Totenfrau / Totenfrau-Trilogie Bd.1
Thriller - Das Buch zur Netflix-Serie
Blum ist Bestatterin, liebende Mutter zweier Kindern, hat ein großes, mitfühlendes Herz und bezaubert durch ihren schwarzen Humor und ihre Coolness. Blum ist leidenschaftliche Motorradfahrerin, sie trinkt gerne mal ein Gläschen und ist schon...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Totenfrau / Totenfrau-Trilogie Bd.1 “
Blum ist Bestatterin, liebende Mutter zweier Kindern, hat ein großes, mitfühlendes Herz und bezaubert durch ihren schwarzen Humor und ihre Coolness. Blum ist leidenschaftliche Motorradfahrerin, sie trinkt gerne mal ein Gläschen und ist schon lange glücklich verheiratet. Blums Leben ist gut. Doch plötzlich gerät durch den Unfalltod ihres Mannes, eines Polizisten, einfach alles aus den Fugen. Vor ihren Augen wird Mark auf offener Straße überfahren. Fahrerflucht. Ihr Leben bricht auseinander. Blum ist in tiefer Trauer, möchte sich aber nicht mit ihrem Schicksal abfinden. Das Wichtigste in ihrem Leben wurde ihr genommen. Warum musste Mark sterben? War es wirklich ein Unfall? Durch Zufall entdeckt sie, dass hinter all dem viel mehr steckt und dass fünf mächtige Personen seinen Tod wollten.
Blum will Rache. Sie macht sich auf die Suche nach Antworten und als sie diese gefunden hat, schlägt sie eiskalt und erbarmungslos zu. Doch wie kann aus einer liebevollen Frau und Mutter eine so kaltschnäuzige Mörderin werden? Die Antwort liegt viele Jahre in der Vergangenheit.
Ein Psychothriller der allerfeinsten Art, vollgepackt mit Hochspannung und nervenzerreibender Dramatik.
Blum will Rache. Sie macht sich auf die Suche nach Antworten und als sie diese gefunden hat, schlägt sie eiskalt und erbarmungslos zu. Doch wie kann aus einer liebevollen Frau und Mutter eine so kaltschnäuzige Mörderin werden? Die Antwort liegt viele Jahre in der Vergangenheit.
Ein Psychothriller der allerfeinsten Art, vollgepackt mit Hochspannung und nervenzerreibender Dramatik.
Klappentext zu „Totenfrau / Totenfrau-Trilogie Bd.1 “
Die Romanvorlage zur Netflix-SerieWarum musste ihr Mann sterben? War es wirklich ein Unfall mit Fahrerflucht, wie alle behaupten? Blum beginnt Fragen zu stellen - und als sie die Antworten gefunden hat, schlägt sie zu. Erbarmungslos. »Sie denken, Lisbeth Salander ist tough? Warten Sie, bis Sie die Totenfrau gelesen haben« francesca Cristoffanini, rizzoli, italien
Lese-Probe zu „Totenfrau / Totenfrau-Trilogie Bd.1 “
Bernhard Aicher - TotenfrauMan sieht alles von oben. Das Meer, das Segelboot, ihre Haut.
Eine nackte Frau an Deck, die Sonne scheint, alles ist gut. Sie
liegt einfach nur da, schaut nach oben, ihre Augen sind offen,
nur sie und der Himmel, die Wolken. Es ist der schönste
Platz auf der Welt, das Boot, das ihre Eltern vor zwanzig Jahren
gekauft haben, ein Prachtstück, eine Perle, die im Hafen
von Triest ihre Heimat hat. Segeln, Leben auf dem Wasser,
unter freiem Himmel, dort, wo sonst keiner ist. Nur Wasser
weit und breit, Musik in ihren Ohren, und der Schweiß, der
sich in ihrem Bauchnabel sammelt. Sonst nichts.
Von Triest zu den Kornaten, seit drei Tagen sind sie unterwegs,
sie haben keine Eile, es gibt nichts zu tun. Urlaub mit
ihren Eltern, so viele Jahre schon. Bald siebzig sind sie, wettergegerbt,
leidenschaftliche Segler beide. Immer schon sind
sie auf Booten unterwegs. Schon seit sie ein Kind war. In Badehose
und Bikini, niemals nackt.
Vor zwei Stunden hat sie sich ausgezogen, sie hat sich hingelegt,
ohne sich einzucremen. Sie will, dass die Sonne sie
verbrennt, dass ihre Haut schreit, wenn sie gefunden wird.
Nackt will sie sein. Endlich nackt. Niemand mehr, der es ihr
verbietet. Kein Vater. Keine Mutter. Allein auf dem Boot, ihre
Brüste, die Hüften, die Beine, die Arme. Dieses Lächeln auf
ihren Lippen und wie sie sich leicht zur Musik bewegt. Nirgendwo
sonst möchte sie jetzt sein. Noch drei Stunden wird
sie liegen bleiben, sich strecken, sich räkeln, den Sommer in
sich aufsaugen. Drei Stunden lang, oder vier. Bis die beiden
endlich untergehen. Bis sie aufhören zu schreien. Bis sie aufhören,
Wasser nach oben zu spritzen. Bis sie endlich still sind.
Für immer.
