wir die entlegenste Wohnanlage in Charleston bevölkern? Auf der ganzen Welt? Niemand, absolut niemand wohnt in unserer Nähe. Auf den meisten Karten ist nicht einmal verzeichnet, dass Morris Island über hauptbewohnt ist. Unsere komplette Nachbarschaft besteht aus zehn Wohneinheiten, die sich alle innerhalb eines 130 Meter langen Gebäudes aus Stahlbeton befinden. Insgesamt vierzig Leute. Das ist alles.
Von hier aus sind es zwanzig Minuten mit dem Auto, ehe man das erste Straßenschild er blickt. An diesem Punkt ist man der Zivilisation noch fern, aber immerhin auf dem richtigen Weg. Normalerweise verlassen meine Freunde und ich dort die Straße und nehmen das Schiff.
Was, ihr seid nicht beeindruckt? Schade eigentlich. Denn mal ehrlich - wie viele Leute kennt ihr denn, die in umgewandelten Militärbaracken wohnen? Und ich rede nicht von irgend einer Kaserne aus dem 20. Jahrhundert. Das Gebäude ist uralt.
Während des Amerikanischen Bürgerkriegs hat Morris Island den Hafen von Charleston vor Angriffen aus dem Süden geschützt. Die Konföderation hat damals eine Festung namens Fort Wagner errichtet, um feindlichen Soldaten den Zugang zur Nordspitze der Insel zu verwehren. Keine schlechte Idee. Die Rebellen hatten dort schwere Kanonen postiert. Fort Wagner zog sich quer über die Insel und riegelte diese komplett nach Norden hin ab.
Fort Wagner, Fort Moultrie auf Sullivan's Island und Fort Sumter, ein riesiger Beton klotz an der Einfahrt in die Bucht, bildeten gemein sam den Befestigungsring, der Charleston gegen die Angriffe von See her verteidigen sollte. 1863 unternahmen die Unionstruppen einen Versuch, Fort Wagner zu erobern. Die 54th Massachusetts Volunteer Infantry, eines der ersten amerikanischen Regimenter, das ausschließlich aus schwarzen Soldaten bestand, führte den Angriff an. Es war eine brutale Schlacht. Und leider ein totales Fiasko. Sogar ihr Befehlshaber fiel.
Ich habe mal einen Spielfilm darüber gesehen. Ich glaube, Denzel Washington erhielt für seine Rolle den Oscar. Völlig zu Recht. Er hat mich zu Tränen gerührt, und ich weine nicht oft. Eigentlich hätte ich ja für die Soldaten von Charleston sein sollen, aber schließlich bin ich ein Girl aus Massachusetts. Außerdem bringt mich nichts und niemand dazu, für die se Sklavenhalter Partei zu ergreifen, sorry.
Fort Wagner wurde nach dem Krieg sich selbst über lassen, aber die grundlegen den Strukturen sind noch vorhanden. Heute ist Morris Island ein Naturschutzgebiet, das von der University of Charleston verwaltet wird. Sie ist der Arbeitgeber meines Vaters und all der an deren, die hier leben. Als die Universität die ehemaligen Militärbaracken von Fort Wagner renovierte, hat sie den Lehrkräften von Loggerhead Island - ihrer externen Forschungseinrichtung im Meer - angeboten, dort kostenlos einzuziehen. Loggerhead ist noch kleiner und abgelegener als Morris.
Mein Dad hat das Angebot natürlich sofort angenommen. Schon mal versucht, von einem Forschergehalt zu leben?
Ich wartete immer noch ungeduldig. Ich wollte unbedingt nach Folly Beach, aber von denen, die mich hinbringen wollten, fehlte weiterhin jede Spur. Es sah so aus, als hätten sie mich versetzt.
Also entschloss ich mich, joggen zu gehen, eines der Dinge, die man auf Morris Island hervorragend tun kann. Ich ging in mein Zimmer, um mich um zu ziehen. Alle Wohneinheiten in unserer kleinen Welt sehen haargenau gleich aus. Vier Stockwerke, mehr hoch als breit. Nur der persönliche Geschmack und die individuelle Raumaufteilung der einzelnen Bewohner sorgen für gewisse Unterschiede.
In unserem Fall dient das Erdgeschoss zu gleich als Büro und Garage. Im ersten Stock befinden sich Küche, Ess- und Wohnzimmer. Die nächste Etage beherbergt zwei Schlafzimmer, von denen Kits nach hinten, meines nach vorne hinausgeht, so dass ich das Grundstück überblicken kann.
Das oberste Stockwerk besteht vor allem aus einem großen Raum, in dem Kit seine Mediathek untergebracht hat. Ich nenne ihn Kits Höhle. Von dort gelangt man auf eine Dachterrasse, die einen sagenhaften Blick auf den Ozean bietet. Im Grunde eine ganz an sehnliche Behausung, in der man allerdings ständig Gefahr läuft, die Treppen hinunter zu fallen und sich das Genick zu brechen.
Während ich meine Adidasschuhe schnürte, warf ich einen Blick aus dem Fenster meines Zimmers. Eine mir sehr vertraute Person spurtete den Bootsanleger hinauf. Hiram in Höchstgeschwindigkeit. Ehrlich gesagt kein besonders imponieren der Anblick.
Hi rannte, was das Zeug hielt, das heißt, er kämpfte sich tapfer die Steigung hinauf, die zum Hauptgebäude führt. Seine Wangen waren knallrot, die Haare klebten an seinem Gesicht.
Hi würde nie aus Spaß laufen.
Ich schnappte mir meinen Schlüsselbund und sauste los.
Irgendwas stimmte da nicht.
Kapitel 2
Draußen wartete ich auf Hi.
Ich stand vor der Front unserer Wohnanlage. Die Sonne brannte auf die Rasenfläche, die etwa halb so groß wie ein Fußballfeld ist. Der einzige grüne Fleck weit und breit.
Jenseits unseres Grundstücks erheben sich drei stolze Palmettopalmen aus dem Sand, die der ganzen Szenerie vermutlich ein bisschen Charakter verleihen sollen. Ohne sie hätte man von hier aus einen freien Blick aufs Meer.
