Totenfrau / Totenfrau-Trilogie Bd.1
Thriller - Jetzt als TV-Serie bei NETFLIX/ORF
Jetzt auch als 6-teilige Serie (Koproduktion ORF/Netflix) verfilmt!
Blum ist Bestatterin. Sie ist liebevolle Mutter zweier Kinder, sie besticht durch ihr großes Herz, ihren schwarzen Humor und ihre Coolness. Blum fährt Motorrad, sie trinkt gerne...
Blum ist Bestatterin. Sie ist liebevolle Mutter zweier Kinder, sie besticht durch ihr großes Herz, ihren schwarzen Humor und ihre Coolness. Blum fährt Motorrad, sie trinkt gerne...
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Produktinformationen zu „Totenfrau / Totenfrau-Trilogie Bd.1 “
Klappentext zu „Totenfrau / Totenfrau-Trilogie Bd.1 “
Jetzt auch als 6-teilige Serie (Koproduktion ORF/Netflix) verfilmt!Blum ist Bestatterin. Sie ist liebevolle Mutter zweier Kinder, sie besticht durch ihr großes Herz, ihren schwarzen Humor und ihre Coolness. Blum fährt Motorrad, sie trinkt gerne und ist glücklich verheiratet. Blums Leben ist gut. Doch plötzlich gerät dieses Leben durch den Unfalltod ihres Mannes, eines Polizisten, aus den Fugen. Vor ihren Augen wird Mark überfahren. Fahrerflucht. Alles bricht auseinander. Blum trauert, will sich aber mit ihrem Schicksal nicht abfinden. Das Wichtigste in ihrem Leben ist plötzlich nicht mehr da. Ihr Halt, ihr Glück. Durch Zufall findet sie heraus, dass mehr hinter dem Unfall ihres Mannes steckt, dass fünf einflussreiche Menschen seinen Tod wollten.
Blum sucht Rache. Was ist passiert? Warum musste Mark sterben? Als sie die Antworten gefunden hat, schlägt sie zu. Erbarmungslos. Warum sie das tut? Warum sie dazu fähig ist? Die Antwort darauf liegt Jahre zurück.
Lese-Probe zu „Totenfrau / Totenfrau-Trilogie Bd.1 “
Totenfrau - Bernhard Aichner »Und wenn du lange in einen Abgrund blickst,
blickt der Abgrund auch in dich hinein.«
Friedrich Nietzsche
Acht Jahre
vorher
... mehr
Man sieht alles von oben. Das Meer, das Segelboot, ihre Haut.
Eine nackte Frau an Deck, die Sonne scheint, alles ist gut. Sie
liegt einfach nur da, schaut nach oben, ihre Augen sind offen,
nur sie und der Himmel, die Wolken. Es ist der schönste
Platz auf der Welt, das Boot, das ihre Eltern vor zwanzig Jahren
gekauft haben, ein Prachtstück, eine Perle, die im Hafen
von Triest ihre Heimat hat. Segeln, Leben auf dem Wasser,
unter freiem Himmel, dort, wo sonst keiner ist. Nur Wasser
weit und breit, Musik in ihren Ohren, und der Schweiß, der
sich in ihrem Bauchnabel sammelt. Sonst nichts.
Von Triest zu den Kornaten, seit drei Tagen sind sie unterwegs,
sie haben keine Eile, es gibt nichts zu tun. Urlaub mit
ihren Eltern, so viele Jahre schon. Bald siebzig sind sie, wettergegerbt,
leidenschaftliche Segler beide. Immer schon sind
sie auf Booten unterwegs. Schon seit sie ein Kind war. In Badehose
und Bikini, niemals nackt.
Vor zwei Stunden hat sie sich ausgezogen, sie hat sich hingelegt,
ohne sich einzucremen. Sie will, dass die Sonne sie
verbrennt, dass ihre Haut schreit, wenn sie gefunden wird.
Nackt will sie sein. Endlich nackt. Niemand mehr, der es ihr
verbietet. Kein Vater. Keine Mutter. Allein auf dem Boot, ihre
Brüste, die Hüften, die Beine, die Arme. Dieses Lächeln auf
ihren Lippen und wie sie sich leicht zur Musik bewegt. Nirgendwo
sonst möchte sie jetzt sein. Noch drei Stunden wird
sie liegen bleiben, sich strecken, sich räkeln, den Sommer in
sich aufsaugen. Drei Stunden lang, oder vier. Bis die beiden
endlich untergehen. Bis sie aufhören zu schreien. Bis sie aufhören,
Wasser nach oben zu spritzen. Bis sie endlich still sind.
Für immer.
Es ist Mittag vor Dugi Otok. Sie rührt sich nicht. Sie ist eingeschlafen,
wird sie sagen, sie hat nichts gehört, die Musik
war zu laut, die Sonne hat sie müde gemacht. Sie wird auf alle
Fragen eingehen, sie wird ihnen Rede und Antwort stehen,
und sie wird weinen. Sie wird alles tun, was notwendig ist,
alles. Später, nicht jetzt. Jetzt ist da nur der Himmel über ihr,
sie malt ihn an mit ihren Fingern, sie zieht Kreise, schreibt in
das Blau. Sie malt sich ihre Zukunft aus, sie stellt es sich vor,
ihr neues Leben allein. Das Institut, das jetzt ihr gehört. Sie
wird alles umstellen, modernisieren, sie wird das Unternehmen
wieder auf Erfolgskurs bringen. Sie wird alles steuern.
Sie selbst, nicht Hagen. Sie wird das Boot zurück nach Triest
bringen und neu anfangen.
Überall ist Schweiß. Wie sie es genießt, nackt zu sein. Eine
erwachsene Frau, die sich von ihren Eltern nicht mehr sagen
lässt, was sie tun und was sie lassen soll. Du wirst dich nicht
ausziehen, Brünhilde. Nicht auf unserem Boot. Solange wir leben,
gelten unsere Regeln, Brünhilde. Jetzt nicht mehr. Es gibt
keine Regeln mehr, nur noch sie selbst entscheidet, sie allein.
Keine Befehle mehr, keine Verbote. Sie hat sich ausgezogen,
sie liegt an Deck und streckt ihren Körper in den Wind. Alles,
was sie ist, weht wie eine Fahne, sie blüht auf in der Sonne,
sie ist glücklich. Mit jeder Minute, in der sie allein ist, mehr.
Brünhilde Blum. Vierundzwanzig Jahre alt. Tochter von Hagen
und Herta Blum. Adoptiert. Sie haben sie aus dem Kinderheim
geholt, als sie drei Jahre alt war, sie haben sie aufgezogen
wie ein Haustier, sie wurde herangezüchtet zur
Nachfolgerin, sie war Hagens letzte Hoffnung, der Familienbetrieb
sollte weiterbestehen. Um jeden Preis. Auch wenn es
nur ein Mädchen war, das sie adoptieren konnten. Ein Mädchen
oder gar kein Kind, hieß es. Die Wartelisten waren lang
und Hagens Verzweiflung groß. So groß, dass er sich hinreißen
ließ, dass er es sich nach langem Überlegen vorstellen
konnte, seinen Betrieb in die Hände einer Frau zu legen,
irgendwann. Sie sollte weiterführen, was ihm heilig war, sie
sollte erhalten, was er geschaffen hatte, sie sollte für Hagen
zum Mann werden. Sie tat alles, was er verlangte, alles, was
der Beruf notwendig machte. Das Bestattungsunternehmen
Blum war sein Ein und Alles, es war ihm wichtiger als alles
andere sonst.