Es ist Mittag vor Dugi Otok. Sie rührt sich nicht. Sie ist eingeschlafen,
wird sie sagen, sie hat nichts gehört, die Musik
war zu laut, die Sonne hat sie
... mehr
müde gemacht. Sie wird auf alle
Fragen eingehen, sie wird ihnen Rede und Antwort stehen,
und sie wird weinen. Sie wird alles tun, was notwendig ist,
alles. Später, nicht jetzt. Jetzt ist da nur der Himmel über ihr,
sie malt ihn an mit ihren Fingern, sie zieht Kreise, schreibt in
das Blau. Sie malt sich ihre Zukunft aus, sie stellt es sich vor,
ihr neues Leben allein. Das Institut, das jetzt ihr gehört. Sie
wird alles umstellen, modernisieren, sie wird das Unternehmen
wieder auf Erfolgskurs bringen. Sie wird alles steuern.
Sie selbst, nicht Hagen. Sie wird das Boot zurück nach Triest
bringen und neu anfangen.
Überall ist Schweiß. Wie sie es genießt, nackt zu sein. Eine
erwachsene Frau, die sich von ihren Eltern nicht mehr sagen
lässt, was sie tun und was sie lassen soll. Du wirst dich nicht
ausziehen, Brünhilde. Nicht auf unserem Boot. Solange wir leben,
gelten unsere Regeln, Brünhilde. Jetzt nicht mehr. Es gibt
keine Regeln mehr, nur noch sie selbst entscheidet, sie allein.
Keine Befehle mehr, keine Verbote. Sie hat sich ausgezogen,
sie liegt an Deck und streckt ihren Körper in den Wind. Alles,
was sie ist, weht wie eine Fahne, sie blüht auf in der Sonne,
sie ist glücklich. Mit jeder Minute, in der sie allein ist, mehr.
Brünhilde Blum. Vierundzwanzig Jahre alt. Tochter von Hagen
und Herta Blum. Adoptiert. Sie haben sie aus dem Kinderheim
geholt, als sie drei Jahre alt war, sie haben sie aufgezogen
wie ein Haustier, sie wurde herangezüchtet zur
Nachfolgerin, sie war Hagens letzte Hoffnung, der Familienbetrieb
sollte weiterbestehen. Um jeden Preis. Auch wenn es
nur ein Mädchen war, das sie adoptieren konnten. Ein Mädchen
oder gar kein Kind, hieß es. Die Wartelisten waren lang
und Hagens Verzweiflung groß. So groß, dass er sich hinreißen
ließ, dass er es sich nach langem Überlegen vorstellen
konnte, seinen Betrieb in die Hände einer Frau zu legen,
irgendwann. Sie sollte weiterführen, was ihm heilig war, sie
sollte erhalten, was er geschaffen hatte, sie sollte für Hagen
zum Mann werden. Sie tat alles, was er verlangte, alles, was
der Beruf notwendig machte. Das Bestattungsunternehmen
Blum war sein Ein und Alles, es war ihm wichtiger als alles
andere sonst.
Ein Traditionsbetrieb, ihr Gefängnis, ihr Kinderzimmer. Kurz
nach dem Krieg gegründet, zu einer Zeit, als das Sterben zum
Geschäft wurde. Was früher die Nachbarn erledigt hatten,
wurde 1949 von den Blums übernommen. Die Nachbarn, die
geholfen hatten, wenn jemand gestorben war, die sich um die
Leichenwäsche gekümmert hatten, um das Anziehen und
Aufbahren, die Bestatter lösten sie ab. Was lange Zeit selbstverständlich
war, wurde nunmehr zum Tabu. Tote zu berühren,
sich von ihnen zu verabschieden, bevor sie in den Kisten
verschwanden. Man war froh darüber, dass da nun jemand
war, der alles so schnell wie möglich vom Tisch wischte, der
den Leichnam abholte und unter die Erde brachte. Sauber
und sachlich.
Die Blums waren die Ersten in Innsbruck. Sie lebten gut von
den Toten. Zuerst Hagens Vater, dann Hagen, von nun an
Blum. Nur Blum, weil sie ihren Vornamen hasste, weil sie ihn
nie ertragen konnte, keinen Tag lang. Brünhilde, lass die Toten
in Ruhe. Brünhilde, hör auf, mit ihnen zu spielen. Brünhilde,
hör auf, deine Finger in ihre Nasen zu stecken. Brünhilde. Ein
Name, der nichts mit ihr zu tun hatte, den sie ihr gegeben
hatten, weil Hagen deutscher war als erlaubt, weil er Wagner
liebte, die Nibelungen, weil er wollte, dass seine Tochter in
seine Welt passte. Brünhilde. Ein Name, den sie verbannt hat
aus ihrem Leben. Nur mehr Blum. Nicht Brünhilde. Seit sie
sechzehn war, seit sie aufgehört hat, Hagens kleiner Soldat zu
sein, seit sie nicht mehr uneingeschränkt tat, was er verlangte,
nicht mehr gehorchte. Nur Blum. Sie bestand darauf. Egal, ob
er sie dafür bestrafte.
Blum. Sie schaut den Himmel an. Sie dreht die Musik lauter,
das Boot wiegt hin und her, weit und breit ist da niemand.
Keiner, der hilft, keiner, der ihre Schreie hört. Niemand außer
ihr. Nackt liegt sie da. Fast so wie die Toten im Versorgungsraum.
Auf dem Tisch, kalt, ohne Leben seit sie denken
kann. Sie half ihrem Vater, Freunde hatte sie nicht. Der Beruf
schreckte die anderen Kinder ab. Dass ihr Vater mit Toten zu
tun hatte und auch sie selbst, damit konnten sie nicht umgehen.
Blum wurde zum Freak, man machte sich lustig über sie,
man grenzte sie aus, spottete, verschwor sich gegen sie. Blum
litt. Immer, eine Kindheit lang, eine Jugend. Sie sehnte sich
nach einem Freund, einer Freundin, nach jemandem, mit
dem sie ihr Leben teilen konnte, mit dem sie reden und lachen
konnte. Aber da war niemand, sie blieb allein, sie hatte
nichts außer ihren Eltern. Lieblosen Eltern. Eine stumme
Mutter ohne Umarmungen und ein Vater, der sie zwang,
Dinge zu tun, die ein Kind nicht tun sollte.
