Totenblüte / Vera Stanhope Bd.2
England-Krimi
Als Julie nach Hause kommt, erwartet sie ein Alptraum: Ihr Sohn Luke liegt tot in der Badewanne, umringt von Blüten. Kurz darauf wird eine weitere Leiche gefunden, inmitten von Blütenblättern. Vera und Joe ermitteln fieberhaft. Und dann verschwindet Julies Tochter Laura.
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Produktinformationen zu „Totenblüte / Vera Stanhope Bd.2 “
Als Julie nach Hause kommt, erwartet sie ein Alptraum: Ihr Sohn Luke liegt tot in der Badewanne, umringt von Blüten. Kurz darauf wird eine weitere Leiche gefunden, inmitten von Blütenblättern. Vera und Joe ermitteln fieberhaft. Und dann verschwindet Julies Tochter Laura.
Klappentext zu „Totenblüte / Vera Stanhope Bd.2 “
Die Blumen des BösenEin heißer Sommerabend an der Küste Northumberlands. Wie hatte sich Julie Armstrong auf ihr erstes Date seit Jahren gefreut. Doch bei ihrer Rückkehr erwartet sie ein schreckliches Bild: Ihr Sohn Luke liegt tot in der Badewanne, auf dem Wasser schwimmen Blüten. Wenig später treibt die attraktive Referendarin Lily im Teich inmitten von Blumen - ein schauriges Gemälde.Die inszenierten Morde geben Kommissarin Vera Stanhope und ihrem Kollegen Joe Ashworth Rätsel auf. Doch sie wissen: Der Mörder wird wieder zuschlagen - bis das Kunstwerk des Todes vollendet ist ...«Ann Cleeves wirft einen Blick hinter die heile Fassade einer Dorfgemeinschaft, hinter der sich Abgründe auftun.» (Val McDermid)
Als Julie Armstrong nach einem Date zurückkehrt, erwartet sie ein schreckliches Bild: Ihr Sohn Luke liegt tot in der Badewanne, auf dem Wasser schwimmen Blüten. Wenig später findet man die attraktive Referendarin Lily tot im Fischteich - inmitten von Blütenblättern.
Das kleine Dorf an der Küste Northumberlands scheint voller Verdächtiger. Während Vera und ihr Kollege Joe Ashworth ermitteln, droht sich Julies Alptraum zu wiederholen: Ihre Tochter Laura ist verschwunden ...
Das kleine Dorf an der Küste Northumberlands scheint voller Verdächtiger. Während Vera und ihr Kollege Joe Ashworth ermitteln, droht sich Julies Alptraum zu wiederholen: Ihre Tochter Laura ist verschwunden ...
Lese-Probe zu „Totenblüte / Vera Stanhope Bd.2 “
Totenblüte von Ann CleevesKapitel Eins
Julie taumelte aus dem Taxi und sah ihm nach, als es wegfuhr. Am Gartentor blieb sie kurz stehen, um sich zu sammeln. Eigentlich konnte sie ja schlecht sturzbesoffen nach Hause kommen, wo sie den Kindern immer Vorträge hielt. Die Sterne über ihr am Himmel fuhren Achterbahn, ihr war übel, aber das war egal. Es war ein toller Abend gewesen, das erste Mal seit Ewigkeiten, dass sie mit den Mädels um die Häuser gezogen war. Wobei das eigentlich Tolle natürlich nicht die Mädels waren, dachte sie und musste wieder grinsen wie eine Idiotin.
Ein Glück, dass es dunkel war und keiner sie sehen konnte. Vor der Haustür blieb sie noch einmal stehen und kramte zwischen den Kajalstiften, den lippenstiftverschmierten Taschentüchern und dem Kleingeld in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel. Dabei ertastete sie die abgerissene Ecke des Bierdeckels. Eine Telefonnummer und ein Name. Ruf mich bald an! Und darunter ein kleines Herz. Der erste Mann, den sie berührt hatte, seit Geoff ausgezogen war.
Sie dachte daran, wie sich seine Rückenwirbel unter ihren Händen angefühlt hatten, als sie tanzten. Schade, dass er so früh hatte gehen müssen. Julie machte die Handtasche wieder zu und lauschte. Nichts. Es war so still, dass ihr der Nachhall der lauten Musik noch in den Ohren rauschte. War es tatsächlich möglich, dass Luke schlief? Laura war ein richtiges Murmeltier, doch Julies Sohn hatte noch nie viel Schlaf gebraucht.
Sogar jetzt, wo er nicht mehr zur Schule ging und gar nicht mehr früh aufzustehen brauchte, war er trotzdem fast immer vor ihr wach. Julie schob die Haustür auf und lauschte noch einmal, während sie die Schuhe abstreifte, die schon höllisch wehgetan hatten, als sie vor Stunden zur Metro gelaufen war. Gott, so getanzt hatte sie das letzte Mal vielleicht mit fünfundzwanzig.
... mehr
Im Haus war es ganz still. Keine Musik, kein Fernseher, kein piepsender Computer. Was für ein Glück, dachte Julie. Was für ein gottverdammtes Glück. Sie wollte einfach nur schlafen, vielleicht ein paar erotische Träume haben. Draußen auf der Straße wurde ein Motor angelassen. Sie schaltete das Licht ein. Der grelle Schein tat ihr in den Augen weh und brachte ihren Magen wieder in Aufruhr.
Sie ließ die Tasche fallen, rannte die Treppe hoch zum Bad und fiel dabei fast über die eigenen Füße. Bloß nicht auf den neuen Teppichboden kotzen. Die Tür zum Badezimmer war zu, Julie sah, dass drinnen Licht brannte. Aus dem Trockenschrank hörte sie das leise Gurgeln, mit dem sich der Heißwasserspeicher wieder füllte. Das war ja mal wieder typisch. Morgens musste sie Luke oft ewig zureden, zumindest unter die Dusche zu gehen, und jetzt badete er plötzlich mitten in der Nacht.
Julie klopfte an die Badezimmertür, hatte es aber nicht mehr eilig. Die Übelkeit war schon wieder verflogen. Luke gab keine Antwort. Wahrscheinlich wieder eine seiner Launen. Julie wusste, dass er nichts dafür konnte und dass sie eigentlich Geduld mit ihm haben sollte, aber manchmal wäre sie ihm doch am liebsten an die Gurgel gegangen, wenn er so komisch wurde.
Sie überquerte den Flur und schaute in Lauras Zimmer. Der Anblick ihrer schlafenden Tochter machte sie plötzlich ganz sentimental. Sie musste sich mehr Mühe mit ihr geben, mehr Zeit mit ihr verbringen. Vierzehn war ein schwieriges Alter für ein junges Mädchen, und Julie war in letzter Zeit immer so mit Luke beschäftigt gewesen, dass Laura ihr fast fremd geworden war.