Ein Traditionsbetrieb, ihr Gefängnis, ihr Kinderzimmer. Kurz
nach dem Krieg gegründet, zu einer Zeit, als das Sterben zum
Geschäft wurde. Was früher die Nachbarn erledigt hatten,
wurde 1949 von den Blums übernommen. Die Nachbarn, die
geholfen hatten, wenn jemand gestorben war, die sich um die
Leichenwäsche gekümmert hatten, um das Anziehen und
Aufbahren, die Bestatter lösten sie ab. Was lange Zeit selbstverständlich
war, wurde nunmehr zum Tabu. Tote zu berühren,
sich von ihnen zu verabschieden, bevor sie in den Kisten
verschwanden. Man war froh darüber, dass da nun jemand
war, der alles so schnell wie möglich vom Tisch wischte, der
den Leichnam abholte und unter die Erde brachte. Sauber
und sachlich.
Die Blums waren die Ersten in Innsbruck. Sie lebten gut von
den Toten. Zuerst Hagens Vater, dann Hagen, von nun an
Blum. Nur Blum, weil sie ihren Vornamen hasste, weil sie ihn
nie ertragen konnte, keinen Tag lang. Brünhilde, lass die Toten
in Ruhe. Brünhilde, hör auf, mit ihnen zu spielen. Brünhilde,
hör auf, deine Finger in ihre Nasen zu stecken. Brünhilde. Ein
Name, der nichts mit ihr zu tun hatte, den sie ihr gegeben
hatten, weil Hagen deutscher war als erlaubt, weil er Wagner
liebte, die Nibelungen, weil er wollte, dass seine Tochter in
seine Welt passte. Brünhilde. Ein Name, den sie verbannt hat
aus ihrem Leben. Nur mehr Blum. Nicht Brünhilde. Seit sie
sechzehn war, seit sie aufgehört hat, Hagens kleiner Soldat zu
sein, seit sie nicht mehr uneingeschränkt tat, was er verlangte,
nicht mehr gehorchte. Nur Blum. Sie bestand darauf. Egal, ob
er sie dafür bestrafte.
Blum. Sie schaut den Himmel an. Sie dreht die Musik lauter,
das Boot wiegt hin und her, weit und breit ist da niemand.
Keiner, der hilft, keiner, der ihre Schreie hört. Niemand außer
ihr. Nackt liegt sie da. Fast so wie die Toten im Versorgungsraum.
Auf dem Tisch, kalt, ohne Leben seit sie denken
kann. Sie half ihrem Vater, Freunde hatte sie nicht. Der Beruf
schreckte die anderen Kinder ab. Dass ihr Vater mit Toten zu
tun hatte und auch sie selbst, damit konnten sie nicht umgehen.
Blum wurde zum Freak, man machte sich lustig über sie,
man grenzte sie aus, spottete, verschwor sich gegen sie. Blum
litt. Immer, eine Kindheit lang, eine Jugend. Sie sehnte sich
nach einem Freund, einer Freundin, nach jemandem, mit
dem sie ihr Leben teilen konnte, mit dem sie reden und lachen
konnte. Aber da war niemand, sie blieb allein, sie hatte
nichts außer ihren Eltern. Lieblosen Eltern. Eine stumme
Mutter ohne Umarmungen und ein Vater, der sie zwang,
Dinge zu tun, die ein Kind nicht tun sollte.
Seit sie sieben war, hatte sie die Toten zu versorgen. Du darfst
keine Zeit verlieren, Brünhilde, der frühe Vogel fängt den
Wurm. Stell dich nicht so an, Brünhilde, sie werden dich schon
nicht beißen. Sei kein Mädchen, beiß die Zähne zusammen und
hör auf zu weinen. Wenn du jetzt nicht still bist und tust, was
ich dir sage, kommst du in den Sarg. Hast du das verstanden,
Brünhilde? Da war keine Zeit zu verlieren, sie sollte lernen,
damit umzugehen, er verlangte Unmögliches von ihr. Blum
wusch den Toten die Haare, sie rasierte sie, sie wusch Blut
von ihren Körpern und half beim Anziehen. Als sie zehn war,
nähte sie zum ersten Mal einen Mund zu. Wenn sie sich weigerte,
sperrte man sie in den Sarg. Unzählige Male, stundenlang
im Dunkel, ein kleines Kind, ängstlich, allein. Blum. Hagen
brach ihren Willen, jedes Mal von Neuem. Wie sie sich
hi neinlegen musste und er den Deckel verschraubte. Du lässt
mir keine andere Wahl, Brünhilde. Wann wirst du endlich aufhören,
dich zu wehren, ich habe keine andere Wahl, Brünhilde.
Und Deckel zu. Ein Kind in einer Holzkiste. Sie blieb, solange
sie konnte, so gerne wäre sie stärker gewesen, doch sie war
nur ein Kind. Wehrlos ertrug sie es, niemand half ihr, keiner
kümmerte sich um ihre Tränen, um ihr Flehen. Ich will das
nicht tun. Ich kann nicht. Bitte nicht. Kurz bevor sie die Nadel
durch das Kinn von unten in eine Mundhöhle stach. Der
Faden durch totes Fleisch. Sie hat alles getan, aber es war zu
wenig. Egal, wie sehr sie sich danach sehnte, nach Berührung,
nach Blicken, die ihr sagten, dass ihre Eltern stolz auf sie waren.
Blums Haut blieb allein. Ihr Sehnen blieb ungestillt, sie
war nie genug, egal wie sehr sie sich bemühte. Sie war immer
nur ein kleines Mädchen. Hilflos und ohnmächtig. Die kleine
Blum. Bitte lass mich raus, Papa. Bitte sperr mich nicht ein.
Nicht schon wieder in den Sarg, Papa. Bitte nicht.
Es war Strafe und Qual. Was später Alltag wurde, war am
Anfang die Hölle. Jeder Handgriff, jeder Blick, die kalte, tote
Haut, die sie berührte. Tausendmal wischte sie Augen und
Münder aus, reinigte Wunden, da waren Blut und Maden,
entstellte Leichen, abgetrennte Körperteile, da war keine
Kindheit, keine Torte mit Kerzen, waren keine Puppen, die
sie anzog und auszog. Da waren nur Tote. Große Puppen,
schwere Puppen, behaarte Arme und Beine, Köpfe so schwer,
dass sie sie kaum halten konnte, reglose Münder. Kein Lächeln,
kein schönes Wort, gar nichts. Nur ihr Vater, der sie
antrieb. Unzählige Leichname, Gesichter, Genitalien und
Kot, tote Menschen, die vor ihr herumlagen, um die sie sich
kümmern musste. Ein zehnjähriges Mädchen mit Plastikhandschuhen.
Und wie die Mutter sie zum Essen rief. So als
hätte Blum mit Freundinnen im Hof gespielt. Essen ist fertig.