Seit sie sieben war, hatte sie die Toten zu versorgen. Du darfst
keine Zeit verlieren, Brünhilde, der frühe Vogel fängt den
Wurm. Stell dich nicht so an, Brünhilde, sie werden dich schon
nicht beißen. Sei kein Mädchen, beiß die Zähne zusammen und
hör auf zu weinen. Wenn du jetzt nicht still bist und tust, was
ich dir sage, kommst du in den Sarg. Hast du das verstanden,
Brünhilde? Da war keine Zeit zu verlieren, sie sollte lernen,
damit umzugehen, er verlangte Unmögliches von ihr. Blum
wusch den Toten die Haare, sie rasierte sie, sie wusch Blut
von ihren Körpern und half beim Anziehen. Als sie zehn war,
nähte sie zum ersten Mal einen Mund zu. Wenn sie sich weigerte,
sperrte man sie in den Sarg. Unzählige Male, stundenlang
im Dunkel, ein kleines Kind, ängstlich, allein. Blum. Hagen
brach ihren Willen, jedes Mal von Neuem. Wie sie sich
hi neinlegen musste und er den Deckel verschraubte. Du lässt
mir keine andere Wahl, Brünhilde. Wann wirst du endlich aufhören,
dich zu wehren, ich habe keine andere Wahl, Brünhilde.
Und Deckel zu. Ein Kind in einer Holzkiste. Sie blieb, solange
sie konnte, so gerne wäre sie stärker gewesen, doch sie war
nur ein Kind. Wehrlos ertrug sie es, niemand half ihr, keiner
kümmerte sich um ihre Tränen, um ihr Flehen. Ich will das
nicht tun. Ich kann nicht. Bitte nicht. Kurz bevor sie die Nadel
durch das Kinn von unten in eine Mundhöhle stach. Der
Faden durch totes Fleisch. Sie hat alles getan, aber es war zu
wenig. Egal, wie sehr sie sich danach sehnte, nach Berührung,
nach Blicken, die ihr sagten, dass ihre Eltern stolz auf sie waren.
Blums Haut blieb allein. Ihr Sehnen blieb ungestillt, sie
war nie genug, egal wie sehr sie sich bemühte. Sie war immer
nur ein kleines Mädchen. Hilflos und ohnmächtig. Die kleine
Blum. Bitte lass mich raus, Papa. Bitte sperr mich nicht ein.
Nicht schon wieder in den Sarg, Papa. Bitte nicht.
Es war Strafe und Qual. Was später Alltag wurde, war am
Anfang die Hölle. Jeder Handgriff, jeder Blick, die kalte, tote
Haut, die sie berührte. Tausendmal wischte sie Augen und
Münder aus, reinigte Wunden, da waren Blut und Maden,
entstellte Leichen, abgetrennte Körperteile, da war keine
Kindheit, keine Torte mit Kerzen, waren keine Puppen, die
sie anzog und auszog. Da waren nur Tote. Große Puppen,
schwere Puppen, behaarte Arme und Beine, Köpfe so schwer,
dass sie sie kaum halten konnte, reglose Münder. Kein Lächeln,
kein schönes Wort, gar nichts. Nur ihr Vater, der sie
antrieb. Unzählige Leichname, Gesichter, Genitalien und
Kot, tote Menschen, die vor ihr herumlagen, um die sie sich
kümmern musste. Ein zehnjähriges Mädchen mit Plastikhandschuhen.
Und wie die Mutter sie zum Essen rief. So als
hätte Blum mit Freundinnen im Hof gespielt. Essen ist fertig.
Wascht euch die Hände, Papas Lieblingsgericht wartet. So als
wäre alles normal, als wäre alles richtig gewesen. Ein ordentlicher
Braten für den Vater, ein Unfallopfer für Blum. Hagen,
wie er die beladene Gabel in seinen Mund schob. Blum, wie
sie an kaputtes Fleisch dachte, an alte, wundgelegene Männer,
an Haut wie Papier, an den Urin und das Blut im Nebenraum,
das sie nach dem Essen wegwischen musste. Es schmeckt herrlich,
Herta, wie immer ein Gedicht. Und wie Blum den Teller
von sich schob.
Seit sie denken kann, waren da Tote. Sie kamen im Leichenwagen,
in Transportsärgen, sie kamen direkt aus ihren Betten,
in denen sie für immer eingeschlafen waren, sie kamen blutend,
verstümmelt, sie kamen mit Herzinfarkten, erstochen,
erschlagen, obduziert, sie kamen einfach in Blums Leben,
drangen ein in ihre kleine Welt. Niemand fragte sie, ob sie
das wollte. Ob sie das konnte. Sie lagen einfach da, tote Menschen
auf dem Aluminiumtisch. Angsteinflößend am Anfang,
irgendwann aber still und friedlich. Blum freundete sich
an mit ihrer Welt, sie begann zu akzeptieren, dass sie keine
Wahl hatte, dass sie nirgendwo sonst hinkonnte. Dass sie die
Lebenden fürchten musste, nicht die Toten. Es war eine Erkenntnis,
die guttat. Mit ihnen allein zu sein. Immer wenn
es ging, zog sie sich in den Versorgungsraum zurück. Die
Toten wurden irgendwann zu Freunden, sie sprach mit ihnen,
Blum war stärker als sie. Sie konnte entscheiden, was mit
ihnen passierte. Keiner konnte ihr wehtun, egal, wie schwer
und wie groß sie waren, sie bewegten sich nicht mehr. Atmeten
nicht, ihre Arme und Beine lagen einfach nur da. Wie
Puppen waren sie, große, kalte Puppen, mit denen sie spielte.