Sie wurde erwachsen, ohne dass Julie etwas davon mitbekam. Jetzt lag sie auf dem Rücken, das stachlige Haar rabenschwarz vor dem Kissen, und schnarchte leise mit offenem Mund. Um diese Jahreszeit war ihr Heuschnupfen immer besonders schlimm. Julie sah, dass das Fenster offen stand, und schloss es trotz der Hitze, um die Pollen draußen zu halten. Mondlicht fiel auf das frisch gemähte Feld hinter dem Haus.
Sie ging zurück zur Badezimmertür und schlug mit der flachen Hand dagegen.
«He, willst du etwa die ganze Nacht da drinbleiben?» Beim dritten Schlag gab die Tür nach. Sie war gar nicht abgeschlossen gewesen. Drinnen hing der schwere, süßliche Duft eines Badeöls, das Julie noch nie benutzt hatte. Auf dem Klodeckel lagen Lukes Kleider, ordentlich gefaltet. Er war immer wunderschön gewesen, schon als Baby. Viel hübscher als Laura, was im Grunde ziemlich ungerecht war. Es lag an den blonden Haaren, den dunklen Augen, den langen, schwarzen Wimpern.
Julie starrte ihn an, wie er da lag, ganz im Badewasser versunken, sein Haar, das sich wie Seegras knapp unter der Oberfläche wiegte. Den Körper sah sie kaum wegen der vielen Blumen, die auf dem duftenden Wasser trieben. Nur die Blüten, ohne Stiele und ohne Blätter. Julie sah die großen Margeriten, die immer auf den Kornfeldern blühten, als sie noch klein war. Sie sah verblühende Mohnblumen, deren rote Blütenblätter fast durchsichtig wirkten, und große, blaue Blüten, die sie schon oft in den Gärten im Dorf gesehen hatte, aber deren Namen sie nicht kannte.
Sie musste wohl geschrien haben. Der Laut klang ihr fremd in den Ohren, als käme er von jemand anderem. Doch Laura schlief immer noch, Julie musste sie richtig wach schütteln. Schließlich schlug ihre Tochter die Augen auf, sah Julie groß an.
Sie wirkte verängstigt, und Julie murmelte ganz automatisch, obwohl sie wusste, dass es gelogen war: «Schon gut, Schätzchen. Es ist ja alles gut. Aber du musst jetzt aufstehen.»
Laura stieg aus dem Bett. Sie zitterte am ganzen Körper und schien noch gar nicht richtig wach zu sein. Julie legte den Arm um sie und drückte sie fest an sich, und so stolperten sie gemeinsam die Treppe hinunter. So standen sie auch kurz darauf eng umschlungen vor der Tür des Nachbarhauses, und ihr Schatten, den die Straßenlaternen an die Hauswand warfen, erinnerte Julie an zwei Leute bei einem dieser blödsinnigen Dreibeinrennen.
Zwei betrunkene Studenten auf Kneipentour. Sie klingelte Sturm, bis oben das Licht anging, Schritte die Treppe herunterkamen und sie endlich jemandem von diesem Albtraum erzählen konnte.
Kapitel Zwei
Felicity Calvert war irritiert, weil sie nur noch Sex im Kopf hatte. Irgendwann hatte sie im Wartezimmer beim Arzt in einer Zeitschrift gelesen, dass halbwüchsige Jungen angeblich alle sechs Minuten an Sex dachten. Das fand sie damals schwer vorstellbar. Wie konnten diese jungen Männer überhaupt noch ein normales Leben führen, im Unterricht aufpassen, ins Kino gehen, Fußball spielen, wenn sie ständig so abgelenkt waren? Und was war mit ihrem eigenen Sohn?
Undenkbar, dass James, der da auf dem Fußboden hockte und mit seinen Legosteinen spielte, in ein paar Jahren auch so besessen von dem Thema sein sollte. Inzwischen allerdings hielt sie einen Abstand von sechs Minuten zwischen einem erotischen Tagtraum und dem nächsten für eine recht großzügige Schätzung. Zumindest, was sie betraf. Seit einiger Zeit war sie sich bei allem, was sie tat, ihres Körpers und seiner Reaktionen bewusst, und dieses intensivere Empfinden war ihr im Alltag mal lästig, mal eine willkommene Abwechslung. Aber das gehörte sich doch nicht mehr in ihrem Alter. Es war, als würde man in Rot auf einer Beerdigung erscheinen.
Sie war im Garten, um die ersten Erdbeeren zu pflücken. Vorsichtig hob sie das Netz ein wenig an und schob die Hand zwischen Maschen und Strohunterlage. Die Früchte waren noch klein, aber es waren immerhin genug für James zum Abendessen. Felicity steckte eine in den Mund. Sie war noch warm von der Sonne und zuckersüß.
Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es schon fast Zeit für den Schulbus war. In spätestens zehn Minuten musste sie sich die Hände waschen und zur Landstraße hinuntergehen, um ihren Sohn abzuholen. Sie machte das längst nicht mehr jeden Tag. Er fand, dass er schon groß genug war, um alleine nach Hause zu kommen, und damit hatte er natürlich recht.
Doch heute hatte er seine Geige dabei und würde sich sicher freuen, wenn sie kam und ihm beim Tragen half. Einen Moment lang dachte sie darüber nach, ob der Bus heute wohl von dem älteren Mann gefahren würde oder von dem jüngeren mit den durchtrainierten Oberarmen und den ärmellosen Shirts.
Dann schaute sie erneut auf die Uhr. Nur zwei Minuten seit dem letzten Gedanken an Sex. Wieder dachte sie sich, wie lächerlich das in ihrem Alter war. Felicity war siebenundvierzig. Sie hatte einen Ehemann und vier Kinder. Sie hatte sogar schon ein Enkelkind. Und Peter, ihr Mann, wurde in ein paar Tagen sechzig. Die Lust kam immer dann, wenn sie es gerade am wenigsten erwartete. Sie hatte Peter nichts davon erzählt. Wozu auch? Er war ja schließlich nicht das Objekt ihrer Begierde. Inzwischen schliefen sie nur noch selten miteinander. Sie richtete sich auf und ging über den Rasen zur Küche. Fox Mill, ihr Haus, stand auf dem Grundstück einer ehemaligen Wassermühle. Das große Haus war in den dreißiger Jahren erbaut worden, als küstennahes Feriendomizil eines Großstädters, der ein Boot besaß. Mit den glatten, gewölbten Wänden, neben denen der Mühlbach entlangrauschte, sah es selbst ein wenig aus wie ein Boot, ein großes Art-déco-Boot, das an diesem völlig abwegigen Ort inmitten ebenen Ackerlands gestrandet war, den Bug zur Nordsee ausgerichtet, das Heck zu den Hügelketten Northumberlands am Horizont.