Ich schirmte meine Augen vor der Sonne ab und blinzelte in westliche Richtung. Ein sanfter Morgendunst hatte einen feinen Schleier über das Meergelegt. Irgendwo da draußen ist Loggerhead, dachte ich. Und Kit, der ein weiteres Wochenende seiner Arbeit widmete.
Aus den Augen, aus dem Sinn. Wie auch immer. Er verbringt oh ne hin kaum Zeit mit mir.
Hi ließ weiter auf sich warten.
Es war zwar erst Mai, aber die Temperaturen lagen bestimmt schon über 30 Grad. Die Luft war gesättigt vom Duft nach Gras, salzigen Sümpfen und heißem Beton.
Ich gebe zu, dass ich zu heftigen Schweißausbrüchen neige. Auch in diesem Moment. Wie halten das diese Südstaatler nur aus?
In Massachusetts sind die letzten Frühlingstage immer noch angenehm kühl. Perfekt, um am Kap zu segeln. Das waren Moms Lieblingstage im ganzen Jahr gewesen.
Endlich tauchte Hi prustend am Rande des Vorplatzes auf.
Haare und Hemd waren schweiß nass. Man musste kein Hellseher sein, um zu erkennen, dass er sehr erregt war.
Hi schlurfte auf mich zu, offenbar total aus der Puste. Ehe ich et was sagen konnte, hob er die Hand, um mir Einhalt zu gebieten. Dann stützte er die Hände auf die Knie und versuchte zu Atem zu kommen.
»Einen.« Keuch. »Moment.« Keuch. »Bitte.«
Ich dachte, er würde jeden Moment ohnmächtig werden.
»Hier raufzurennen ... war 'ne Schnapsidee.« Er hechelte nach Luft, aber es klang wie ein Schluck auf. »Sind bestimmt 40 Grad ... meine Shorts platzt gleich vor Hitze.«
Typisch Hi, nie um eine geistreiche Bemerkung verlegen.
Hiram Stolowitski wohnt drei Einheiten von Kit und mir entfernt. Sein Vater, Linus Stolowitski, ist Labortechniker auf Loggerhead. Ein ruhiger, würdevoller Mann. Hi kommt gar nicht nach ihm.
»Lass uns von hier verschwinden.« Hi schnappte immer noch nach Luft, wenn auch etwas weniger als zu vor. »Wenn meine Mutter mich sieht, schleppt sie mich gleich in den Tempel oder so was.«
His Befürchtung entsprang keiner Paranoia. Mrs Stolowitskis gelegentliche Frömmigkeitsanfälle ziehen häufig eine vierzigminütige Autofahrt zur Kahal Kadosh Beth Elohim Synagoge in Downtown Charleston nach sich. Wir Morris- Insulaner mögen in der Gottesfrage nicht unbedingt einer Meinung sein, doch eines ist gewiss: Wir leben einfach zu weit in der Peripherie, um regelmäßig die Kirche oder die Synagoge zu besuchen.
Fairerweise sollte ich hinzufügen, dass die Presbyterianische Kirche, der ich eigentlich angehöre, um einige Meilen näher von hier entfernt liegt als His Synagoge. Kit und ich haben ein Mal an einem Gottesdienst teilgenommen. Nach weniger als zehn Sekunden war mir klar, dass er zum ersten Mal dort war. Wir haben keinen zweiten Versuch unternommen.
Aber der Große Junge da oben soll ja sehr verständnisvoll sein. Ich hoffe es jedenfalls.
Ruth Stolowitski zeichnet auch für das Neighborhood-Watch- Programm der Gemeinde verantwortlich, die unseren Wohnblock nicht aus den Augen lässt. Unnötig? Absolut. Aber das sollte man Ruth lieber nicht sagen. Sie ist davon überzeugt, dass nur ständige Wachsamkeit Morris Island vor einer Welle der Gewalt bewahren kann. In meinen Augen ist unsere totale Isolation in dieser Hinsicht völlig ausreichend. Wer sollte uns schon ausrauben? Eine Krabbe auf Crack? Eine Junkie-Qual le?
Um dem allgegenwärtigen Blick seiner Mutter zu entgehen, zogen Hi und ich uns auf die Seite des Gebäudes zurück, die gnädig erweise im Schatten lag. Die Temperatur fiel sofort um zehn Grad.
Hi ist nicht dick, aber auch nicht gerade schlank. Stämmig? Unter setzt? Irgend so was. Mit seinen wallenden braunen Haaren und einer Neigung zu geblümten Hemden fällt er in jeder größeren Gruppe aus dem Rahmen.
An diesem Morgen trug Hi ein Hemd, das gelbe und grüne Weinranken zierten. Darunter eine hellbraune Shorts, deren linke Tasche ausgerissen war. Wehe, wenn seine Mutter das sah!
»Geht's wieder?«, fragte ich. His Gesichtsfarbe wechselte von Pflaume zu Himbeere.
»Mir geht's glänzend«, antwortete er, immer noch ein wenig kurzatmig. »Danke der Nachfrage. Ich weiß deine Besorgnis zu schätzen.«
Hi Stolowitski ist ein Meister der Ironie.
»Was hat dich dazu gebracht, den weiten Weg vom Bootsanleger bis hier her zu laufen?« Noch während die Worte meinen Mund verließen, wurde mir die Hinfälligkeit meines eigenen Joggingplans bewusst.
»Ben ist mit seinem Boot verunglückt, als er im Schooner Creek nach Flusstrommlern geangelt hat. Er ist in zu seichtes Wassergeraten und auf Grund gelaufen.« Hi war wie der zu Atem gekommen. Die Verzweiflung stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Er wurde durch die Luft geschleudert und hat sich dann irgendwie das Bein aufgeschlitzt. Sieht ziemlich böse aus.«
Ben Blue wohnt ebenfalls in unserem Block, ist aber auch manch mal bei seiner Mutter in Mount Pleasant. Ich hatte auf Ben und Hi gewartet, um mit ihnen nach Folly Beach zu fahren.
»Wie böse? Wann? Wo ist er?« Vor lauter Besorgnis brabbelte ich wild drauflos.