Sie vertraute sich ihnen an, sagte ihnen alles, immer. Sonst
schwieg sie, zu ihren Eltern kein Wort, sie wollte ihre Ruhe,
nichts wissen, sie tat einfach, was von ihr verlangt wurde, und
zog sich zurück. In ihre Welt. Bis gerade eben.
Blum. Wie die Sonne brennt. Wie gut es tut, dass sie endlich
still sind. Mit ihren Eltern auf dem Segelboot, seit sie denken
kann. Die jährlichen drei Wochen auf dem Wasser, das wiederkehrende
Blau. Es war immer wie eine Auszeit von der
Wirklichkeit, ein Traum. Einfach nur schön. Von Triest nach
Jugoslawien, nach Griechenland, in die Türkei, nach Spanien.
Wochenlang auf dem Boot, wochenlang war das Leben gut.
Darauf freute sie sich. Wenn der Anker nach oben ging und
der Wind in die Segel fuhr. Wenn Hagen ihr zeigte, was wichtig
war, wie man steuerte, wie man überlebte im Sturm. Blum
erinnert sich. An alles, was sie gelernt hat, was sie nicht gelernt
hat. Die Inseln, der Wind und die Eltern, die sich sogar
zu einem Lachen hinreißen ließen. Weil Urlaub war.
Ihre Gesichter, die sonst verschlossen waren, öffneten sich,
manchmal hatte Blum sogar das Gefühl, dass da Liebe war,
kurz nur, ein kleines Aufflackern. Zwanzig Jahre lang suchte
sie danach, wartete darauf, sehnte sich danach, ein ganz normales
Mädchen zu sein, eine junge Frau, die mehr kann, als
nur Leichen zu versorgen. Sie will endlich leben, endlich Entscheidungen
treffen.
Sie wird sich nicht rühren, egal, was passiert, nicht bewegen.
Da ist nur Blum, und die Sonne auf ihrer Haut. Sie ignoriert
die Schreie und das Klopfen.
Zwei schwimmende Körper, verzweifelt. Man sieht sie von
oben. Sie versuchen sich festzuhalten, ihre Nägel kratzen immer
noch an der Bordwand entlang. Das gute alte Boot, die
Leiter, die man nach oben klappen kann, die Leiter, die nicht
da ist, wenn man nach ihr schreit. Hagen hat darauf bestanden,
alles im Originalzustand zu belassen, keine Umbauten,
keine Vorkehrungen für den Ernstfall. Macht euch nicht ins
Hemd, nur Idioten vergessen die Leiter oben, sollte mir das je
passieren, dann könnt ihr mich absaufen lassen. Wie selbstherrlich
er war, wie kleinlaut und hilflos jetzt. Der große Hagen
und seine Herta. Kein Weg zurück mehr für die beiden,
sie waren einfach hineingesprungen, kopflos, zwei alte Menschen
ohne Liebe. Zwei Menschen mit schwachen Herzen,
atemlos, panisch. Sie schreien, sie schlucken Wasser. Seit zwei
Stunden schon. Sie wollen zurück ins Boot, die Bordwand
hinauf , sie versuchen alles, sie treten Wasser, sie schwimmen
neben dem Boot, sie weinen, sie schreien, sie prügeln mit
Fäusten auf das Holz ein, sie rufen ihren Namen. Brünhilde.
Immer wieder Brünhilde. Doch Brünhilde hört sie nicht.
Egal, wie laut sie schreien, wie stark ihre Finger bluten. Sie
wissen, dass sie sterben werden. Hagen und Herta. Sie wissen
es. Dass Blum sie hört, dass sie oben liegt und nichts tut. Nur
ihre Musik hört, während das Boot dahintreibt. Sie lächelt,
weil sie weiß, dass es bald zu Ende geht. Dass sie aufhören
werden zu schreien, dass endlich alles gut sein wird. Warm
alles, glücklich fast. Da sind nur sie und der Himmel. Sonst
nichts. Endlich leben.
Über drei Stunden in der prallen Sonne. Still brennt ihre
Haut. Still. Sie kann nichts mehr hören, kein Klopfen mehr.
Niemanden mehr, der ihr sagt, was sie zu tun hat. Hagen und
Herta für immer ohne Worte. Nichts mehr, keine Vergangenheit,
kein altes Leben, in das sie zurückmuss. Blum wird
jetzt steuern, sie wird das Boot zurück nach Triest bringen,
sie wird umbauen, die alten Täfelungen aus dem Haus reißen,
sie wird eine neue Verabschiedungshalle bauen, einen
neuen Versorgungsraum, sie wird das komplette Haus sanieren,
bis in den letzten Winkel. Sie wird alles, was an die beiden
erinnert, auf den Müll bringen. Blum. Sie ist vierundzwanzig
Jahre alt. Sie wird jetzt aufstehen, sich anziehen und
die Küstenwache anfunken, sie wird verzweifelt melden, dass
ihre Eltern verschwunden sind, spurlos, einfach so, während
sie geschlafen hat. Sie wird einen großen Schluck aus Hagens
Schnapsflasche nehmen und auf Hilfe warten. Immer wieder
wird sie über Funk ihr Entsetzen spielen, sie wird schreien
und weinen. Jetzt.
Vierzig Minuten vergehen. Blum sucht das Meer nach ihnen
ab, während sie wartet. Keine Spur von Hagen. Von Herta.