Auf einer Seite erstreckte sich wie ein Bootsdeck die große Terrasse, die hier, wo es fast nie warm genug zum Draußensitzen wurde, allerdings fast überflüssig war. Felicity liebte das Haus. Von Peters Professorengehalt hätten sie es sich niemals leisten können, doch kurz nachdem Felicity und er geheiratet hatten, waren seine Eltern gestorben, und er hatte ihr ganzes Vermögen geerbt.
Felicity stellte das Körbchen mit den Erdbeeren auf den Küchentisch, dann warf sie einen Blick in den Garderobenspiegel, fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und trug etwas Lippenstift auf. Sie war zwar älter als die Mütter von James' Freunden, aber er sollte sich auf keinen Fall für sie schämen müssen.
An der Straße blühte der Holunder, sein Duft machte Felicity ganz benommen, sie spürte ihn hinten am Gaumen. Auf den Feldern zu beiden Seiten reifte das Korn heran. Die Ähren standen hier so dicht, dass keine Blumen mehr dazwischenpassten, doch auf ihrem eigenen Feld nahe dem Haus wuchsen Butterblumen, Klee und lila Wicken. Weiter vorn flimmerte der löchrige Asphalt in der Hitze. Die Sonne schien seit drei Tagen ununterbrochen. Felicity überlegte, was sie an Peters Geburtstag am Wochenende unternehmen könnten.
Freitagabend würden die Jungs zum Essen kommen, die Felicity für sich immer so nannte, obwohl zumindest Samuel in ihrem Alter war. Aber wenn das Wetter hielt, konnten sie am Samstag ein Picknick am Strand machen und einen Ausflug auf die Farne-Inseln, um dort die Papageitaucher und die Trottellummen zu beobachten. Das würde James sicher großen Spaß machen.
Felicity blinzelte zum Himmel hinauf, um zu sehen, ob sie womöglich eine nahende Kaltfront spüren, eine noch so kleine Wolke am Horizont ausmachen würde. Aber nein: nichts.
Vielleicht, dachte sie, war es sogar warm genug zum Baden; sie stellte sich die sanften Wellen an ihrem Körper vor. Als sie das Ende der Straße erreicht hatte, war vom Schulbus noch nichts zu sehen. Felicity schwang sich auf das hölzerne Podest, wo früher die Milchkannen vom Hof auf den Milchwagen warteten. Das Holz war warm und roch nach Harz.
Sie stützte sich auf die Ellbogen und hielt das Gesicht in die Sonne. In zwei Jahren würde James die Schule wechseln. Davor fürchtete sie sich schon jetzt. Peter wollte ihn auf eine Privatschule in der Stadt schicken, dieselbe Schule, die auch er besucht hatte. Felicity sah die Schüler in ihren gestreiften Blazern häufig in der Metro. Sie fand sie laut und ein bisschen zu selbstbewusst.
«Aber wie soll er denn da hinkommen?», hatte sie eingewandt, doch ihr eigentlicher Vorbehalt war ein anderer.
Sie war überzeugt, dass James auf zu viel Druck nicht gut reagieren würde. Er war ein bedächtiges, verträumtes Kind. Man musste ihn in seinem eigenen Tempo arbeiten lassen. Die Gesamtschule im nächsten Dorf war sicher viel besser für ihn. Selbst das Gymnasium in Morpeth, das ihre anderen Kinder besucht hatten, würde ihn sehr fordern.
«Ich bringe ihn hin und hole ihn auch wieder ab», hatte Peter erwidert. «Es werden zahlreiche Aktivitäten nach dem Unterricht angeboten, da wird er sich schon beschäftigen können, bis ich aus dem Büro komme.»
Das gefiel Felicity nun überhaupt nicht. Ihr war die Zeit sehr kostbar, die sie mit James verbrachte, wenn er aus der Schule nach Hause kam. Diese Stunden, davon war sie überzeugt, waren sehr wichtig, um ihn zu verstehen. Sie hörte, wie der Bus den Hang hinaufschnaufte, richtete sich auf und blinzelte in die Sonne, dem näher kommenden Fahrzeug entgegen.
Am Steuer saß Stan, der alte Busfahrer. Felicity winkte ihm zu, um ihre Enttäuschung zu verbergen. Normalerweise stiegen an dieser Haltestelle nur drei Kinder aus: die beiden Zwillingsmädchen vom Bauernhof und James. Doch heute kletterte noch vor ihnen eine Fremde aus dem Bus, eine junge Frau in Riemchensandalen und einem rot- und goldgemusterten ärmellosen Kleid mit enganliegendem Oberteil und einem weiten, schwingenden Rock.
Felicity fand das Kleid wunderschön, den Schnitt und diese leuchtenden Farben die Jugend von heute schien sonst selbst im Sommer nur Grau oder Schwarz zu tragen. Und als sie sah, wie die junge Frau James half, seinen Ranzen und die Geige aus dem Bus zu hieven, war sie ihr gleich sympathisch. Die Zwillinge überquerten die Straße und rannten den Feldweg zum Hof hinauf, der Bus fuhr an, und sie blieben leicht verlegen zu dritt vor der Hecke stehen.
«Das ist Miss Marsh», sagte James. «Sie arbeitet bei uns in der Schule.»
Die junge Frau hatte eine große Korbtasche mit Lederriemen über die Schulter gehängt. Als sie Felicity eine sonnengebräunte Hand mit langen, schmalen Fingern hinstreckte, rutschte ihr die Tasche von der Schulter, und Felicity sah, dass einige Ordner und ein Bibliotheksbuch darin waren.
«Sagen Sie bitte Lily zu mir.» Sie hatte eine helle Stimme. «Ich bin noch an der Uni und mache gerade mein letztes Schulpraktikum.»
Sie lächelte freundlich. Offenbar ging sie davon aus, dass Felicity sie erwartet hatte. «Ich habe ihr gesagt, sie kann bei uns im Gartenhaus wohnen», verkündete James und trabte dann, von allen Lasten befreit, die Straße hinauf, ohne sich darum zu kümmern, welche der beiden Frauen seine Sachen trug.
Felicity wusste nicht, was sie sagen sollte. «Er hat Ihnen doch hoffentlich erzählt, dass ich eine Unterkunft suche?», fragte Lily. Felicity schüttelte den Kopf. «Ach herrje, das ist mir jetzt aber peinlich.»
Doch Lily wirkte keineswegs peinlich berührt, sondern im Gegenteil bemerkenswert selbstsicher. Sie schien die Sache eher amüsant zu finden.
«Ohne Auto ist es ein Albtraum, jeden Tag von Newcastle anzureisen, deshalb hat die Direktorin vor ein paar Tagen bei der Morgenversammlung gefragt, ob jemand eine preiswerte Unterkunft für mich weiß. Wir dachten an eine Pension oder ein Zimmer zur Untermiete. Und gestern hat James mir erzählt, dass Sie Ihr Gartenhaus vermieten. Ich hatte vorhin noch versucht anzurufen, habe Sie aber nicht erreicht. James meinte, Sie seien wohl im Garten, ich solle doch einfach mitkommen. Und da ich annahm, dass er bereits mit Ihnen gesprochen hat ... Ich konnte sein Angebot nicht ablehnen ...»