Wascht euch die Hände, Papas Lieblingsgericht wartet. So als
wäre alles normal, als wäre alles richtig gewesen. Ein ordentlicher
Braten für den Vater, ein Unfallopfer für Blum. Hagen,
wie er die beladene Gabel in seinen Mund schob. Blum, wie
sie an kaputtes Fleisch dachte, an alte, wundgelegene Männer,
an Haut wie Papier, an den Urin und das Blut im Nebenraum,
das sie nach dem Essen wegwischen musste. Es schmeckt herrlich,
Herta, wie immer ein Gedicht. Und wie Blum den Teller
von sich schob.
Seit sie denken kann, waren da Tote. Sie kamen im Leichenwagen,
in Transportsärgen, sie kamen direkt aus ihren Betten,
in denen sie für immer eingeschlafen waren, sie kamen blutend,
verstümmelt, sie kamen mit Herzinfarkten, erstochen,
erschlagen, obduziert, sie kamen einfach in Blums Leben,
drangen ein in ihre kleine Welt. Niemand fragte sie, ob sie
das wollte. Ob sie das konnte. Sie lagen einfach da, tote Menschen
auf dem Aluminiumtisch. Angsteinflößend am Anfang,
irgendwann aber still und friedlich. Blum freundete sich
an mit ihrer Welt, sie begann zu akzeptieren, dass sie keine
Wahl hatte, dass sie nirgendwo sonst hinkonnte. Dass sie die
Lebenden fürchten musste, nicht die Toten. Es war eine Erkenntnis,
die guttat. Mit ihnen allein zu sein. Immer wenn
es ging, zog sie sich in den Versorgungsraum zurück. Die
Toten wurden irgendwann zu Freunden, sie sprach mit ihnen,
Blum war stärker als sie. Sie konnte entscheiden, was mit
ihnen passierte. Keiner konnte ihr wehtun, egal, wie schwer
und wie groß sie waren, sie bewegten sich nicht mehr. Atmeten
nicht, ihre Arme und Beine lagen einfach nur da. Wie
Puppen waren sie, große, kalte Puppen, mit denen sie spielte.
Sie vertraute sich ihnen an, sagte ihnen alles, immer. Sonst
schwieg sie, zu ihren Eltern kein Wort, sie wollte ihre Ruhe,
nichts wissen, sie tat einfach, was von ihr verlangt wurde, und
zog sich zurück. In ihre Welt. Bis gerade eben.
Blum. Wie die Sonne brennt. Wie gut es tut, dass sie endlich
still sind. Mit ihren Eltern auf dem Segelboot, seit sie denken
kann. Die jährlichen drei Wochen auf dem Wasser, das wiederkehrende
Blau. Es war immer wie eine Auszeit von der
Wirklichkeit, ein Traum. Einfach nur schön. Von Triest nach
Jugoslawien, nach Griechenland, in die Türkei, nach Spanien.
Wochenlang auf dem Boot, wochenlang war das Leben gut.
Darauf freute sie sich. Wenn der Anker nach oben ging und
der Wind in die Segel fuhr. Wenn Hagen ihr zeigte, was wichtig
war, wie man steuerte, wie man überlebte im Sturm. Blum
erinnert sich. An alles, was sie gelernt hat, was sie nicht gelernt
hat. Die Inseln, der Wind und die Eltern, die sich sogar
zu einem Lachen hinreißen ließen. Weil Urlaub war.
Ihre Gesichter, die sonst verschlossen waren, öffneten sich,
manchmal hatte Blum sogar das Gefühl, dass da Liebe war,
kurz nur, ein kleines Aufflackern. Zwanzig Jahre lang suchte
sie danach, wartete darauf, sehnte sich danach, ein ganz normales
Mädchen zu sein, eine junge Frau, die mehr kann, als
nur Leichen zu versorgen. Sie will endlich leben, endlich Entscheidungen
treffen.
Sie wird sich nicht rühren, egal, was passiert, nicht bewegen.
Da ist nur Blum, und die Sonne auf ihrer Haut. Sie ignoriert
die Schreie und das Klopfen.
Zwei schwimmende Körper, verzweifelt. Man sieht sie von
oben. Sie versuchen sich festzuhalten, ihre Nägel kratzen immer
noch an der Bordwand entlang. Das gute alte Boot, die
Leiter, die man nach oben klappen kann, die Leiter, die nicht
da ist, wenn man nach ihr schreit. Hagen hat darauf bestanden,
alles im Originalzustand zu belassen, keine Umbauten,
keine Vorkehrungen für den Ernstfall. Macht euch nicht ins
Hemd, nur Idioten vergessen die Leiter oben, sollte mir das je
passieren, dann könnt ihr mich absaufen lassen. Wie selbstherrlich
er war, wie kleinlaut und hilflos jetzt. Der große Hagen
und seine Herta. Kein Weg zurück mehr für die beiden,
sie waren einfach hineingesprungen, kopflos, zwei alte Menschen
ohne Liebe. Zwei Menschen mit schwachen Herzen,
atemlos, panisch. Sie schreien, sie schlucken Wasser. Seit zwei
Stunden schon. Sie wollen zurück ins Boot, die Bordwand
hinauf , sie versuchen alles, sie treten Wasser, sie schwimmen
neben dem Boot, sie weinen, sie schreien, sie prügeln mit
Fäusten auf das Holz ein, sie rufen ihren Namen. Brünhilde.
Immer wieder Brünhilde. Doch Brünhilde hört sie nicht.
Egal, wie laut sie schreien, wie stark ihre Finger bluten. Sie
wissen, dass sie sterben werden. Hagen und Herta. Sie wissen
es. Dass Blum sie hört, dass sie oben liegt und nichts tut. Nur
ihre Musik hört, während das Boot dahintreibt. Sie lächelt,
weil sie weiß, dass es bald zu Ende geht. Dass sie aufhören
werden zu schreien, dass endlich alles gut sein wird. Warm
alles, glücklich fast. Da sind nur sie und der Himmel. Sonst
nichts. Endlich leben.
Über drei Stunden in der prallen Sonne. Still brennt ihre
Haut. Still. Sie kann nichts mehr hören, kein Klopfen mehr.
Niemanden mehr, der ihr sagt, was sie zu tun hat. Hagen und
Herta für immer ohne Worte. Nichts mehr, keine Vergangenheit,
kein altes Leben, in das sie zurückmuss. Blum wird
jetzt steuern, sie wird das Boot zurück nach Triest bringen,
sie wird umbauen, die alten Täfelungen aus dem Haus reißen,
sie wird eine neue Verabschiedungshalle bauen, einen
neuen Versorgungsraum, sie wird das komplette Haus sanieren,
bis in den letzten Winkel. Sie wird alles, was an die beiden
erinnert, auf den Müll bringen. Blum. Sie ist vierundzwanzig
Jahre alt. Sie wird jetzt aufstehen, sich anziehen und
die Küstenwache anfunken, sie wird verzweifelt melden, dass
ihre Eltern verschwunden sind, spurlos, einfach so, während
sie geschlafen hat. Sie wird einen großen Schluck aus Hagens
Schnapsflasche nehmen und auf Hilfe warten. Immer wieder
wird sie über Funk ihr Entsetzen spielen, sie wird schreien
und weinen. Jetzt.