Nichts. Nur ein Unglück ist es gewesen. Sie sind einfach verschwunden,
untergetaucht für immer. Wasser in ihren Lungen,
zwei aufgeschwemmte Leichen irgendwann, die man aus
dem Meer fischen wird.
Blum. Wie sie an Deck steht und winkt. Wie sie um Hilfe
schreit, als sie das Boot sieht. Ein kleiner Segler, nicht die
Küstenwache, ein Tourist, der als Erster ihre Verzweiflung
spürt. Die zitternde Blum, die erzählt, was passiert ist. Der
fremde Mann, der an Bord kommt und ihr hilft, der sich um
sie kümmert, der das Boot absucht und seine Augen über das
Meer schweifen lässt. Seine Stimme, die ihr guttut, die tröstet,
seine Arme, die sich um sie legen. Einfach so, ganz plötzlich
Zärtlichkeit. Seine Hände, der Sonnenbrand, ihre Haut.
Ich bin eingeschlafen. Es ist meine Schuld, wir müssen sie finden.
Wo sind sie, um Gottes willen, wo sind sie nur? Was habe
ich nur getan, wir müssen zurück, sie suchen, sie sind nicht
mehr da, sie sind weg, einfach weg. Was, wenn sie tot sind? Sie
schreit. Laut reißt sie sich von ihm los, sie schlägt sich ins
Gesicht, immer wieder, sie gibt sich die Schuld für das, was
passiert ist. Es ist meine Schuld, brüllt sie. Als er sie festhalten
will, schlägt sie auch ihn, sie weint, sie will sich losreißen,
sie muss jetzt alles richtig machen. Blum. Alles, was sie jetzt
sagt, alles, was sie tut, muss ihn überzeugen, er muss ihr glauben,
er darf nicht zweifeln, keine Sekunde, der fremde schöne
Mann. Sie lässt sich festhalten von ihm, sie ist ihm ganz nah,
ihr Gesicht an seiner Brust, er hält sie, sie atmet schnell, sie
kann ihn riechen, sie hört ihn. Seine Stimme, wie er flüstert.
Mein Name ist Mark, sagt er. Ich bin Polizist, alles wird gut.
© BTB Verlag
Fragen eingehen, sie wird ihnen Rede und Antwort stehen,
und sie wird weinen. Sie wird alles tun, was notwendig ist,
alles. Später, nicht jetzt. Jetzt ist da nur der Himmel über ihr,
sie malt ihn an mit ihren Fingern, sie zieht Kreise, schreibt in
das Blau. Sie malt sich ihre Zukunft aus, sie stellt es sich vor,
ihr neues Leben allein. Das Institut, das jetzt ihr gehört. Sie
wird alles umstellen, modernisieren, sie wird das Unternehmen
wieder auf Erfolgskurs bringen. Sie wird alles steuern.
Sie selbst, nicht Hagen. Sie wird das Boot zurück nach Triest
bringen und neu anfangen.
Überall ist Schweiß. Wie sie es genießt, nackt zu sein. Eine
erwachsene Frau, die sich von ihren Eltern nicht mehr sagen
lässt, was sie tun und was sie lassen soll. Du wirst dich nicht
ausziehen, Brünhilde. Nicht auf unserem Boot. Solange wir leben,
gelten unsere Regeln, Brünhilde. Jetzt nicht mehr. Es gibt
keine Regeln mehr, nur noch sie selbst entscheidet, sie allein.
Keine Befehle mehr, keine Verbote. Sie hat sich ausgezogen,
sie liegt an Deck und streckt ihren Körper in den Wind. Alles,
was sie ist, weht wie eine Fahne, sie blüht auf in der Sonne,
sie ist glücklich. Mit jeder Minute, in der sie allein ist, mehr.
Brünhilde Blum. Vierundzwanzig Jahre alt. Tochter von Hagen
und Herta Blum. Adoptiert. Sie haben sie aus dem Kinderheim
geholt, als sie drei Jahre alt war, sie haben sie aufgezogen
wie ein Haustier, sie wurde herangezüchtet zur
Nachfolgerin, sie war Hagens letzte Hoffnung, der Familienbetrieb
sollte weiterbestehen. Um jeden Preis. Auch wenn es
nur ein Mädchen war, das sie adoptieren konnten. Ein Mädchen
oder gar kein Kind, hieß es. Die Wartelisten waren lang
und Hagens Verzweiflung groß. So groß, dass er sich hinreißen
ließ, dass er es sich nach langem Überlegen vorstellen
konnte, seinen Betrieb in die Hände einer Frau zu legen,
irgendwann. Sie sollte weiterführen, was ihm heilig war, sie
sollte erhalten, was er geschaffen hatte, sie sollte für Hagen
zum Mann werden. Sie tat alles, was er verlangte, alles, was
der Beruf notwendig machte. Das Bestattungsunternehmen
Blum war sein Ein und Alles, es war ihm wichtiger als alles
andere sonst.
Ein Traditionsbetrieb, ihr Gefängnis, ihr Kinderzimmer. Kurz
nach dem Krieg gegründet, zu einer Zeit, als das Sterben zum
Geschäft wurde. Was früher die Nachbarn erledigt hatten,
wurde 1949 von den Blums übernommen. Die Nachbarn, die
geholfen hatten, wenn jemand gestorben war, die sich um die
Leichenwäsche gekümmert hatten, um das Anziehen und
Aufbahren, die Bestatter lösten sie ab. Was lange Zeit selbstverständlich
war, wurde nunmehr zum Tabu. Tote zu berühren,
sich von ihnen zu verabschieden, bevor sie in den Kisten
verschwanden. Man war froh darüber, dass da nun jemand
war, der alles so schnell wie möglich vom Tisch wischte, der
den Leichnam abholte und unter die Erde brachte. Sauber
und sachlich.