»Er hat das Boot zum Bunker manövriert, wo ich war, aber dann ist der Motor abgesoffen.« Er lächelte reumütig. »Also bin ich mit dem alten Kanu hier her gepaddelt, um Shelton zu finden. Ich dachte, das ginge schneller. Blöde Idee. Das hat ewig gedauert.«
Jetzt wusste ich, warum Hi so er schöpft war. Kanufahren auf dem Meer ist extrem anstrengend, vor allem, wenn man gegen die Strömung ankämpfen muss. Der Bunker ist nur anderthalb Meilen von hier entfernt. Er hätte laufen sollen. Aber das rieb ich ihm nicht unter die Nase.
»Und jetzt?«, fragte er. »Sollen wir Mr Blue Bescheid sagen? «
Bens Vater, Tom Blue, ist für die Schiffsverbindung zwischen Morris und Loggerhead Island verantwortlich und kümmert sich außerdem um die Fähre, die zwischen Morris und Charleston verkehrt.
Wir schauten uns an. Ben besitzt seinen kleinen Flitzer seit knapp zehn Monaten. Und sein Vater ist ein Pedant, wenn es um die Sicherheit an Bord geht. Wenn er et was von dem Unfall erfuhr, dann war Ben sein Lieblingsspielzeug gleich wieder los.
»Nein«, antwortete ich. »Wenn Ben die Hilfe seines Vater wollte, dann hätte er dir das gesagt.«
Sekunden verstrichen. Am Strand schrien sich die Möwen die Nachrichten des Tages zu. Über unseren Köpfen legte sich eine Schar von Pelikanen mit weit gespannten Flügeln in die morgendliche Brise.
Ich traf eine Entscheidung. Ich wollte versuchen, Ben eigenhändig zusammen zu flicken. Doch wenn die Wunde zu groß sein sollte, würden wir ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen müssen - zornige Eltern hin oder her.
»Wir treffen uns auf dem Weg.« Ich war schon unterwegs zum Hauseingang, um meinen Erste-Hilfe-Kasten zu holen. »Lass uns mit den Fahrrädern zum Bunker fahren.«
Fünf Minuten später jagten wir auf einem harten Sandstreifen, der sich zwischen den hohen Dünen dahin zieht, in nördliche Richtung. Auf meinen erhitzten Wangen fühlte sich der Wind angenehm kühl an. Meine wie immer hoffnungslos verfilzten Haare wehten wie eine rote Fahne hinter mir her.
Zu spät dachte ich an Sonnencreme. Meine blasse New- England-Haut kennt nur zwei Färbungen: weiß oder krebsrot. Und Sonnenlicht lässt die Anzahl meiner Sommersprossenregel recht explodieren.
Okay, ich bekenne: Die Modellagenturen stehen nicht gerade Schlange, um mich unter Vertrag zu nehmen, aber ich sehe wirklich nicht übel aus. Ich bin ziemlich groß und habe zu dem die feingliedrige Gestalt meiner Mutter geerbt. Das zumindest hat sie mir hinterlassen.
Unser Weg schlängelte sich der Landspitze unserer Insel entgegen, der Cummings Point heißt. Linkerhand die hohen Dünen, zur Rechten der abfallende Strand, dann das Meer.
Hi trat hinter mir in die Pedale und schnaufte wie eine Dampflokomotive.
»Soll ich langsamer fahren?«, rief ich über die Schulter.
»Versuch's, und ich fahr dich über den Haufen«, schrie er. »Ich bin Lance Arm strong.«
Wenn du Lance Arm strong bist, bin ich Lara Croft, dachte ich und drosselte so lang sam das Tempo, dass er es nicht merkte.
Da ein Großteil von Morris Island aus Marschland oder Dünen besteht, kommt nur die nördliche Hälfte als Bauland infrage. Hier wurde Fort Wagner errichtet. Desgleichen die anderen alten Militäreinrichtungen, überwiegend simple Schützengräben, Furchen und Erdlöcher.
Mit unserem Bunker sieht's je doch anders aus. Der ist der helle Wahnsinn. Wir sind auf ihn gestoßen, als wir einmal nach unserem Frisbee suchten. Totaler Zu fall. Das Ding liegt so gut versteckt, dass man genau wissen muss, wo er sich befindet. Niemand scheint sich mehr an ihn zu erinnern. Und das soll auch so bleiben.
Nach dem wir fünf Minuten weitergestrampelt waren, bogen wir vom Weg ab, umkurvten eine riesige Düne und schossen nach unten in eine tiefe Mulde. Von dort kann man nach knapp dreißig Metern eine Mauer erkennen, die zwischen den Sandhügeln verborgen liegt.
Ungefähr zehn Meter rechts vom Eingang des Bunkers führt ein schmaler Trampelpfad zum Strand hinunter. Ich erkannte Bens Motorboot, das an einem halb im Wasser stehen den Pfahl fest ge macht war. Es hob und senkte sich in der sanften Dünung.
Ich stieg ab und ließ mein Fahrrad in den Sand fallen. In diesem Moment drang ein dumpfes Fluchen aus dem Bunker.
Beunruhigt zwängte ich mich durch die niedrige Öffnung.
© 2011 für die deutschsprachige Ausgabe cbj Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Gegen unsere entfesselten Kräfte hätten die se Banditen - wer auch immer sie waren - keine Chance gehabt. Mein Rudel hätte ihnen auf gelauert wie kleinen Kätzchen. Hätte sie instinktiv aufgespürt - und in Stücke gerissen. Aber nicht in dieser Nacht. Ich war in Schwierigkeiten. Hatte eine höllische Angst.
Also rannte ich, was ich konnte. Zwei gepeitschten gegen meine Glieder und rissen mir die Haut auf. Endlich erreichte ich eine offene Fläche.
Der Strand! Jetzt war es nicht mehr weit. »Tory! Hier!«
Shelton.
Gott sei Dank.
Im Sternenlicht konnte ich gerade so das Boot ausmachen. Ich schwang mich über die Reling, ließ mich auf das Deck fallen, drehte mich um und suchte mit den Augen die Küstenlinie ab. Nichts Verdächtiges zu sehen. Für den Augenblick.
»Hi? Ben? Wo seid ihr?«, flüsterte ich außer Atem, schweißnass. Ich war mit meinen Kräften definitiv am Ende.
»Hier bin ich.« Ben tauchte aus dem Dunkel auf. Ein schneller Sprung und er war im Boot.
Mit dem Schlüssel in der Hand glitt er hinter das Lenkrad und hielt inne.