Vierzig Minuten vergehen. Blum sucht das Meer nach ihnen
ab, während sie wartet. Keine Spur von Hagen. Von Herta.
Nichts. Nur ein Unglück ist es gewesen. Sie sind einfach verschwunden,
untergetaucht für immer. Wasser in ihren Lungen,
zwei aufgeschwemmte Leichen irgendwann, die man aus
dem Meer fischen wird.
Blum. Wie sie an Deck steht und winkt. Wie sie um Hilfe
schreit, als sie das Boot sieht. Ein kleiner Segler, nicht die
Küstenwache, ein Tourist, der als Erster ihre Verzweiflung
spürt. Die zitternde Blum, die erzählt, was passiert ist. Der
fremde Mann, der an Bord kommt und ihr hilft, der sich um
sie kümmert, der das Boot absucht und seine Augen über das
Meer schweifen lässt. Seine Stimme, die ihr guttut, die tröstet,
seine Arme, die sich um sie legen. Einfach so, ganz plötzlich
Zärtlichkeit. Seine Hände, der Sonnenbrand, ihre Haut.
Ich bin eingeschlafen. Es ist meine Schuld, wir müssen sie finden.
Wo sind sie, um Gottes willen, wo sind sie nur? Was habe
ich nur getan, wir müssen zurück, sie suchen, sie sind nicht
mehr da, sie sind weg, einfach weg. Was, wenn sie tot sind? Sie
schreit. Laut reißt sie sich von ihm los, sie schlägt sich ins
Gesicht, immer wieder, sie gibt sich die Schuld für das, was
passiert ist. Es ist meine Schuld, brüllt sie. Als er sie festhalten
will, schlägt sie auch ihn, sie weint, sie will sich losreißen,
sie muss jetzt alles richtig machen. Blum. Alles, was sie jetzt
sagt, alles, was sie tut, muss ihn überzeugen, er muss ihr glauben,
er darf nicht zweifeln, keine Sekunde, der fremde schöne
Mann. Sie lässt sich festhalten von ihm, sie ist ihm ganz nah,
ihr Gesicht an seiner Brust, er hält sie, sie atmet schnell, sie
kann ihn riechen, sie hört ihn. Seine Stimme, wie er flüstert.
Mein Name ist Mark, sagt er. Ich bin Polizist, alles wird gut.
1
Uma springt. Der kleine Körper fliegt durch die Luft, ein großes
Lachen ist in ihrem Gesicht, kleine weiße Zähne, glückliche
Augen. Ein kleines Mädchen, drei Jahre alt, wie sie fröhlich
landet, sich umarmen lässt, sich an sie schmiegt. Mama,
ich habe von einem Bären geträumt, er hat laut geknurrt, er
wollte mich fressen. Ich musste davonlaufen, Mama. Blum umarmt
sie, streicht zärtlich mit ihren Fingern über den kleinen
Kopf, berührt die Kinderwange und sagt ihr, dass der
Bär nur mit ihr spielen wollte. Dass es nur ein Traum war.
Dir wird nichts passieren, ich beschütze dich. Du musst keine
Angst haben. Blum küsst Uma auf die Stirn. Uma Blum, sie ist
drei Jahre alt, seit einigen Monaten spricht sie, ein Engel mit
blonden Locken. Noch ein Engel. Nela ist wieder eingeschlafen,
zufrieden liegt sie im Arm ihres Vaters. Im Ehebett am
Morgen. Blum und Mark. Ein ganz normaler Tag.
Vor acht Jahren haben sie sich das erste Mal berührt. Auf
dem Boot hat er sie umarmt. Ein wundervoller Mann, vom
ersten Augenblick an, plötzlich war er da und kümmerte sich
um sie. Mark wartete mit ihr, bis die Küstenwache kam, bis
sie Hunderte von Fragen beantwortet hatte. Er blieb einfach
da. Er schilderte den zuständigen Polizisten, wie er Blum gefunden
hatte, er beteuerte, dass er keinen Zweifel an ihrer
Version der Geschichte habe. Alles sprach dafür, dass sie die
Wahrheit sagte. Die verbrannte Haut, die Verzweiflung, die
Tränen, Blum hatte bei einem tragischen Unfall ihre Eltern
verloren. Und Mark hatte sie gefunden. Ein Kriminalbeamter
im Urlaub, ein Österreicher wie sie. Leidenschaftlicher Segler,
alleinstehend. Alles passte zusammen, es war Schicksal, dass
sie sich an diesem Tag begegneten, sie hatten einander gefunden,
und sie haben einander bis heute nicht mehr losgelassen.
Ihre ineinander verflochtenen Körper, Haut an Haut, wie sie
sich liebevoll berühren. Ganz nah sind sie sich, ihre Münder,
die Guten Morgen flüstern, bevor sie beginnen, knurrend
mit ihren Kindern herumzubalgen. Uma und Nela. Mark und
Blum. Alles fühlt sich gut an, glücklich bleiben sie nebeneinander
liegen und schauen zu, wie die Mädchen aus dem Bett
steigen und sich auf den Weg zu ihrem Großvater machen.
Ich will Kakao, Papa. Ich will Salami, Mama. Wir gehen zu
Opa. Ihr seid langweilig. Blum lacht. Mark hält sie liebevoll
in seinen Armen, er lässt sie nicht los, schnurrend schmiegt
sie sich an ihn. Ich will für immer mit dir in diesem Bett bleiben,
sagt sie. Blum genießt es. Alles. Jeden Tag, jede Stunde,
ihr Leben. Seit acht Jahren tanzen seine Finger auf ihr, seit
sechs Jahren sind sie verheiratet, seit fünf Jahren sind sie eine
Familie , leidenschaftlich stürzten sie sich in diese Liebe. Wie
ein Rausch ist es, immer noch.
– Mark?
– Ja?
– Kannst du nicht einfach zu Hause bleiben?
– Leider nein, aber ich komme ja wieder. Es ist viel los im
Moment.
– Was denn?
– Das willst du nicht wissen, meine Schöne.
– Wir könnten doch einfach so tun, als wäre die Welt nicht
da draußen.
– Ja, das könnten wir.
– Aber?
– Ich muss die Bösen jagen.
– Du musst nicht. Du willst.
– Und du willst mit deinen Leichen spielen, ich kenne dich.
Lange würdest du es sowieso nicht aushalten hier, in zehn
Minuten würdest du aufspringen und mir erklären, dass
du dringend eine Versorgung machen musst, dass der alte
Herr, der gestern gekommen ist, nicht mehr länger auf
dich warten kann.
– Würde ich das?
– Ja, würdest du.
– Zwei Minuten noch, einverstanden?
– Auch zehn, wenn du willst.
– Weißt du, was das Schlimmste wäre?
– Was?
– Wenn du mich nicht mehr halten würdest.
– Ich werde dich immer halten, meine Blume.
– Bitte, hör nie auf damit.