Die Blums waren die Ersten in Innsbruck. Sie lebten gut von
den Toten. Zuerst Hagens Vater, dann Hagen, von nun an
Blum. Nur Blum, weil sie ihren Vornamen hasste, weil sie ihn
nie ertragen konnte, keinen Tag lang. Brünhilde, lass die Toten
in Ruhe. Brünhilde, hör auf, mit ihnen zu spielen. Brünhilde,
hör auf, deine Finger in ihre Nasen zu stecken. Brünhilde. Ein
Name, der nichts mit ihr zu tun hatte, den sie ihr gegeben
hatten, weil Hagen deutscher war als erlaubt, weil er Wagner
liebte, die Nibelungen, weil er wollte, dass seine Tochter in
seine Welt passte. Brünhilde. Ein Name, den sie verbannt hat
aus ihrem Leben. Nur mehr Blum. Nicht Brünhilde. Seit sie
sechzehn war, seit sie aufgehört hat, Hagens kleiner Soldat zu
sein, seit sie nicht mehr uneingeschränkt tat, was er verlangte,
nicht mehr gehorchte. Nur Blum. Sie bestand darauf. Egal, ob
er sie dafür bestrafte.
Blum. Sie schaut den Himmel an. Sie dreht die Musik lauter,
das Boot wiegt hin und her, weit und breit ist da niemand.
Keiner, der hilft, keiner, der ihre Schreie hört. Niemand außer
ihr. Nackt liegt sie da. Fast so wie die Toten im Versorgungsraum.
Auf dem Tisch, kalt, ohne Leben seit sie denken
kann. Sie half ihrem Vater, Freunde hatte sie nicht. Der Beruf
schreckte die anderen Kinder ab. Dass ihr Vater mit Toten zu
tun hatte und auch sie selbst, damit konnten sie nicht umgehen.
Blum wurde zum Freak, man machte sich lustig über sie,
man grenzte sie aus, spottete, verschwor sich gegen sie. Blum
litt. Immer, eine Kindheit lang, eine Jugend. Sie sehnte sich
nach einem Freund, einer Freundin, nach jemandem, mit
dem sie ihr Leben teilen konnte, mit dem sie reden und lachen
konnte. Aber da war niemand, sie blieb allein, sie hatte
nichts außer ihren Eltern. Lieblosen Eltern. Eine stumme
Mutter ohne Umarmungen und ein Vater, der sie zwang,
Dinge zu tun, die ein Kind nicht tun sollte.
Seit sie sieben war, hatte sie die Toten zu versorgen. Du darfst
keine Zeit verlieren, Brünhilde, der frühe Vogel fängt den
Wurm. Stell dich nicht so an, Brünhilde, sie werden dich schon
nicht beißen. Sei kein Mädchen, beiß die Zähne zusammen und
hör auf zu weinen. Wenn du jetzt nicht still bist und tust, was
ich dir sage, kommst du in den Sarg. Hast du das verstanden,
Brünhilde? Da war keine Zeit zu verlieren, sie sollte lernen,
damit umzugehen, er verlangte Unmögliches von ihr. Blum
wusch den Toten die Haare, sie rasierte sie, sie wusch Blut
von ihren Körpern und half beim Anziehen. Als sie zehn war,
nähte sie zum ersten Mal einen Mund zu. Wenn sie sich weigerte,
sperrte man sie in den Sarg. Unzählige Male, stundenlang
im Dunkel, ein kleines Kind, ängstlich, allein. Blum. Hagen
brach ihren Willen, jedes Mal von Neuem. Wie sie sich
hi neinlegen musste und er den Deckel verschraubte. Du lässt
mir keine andere Wahl, Brünhilde. Wann wirst du endlich aufhören,
dich zu wehren, ich habe keine andere Wahl, Brünhilde.
Und Deckel zu. Ein Kind in einer Holzkiste. Sie blieb, solange
sie konnte, so gerne wäre sie stärker gewesen, doch sie war
nur ein Kind. Wehrlos ertrug sie es, niemand half ihr, keiner
kümmerte sich um ihre Tränen, um ihr Flehen. Ich will das
nicht tun. Ich kann nicht. Bitte nicht. Kurz bevor sie die Nadel
durch das Kinn von unten in eine Mundhöhle stach. Der
Faden durch totes Fleisch. Sie hat alles getan, aber es war zu
wenig. Egal, wie sehr sie sich danach sehnte, nach Berührung,
nach Blicken, die ihr sagten, dass ihre Eltern stolz auf sie waren.
Blums Haut blieb allein. Ihr Sehnen blieb ungestillt, sie
war nie genug, egal wie sehr sie sich bemühte. Sie war immer
nur ein kleines Mädchen. Hilflos und ohnmächtig. Die kleine
Blum. Bitte lass mich raus, Papa. Bitte sperr mich nicht ein.
Nicht schon wieder in den Sarg, Papa. Bitte nicht.
Es war Strafe und Qual. Was später Alltag wurde, war am
Anfang die Hölle. Jeder Handgriff, jeder Blick, die kalte, tote
Haut, die sie berührte. Tausendmal wischte sie Augen und
Münder aus, reinigte Wunden, da waren Blut und Maden,
entstellte Leichen, abgetrennte Körperteile, da war keine
Kindheit, keine Torte mit Kerzen, waren keine Puppen, die
sie anzog und auszog. Da waren nur Tote. Große Puppen,
schwere Puppen, behaarte Arme und Beine, Köpfe so schwer,
dass sie sie kaum halten konnte, reglose Münder. Kein Lächeln,
kein schönes Wort, gar nichts. Nur ihr Vater, der sie
antrieb. Unzählige Leichname, Gesichter, Genitalien und
Kot, tote Menschen, die vor ihr herumlagen, um die sie sich
kümmern musste. Ein zehnjähriges Mädchen mit Plastikhandschuhen.