«Das kann ich mir vorstellen», gab Felicity ihr recht. «Er ist ausgesprochen hartnäckig.»
«Aber wissen Sie, das ist wirklich nicht weiter schlimm. Es ist so ein schöner Nachmittag. Ich laufe einfach ins nächste Dorf, von dort geht um sechs ein Bus zurück in die Stadt.»
«Trinken Sie doch wenigstens noch einen Tee mit uns», sagte Felicity. «Ich muss mir das erst mal kurz durch den Kopf gehen lassen.»
Sie hatten das Gartenhaus schon gelegentlich vermietet, ein richtiger Erfolg war das aber nie gewesen. Anfangs waren sie noch ganz froh über die zusätzliche Einnahmequelle. Obwohl sie Peters Erbe hatten, war die Hypothek doch eine große Belastung. Später dann, mit drei Kleinkindern, war ihnen die Möglichkeit willkommen, ein Kinder- oder Au-pair-Mädchen dort unterzubringen. Doch die Mädchen beschwerten sich wegen der Kälte, der tropfenden Wasserhähne und der wenig modernen Ausstattung. Und auch Peter und Felicity hatten sich nie ganz wohl damit gefühlt, fremde Leute in so unmittelbarer Nähe zu haben. Die Verantwortung für die Mieterinnen war zusätzlicher Stress. Und obwohl ihnen keine je übermäßig zur Last gefallen war, waren sie doch immer erleichtert, wenn wieder jemand auszog.
«Nie wieder», hatte Peter mit Nachdruck erklärt, als die letzte Bewohnerin, eine heimwehkranke junge Schwedin, wieder fort war. Felicity konnte also nicht recht sagen, wie er es finden würde, eine weitere junge Frau auf dem Grundstück zu haben, selbst wenn es nur für die vier verbleibenden Wochen bis zu den Sommerferien sein würde. Doch als sie sich an den Küchentisch setzten und ein frischer Wind vom Meer die Musselinvorhänge vor dem offenen Fenster blähte, dachte sich Felicity Calvert, dass
sie der jungen Frau das Gartenhaus trotzdem vermieten würde, falls es ihr gefiel. Peter würde sich schon damit arrangieren, vor allem, wo es nur für so kurze Zeit war.
James saß zwischen ihnen am Tisch, mit Schere, Klebstoff und diversen Papierschnipseln bewaffnet. Er trank Orangensaft und bastelte an einer Geburtstagskarte für seinen Vater, eine aufwendige Angelegenheit, für die er verschiedene Fotos von Peter aus alten Alben als Collage um eine große, aus Geschenkband und Glitzerfarbe gefertigte 60 anordnete. Lily bewunderte das Kunstwerk und stellte interessierte Fragen, und Felicity spürte, wie sehr sich James über die Zuwendung freute.
Sie war der jungen Frau ausgesprochen dankbar dafür.
«Wenn Sie eine Wohnung in Newcastle haben», sagte sie, «werden Sie an den Wochenenden ja sicher gar nicht hier sein.» Ein weiteres Argument für Peter. Sie ist doch nur unter der Woche hier. Und du arbeitest ohnehin so viel, wahrscheinlich merkst du gar nicht, dass sie da ist. Das Gartenhaus stand am anderen Ende der großen Wiese mit den wilden Blumen.
Dieses Feld war neben dem Garten das einzige Land, das sie besaßen. Vom Haus aus wirkte der kleine Bau dahinter schmal und niedrig; man konnte sich nur schwer vorstellen, dass darin jemand wohnte. Über das Feld führte ein Trampelpfad, und Felicity sah, dass jemand dort gewesen war, seit das Gras wieder wuchs. Vermutlich James. Wenn er Freunde zum Spielen dahatte, nutzten sie das Gartenhaus manchmal als Spielhöhle. Allerdings war es normalerweise abgeschlossen, und Felicity konnte sich nicht erinnern, dass James in letzter Zeit nach dem Schlüssel gefragt hätte.
«Gartenhaus klingt viel großartiger, als es ist», sagte sie zu Lily. «Es hat nur zwei Zimmer, eins oben und eins unten, und hinten ein angebautes Bad.
Bevor wir einzogen, wohnte der Gärtner dort, davor diente es wohl als Schweinestall oder hatte sonst etwas mit dem Hofbetrieb zu tun.» Die Tür war mit einem Vorhängeschloss verriegelt. Felicity öffnete es, zögerte dann aber, weil sie sich mit einem Mal unbehaglich fühlte. Sie hätte sich im Haus vorher noch einmal umsehen sollen, bevor sie eine Fremde hereinließ.
Wahrscheinlich hätte sie Lily besser gebeten, in der Küche zu warten, während sie nachschaute, wie es dort aussah. Doch obwohl sie gleich die Feuchtigkeit roch, machte das Haus insgesamt doch einen einigermaßen ordentlichen Eindruck. Im Kamin lag keine alte Asche mehr, obwohl Felicity sich nicht erinnern konnte, ihn gesäubert zu haben, seit ihre Jüngste an Weihnachten mit ihrem Mann hier gewesen war.
Die Töpfe hingen alle an ihrem Platz an der Wand, die Wachstuchdecke auf dem Tisch wirkte frisch gewischt, und bei der Hitze draußen auf der Wiese war es drinnen angenehm kühl. Felicity öffnete das Fenster.
«Drüben auf dem Hof sind sie gerade beim Mähen», sagte sie. «Man riecht es bis hierher.»
Lily stand mitten im Zimmer und sagte nichts. Felicity, die irgendwie erwartet hatte, die junge Frau würde sich auf Anhieb in das Häuschen verlieben, fühlte sich gekränkt.
Es kam ihr vor, als hätte die andere ein Freundschaftsangebot ausgeschlagen. Sie zeigte ihr das kleine Bad, wies darauf hin, dass die Dusche eben erst eingebaut und die Fliesen kürzlich erneuert worden waren, und kam sich dabei vor wie eine Maklerin, die verzweifelt versucht, ihr Objekt an den Mann zu bringen.
Warum führe ich mich eigentlich so auf?, fragte sie sich. Eben war ich doch noch nicht einmal sicher, ob ich sie überhaupt hierhaben will.
Schließlich fragte Lily: «Können wir nach oben schauen?» Damit stieg sie auch schon die enge Holztreppe hinauf, die direkt aus der Küche nach oben führte. Felicity verspürte wieder ein gewisses Unbehagen sie wäre lieber als Erste oben gewesen.