Schon auf dem Boot hatte sie gespürt, dass dieser Mann sie
glücklich machen würde. Wie er sie umarmt und getröstet
hat, ein Fremder. Ein Kriminalbeamter, wie absurd. Er hätte
sie durchschauen können, ihr die Maske herunterreißen und
sie einsperren, er hätte alles beenden können, noch bevor es
begonnen hatte. Doch es war anders gekommen. Blum wollte,
dass die Umarmung, die da plötzlich war, nicht mehr aufhörte,
sie wollte diese Arme kennenlernen, diese Hände. Sie
wollte ihn haben, zum ersten Mal einen Mann, zum ersten
Mal hielt sie es für möglich. Sie war bereit, ihn an sich heranzulassen,
ohne Zögern, ohne Angst. Ganz nah. Mark. Er tat
ihr gut, er stellte keine Fragen, er ließ sie einfach so sein, wie
sie war. Und er ließ sich auch nicht abschrecken von dem,
was sie machte, er hatte keine Angst vor den Toten.
Sie traf ihn wieder. Zurück im Hafen von Triest, zurück in
Österreich, sie verstanden sich, ohne viele Worte fanden sie
sich. Er war ein Freund, ihr Beschützer, er war da, als sie ihre
Eltern beerdigte, er war da, als sie das Bestattungsinstitut umbaute,
er half ihr, wo er konnte. Und irgendwann war da der
erste Kuss. Es passierte einfach. Sie saßen im Kühlraum und
tranken Bier, erschöpft und glücklich. Sie hatten den Versorgungsraum
neu verfliest, es war Spätsommer, sie schwitzten,
sie lachten, sie saßen auf Bierkisten.
– Blum?
– Ja?
– Das ist der geilste Kühlschrank, in dem ich je gesessen bin.
– Du sitzt öfters in Kühlschränken?
– Ich bin Polizist.
– Und Polizisten sitzen in Kühlschränken?
– Selbstverständlich.
– Du bist verrückt.
– Nicht mehr als du. War schließlich deine Idee, das Feierabendbier
hier drin zu trinken.
– Es ist unser viertes.
– Hör auf zu zählen, Blum.
– Es stört dich tatsächlich nicht, dass hier normalerweise die
Verstorbenen liegen?
– Nein.
– Ich war viel hier, als ich ein Kind war.
– Mit den Toten oder ohne sie?
– Mit.
– Türe geschlossen oder offen?
– Geschlossen.
– Warum?
– Das war mein Versteck. Hier haben sie mich nicht gesucht,
ich war oft stundenlang hier. Habe einfach dagesessen und
habe sie beobachtet. Wie sie tot waren.
– Etwas kalt vielleicht bei geschlossener Tür.
– Skiunterwäsche, Skianzug, Handschuhe, Mütze.
– Etwas abgedreht, aber dir glaube ich das.
– Kannst du auch.
– Du würdest mich nicht anlügen, stimmt’s?
– Wie meinst du das?
– Du bist ehrlich zu mir.
– Warum sollte ich das nicht sein?
– Ich kann dir vertrauen?
– Warum fragst du mich das?
– Weil ich dich küssen muss.
– Musst du?
– Ich kann nicht mehr anders, seit zwei Monaten will ich es
tun, eigentlich wollte ich dich schon küssen, als ich dich
auf dem Boot gesehen habe. Es tut mir leid, ich muss es
wirklich.
– Du musst mich also küssen? Und dazu musst du mir vertrauen
können?
– Wenn ich dich geküsst habe, werde ich dich heiraten
wollen . Da ist es von Vorteil, wenn man sich vertraut, findest
du nicht auch?
– Du kennst mich doch gar nicht.
– Doch, ich kenne dich.
– Ich habe als Kind mit Toten gespielt.
– Und ich habe Katzen in einen Sack gesteckt und ertränkt.
Ich habe Feuerwerkskörper in Frösche gesteckt und zugesehen,
wie sie zerrissen wurden.
– Hast du nicht.
– Doch.
– Warum?
– Ich war neugierig.
– Ich auch.
– Deshalb muss ich dich küssen.
– Und ich? Werde ich nicht gefragt?
– Auf keinen Fall.
– Warum?
– Weil du wahrscheinlich Nein sagen würdest.
– Würde ich das?
– Ja.
– Warum bist du dir da so sicher?
– Weil du seit zwei Monaten Angst davor hast.
– Habe ich das?
– Ja.
– Und jetzt?
– Nehme ich dir diese Angst.
Wie schön es war. Wie nah sich ihre Gesichter kamen, ihre
Lippen. Wie sie sich trafen, weich, aufgeregt, zitternd. Vertraut
und fremd und schön. Mark und Blum im Kühlraum.
Wie sie sich küssten, lange und zärtlich.
Bis heute liegen ihre Münder aufeinander, bis heute ist
die Angst nicht zurückgekehrt. Seit acht Jahren berühren sie
sich, halten sich. Seit acht Jahren der gemeinsame Morgen,
das Bett, in dem sie liegen, das Haus, das sie zum Paradies gemacht
haben.
Eine Jugendstilvilla mitten in Innsbruck, ein großer Garten
mit Apfelbäumen, zwei Geschosse. Als Hagen und Herta unter
der Erde waren, hat Blum alles Alte aus dem Haus gerissen,
das Schlafzimmer ihrer Eltern, die alte Zirbenstube, die
Küche, alles. Nichts mehr blieb, nur die alten Holzböden behielt
sie, in stundenlanger Arbeit schliff sie sie ab. Sie putzte
und malte, Mark half ihr dabei. Er bot sich an, und sie bedankte
sich. Wenn du sonst nichts Besseres zu tun hast. Wie
kann ein Mensch nur so freundlich sein? Mark, du bist meine
gute Fee. Hast du eigentlich keine Freundin? Er sagte stirnrunzelnd
Nein, und Blum genoss es. Dass er immer wieder
zu ihr kam, dass er beschlossen hatte, sich um sie zu kümmern.
Dass er sie schön fand und Urlaub für sie nahm. Dass
er sogar Arbeitskollegen dazu brachte, mit anzupacken, das
halbe Landeskriminalamt half mit, Wände einzureißen und
Schutt zu verräumen.
Das Haus der Blums wurde ausgehöhlt und neu eingerichtet,
die Wände wurden bunt und die alten Geister vertrieben.
Gemeinsam mit Mark wanderte sie nachts durch das ganze
Haus und räucherte aus. Sie gingen von Raum zu Raum,
Rauch stieg auf, der Duft von Wacholder, Zimt und Orangenschalen
lag in der Luft. Egal, ob Mark daran glaubte oder
nicht, er ging neben ihr, er assistierte der Hexe, er bemühte
sich, das Böse zu spüren. Sie durchstreiften das Haus vom
Keller bis zum Dachboden, jeder Winkel wurde mit positiven
Gedanken geflutet, alles, was gewesen war, verschwand.
Die Gedanken an Hagen und Herta, an den Alltag mit ihnen,
Blum warf sie in den Müll. Für immer. Was übrig blieb, war
ein Wohntraum, eine Oase der Ruhe mitten in Innsbruck, ein
modernes Bestattungsinstitut im Schatten von Apfelbäumen,
geführt von einer jungen Frau, die den Toten und den Trauernden
mit Respekt begegnete. Das Unternehmen begann zu
blühen. So wie Blum selbst auch.