Und wie die Mutter sie zum Essen rief. So als
hätte Blum mit Freundinnen im Hof gespielt. Essen ist fertig.
Wascht euch die Hände, Papas Lieblingsgericht wartet. So als
wäre alles normal, als wäre alles richtig gewesen. Ein ordentlicher
Braten für den Vater, ein Unfallopfer für Blum. Hagen,
wie er die beladene Gabel in seinen Mund schob. Blum, wie
sie an kaputtes Fleisch dachte, an alte, wundgelegene Männer,
an Haut wie Papier, an den Urin und das Blut im Nebenraum,
das sie nach dem Essen wegwischen musste. Es schmeckt herrlich,
Herta, wie immer ein Gedicht. Und wie Blum den Teller
von sich schob.
Seit sie denken kann, waren da Tote. Sie kamen im Leichenwagen,
in Transportsärgen, sie kamen direkt aus ihren Betten,
in denen sie für immer eingeschlafen waren, sie kamen blutend,
verstümmelt, sie kamen mit Herzinfarkten, erstochen,
erschlagen, obduziert, sie kamen einfach in Blums Leben,
drangen ein in ihre kleine Welt. Niemand fragte sie, ob sie
das wollte. Ob sie das konnte. Sie lagen einfach da, tote Menschen
auf dem Aluminiumtisch. Angsteinflößend am Anfang,
irgendwann aber still und friedlich. Blum freundete sich
an mit ihrer Welt, sie begann zu akzeptieren, dass sie keine
Wahl hatte, dass sie nirgendwo sonst hinkonnte. Dass sie die
Lebenden fürchten musste, nicht die Toten. Es war eine Erkenntnis,
die guttat. Mit ihnen allein zu sein. Immer wenn
es ging, zog sie sich in den Versorgungsraum zurück. Die
Toten wurden irgendwann zu Freunden, sie sprach mit ihnen,
Blum war stärker als sie. Sie konnte entscheiden, was mit
ihnen passierte. Keiner konnte ihr wehtun, egal, wie schwer
und wie groß sie waren, sie bewegten sich nicht mehr. Atmeten
nicht, ihre Arme und Beine lagen einfach nur da. Wie
Puppen waren sie, große, kalte Puppen, mit denen sie spielte.
Sie vertraute sich ihnen an, sagte ihnen alles, immer. Sonst
schwieg sie, zu ihren Eltern kein Wort, sie wollte ihre Ruhe,
nichts wissen, sie tat einfach, was von ihr verlangt wurde, und
zog sich zurück. In ihre Welt. Bis gerade eben.
Blum. Wie die Sonne brennt. Wie gut es tut, dass sie endlich
still sind. Mit ihren Eltern auf dem Segelboot, seit sie denken
kann. Die jährlichen drei Wochen auf dem Wasser, das wiederkehrende
Blau. Es war immer wie eine Auszeit von der
Wirklichkeit, ein Traum. Einfach nur schön. Von Triest nach
Jugoslawien, nach Griechenland, in die Türkei, nach Spanien.
Wochenlang auf dem Boot, wochenlang war das Leben gut.
Darauf freute sie sich. Wenn der Anker nach oben ging und
der Wind in die Segel fuhr. Wenn Hagen ihr zeigte, was wichtig
war, wie man steuerte, wie man überlebte im Sturm. Blum
erinnert sich. An alles, was sie gelernt hat, was sie nicht gelernt
hat. Die Inseln, der Wind und die Eltern, die sich sogar
zu einem Lachen hinreißen ließen. Weil Urlaub war.
Ihre Gesichter, die sonst verschlossen waren, öffneten sich,
manchmal hatte Blum sogar das Gefühl, dass da Liebe war,
kurz nur, ein kleines Aufflackern. Zwanzig Jahre lang suchte
sie danach, wartete darauf, sehnte sich danach, ein ganz normales
Mädchen zu sein, eine junge Frau, die mehr kann, als
nur Leichen zu versorgen. Sie will endlich leben, endlich Entscheidungen
treffen.
Sie wird sich nicht rühren, egal, was passiert, nicht bewegen.
Da ist nur Blum, und die Sonne auf ihrer Haut. Sie ignoriert
die Schreie und das Klopfen.
Zwei schwimmende Körper, verzweifelt. Man sieht sie von
oben. Sie versuchen sich festzuhalten, ihre Nägel kratzen immer
noch an der Bordwand entlang. Das gute alte Boot, die
Leiter, die man nach oben klappen kann, die Leiter, die nicht
da ist, wenn man nach ihr schreit. Hagen hat darauf bestanden,
alles im Originalzustand zu belassen, keine Umbauten,
keine Vorkehrungen für den Ernstfall. Macht euch nicht ins
Hemd, nur Idioten vergessen die Leiter oben, sollte mir das je
passieren, dann könnt ihr mich absaufen lassen. Wie selbstherrlich
er war, wie kleinlaut und hilflos jetzt. Der große Hagen
und seine Herta. Kein Weg zurück mehr für die beiden,
sie waren einfach hineingesprungen, kopflos, zwei alte Menschen
ohne Liebe. Zwei Menschen mit schwachen Herzen,
atemlos, panisch. Sie schreien, sie schlucken Wasser. Seit zwei
Stunden schon. Sie wollen zurück ins Boot, die Bordwand
hinauf , sie versuchen alles, sie treten Wasser, sie schwimmen
neben dem Boot, sie weinen, sie schreien, sie prügeln mit
Fäusten auf das Holz ein, sie rufen ihren Namen. Brünhilde.