Wagte nicht, den Motor anzulassen. Wagte nicht, es bleiben zu lassen.
Hi war immer noch da draußen.
Wir setzten uns hin, angespannt, warteten. Mein Mut sickerte förmlich aus mir heraus.
Komm schon, Hi. Bitte, oh bitte, bitte, bitte ...
TEIL 1
INSELN
Kapitel 1
Alles begann mit einer Erkennungsmarke. Oder einem Affen mit einer Erkennungsmarke. Wie ihr wollt. Ich hätte mir gleich denken können, dass die uns in Schwierigkeiten bringen würde. Hätte es spüren müssen. Doch meine Wahrnehmungsfähigkeit war damals nicht so gut entwickelt. Noch nicht.
Aber der Reihe nach.
Es war ein typischer Samstagmorgen bei mir zu Hau se, abgesehen davon, dass an meinem zu Hause überhaupt nichts typisch ist. Es ist ein zig artig - sogar ziemlich merk würdig. Also genau der richtige Platz für mich.
Da, wo ich wohne, gibt es viele interessante Dinge, vorausgesetzt ihr seid genauso gern in der freien Natur wie ich. Ach, ihr seid keine Naturliebhaber? Dann werdet ihr die Gegend viel leicht ein bisschen ... abgelegen finden.
Ich lebe nämlich auf einer verlassenen Insel. Einer schönen einsamen Insel, wollte ich sagen.
Morris Island. Meine Heimat fern jeder anderen Heimat. Endstation. Ein Ort im Nirgend wo. Der Hinterhof von Charleston. Eigentlich gar nicht so übel, wenn man nicht dazu neigt, sich einsam zu fühlen. Was ich tue. Aber was soll's. Ich kann zumindest meine Beinfreiheit genießen.
Morris ist nicht so eindrucksvoll wie andere Inseln. Vier Meilen im Quadrat, das ist alles. Die nördliche Hälfte besteht aus einer unspektakulären, sanft geschwungenen Kette sandiger Hügel. In der Mitte werden die Sandhügel zehn bis zwölf Meter hoch und erstrecken sich weiter in Richtung Süden, wo die Insel sich weitet. Der westliche Teil besteht aus ödem Marschland, das von flachen, den Gezeiten unterworfenen Buchten gesäumt wird. Und im Osten: der unermessliche Atlantik.
Dünen, Sümpfe, Strände. Und Stille. Unbegrenzte Stille.
Auf unserem kleinen Eiland gibt es zwei von Menschenhand geschaffene Dinge. Das eine ist unsere Wohnanlage, das andere eine Straße. Die Straße. Unsere einzige Verbindung zur Welt da draußen. Es handelt sich um eine einspurige, nicht markierte schmale Asphaltpiste, die sich südwärts durch Marschland und Dünen hin durch schlängelt, ehe sie Morris verlässt und an Lighthouse Creek vorbei nach Rat Island führt. Irgendwann trifft sie dann bei Folly Beach auf den Highway, der sich an Goat Island vorbei in Richtung Stadt zieht.
Rat. Goat. Folly. Wer sich über die Namen wundert, sollte mal bei der Charleston Historical Society nachfragen, wer sich die se hübschen Bezeichnungen ausgedacht hat. Und es gibt noch viel mehr davon.
Das alles war neu für mich. Bis letztes Jahr bin ich noch nie südlich von Pennsylvania gewesen. Dann brach ich in das Leben meines Dads ein.
Was meinen »Mitbewohner« an geht ...
Christopher »Kit« Howard ist mein Vater.
Das wissen wir beide jetzt seit genau sechs Monaten. Damals bin ich nach South Carolina gezogen, um mit ihm zusammen zu leben.
Nach dem, was mit meiner Mom passiert war, blieb mir keine andere Wahl.
Nach dem Unfall.
Ich weiß nicht genau, warum, aber Mom hat Kit nie von mir erzählt. Er hatte keine Ahnung, dass er Vater ist, und das schon seit vierzehn Jahren.
Über diesen Schock ist er immer noch nicht hinweggekommen. Manch mal sehe ich es seinem Gesicht an. Wenn er nach einem kurzen Schläfchen erwacht oder nach vielen Arbeitsstunden endlich wie der frische Luft schnappt, zuckt er regelrecht zusammen, wenn er mich sieht. Das ist meine Tochter, denkt er dann. Ich habe eine 14-jährige Tochter, die bei mir wohnt. Ich bin ihr Vater.
Ich bin nicht weniger geschockt, Paps, aber ich arbeite daran.
Wie soll ich meinen frisch entdeckten Vater beschreiben? Kit ist ein und dreißig, Meeresbiologe und Forscher am Institut von Loggerhead. Ein Workaholic.
Als Erzieher ist er ziemlich hilflos.
Vielleicht ist alles noch zu neu für ihn - ihr wisst schon, das Erstaunen darüber, plötzlich mit einem eigenen Teenager konfrontiert zu werden. Oder ich erinnere ihn an seine eigene wilde Jugend. Jeden falls hat er keine Ahnung, wie er mit mir umgehen soll. An einem Tag behandelt er mich wie einen seiner Kumpel, am nächsten wie ein kleines Kind.
Um ehrlich zu sein, trage auch ich einen Teil der Verantwortung dafür, dass alles nicht ganz einfach ist. Ich bin keine Heilige. Und die Entdeckung, einen Vater zu haben, hat mich total aus der Bahn geworfen.
Hier sind wir also. Gemeinsam. Am Ende der Welt.
An jenem Tag war ich gerade da bei, Seemuscheln zu klassifizieren. Langweilig? Vielleicht. Aber ich bin eine begeisterte Wissenschaftlerin. Ich liebe es, Dingen auf den Grund zu gehen, Antworten zu finden. Mom hat schon immer Witze da rüber gemacht, wie schwierig es sei, ein Kind groß zu ziehen, das schlauer ist als die meisten Hochschuldozenten.
Mein Motto: Ich bin, wie ich bin.
Berge von Muscheln bedeckten den Küchentisch. Sundial-Muscheln, Haiaugen, Truthahnflügel. Frisch gereinigt und poliert schimmerten sie im frühen Morgenlicht.