Der Kuss im Kühlraum. Mark, der bei ihr einzog. Die Liebe,
die die alte Villa plötzlich erfüllte. Alles war wie ein Traum,
ein Märchen, das wahr wurde, es war wie in den Büchern, die
Blum gelesen hatte, wie in den Geschichten, in die sie sich
geflüchtet hatte. Es war das Glück der anderen gewesen, das
sie am Leben erhalten hatte, die Sehnsucht danach. Das, woran
sie nie wirklich geglaubt hatte, liegt jetzt neben ihr. Immer
noch. Acht Jahre später seine Arme um ihre Hüften,
sein Atem in ihrem Ohr, sein Flüstern. Alles soll so bleiben,
nichts soll sich verändern. Jeden Tag sagt sie es, jeden Tag bittet
sie ihn, nicht damit aufzuhören, sie zu lieben. Jeden Tag
ein Kuss, bevor sie mit dem Tag beginnen. Dankbar dafür
löst sie sich von ihm und springt aus dem Bett. Dankbar für
den Kuss. Dankbar für die Kinder. Dass das Glück so weit
gehen konnte, damit hätte Blum damals nicht eine Sekunde
lang gerechnet. Dass es ihr vergönnt sein würde, kleine Menschen
in die Welt zu setzen, zu lieben. Blum wollte damals
nicht daran denken, sie stürzte sich in die Umarmung mit
Mark. An Kinder zu denken, das hatte sie nicht gewagt. Sie
hatte Angst, dass das Glück aufhören könnte, wenn sie es herausforderte,
dass die Liebe über Nacht einfach nicht mehr
da sein würde. Eigene Kinder zu haben, sie aufwachsen zu
sehen, sie zu lieben, Blum wischte die Gedanken daran drei
Jahre lang vom Tisch. Mutter zu sein, sie konnte es sich nicht
vorstellen, sie hatte Angst, zu wiederholen, was sie gelernt
hatte. Die Lieblosigkeit, die Kälte, sie wollte nicht herausfinden,
ob sie so war wie Herta und Hagen. Immer war da
diese Angst, wenn Mark davon zu reden begann, es schnürte
ihr den Hals zu, ließ sie schweigen. Sie traute es sich nicht
zu, lange Zeit nicht, doch irgendwann überwand sie sich. Die
Sehnsucht wurde zu groß, der Wunsch nach Kindern. Zweimal
passierte es. Vor fünf und vor drei Jahren, kleine Wunderwesen.
Blum kümmerte sich um jede Träne, um jeden
Schrei, sie sorgte sich, berührte sie, wann immer sie konnte,
stundenlang trug sie sie, streichelte sie, redete ihnen gut zu.
Nächtelang lag sie wach und schaute ihre Engel an, wie sie
schliefen. Bis heute zweifelt sie manchmal daran, dass es wahr
ist. Dass sie da sind.
2
Uma und Nela. Sie sind oben bei Karl. Marks Vater, der jeden
Morgen über seiner Zeitung sitzt, wenn sie in seine
Küche stürmen. Ein gütiger alter Mann, der den Kindern
Kakao macht, der mit ihnen lacht und bastelt, ihr Opa, der
sie liebt und alles für sie tun würde. Uma auf seinem Arm,
Nela löffelt Kakao in eine pinke Tasse. Karl erzählt ihnen Geschichten
zum Frühstück, er ist ein Segen für alle im Haus.
Mark und Blum haben ihn zu sich genommen vor zwei Jahren,
eine Zecke hatte ihn gebissen, eine Gehirnhautentzündung
war schuld an der Frühpension, daran, dass er sich verändert
hatte. Dass er auf Hilfe angewiesen war in manchen
Situationen. Hilfe, nach der er niemals verlangen würde, über
die er aber froh ist. Es gibt Dinge, die er vergisst, an die er
sich nicht mehr erinnert, Alltägliches, das ihm schwerfällt.
Mark wollte ihn nicht alleine in seiner kleinen Wohnung
lassen, deshalb schlug Blum vor, den ungenutzten zweiten
Stock des Hauses umzubauen. Karl sollte bei ihnen wohnen,
Blum wusste, wie wichtig er für Mark war. Karl war lange Zeit
alles für ihn, Marks Mutter war früh gestorben, da war immer
nur Karl gewesen, seit er denken konnte. Wenn er aufwachte,
wenn er schlafen ging, immer nur Karl. Sohn und
Vater, Alleinerzieher, zwei Männer am Frühstückstisch, väterliche
Worte, wenn es die Zeit zuließ. Sie hielten zusammen,
so gut es ging. Mark war viel allein gewesen, oft tagelang,
Nächte. Ein kleiner Junge allein unter der Bettdecke, ein
kleiner Junge, der immer darauf vertraute, dass sein Vater zurückkam.
Dass ihm nichts passieren würde, dass das Band
zwischen ihm und seinem Vater stärker war als alles sonst.
Mark war allein, er trieb sich herum, er war wie ein streunender
Hund, doch er war glücklich. So glücklich es ging.
Weil Karl sich bemühte. Immer. Auch vor zwanzig Jahren in
der Küche, Mark war fünfzehn, er hat Blum davon erzählt,
von seinem Leben ohne Mutter, von diesen Gesprächen zwischen
Vater und Sohn, die sich so oft wiederholten, von Karl,
der mit seinem Feierabendbier am Küchentisch saß, während
Mark das Geschirr abspülte.
– Weißt du schon, was du machen willst, Mark? Nach der
Schule?
– Ich will zur Polizei. Wie du. Zur Kripo.
– Ach, Junge, du weißt ja nicht, was du da redest.
– Doch, ich weiß es.
– Dieser Beruf ist nicht immer nur schön.
– Welcher Beruf ist das schon.
– Wir haben heute eine junge Mutter in ihrer Wohnung gefunden,
sie hatte ihr Baby so lange geschüttelt, bis es tot
war. Ihre Schwester hatte sie gefunden und uns angerufen.
Die Mutter saß am Boden und hat das Baby gehalten, sie
hat geweint, als ihr die Sanitäter das Kind aus den Armen
nahmen. Sie hat gesagt, dass das Kind nicht aufgehört hat
zu schreien. Sie wollte nur, dass es still ist.
– Wir haben kein Spülmittel mehr.
– Hast du mich verstanden, Mark?
– So ist das Leben, Papa.
– Nein, so ist es nicht, so ist es nur für Leute wie mich, für
diejenigen, die sich dafür entscheiden, damit ihr Geld zu
verdienen. Du musst das nicht sehen, solche Dinge, du
kannst dem aus dem Weg gehen.
– Will ich aber nicht.
– Du solltest studieren, Mark, die ganze Welt steht dir offen,
zur Polizei kannst du immer noch gehen.
– Ich will es aber so.
– Warum?
– Wenn es gut für dich ist, dann ist es auch gut für mich.
– Deine Mutter hätte bestimmt gewollt, dass du studierst,
Wirtschaft oder Medizin.
– Meine Mutter ist aber nicht mehr da.
– Ich weiß.
– Du musst dir keine Sorgen um mich machen.
– Es tut mir alles so leid, Mark.
– Was?
– Alles.
– Du hast alles richtig gemacht, alles, verstehst du, und jetzt
trink dein Bier und hör endlich auf, dir Sorgen zu machen.