Doch auch hier wirkte alles viel ordentlicher, als sie erwartet hatte. Das Bett war noch gemacht, das Federbett und die zusätzlichen Wolldecken lagen sorgfältig gefaltet am Fußende. Auf dem bemalten Bauernschrank und der Kommode mit den Familienfotos lag natürlich Staub, doch von dem üblichen Schlachtfeld aus vergessenem Kleinkram, das ihre Tochter sonst immer zurückließ, war nichts zu sehen. Auf der breiten Fensterbank stand eine Vase mit weißen Rosen.
Felicity hob gedankenverloren ein abgefallenes Blütenblatt auf. Natürlich, dachte sie. Bestimmt war Mary hier, obwohl ich sie nicht ausdrücklich darum gebeten habe. Wie reizend von ihr! Sie ist immer so unaufdringlich hilfsbereit! Mary Barnes kam zweimal die Woche zum Putzen ins Haus.
Erst als sie das Vorhängeschloss schon wieder an der Haustür befestigt hatte, fiel ihr auf, dass die Rosen kaum länger als zwei, drei Tage dort stehen konnten und die eher phantasielose Mary ganz sicher nicht von sich aus auf eine solche Idee gekommen wäre. Sie blieben einen Moment vor dem Gartenhaus stehen.
«Und?», fragte Felicity. «Wie gefällt es Ihnen?» Sie hörte selbst die gezwungene Fröhlichkeit in ihrer Stimme. Lily lächelte.
«Es ist wunderhübsch», sagte sie. «Ganz ehrlich. Aber ich muss mir das doch noch einmal ganz genau durch den Kopf gehen lassen. Kann ich Sie nächste Woche anrufen?»
Eigentlich hatte Felicity ihr noch anbieten wollen, sie zumindest bis zur Bushaltestelle im Dorf zu fahren, doch nun drehte Lily sich einfach um und ging über die Wiese davon. Felicity brachte es nicht über sich, ihr hinterherzurufen oder gar nachzulaufen, und so blieb sie einfach stehen und sah ihr nach, bis die rot-goldene Gestalt zwischen dem hohen Gras verschwunden war.
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Sie ließ die Tasche fallen, rannte die Treppe hoch zum Bad und fiel dabei fast über die eigenen Füße. Bloß nicht auf den neuen Teppichboden kotzen. Die Tür zum Badezimmer war zu, Julie sah, dass drinnen Licht brannte. Aus dem Trockenschrank hörte sie das leise Gurgeln, mit dem sich der Heißwasserspeicher wieder füllte. Das war ja mal wieder typisch. Morgens musste sie Luke oft ewig zureden, zumindest unter die Dusche zu gehen, und jetzt badete er plötzlich mitten in der Nacht.
Julie klopfte an die Badezimmertür, hatte es aber nicht mehr eilig. Die Übelkeit war schon wieder verflogen. Luke gab keine Antwort. Wahrscheinlich wieder eine seiner Launen. Julie wusste, dass er nichts dafür konnte und dass sie eigentlich Geduld mit ihm haben sollte, aber manchmal wäre sie ihm doch am liebsten an die Gurgel gegangen, wenn er so komisch wurde.
Sie überquerte den Flur und schaute in Lauras Zimmer. Der Anblick ihrer schlafenden Tochter machte sie plötzlich ganz sentimental. Sie musste sich mehr Mühe mit ihr geben, mehr Zeit mit ihr verbringen. Vierzehn war ein schwieriges Alter für ein junges Mädchen, und Julie war in letzter Zeit immer so mit Luke beschäftigt gewesen, dass Laura ihr fast fremd geworden war.
Sie wurde erwachsen, ohne dass Julie etwas davon mitbekam. Jetzt lag sie auf dem Rücken, das stachlige Haar rabenschwarz vor dem Kissen, und schnarchte leise mit offenem Mund. Um diese Jahreszeit war ihr Heuschnupfen immer besonders schlimm. Julie sah, dass das Fenster offen stand, und schloss es trotz der Hitze, um die Pollen draußen zu halten. Mondlicht fiel auf das frisch gemähte Feld hinter dem Haus.
Sie ging zurück zur Badezimmertür und schlug mit der flachen Hand dagegen.
«He, willst du etwa die ganze Nacht da drinbleiben?» Beim dritten Schlag gab die Tür nach. Sie war gar nicht abgeschlossen gewesen. Drinnen hing der schwere, süßliche Duft eines Badeöls, das Julie noch nie benutzt hatte. Auf dem Klodeckel lagen Lukes Kleider, ordentlich gefaltet. Er war immer wunderschön gewesen, schon als Baby. Viel hübscher als Laura, was im Grunde ziemlich ungerecht war. Es lag an den blonden Haaren, den dunklen Augen, den langen, schwarzen Wimpern.
Julie starrte ihn an, wie er da lag, ganz im Badewasser versunken, sein Haar, das sich wie Seegras knapp unter der Oberfläche wiegte. Den Körper sah sie kaum wegen der vielen Blumen, die auf dem duftenden Wasser trieben. Nur die Blüten, ohne Stiele und ohne Blätter. Julie sah die großen Margeriten, die immer auf den Kornfeldern blühten, als sie noch klein war. Sie sah verblühende Mohnblumen, deren rote Blütenblätter fast durchsichtig wirkten, und große, blaue Blüten, die sie schon oft in den Gärten im Dorf gesehen hatte, aber deren Namen sie nicht kannte.
Sie musste wohl geschrien haben. Der Laut klang ihr fremd in den Ohren, als käme er von jemand anderem. Doch Laura schlief immer noch, Julie musste sie richtig wach schütteln. Schließlich schlug ihre Tochter die Augen auf, sah Julie groß an.
Sie wirkte verängstigt, und Julie murmelte ganz automatisch, obwohl sie wusste, dass es gelogen war: «Schon gut, Schätzchen. Es ist ja alles gut. Aber du musst jetzt aufstehen.»
Laura stieg aus dem Bett. Sie zitterte am ganzen Körper und schien noch gar nicht richtig wach zu sein. Julie legte den Arm um sie und drückte sie fest an sich, und so stolperten sie gemeinsam die Treppe hinunter. So standen sie auch kurz darauf eng umschlungen vor der Tür des Nachbarhauses, und ihr Schatten, den die Straßenlaternen an die Hauswand warfen, erinnerte Julie an zwei Leute bei einem dieser blödsinnigen Dreibeinrennen.
Zwei betrunkene Studenten auf Kneipentour. Sie klingelte Sturm, bis oben das Licht anging, Schritte die Treppe herunterkamen und sie endlich jemandem von diesem Albtraum erzählen konnte.
Kapitel Zwei
Felicity Calvert war irritiert, weil sie nur noch Sex im Kopf hatte. Irgendwann hatte sie im Wartezimmer beim Arzt in einer Zeitschrift gelesen, dass halbwüchsige Jungen angeblich alle sechs Minuten an Sex dachten. Das fand sie damals schwer vorstellbar. Wie konnten diese jungen Männer überhaupt noch ein normales Leben führen, im Unterricht aufpassen, ins Kino gehen, Fußball spielen, wenn sie ständig so abgelenkt waren? Und was war mit ihrem eigenen Sohn?