Ich fischte eine neue Art aus dem Eimer zu meinen Füßen und achtete da rauf, dass nichts von dem Bleichwasser auf meine Kleider tropfte. Unverkennbar eine Scotch Bonnet: weiß, eiförmig, die geriffelte Oberfläche von einem gleichmäßigen Muster rot brauner Flecken überzogen. Zufrieden mit meinem seltenen Fund, legte ich die Muschel zum Trocknen beiseite.
Das nächste Objekt war mir ein Rätsel. Herzmuschel oder Arche-Noah-Muschel? Beide Arten sind an der Küste von South Carolina weit verbreitet.
Ob wohl die Muschel fast zwei Stunden im Bleich wassergelegen hatte, war ihr Äußeres immer noch von hartnäckigen Ablagerungen übersät. Seepocken und verkrusteter Schlick verdeckten je des Detail.
Großartig. Endlich hatte ich eine Gelegenheit, mein elektrisches Werkzeug zu benutzen. Ein Geschenk meiner Großtante Tempe.
Vielleicht habt ihr schon mal von ihr gehört.
Ich war total von den Socken, als ich es herausgefunden habe. Ich bin mit Dr. Temperance Brennan verwandt, der weltbekannten forensischen Anthropologin. Sie war schon immer mein Idol. Als Kit es mir erzählt hat, wollte ich es zuerst nicht glauben, aber an der Sache gibt es nichts zu rütteln. Tempes Schwester, Harry, ist meine Großmutter.
Wir haben also eine echte Berühmtheit in unserer Familie. Eine renommierte Wissenschaftlerin. Wer hätte das gedacht.
Okay, ich war meiner Tante Tempe erst ein Mal begegnet. Aber das war nicht ihre Schuld. Schließlich wusste auch sie erst seit sechs Monaten von meiner Existenz, so wie Kit.
Tante Tempe hat einen echt spannen den Job. Sie identifiziert Leichen. Kein Witz. Egal ob ein toter Körper verbrannt, verfault oder mumifiziert ist. Von Maden zerfressen oder nur noch ein Skelett. Tante Tempe stellt fest, wer das ist. War. Dann versucht sie gemeinsam mit der Polizei heraus zu finden, was mit ihr oder ihm passiert ist.
Cooler Job, wenn man einen robusten Magen hat. Hab ich.
Das Wissen um die Verwandtschaft mit meiner Tante hat mir geholfen, mich selbst zu verstehen. Warum ich auf jede Frage eine Antwort finden muss. Warum ich mich lieber mit fossilen Raubvögeln oder der globalen Erderwärmung beschäftige, als shoppen zu gehen.
Ich kann nichts dafür. Das liegt an meiner DNA.
Tante Tempe hat sich da rauf spezialisiert, Knochen zu analysieren und aus ihrem Zustand spezifische Schlussfolgerungen zu ziehen. Warum sollte ich also meine Begabung nicht dazu nutzen, die Schale von Weichtieren zu reinigen?
Denn Muscheln sind im Grunde nichts anderes als Knochen.
Ich nahm den kabellosen elektrischen Minischleifer aus meinem Werkzeugkasten, befestigte den Bürstenkopf daran und entfernte behutsam die Verschmutzungen, die an der Schalenoberfläche hafteten. Danach tauschte ich den Bürstenkopf gegen einen kleinen Schleifstein aus, um die Verkrustungen ab zu schmirgeln.
Nach dem die größeren Seepocken verschwunden waren, schloss ich mein Sandstrahlgerät an meinen Druckluftkompressor an und benetzte die Muschel vor sichtig mit Aluminiumoxid. Als Nächstes benutzte ich einen Dentalreiniger, um die hartnäckigsten Partikel zu beseitigen. Ich spülte den verbliebenen Sand mit einer Munddusche ab und nahm ein weiteres Mal mein Multielektrogerät zur Hand, dies mal mit einem Polierkopf. Fertig.
Eine glänzende ovale Muschel lag vor mir auf dem Tisch. Außenbraun getupft, innen purpurn. Zehn Zentimeter lang. Die zahlreichen radialstrahligen Rippen ließen keinen Zweifel aufkommen.
Ich schaute vorsichtshalber noch mal in meinem Handbuch der Küste South Carolinas nach. Richtig, die Dinocardium robustum, eine Herzmuschel.
Rätsel gelöst. Ich legte die Muschel auf den entsprechenden Haufen und streckte meine Hand erneut in den Eimer. Leer.
Zeit für eine andere Beschäftigung.
Ich beschloss, mir einen kleinen Snack zu machen. Die Auswahl war äußerst dürftig, da Kit schon seit über einer Woche nicht mehr eingekauft hatte. Ich unterdrückte einen Anflug von Verärgerung. Der Supermarkt befand sich dreißig Minuten entfernt auf James Island, da kam er schließlich nicht jeden Tag vorbei.
Wir leben hier wie Schiffbrüchige. Es ist wirklich ein Elend.
Also begnügte ich mich mit ein paar Karottenstangen, die nicht mehr ganz frisch waren, und konnte der Versuchung nicht widerstehen, mir eine Cola Light auf zu machen. Ich bemühe mich durchaus, mich gesund zu ernähren - Hauptsache, ich kriege genug Koffein. Ich brauche das.
Ich warf einen Blick auf mein Handy. Schon ziemlich spät, und sie waren immer noch nicht da. Auch keine SMS.
Ich ging meine verschiedenen Möglichkeiten durch. Nix in der Glotze - immer nur dasselbe. Der Stapel meiner ungelesenen Bücher lockte mich nicht. Das Internet langweilte mich. Nichts Neues auf Facebook.
Keine Hausaufgaben an diesem Wochenende. Es war Ende Mai, und den meisten Lehrern fiel es offenbar ebenso schwer wie den Schülern, das Jahr anständig zu Ende zu bringen.
Ich saß hier fest. Als Vierzehnjährige kann ich mich ja nicht einfach ins Auto setzen und von hier verschwinden. Und wo sollte ich auch hinfahren? Etwa in die Stadt, um dort mit meinen Freunden abzuhängen? Toller Witz! Alle, die mich mögen, sind eben falls einsame Inselbewohner. Blieben also die Möglichkeiten vor Ort, die, gelinde gesagt, begrenzt sind.
Aber trotz dem - wo steckten sie bloß?