Karl. Zwanzig Jahre später erzählt er den Kindern Geschichten.
Uma und Nela lieben ihn, seinen Bart, an dem sie ihre Kinderhaut
reiben, seine Stimme, seine Arme, die sie in die Luft
werfen, sein Lachen. Karls Leben ist einfach geworden, keine
Verbrechen mehr, keine Toten, nur noch die Kinder und sein
Ohrensessel, in dem er die Tage verbringt. Wie er stundenlang
Musik hört, auf der Terrasse sein Gesicht in der Sonne, immer
ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen. Karl. Wie Mark
immer wieder nach dem alten Mann sieht, ihn zudeckt, wenn
er eingeschlafen ist in seinem Sessel. Die Kinder lieben ihn, es
steht in ihren Gesichtern, wenn sie von oben herunterkommen
und berichten, was Opa ihnen alles erzählt hat.
Alles, was früher war, ist vergessen. Das Leben vor Mark.
Alles, was ist, will sie für immer festhalten. Blum, mit einem
Lächeln am Frühstückstisch. Wie Mark seine Kaffeetasse hält
und ihr zusieht. Wie sie Butterbrote schmiert, wie sie den
Kindern erklärt, dass die Bienen den Honig machen, dass
sie nicht trödeln sollen, dass sie in den Kindergarten müssen.
Wie ungeduldig sie ist und trotzdem liebevoll, wie sie die
Kinder antreibt und trotzdem noch einmal fragt, ob sie noch
ein Brot wollen. Wie die Kinder kauen und schmatzen, wie
sie den Honig überall auf dem Tisch verteilen, während Blum
sich noch kurz mit Mark unterhält, bevor er in den Tag geht.
– Wann kommst du wieder?
– Spät.
– Schwierige Dinge?
– Ja.
– Welche?
– Das willst du nicht wissen, Blum.
– Vielleicht ja doch.
– Die Welt ist schlecht, es reicht, wenn ich mich damit herumschlagen
muss.
– Du willst es so.
– Ich kann nicht anders.
– Mein Held, mein Retter, das gute Gewissen der Stadt.
– Etwas Eigenartiges passiert hier.
– Du meinst den Honig?
– Ja, ich meine den Honig.
– Willst du darüber reden?
– Nein.
– Du weißt, dass du das kannst, ich bin einiges gewohnt.
– Ja. Trotzdem nein, ich muss zuerst Gewissheit haben. Im
Moment bin ich allein damit, ich bin der Einzige, der ein
Verbrechen sieht, wo keines ist.
– Vertrau auf dein Gefühl.
– Das ist ja das Problem, genau das tue ich nämlich.
– Du wirst die Bösen kriegen, du wirst sie hinter Gitter bringen
und für Gerechtigkeit sorgen. Und ich werde mich um
den alten Mann kümmern.
– Wie ist er gestorben?
– Das willst du nicht wissen.
– Vielleicht ja doch.
– Du bist so süß, wenn du lachst.
– Ach du.
Keine Wut, kein Ärger, keine Traurigkeit, nichts. Es ist nur
schön, nichts tut weh, keine Kunden nerven, die Kinder sind
pflegeleicht an diesem Morgen. Nichts bereitet ihr Sorgen, es
ist ein guter Tag, Blum genießt es, dieses unbeschwerte Gefühl,
das Glück, wenn sie ihn anschaut. Mark. Seine Mundwinkel,
die nach oben zeigen, die Ruhe, die von ihm ausgeht,
die Kraft. Sie fühlt sich beschützt und geborgen, Mark
ist Heimat, er ist einfach da, er geht nicht weg. Egal wie laut
sie schreit, egal ob sie sich gehen lässt und wütet, egal ob sie
manchmal am Leben zweifelt und Angst hat. Mark liegt neben
ihr, wenn sie aufwacht. Sie spürt ihn, immer. Mark.
Blum weiß, dass ihn etwas plagt, dass er sich Sorgen macht.
Es nagt an ihm, lautlos und heimlich, aber Blum merkt es. Sosehr
er sich auch bemüht, seinen Polizeialltag am Eingangstor
abzustreifen, es gelingt ihm nicht immer. Blum sieht,
wie seine Gedanken rasen, wie er nicht loslassen kann, wie
seine Aufmerksamkeit ihr und den Kindern gegenüber im-
mer wieder nachlässt. Mark und seine Leidenschaft für diesen
Beruf. Der Kriminalbeamte. Wie er schwärmt, wenn
man ihn fragt, was er macht. Dass es keinen schöneren Beruf
gibt für ihn auf dieser Welt, dass nichts ihn davon abbringen
kann weiterzumachen, weiter an das Gute zu glauben.
Er liebt, was er tut, er glaubt daran, und er ist auch bereit,
den gewohnten Weg manchmal zu verlassen, um sein Ziel
zu erreichen. Mark glaubt an sein Gefühl, er spürt mehr, als
er denkt, Logik ist nicht immer seine Sache, er handelt aus
dem Bauch heraus, folgt einem Geruch, einem Wort, einem
Eindruck. Er glaubt an Intuition, und er glaubt an alles, was
ihm sein Vater beigebracht hat, an die vielen Kleinigkeiten,
die er über die Jahre beobachtet hat, die Einschätzungen seines
Vaters beim Bier am Abend. Die stundenlangen Gespräche
über ungelöste Fälle. Noch bevor er sich tatsächlich dazu
entschieden hatte, Polizist zu werden. Karl war sein Lehrer,
er brachte ihm bei, menschlich zu sein. Was er als Sechzehnjähriger
belächelte, beherzigt er bis heute. Manchmal musst
du Entscheidungen treffen, Mark. Völlig egal, was die anderen
sagen, du wirst das tun, was dir dein Herz sagt. Keine Gewalt,
keine Übergriffe. Wenn einer am Boden liegt, trete nicht auf ihn
ein. Du bist einer von den Guten. Vergiss das nie. Karl machte
aus Mark einen Polizisten. Einen der besten. Einen, der auch
einmal Gnade vor Recht ergehen lässt. Mark bemüht sich,
immer nach dem Grund eines Verbrechens zu fragen, er will
verstehen, wie es dazu gekommen ist, warum jemand straffällig
geworden ist. Warum jemand riskiert, geächtet und
eingesperrt zu werden. Warum jemand bereit ist, mit einem
Vorschlaghammer auf einen Geldautomaten einzuschlagen.
Jemand wie Reza.
3
Es war vor sechs Jahren. Reza wollte doch nur das Geld, ein
bisschen davon, nur so viel, dass er überleben würde, er wollte
sich Essen kaufen, er hatte Hunger. Reza hatte die Überwachungskamera
an der Fassade mit einem Stein außer Gefecht
gesetzt, die Kamera am Automaten hatte er mit Klebeband
verdeckt. Als Mark kam, schlug er gerade zum wiederholten
Mal auf den Automaten ein. Mit voller Wucht, dorthin, wo
das Geld war, immer wieder. Reza bemerkte nicht, wie Mark
auf ihn zustürmte. Mark drückte ihn nach hinten, es war wie
im Krieg, ein Soldat am Boden, verletzt, am Ende angekommen,
der Feind über ihm, mit einer Waffe in der Hand. Mark,
wie er auf Reza zielte, wie er ihn zwang, sich auf den Bauch
zu legen, aufzugeben.