Undenkbar, dass James, der da auf dem Fußboden hockte und mit seinen Legosteinen spielte, in ein paar Jahren auch so besessen von dem Thema sein sollte. Inzwischen allerdings hielt sie einen Abstand von sechs Minuten zwischen einem erotischen Tagtraum und dem nächsten für eine recht großzügige Schätzung. Zumindest, was sie betraf. Seit einiger Zeit war sie sich bei allem, was sie tat, ihres Körpers und seiner Reaktionen bewusst, und dieses intensivere Empfinden war ihr im Alltag mal lästig, mal eine willkommene Abwechslung. Aber das gehörte sich doch nicht mehr in ihrem Alter. Es war, als würde man in Rot auf einer Beerdigung erscheinen.
Sie war im Garten, um die ersten Erdbeeren zu pflücken. Vorsichtig hob sie das Netz ein wenig an und schob die Hand zwischen Maschen und Strohunterlage. Die Früchte waren noch klein, aber es waren immerhin genug für James zum Abendessen. Felicity steckte eine in den Mund. Sie war noch warm von der Sonne und zuckersüß.
Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es schon fast Zeit für den Schulbus war. In spätestens zehn Minuten musste sie sich die Hände waschen und zur Landstraße hinuntergehen, um ihren Sohn abzuholen. Sie machte das längst nicht mehr jeden Tag. Er fand, dass er schon groß genug war, um alleine nach Hause zu kommen, und damit hatte er natürlich recht.
Doch heute hatte er seine Geige dabei und würde sich sicher freuen, wenn sie kam und ihm beim Tragen half. Einen Moment lang dachte sie darüber nach, ob der Bus heute wohl von dem älteren Mann gefahren würde oder von dem jüngeren mit den durchtrainierten Oberarmen und den ärmellosen Shirts.
Dann schaute sie erneut auf die Uhr. Nur zwei Minuten seit dem letzten Gedanken an Sex. Wieder dachte sie sich, wie lächerlich das in ihrem Alter war. Felicity war siebenundvierzig. Sie hatte einen Ehemann und vier Kinder. Sie hatte sogar schon ein Enkelkind. Und Peter, ihr Mann, wurde in ein paar Tagen sechzig. Die Lust kam immer dann, wenn sie es gerade am wenigsten erwartete. Sie hatte Peter nichts davon erzählt. Wozu auch? Er war ja schließlich nicht das Objekt ihrer Begierde. Inzwischen schliefen sie nur noch selten miteinander. Sie richtete sich auf und ging über den Rasen zur Küche. Fox Mill, ihr Haus, stand auf dem Grundstück einer ehemaligen Wassermühle. Das große Haus war in den dreißiger Jahren erbaut worden, als küstennahes Feriendomizil eines Großstädters, der ein Boot besaß. Mit den glatten, gewölbten Wänden, neben denen der Mühlbach entlangrauschte, sah es selbst ein wenig aus wie ein Boot, ein großes Art-déco-Boot, das an diesem völlig abwegigen Ort inmitten ebenen Ackerlands gestrandet war, den Bug zur Nordsee ausgerichtet, das Heck zu den Hügelketten Northumberlands am Horizont.
Auf einer Seite erstreckte sich wie ein Bootsdeck die große Terrasse, die hier, wo es fast nie warm genug zum Draußensitzen wurde, allerdings fast überflüssig war. Felicity liebte das Haus. Von Peters Professorengehalt hätten sie es sich niemals leisten können, doch kurz nachdem Felicity und er geheiratet hatten, waren seine Eltern gestorben, und er hatte ihr ganzes Vermögen geerbt.
Felicity stellte das Körbchen mit den Erdbeeren auf den Küchentisch, dann warf sie einen Blick in den Garderobenspiegel, fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und trug etwas Lippenstift auf. Sie war zwar älter als die Mütter von James' Freunden, aber er sollte sich auf keinen Fall für sie schämen müssen.
An der Straße blühte der Holunder, sein Duft machte Felicity ganz benommen, sie spürte ihn hinten am Gaumen. Auf den Feldern zu beiden Seiten reifte das Korn heran. Die Ähren standen hier so dicht, dass keine Blumen mehr dazwischenpassten, doch auf ihrem eigenen Feld nahe dem Haus wuchsen Butterblumen, Klee und lila Wicken. Weiter vorn flimmerte der löchrige Asphalt in der Hitze. Die Sonne schien seit drei Tagen ununterbrochen. Felicity überlegte, was sie an Peters Geburtstag am Wochenende unternehmen könnten.
Freitagabend würden die Jungs zum Essen kommen, die Felicity für sich immer so nannte, obwohl zumindest Samuel in ihrem Alter war. Aber wenn das Wetter hielt, konnten sie am Samstag ein Picknick am Strand machen und einen Ausflug auf die Farne-Inseln, um dort die Papageitaucher und die Trottellummen zu beobachten. Das würde James sicher großen Spaß machen.
Felicity blinzelte zum Himmel hinauf, um zu sehen, ob sie womöglich eine nahende Kaltfront spüren, eine noch so kleine Wolke am Horizont ausmachen würde. Aber nein: nichts.
Vielleicht, dachte sie, war es sogar warm genug zum Baden; sie stellte sich die sanften Wellen an ihrem Körper vor. Als sie das Ende der Straße erreicht hatte, war vom Schulbus noch nichts zu sehen. Felicity schwang sich auf das hölzerne Podest, wo früher die Milchkannen vom Hof auf den Milchwagen warteten. Das Holz war warm und roch nach Harz.
Sie stützte sich auf die Ellbogen und hielt das Gesicht in die Sonne. In zwei Jahren würde James die Schule wechseln. Davor fürchtete sie sich schon jetzt. Peter wollte ihn auf eine Privatschule in der Stadt schicken, dieselbe Schule, die auch er besucht hatte. Felicity sah die Schüler in ihren gestreiften Blazern häufig in der Metro. Sie fand sie laut und ein bisschen zu selbstbewusst.
«Aber wie soll er denn da hinkommen?», hatte sie eingewandt, doch ihr eigentlicher Vorbehalt war ein anderer.
Sie war überzeugt, dass James auf zu viel Druck nicht gut reagieren würde. Er war ein bedächtiges, verträumtes Kind. Man musste ihn in seinem eigenen Tempo arbeiten lassen. Die Gesamtschule im nächsten Dorf war sicher viel besser für ihn. Selbst das Gymnasium in Morpeth, das ihre anderen Kinder besucht hatten, würde ihn sehr fordern.