Habe ich schon erwähnt, dass wir die entlegenste Wohnanlage in Charleston bevölkern? Auf der ganzen Welt? Niemand, absolut niemand wohnt in unserer Nähe. Auf den meisten Karten ist nicht einmal verzeichnet, dass Morris Island über hauptbewohnt ist. Unsere komplette Nachbarschaft besteht aus zehn Wohneinheiten, die sich alle innerhalb eines 130 Meter langen Gebäudes aus Stahlbeton befinden. Insgesamt vierzig Leute. Das ist alles.
Von hier aus sind es zwanzig Minuten mit dem Auto, ehe man das erste Straßenschild er blickt. An diesem Punkt ist man der Zivilisation noch fern, aber immerhin auf dem richtigen Weg. Normalerweise verlassen meine Freunde und ich dort die Straße und nehmen das Schiff.
Was, ihr seid nicht beeindruckt? Schade eigentlich. Denn mal ehrlich - wie viele Leute kennt ihr denn, die in umgewandelten Militärbaracken wohnen? Und ich rede nicht von irgend einer Kaserne aus dem 20. Jahrhundert. Das Gebäude ist uralt.
Während des Amerikanischen Bürgerkriegs hat Morris Island den Hafen von Charleston vor Angriffen aus dem Süden geschützt. Die Konföderation hat damals eine Festung namens Fort Wagner errichtet, um feindlichen Soldaten den Zugang zur Nordspitze der Insel zu verwehren. Keine schlechte Idee. Die Rebellen hatten dort schwere Kanonen postiert. Fort Wagner zog sich quer über die Insel und riegelte diese komplett nach Norden hin ab.
Fort Wagner, Fort Moultrie auf Sullivan's Island und Fort Sumter, ein riesiger Beton klotz an der Einfahrt in die Bucht, bildeten gemein sam den Befestigungsring, der Charleston gegen die Angriffe von See her verteidigen sollte. 1863 unternahmen die Unionstruppen einen Versuch, Fort Wagner zu erobern. Die 54th Massachusetts Volunteer Infantry, eines der ersten amerikanischen Regimenter, das ausschließlich aus schwarzen Soldaten bestand, führte den Angriff an. Es war eine brutale Schlacht. Und leider ein totales Fiasko. Sogar ihr Befehlshaber fiel.
Ich habe mal einen Spielfilm darüber gesehen. Ich glaube, Denzel Washington erhielt für seine Rolle den Oscar. Völlig zu Recht. Er hat mich zu Tränen gerührt, und ich weine nicht oft. Eigentlich hätte ich ja für die Soldaten von Charleston sein sollen, aber schließlich bin ich ein Girl aus Massachusetts. Außerdem bringt mich nichts und niemand dazu, für die se Sklavenhalter Partei zu ergreifen, sorry.
Fort Wagner wurde nach dem Krieg sich selbst über lassen, aber die grundlegen den Strukturen sind noch vorhanden. Heute ist Morris Island ein Naturschutzgebiet, das von der University of Charleston verwaltet wird. Sie ist der Arbeitgeber meines Vaters und all der an deren, die hier leben. Als die Universität die ehemaligen Militärbaracken von Fort Wagner renovierte, hat sie den Lehrkräften von Loggerhead Island - ihrer externen Forschungseinrichtung im Meer - angeboten, dort kostenlos einzuziehen. Loggerhead ist noch kleiner und abgelegener als Morris.
Mein Dad hat das Angebot natürlich sofort angenommen. Schon mal versucht, von einem Forschergehalt zu leben?
Ich wartete immer noch ungeduldig. Ich wollte unbedingt nach Folly Beach, aber von denen, die mich hinbringen wollten, fehlte weiterhin jede Spur. Es sah so aus, als hätten sie mich versetzt.
Also entschloss ich mich, joggen zu gehen, eines der Dinge, die man auf Morris Island hervorragend tun kann. Ich ging in mein Zimmer, um mich um zu ziehen. Alle Wohneinheiten in unserer kleinen Welt sehen haargenau gleich aus. Vier Stockwerke, mehr hoch als breit. Nur der persönliche Geschmack und die individuelle Raumaufteilung der einzelnen Bewohner sorgen für gewisse Unterschiede.
In unserem Fall dient das Erdgeschoss zu gleich als Büro und Garage. Im ersten Stock befinden sich Küche, Ess- und Wohnzimmer. Die nächste Etage beherbergt zwei Schlafzimmer, von denen Kits nach hinten, meines nach vorne hinausgeht, so dass ich das Grundstück überblicken kann.
Das oberste Stockwerk besteht vor allem aus einem großen Raum, in dem Kit seine Mediathek untergebracht hat. Ich nenne ihn Kits Höhle. Von dort gelangt man auf eine Dachterrasse, die einen sagenhaften Blick auf den Ozean bietet. Im Grunde eine ganz an sehnliche Behausung, in der man allerdings ständig Gefahr läuft, die Treppen hinunter zu fallen und sich das Genick zu brechen.
Während ich meine Adidasschuhe schnürte, warf ich einen Blick aus dem Fenster meines Zimmers. Eine mir sehr vertraute Person spurtete den Bootsanleger hinauf. Hiram in Höchstgeschwindigkeit. Ehrlich gesagt kein besonders imponieren der Anblick.
Hi rannte, was das Zeug hielt, das heißt, er kämpfte sich tapfer die Steigung hinauf, die zum Hauptgebäude führt. Seine Wangen waren knallrot, die Haare klebten an seinem Gesicht.
Hi würde nie aus Spaß laufen.
Ich schnappte mir meinen Schlüsselbund und sauste los.
Irgendwas stimmte da nicht.
Kapitel 2
Draußen wartete ich auf Hi.
Ich stand vor der Front unserer Wohnanlage. Die Sonne brannte auf die Rasenfläche, die etwa halb so groß wie ein Fußballfeld ist. Der einzige grüne Fleck weit und breit.
Jenseits unseres Grundstücks erheben sich drei stolze Palmettopalmen aus dem Sand, die der ganzen Szenerie vermutlich ein bisschen Charakter verleihen sollen. Ohne sie hätte man von hier aus einen freien Blick aufs Meer.
Ich schirmte meine Augen vor der Sonne ab und blinzelte in westliche Richtung. Ein sanfter Morgendunst hatte einen feinen Schleier über das Meergelegt. Irgendwo da draußen ist Loggerhead, dachte ich. Und Kit, der ein weiteres Wochenende seiner Arbeit widmete.