Immer wieder Brünhilde. Doch Brünhilde hört sie nicht.
Egal, wie laut sie schreien, wie stark ihre Finger bluten. Sie
wissen, dass sie sterben werden. Hagen und Herta. Sie wissen
es. Dass Blum sie hört, dass sie oben liegt und nichts tut. Nur
ihre Musik hört, während das Boot dahintreibt. Sie lächelt,
weil sie weiß, dass es bald zu Ende geht. Dass sie aufhören
werden zu schreien, dass endlich alles gut sein wird. Warm
alles, glücklich fast. Da sind nur sie und der Himmel. Sonst
nichts. Endlich leben.
Über drei Stunden in der prallen Sonne. Still brennt ihre
Haut. Still. Sie kann nichts mehr hören, kein Klopfen mehr.
Niemanden mehr, der ihr sagt, was sie zu tun hat. Hagen und
Herta für immer ohne Worte. Nichts mehr, keine Vergangenheit,
kein altes Leben, in das sie zurückmuss. Blum wird
jetzt steuern, sie wird das Boot zurück nach Triest bringen,
sie wird umbauen, die alten Täfelungen aus dem Haus reißen,
sie wird eine neue Verabschiedungshalle bauen, einen
neuen Versorgungsraum, sie wird das komplette Haus sanieren,
bis in den letzten Winkel. Sie wird alles, was an die beiden
erinnert, auf den Müll bringen. Blum. Sie ist vierundzwanzig
Jahre alt. Sie wird jetzt aufstehen, sich anziehen und
die Küstenwache anfunken, sie wird verzweifelt melden, dass
ihre Eltern verschwunden sind, spurlos, einfach so, während
sie geschlafen hat. Sie wird einen großen Schluck aus Hagens
Schnapsflasche nehmen und auf Hilfe warten. Immer wieder
wird sie über Funk ihr Entsetzen spielen, sie wird schreien
und weinen. Jetzt.
Vierzig Minuten vergehen. Blum sucht das Meer nach ihnen
ab, während sie wartet. Keine Spur von Hagen. Von Herta.
Nichts. Nur ein Unglück ist es gewesen. Sie sind einfach verschwunden,
untergetaucht für immer. Wasser in ihren Lungen,
zwei aufgeschwemmte Leichen irgendwann, die man aus
dem Meer fischen wird.
Blum. Wie sie an Deck steht und winkt. Wie sie um Hilfe
schreit, als sie das Boot sieht. Ein kleiner Segler, nicht die
Küstenwache, ein Tourist, der als Erster ihre Verzweiflung
spürt. Die zitternde Blum, die erzählt, was passiert ist. Der
fremde Mann, der an Bord kommt und ihr hilft, der sich um
sie kümmert, der das Boot absucht und seine Augen über das
Meer schweifen lässt. Seine Stimme, die ihr guttut, die tröstet,
seine Arme, die sich um sie legen. Einfach so, ganz plötzlich
Zärtlichkeit. Seine Hände, der Sonnenbrand, ihre Haut.
Ich bin eingeschlafen. Es ist meine Schuld, wir müssen sie finden.
Wo sind sie, um Gottes willen, wo sind sie nur? Was habe
ich nur getan, wir müssen zurück, sie suchen, sie sind nicht
mehr da, sie sind weg, einfach weg. Was, wenn sie tot sind? Sie
schreit. Laut reißt sie sich von ihm los, sie schlägt sich ins
Gesicht, immer wieder, sie gibt sich die Schuld für das, was
passiert ist. Es ist meine Schuld, brüllt sie. Als er sie festhalten
will, schlägt sie auch ihn, sie weint, sie will sich losreißen,
sie muss jetzt alles richtig machen. Blum. Alles, was sie jetzt
sagt, alles, was sie tut, muss ihn überzeugen, er muss ihr glauben,
er darf nicht zweifeln, keine Sekunde, der fremde schöne
Mann. Sie lässt sich festhalten von ihm, sie ist ihm ganz nah,
ihr Gesicht an seiner Brust, er hält sie, sie atmet schnell, sie
kann ihn riechen, sie hört ihn. Seine Stimme, wie er flüstert.
Mein Name ist Mark, sagt er. Ich bin Polizist, alles wird gut.
© BTB Verlag
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Autoren-Porträt von Bernhard Aichner
Bernhard Aichner (1972) lebt als Schriftsteller und Fotograf in Innsbruck. Er schreibt Romane, Hörspiele und Theaterstücke. Für seine Arbeit wurde er mit mehreren Literaturpreisen und Stipendien ausgezeichnet, zuletzt mit dem Burgdorfer Krimipreis 2014, dem Crime Cologne Award 2015 und dem Friedrich Glauser Preis 2017.Die Thriller seiner "Totenfrau"-Trilogie standen monatelang an der Spitze der Bestsellerlisten. Die Romane wurden in 16 Länder verkauft, u.a. auch nach USA und England. Mehrere seiner Romane wurden verfilmt, u.a. seine Totenfrau-Trilogie für Netflix/ORF.
Bibliographische Angaben
- Autor: Bernhard Aichner
- 2015, 464 Seiten, Maße: 12 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: BTB
- ISBN-10: 3442749263
- ISBN-13: 9783442749263
- Erscheinungsdatum: 08.05.2015
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