«Ich bringe ihn hin und hole ihn auch wieder ab», hatte Peter erwidert. «Es werden zahlreiche Aktivitäten nach dem Unterricht angeboten, da wird er sich schon beschäftigen können, bis ich aus dem Büro komme.»
Das gefiel Felicity nun überhaupt nicht. Ihr war die Zeit sehr kostbar, die sie mit James verbrachte, wenn er aus der Schule nach Hause kam. Diese Stunden, davon war sie überzeugt, waren sehr wichtig, um ihn zu verstehen. Sie hörte, wie der Bus den Hang hinaufschnaufte, richtete sich auf und blinzelte in die Sonne, dem näher kommenden Fahrzeug entgegen.
Am Steuer saß Stan, der alte Busfahrer. Felicity winkte ihm zu, um ihre Enttäuschung zu verbergen. Normalerweise stiegen an dieser Haltestelle nur drei Kinder aus: die beiden Zwillingsmädchen vom Bauernhof und James. Doch heute kletterte noch vor ihnen eine Fremde aus dem Bus, eine junge Frau in Riemchensandalen und einem rot- und goldgemusterten ärmellosen Kleid mit enganliegendem Oberteil und einem weiten, schwingenden Rock.
Felicity fand das Kleid wunderschön, den Schnitt und diese leuchtenden Farben die Jugend von heute schien sonst selbst im Sommer nur Grau oder Schwarz zu tragen. Und als sie sah, wie die junge Frau James half, seinen Ranzen und die Geige aus dem Bus zu hieven, war sie ihr gleich sympathisch. Die Zwillinge überquerten die Straße und rannten den Feldweg zum Hof hinauf, der Bus fuhr an, und sie blieben leicht verlegen zu dritt vor der Hecke stehen.
«Das ist Miss Marsh», sagte James. «Sie arbeitet bei uns in der Schule.»
Die junge Frau hatte eine große Korbtasche mit Lederriemen über die Schulter gehängt. Als sie Felicity eine sonnengebräunte Hand mit langen, schmalen Fingern hinstreckte, rutschte ihr die Tasche von der Schulter, und Felicity sah, dass einige Ordner und ein Bibliotheksbuch darin waren.
«Sagen Sie bitte Lily zu mir.» Sie hatte eine helle Stimme. «Ich bin noch an der Uni und mache gerade mein letztes Schulpraktikum.»
Sie lächelte freundlich. Offenbar ging sie davon aus, dass Felicity sie erwartet hatte. «Ich habe ihr gesagt, sie kann bei uns im Gartenhaus wohnen», verkündete James und trabte dann, von allen Lasten befreit, die Straße hinauf, ohne sich darum zu kümmern, welche der beiden Frauen seine Sachen trug.
Felicity wusste nicht, was sie sagen sollte. «Er hat Ihnen doch hoffentlich erzählt, dass ich eine Unterkunft suche?», fragte Lily. Felicity schüttelte den Kopf. «Ach herrje, das ist mir jetzt aber peinlich.»
Doch Lily wirkte keineswegs peinlich berührt, sondern im Gegenteil bemerkenswert selbstsicher. Sie schien die Sache eher amüsant zu finden.
«Ohne Auto ist es ein Albtraum, jeden Tag von Newcastle anzureisen, deshalb hat die Direktorin vor ein paar Tagen bei der Morgenversammlung gefragt, ob jemand eine preiswerte Unterkunft für mich weiß. Wir dachten an eine Pension oder ein Zimmer zur Untermiete. Und gestern hat James mir erzählt, dass Sie Ihr Gartenhaus vermieten. Ich hatte vorhin noch versucht anzurufen, habe Sie aber nicht erreicht. James meinte, Sie seien wohl im Garten, ich solle doch einfach mitkommen. Und da ich annahm, dass er bereits mit Ihnen gesprochen hat ... Ich konnte sein Angebot nicht ablehnen ...»
«Das kann ich mir vorstellen», gab Felicity ihr recht. «Er ist ausgesprochen hartnäckig.»
«Aber wissen Sie, das ist wirklich nicht weiter schlimm. Es ist so ein schöner Nachmittag. Ich laufe einfach ins nächste Dorf, von dort geht um sechs ein Bus zurück in die Stadt.»
«Trinken Sie doch wenigstens noch einen Tee mit uns», sagte Felicity. «Ich muss mir das erst mal kurz durch den Kopf gehen lassen.»
Sie hatten das Gartenhaus schon gelegentlich vermietet, ein richtiger Erfolg war das aber nie gewesen. Anfangs waren sie noch ganz froh über die zusätzliche Einnahmequelle. Obwohl sie Peters Erbe hatten, war die Hypothek doch eine große Belastung. Später dann, mit drei Kleinkindern, war ihnen die Möglichkeit willkommen, ein Kinder- oder Au-pair-Mädchen dort unterzubringen. Doch die Mädchen beschwerten sich wegen der Kälte, der tropfenden Wasserhähne und der wenig modernen Ausstattung. Und auch Peter und Felicity hatten sich nie ganz wohl damit gefühlt, fremde Leute in so unmittelbarer Nähe zu haben. Die Verantwortung für die Mieterinnen war zusätzlicher Stress. Und obwohl ihnen keine je übermäßig zur Last gefallen war, waren sie doch immer erleichtert, wenn wieder jemand auszog.
«Nie wieder», hatte Peter mit Nachdruck erklärt, als die letzte Bewohnerin, eine heimwehkranke junge Schwedin, wieder fort war. Felicity konnte also nicht recht sagen, wie er es finden würde, eine weitere junge Frau auf dem Grundstück zu haben, selbst wenn es nur für die vier verbleibenden Wochen bis zu den Sommerferien sein würde. Doch als sie sich an den Küchentisch setzten und ein frischer Wind vom Meer die Musselinvorhänge vor dem offenen Fenster blähte, dachte sich Felicity Calvert, dass
sie der jungen Frau das Gartenhaus trotzdem vermieten würde, falls es ihr gefiel. Peter würde sich schon damit arrangieren, vor allem, wo es nur für so kurze Zeit war.
James saß zwischen ihnen am Tisch, mit Schere, Klebstoff und diversen Papierschnipseln bewaffnet. Er trank Orangensaft und bastelte an einer Geburtstagskarte für seinen Vater, eine aufwendige Angelegenheit, für die er verschiedene Fotos von Peter aus alten Alben als Collage um eine große, aus Geschenkband und Glitzerfarbe gefertigte 60 anordnete. Lily bewunderte das Kunstwerk und stellte interessierte Fragen, und Felicity spürte, wie sehr sich James über die Zuwendung freute.
Sie war der jungen Frau ausgesprochen dankbar dafür.
«Wenn Sie eine Wohnung in Newcastle haben», sagte sie, «werden Sie an den Wochenenden ja sicher gar nicht hier sein.» Ein weiteres Argument für Peter. Sie ist doch nur unter der Woche hier. Und du arbeitest ohnehin so viel, wahrscheinlich merkst du gar nicht, dass sie da ist. Das Gartenhaus stand am anderen Ende der großen Wiese mit den wilden Blumen.