Aus den Augen, aus dem Sinn. Wie auch immer. Er verbringt oh ne hin kaum Zeit mit mir.
Hi ließ weiter auf sich warten.
Es war zwar erst Mai, aber die Temperaturen lagen bestimmt schon über 30 Grad. Die Luft war gesättigt vom Duft nach Gras, salzigen Sümpfen und heißem Beton.
Ich gebe zu, dass ich zu heftigen Schweißausbrüchen neige. Auch in diesem Moment. Wie halten das diese Südstaatler nur aus?
In Massachusetts sind die letzten Frühlingstage immer noch angenehm kühl. Perfekt, um am Kap zu segeln. Das waren Moms Lieblingstage im ganzen Jahr gewesen.
Endlich tauchte Hi prustend am Rande des Vorplatzes auf.
Haare und Hemd waren schweiß nass. Man musste kein Hellseher sein, um zu erkennen, dass er sehr erregt war.
Hi schlurfte auf mich zu, offenbar total aus der Puste. Ehe ich et was sagen konnte, hob er die Hand, um mir Einhalt zu gebieten. Dann stützte er die Hände auf die Knie und versuchte zu Atem zu kommen.
»Einen.« Keuch. »Moment.« Keuch. »Bitte.«
Ich dachte, er würde jeden Moment ohnmächtig werden.
»Hier raufzurennen ... war 'ne Schnapsidee.« Er hechelte nach Luft, aber es klang wie ein Schluck auf. »Sind bestimmt 40 Grad ... meine Shorts platzt gleich vor Hitze.«
Typisch Hi, nie um eine geistreiche Bemerkung verlegen.
Hiram Stolowitski wohnt drei Einheiten von Kit und mir entfernt. Sein Vater, Linus Stolowitski, ist Labortechniker auf Loggerhead. Ein ruhiger, würdevoller Mann. Hi kommt gar nicht nach ihm.
»Lass uns von hier verschwinden.« Hi schnappte immer noch nach Luft, wenn auch etwas weniger als zu vor. »Wenn meine Mutter mich sieht, schleppt sie mich gleich in den Tempel oder so was.«
His Befürchtung entsprang keiner Paranoia. Mrs Stolowitskis gelegentliche Frömmigkeitsanfälle ziehen häufig eine vierzigminütige Autofahrt zur Kahal Kadosh Beth Elohim Synagoge in Downtown Charleston nach sich. Wir Morris- Insulaner mögen in der Gottesfrage nicht unbedingt einer Meinung sein, doch eines ist gewiss: Wir leben einfach zu weit in der Peripherie, um regelmäßig die Kirche oder die Synagoge zu besuchen.
Fairerweise sollte ich hinzufügen, dass die Presbyterianische Kirche, der ich eigentlich angehöre, um einige Meilen näher von hier entfernt liegt als His Synagoge. Kit und ich haben ein Mal an einem Gottesdienst teilgenommen. Nach weniger als zehn Sekunden war mir klar, dass er zum ersten Mal dort war. Wir haben keinen zweiten Versuch unternommen.
Aber der Große Junge da oben soll ja sehr verständnisvoll sein. Ich hoffe es jedenfalls.
Ruth Stolowitski zeichnet auch für das Neighborhood-Watch- Programm der Gemeinde verantwortlich, die unseren Wohnblock nicht aus den Augen lässt. Unnötig? Absolut. Aber das sollte man Ruth lieber nicht sagen. Sie ist davon überzeugt, dass nur ständige Wachsamkeit Morris Island vor einer Welle der Gewalt bewahren kann. In meinen Augen ist unsere totale Isolation in dieser Hinsicht völlig ausreichend. Wer sollte uns schon ausrauben? Eine Krabbe auf Crack? Eine Junkie-Qual le?
Um dem allgegenwärtigen Blick seiner Mutter zu entgehen, zogen Hi und ich uns auf die Seite des Gebäudes zurück, die gnädig erweise im Schatten lag. Die Temperatur fiel sofort um zehn Grad.
Hi ist nicht dick, aber auch nicht gerade schlank. Stämmig? Unter setzt? Irgend so was. Mit seinen wallenden braunen Haaren und einer Neigung zu geblümten Hemden fällt er in jeder größeren Gruppe aus dem Rahmen.
An diesem Morgen trug Hi ein Hemd, das gelbe und grüne Weinranken zierten. Darunter eine hellbraune Shorts, deren linke Tasche ausgerissen war. Wehe, wenn seine Mutter das sah!
»Geht's wieder?«, fragte ich. His Gesichtsfarbe wechselte von Pflaume zu Himbeere.
»Mir geht's glänzend«, antwortete er, immer noch ein wenig kurzatmig. »Danke der Nachfrage. Ich weiß deine Besorgnis zu schätzen.«
Hi Stolowitski ist ein Meister der Ironie.
»Was hat dich dazu gebracht, den weiten Weg vom Bootsanleger bis hier her zu laufen?« Noch während die Worte meinen Mund verließen, wurde mir die Hinfälligkeit meines eigenen Joggingplans bewusst.
»Ben ist mit seinem Boot verunglückt, als er im Schooner Creek nach Flusstrommlern geangelt hat. Er ist in zu seichtes Wassergeraten und auf Grund gelaufen.« Hi war wie der zu Atem gekommen. Die Verzweiflung stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Er wurde durch die Luft geschleudert und hat sich dann irgendwie das Bein aufgeschlitzt. Sieht ziemlich böse aus.«
Ben Blue wohnt ebenfalls in unserem Block, ist aber auch manch mal bei seiner Mutter in Mount Pleasant. Ich hatte auf Ben und Hi gewartet, um mit ihnen nach Folly Beach zu fahren.
»Wie böse? Wann? Wo ist er?« Vor lauter Besorgnis brabbelte ich wild drauflos.
»Er hat das Boot zum Bunker manövriert, wo ich war, aber dann ist der Motor abgesoffen.« Er lächelte reumütig. »Also bin ich mit dem alten Kanu hier her gepaddelt, um Shelton zu finden. Ich dachte, das ginge schneller. Blöde Idee. Das hat ewig gedauert.«
Jetzt wusste ich, warum Hi so er schöpft war. Kanufahren auf dem Meer ist extrem anstrengend, vor allem, wenn man gegen die Strömung ankämpfen muss. Der Bunker ist nur anderthalb Meilen von hier entfernt. Er hätte laufen sollen. Aber das rieb ich ihm nicht unter die Nase.
»Und jetzt?«, fragte er. »Sollen wir Mr Blue Bescheid sagen? «
Bens Vater, Tom Blue, ist für die Schiffsverbindung zwischen Morris und Loggerhead Island verantwortlich und kümmert sich außerdem um die Fähre, die zwischen Morris und Charleston verkehrt.
Wir schauten uns an. Ben besitzt seinen kleinen Flitzer seit knapp zehn Monaten. Und sein Vater ist ein Pedant, wenn es um die Sicherheit an Bord geht. Wenn er et was von dem Unfall erfuhr, dann war Ben sein Lieblingsspielzeug gleich wieder los.
»Nein«, antwortete ich. »Wenn Ben die Hilfe seines Vater wollte, dann hätte er dir das gesagt.«
Sekunden verstrichen. Am Strand schrien sich die Möwen die Nachrichten des Tages zu. Über unseren Köpfen legte sich eine Schar von Pelikanen mit weit gespannten Flügeln in die morgendliche Brise.
Ich traf eine Entscheidung. Ich wollte versuchen, Ben eigenhändig zusammen zu flicken. Doch wenn die Wunde zu groß sein sollte, würden wir ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen müssen - zornige Eltern hin oder her.
»Wir treffen uns auf dem Weg.« Ich war schon unterwegs zum Hauseingang, um meinen Erste-Hilfe-Kasten zu holen. »Lass uns mit den Fahrrädern zum Bunker fahren.«
Fünf Minuten später jagten wir auf einem harten Sandstreifen, der sich zwischen den hohen Dünen dahin zieht, in nördliche Richtung. Auf meinen erhitzten Wangen fühlte sich der Wind angenehm kühl an. Meine wie immer hoffnungslos verfilzten Haare wehten wie eine rote Fahne hinter mir her.
Zu spät dachte ich an Sonnencreme. Meine blasse New- England-Haut kennt nur zwei Färbungen: weiß oder krebsrot. Und Sonnenlicht lässt die Anzahl meiner Sommersprossenregel recht explodieren.
Okay, ich bekenne: Die Modellagenturen stehen nicht gerade Schlange, um mich unter Vertrag zu nehmen, aber ich sehe wirklich nicht übel aus. Ich bin ziemlich groß und habe zu dem die feingliedrige Gestalt meiner Mutter geerbt. Das zumindest hat sie mir hinterlassen.
Unser Weg schlängelte sich der Landspitze unserer Insel entgegen, der Cummings Point heißt. Linkerhand die hohen Dünen, zur Rechten der abfallende Strand, dann das Meer.
Hi trat hinter mir in die Pedale und schnaufte wie eine Dampflokomotive.
»Soll ich langsamer fahren?«, rief ich über die Schulter.
»Versuch's, und ich fahr dich über den Haufen«, schrie er. »Ich bin Lance Arm strong.«
Wenn du Lance Arm strong bist, bin ich Lara Croft, dachte ich und drosselte so lang sam das Tempo, dass er es nicht merkte.
Da ein Großteil von Morris Island aus Marschland oder Dünen besteht, kommt nur die nördliche Hälfte als Bauland infrage. Hier wurde Fort Wagner errichtet. Desgleichen die anderen alten Militäreinrichtungen, überwiegend simple Schützengräben, Furchen und Erdlöcher.
Mit unserem Bunker sieht's je doch anders aus. Der ist der helle Wahnsinn. Wir sind auf ihn gestoßen, als wir einmal nach unserem Frisbee suchten. Totaler Zu fall. Das Ding liegt so gut versteckt, dass man genau wissen muss, wo er sich befindet. Niemand scheint sich mehr an ihn zu erinnern. Und das soll auch so bleiben.
Nach dem wir fünf Minuten weitergestrampelt waren, bogen wir vom Weg ab, umkurvten eine riesige Düne und schossen nach unten in eine tiefe Mulde. Von dort kann man nach knapp dreißig Metern eine Mauer erkennen, die zwischen den Sandhügeln verborgen liegt.
Ungefähr zehn Meter rechts vom Eingang des Bunkers führt ein schmaler Trampelpfad zum Strand hinunter. Ich erkannte Bens Motorboot, das an einem halb im Wasser stehen den Pfahl fest ge macht war. Es hob und senkte sich in der sanften Dünung.
Ich stieg ab und ließ mein Fahrrad in den Sand fallen. In diesem Moment drang ein dumpfes Fluchen aus dem Bunker.
Beunruhigt zwängte ich mich durch die niedrige Öffnung.
© 2011 für die deutschsprachige Ausgabe cbj Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Kathy Reichs
Kathy Reichs, geboren in Chicago, lebt in Charlotte und Montreal und ist unter anderem als forensische Anthropologin für gerichtsmedizinische Institute in Quebec und North Carolina tätig. Ihre Tempe Brennan-Romane erreichen regelmäßig Spitzenplätze auf internationalen und deutschen Bestsellerlisten. Ihre Bücher wurden in 30 Sprachen übersetzt. Tempe Brennan ermittelt auch in der von Reichs mitkreierten und -produzierten Fernsehserie Bones - Die Knochenjägerin."Virals", ein Spin-Off ihrer Tempe Brennan-Thriller, ist ihre erste Jugendbuch-Thrillerserie, die sie gemeinsam mit ihrem Sohn Brendan schreibt. Knut Krüger, geboren 1966, arbeitete nach seinem Germanistik-Studium im Buchhandel und Verlagswesen. Er ist heute freier Autor, Lektor und Übersetzer für englische und skandinavische Literatur. Lebt mit seiner Frau und seinen drei Kindern in München.
Bibliographische Angaben
- Autor: Kathy Reichs
- Altersempfehlung: Ab 12 Jahre
- 2013, 480 Seiten, Maße: 12,5 x 18,3 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Knut Krüger
- Verlag: cbt
- ISBN-10: 3570401332
- ISBN-13: 9783570401330
- Erscheinungsdatum: 06.03.2013
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