Dieses Feld war neben dem Garten das einzige Land, das sie besaßen. Vom Haus aus wirkte der kleine Bau dahinter schmal und niedrig; man konnte sich nur schwer vorstellen, dass darin jemand wohnte. Über das Feld führte ein Trampelpfad, und Felicity sah, dass jemand dort gewesen war, seit das Gras wieder wuchs. Vermutlich James. Wenn er Freunde zum Spielen dahatte, nutzten sie das Gartenhaus manchmal als Spielhöhle. Allerdings war es normalerweise abgeschlossen, und Felicity konnte sich nicht erinnern, dass James in letzter Zeit nach dem Schlüssel gefragt hätte.
«Gartenhaus klingt viel großartiger, als es ist», sagte sie zu Lily. «Es hat nur zwei Zimmer, eins oben und eins unten, und hinten ein angebautes Bad.
Bevor wir einzogen, wohnte der Gärtner dort, davor diente es wohl als Schweinestall oder hatte sonst etwas mit dem Hofbetrieb zu tun.» Die Tür war mit einem Vorhängeschloss verriegelt. Felicity öffnete es, zögerte dann aber, weil sie sich mit einem Mal unbehaglich fühlte. Sie hätte sich im Haus vorher noch einmal umsehen sollen, bevor sie eine Fremde hereinließ.
Wahrscheinlich hätte sie Lily besser gebeten, in der Küche zu warten, während sie nachschaute, wie es dort aussah. Doch obwohl sie gleich die Feuchtigkeit roch, machte das Haus insgesamt doch einen einigermaßen ordentlichen Eindruck. Im Kamin lag keine alte Asche mehr, obwohl Felicity sich nicht erinnern konnte, ihn gesäubert zu haben, seit ihre Jüngste an Weihnachten mit ihrem Mann hier gewesen war.
Die Töpfe hingen alle an ihrem Platz an der Wand, die Wachstuchdecke auf dem Tisch wirkte frisch gewischt, und bei der Hitze draußen auf der Wiese war es drinnen angenehm kühl. Felicity öffnete das Fenster.
«Drüben auf dem Hof sind sie gerade beim Mähen», sagte sie. «Man riecht es bis hierher.»
Lily stand mitten im Zimmer und sagte nichts. Felicity, die irgendwie erwartet hatte, die junge Frau würde sich auf Anhieb in das Häuschen verlieben, fühlte sich gekränkt.
Es kam ihr vor, als hätte die andere ein Freundschaftsangebot ausgeschlagen. Sie zeigte ihr das kleine Bad, wies darauf hin, dass die Dusche eben erst eingebaut und die Fliesen kürzlich erneuert worden waren, und kam sich dabei vor wie eine Maklerin, die verzweifelt versucht, ihr Objekt an den Mann zu bringen.
Warum führe ich mich eigentlich so auf?, fragte sie sich. Eben war ich doch noch nicht einmal sicher, ob ich sie überhaupt hierhaben will.
Schließlich fragte Lily: «Können wir nach oben schauen?» Damit stieg sie auch schon die enge Holztreppe hinauf, die direkt aus der Küche nach oben führte. Felicity verspürte wieder ein gewisses Unbehagen sie wäre lieber als Erste oben gewesen.
Doch auch hier wirkte alles viel ordentlicher, als sie erwartet hatte. Das Bett war noch gemacht, das Federbett und die zusätzlichen Wolldecken lagen sorgfältig gefaltet am Fußende. Auf dem bemalten Bauernschrank und der Kommode mit den Familienfotos lag natürlich Staub, doch von dem üblichen Schlachtfeld aus vergessenem Kleinkram, das ihre Tochter sonst immer zurückließ, war nichts zu sehen. Auf der breiten Fensterbank stand eine Vase mit weißen Rosen.
Felicity hob gedankenverloren ein abgefallenes Blütenblatt auf. Natürlich, dachte sie. Bestimmt war Mary hier, obwohl ich sie nicht ausdrücklich darum gebeten habe. Wie reizend von ihr! Sie ist immer so unaufdringlich hilfsbereit! Mary Barnes kam zweimal die Woche zum Putzen ins Haus.
Erst als sie das Vorhängeschloss schon wieder an der Haustür befestigt hatte, fiel ihr auf, dass die Rosen kaum länger als zwei, drei Tage dort stehen konnten und die eher phantasielose Mary ganz sicher nicht von sich aus auf eine solche Idee gekommen wäre. Sie blieben einen Moment vor dem Gartenhaus stehen.
«Und?», fragte Felicity. «Wie gefällt es Ihnen?» Sie hörte selbst die gezwungene Fröhlichkeit in ihrer Stimme. Lily lächelte.
«Es ist wunderhübsch», sagte sie. «Ganz ehrlich. Aber ich muss mir das doch noch einmal ganz genau durch den Kopf gehen lassen. Kann ich Sie nächste Woche anrufen?»
Eigentlich hatte Felicity ihr noch anbieten wollen, sie zumindest bis zur Bushaltestelle im Dorf zu fahren, doch nun drehte Lily sich einfach um und ging über die Wiese davon. Felicity brachte es nicht über sich, ihr hinterherzurufen oder gar nachzulaufen, und so blieb sie einfach stehen und sah ihr nach, bis die rot-goldene Gestalt zwischen dem hohen Gras verschwunden war.
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Autoren-Porträt von Ann Cleeves
Ann Cleeves lebt mit ihrer Familie in West Yorkshire und ist Mitglied des «Murder Squad», eines illustren Krimi-Zirkels. Für ihren Kriminalroman «Die Nacht der Raben» erhielt sie den «Duncan Lawrie Dagger Award», die weltweit wichtigste Auszeichnung der Kriminalliteratur. 2017 wurde sie für ihr exzellentes Lebenswerk mit dem «Diamond Dagger» ausgezeichnet. Sowohl die «Vera Stanhope»-Reihe, als auch Cleeves zweite Serie um das Shetland-Quartett, sind verfilmt worden.Tanja Handels, geboren 1971 in Aachen, lebt und arbeitet in München, übersetzt zeitgenössische britische und amerikanische Literatur, unter anderem von Zadie Smith, Bernardine Evaristo, Anna Quindlen und Charlotte McConaghy, und ist auch als Dozentin für Literarisches Übersetzen tätig. 2019 wurde sie mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis ausgezeichnet.
Bibliographische Angaben
- Autor: Ann Cleeves
- 2010, 7. Auflage, 399 Seiten, Maße: 11,3 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Handels, Tanja
- Herausgegeben: Elisabeth Raether
- Übersetzer: Tanja Handels
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499253151
- ISBN-13: 9783499253157
- Erscheinungsdatum: 01.02.2010
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