Reza ist Bosnier. Seit sechs Jahren arbeitet er nun als Bestatter.
Ist Blums Gehilfe, ihre rechte Hand. Er hatte alles verloren
im Krieg, seine Brüder, seine Eltern, sein Haus. Alles
war verbrannt, nichts mehr war übrig. Dass er überlebt hatte,
war wie ein Wunder, er hatte sich versteckt, hatte zugesehen,
wie die Serben schlachteten. Von einem Tag auf den anderen
musste er lernen, was Krieg bedeutete, wie brutal das Leben
sein konnte, der Tod, wie blutig, wie laut. Nichts blieb ihm,
niemand, der für ihn da war, sich um ihn kümmerte, Reza
war allein, ohne Dach über dem Kopf, ohne Geld, da war
nichts mehr. Nur Blut und Krieg und Töten.
© BTB Verlag
Man sieht alles von oben. Das Meer, das Segelboot, ihre Haut.
Eine nackte Frau an Deck, die Sonne scheint, alles ist gut. Sie
liegt einfach nur da, schaut nach oben, ihre Augen sind offen,
nur sie und der Himmel, die Wolken. Es ist der schönste
Platz auf der Welt, das Boot, das ihre Eltern vor zwanzig Jahren
gekauft haben, ein Prachtstück, eine Perle, die im Hafen
von Triest ihre Heimat hat. Segeln, Leben auf dem Wasser,
unter freiem Himmel, dort, wo sonst keiner ist. Nur Wasser
weit und breit, Musik in ihren Ohren, und der Schweiß, der
sich in ihrem Bauchnabel sammelt. Sonst nichts.
Von Triest zu den Kornaten, seit drei Tagen sind sie unterwegs,
sie haben keine Eile, es gibt nichts zu tun. Urlaub mit
ihren Eltern, so viele Jahre schon. Bald siebzig sind sie, wettergegerbt,
leidenschaftliche Segler beide. Immer schon sind
sie auf Booten unterwegs. Schon seit sie ein Kind war. In Badehose
und Bikini, niemals nackt.
Vor zwei Stunden hat sie sich ausgezogen, sie hat sich hingelegt,
ohne sich einzucremen. Sie will, dass die Sonne sie
verbrennt, dass ihre Haut schreit, wenn sie gefunden wird.
Nackt will sie sein. Endlich nackt. Niemand mehr, der es ihr
verbietet. Kein Vater. Keine Mutter. Allein auf dem Boot, ihre
Brüste, die Hüften, die Beine, die Arme. Dieses Lächeln auf
ihren Lippen und wie sie sich leicht zur Musik bewegt. Nirgendwo
sonst möchte sie jetzt sein. Noch drei Stunden wird
sie liegen bleiben, sich strecken, sich räkeln, den Sommer in
sich aufsaugen. Drei Stunden lang, oder vier. Bis die beiden
endlich untergehen. Bis sie aufhören zu schreien. Bis sie aufhören,
Wasser nach oben zu spritzen. Bis sie endlich still sind.
Für immer.
Es ist Mittag vor Dugi Otok. Sie rührt sich nicht. Sie ist eingeschlafen,
wird sie sagen, sie hat nichts gehört, die Musik
war zu laut, die Sonne hat sie müde gemacht. Sie wird auf alle
Fragen eingehen, sie wird ihnen Rede und Antwort stehen,
und sie wird weinen. Sie wird alles tun, was notwendig ist,
alles. Später, nicht jetzt. Jetzt ist da nur der Himmel über ihr,
sie malt ihn an mit ihren Fingern, sie zieht Kreise, schreibt in
das Blau. Sie malt sich ihre Zukunft aus, sie stellt es sich vor,
ihr neues Leben allein. Das Institut, das jetzt ihr gehört. Sie
wird alles umstellen, modernisieren, sie wird das Unternehmen
wieder auf Erfolgskurs bringen. Sie wird alles steuern.
Sie selbst, nicht Hagen. Sie wird das Boot zurück nach Triest
bringen und neu anfangen.
Überall ist Schweiß. Wie sie es genießt, nackt zu sein. Eine
erwachsene Frau, die sich von ihren Eltern nicht mehr sagen
lässt, was sie tun und was sie lassen soll. Du wirst dich nicht
ausziehen, Brünhilde. Nicht auf unserem Boot. Solange wir leben,
gelten unsere Regeln, Brünhilde. Jetzt nicht mehr. Es gibt
keine Regeln mehr, nur noch sie selbst entscheidet, sie allein.
Keine Befehle mehr, keine Verbote. Sie hat sich ausgezogen,
sie liegt an Deck und streckt ihren Körper in den Wind. Alles,
was sie ist, weht wie eine Fahne, sie blüht auf in der Sonne,
sie ist glücklich. Mit jeder Minute, in der sie allein ist, mehr.
Brünhilde Blum. Vierundzwanzig Jahre alt. Tochter von Hagen
und Herta Blum. Adoptiert. Sie haben sie aus dem Kinderheim
geholt, als sie drei Jahre alt war, sie haben sie aufgezogen
wie ein Haustier, sie wurde herangezüchtet zur
Nachfolgerin, sie war Hagens letzte Hoffnung, der Familienbetrieb
sollte weiterbestehen. Um jeden Preis. Auch wenn es
nur ein Mädchen war, das sie adoptieren konnten. Ein Mädchen
oder gar kein Kind, hieß es. Die Wartelisten waren lang
und Hagens Verzweiflung groß. So groß, dass er sich hinreißen
ließ, dass er es sich nach langem Überlegen vorstellen
konnte, seinen Betrieb in die Hände einer Frau zu legen,
irgendwann. Sie sollte weiterführen, was ihm heilig war, sie
sollte erhalten, was er geschaffen hatte, sie sollte für Hagen
zum Mann werden. Sie tat alles, was er verlangte, alles, was
der Beruf notwendig machte. Das Bestattungsunternehmen
Blum war sein Ein und Alles, es war ihm wichtiger als alles
andere sonst.
Ein Traditionsbetrieb, ihr Gefängnis, ihr Kinderzimmer. Kurz
nach dem Krieg gegründet, zu einer Zeit, als das Sterben zum
Geschäft wurde. Was früher die Nachbarn erledigt hatten,
wurde 1949 von den Blums übernommen. Die Nachbarn, die
geholfen hatten, wenn jemand gestorben war, die sich um die
Leichenwäsche gekümmert hatten, um das Anziehen und
Aufbahren, die Bestatter lösten sie ab. Was lange Zeit selbstverständlich
war, wurde nunmehr zum Tabu. Tote zu berühren,
sich von ihnen zu verabschieden, bevor sie in den Kisten
verschwanden. Man war froh darüber, dass da nun jemand
war, der alles so schnell wie möglich vom Tisch wischte, der
den Leichnam abholte und unter die Erde brachte. Sauber
und sachlich.
Die Blums waren die Ersten in Innsbruck. Sie lebten gut von
den Toten. Zuerst Hagens Vater, dann Hagen, von nun an
Blum. Nur Blum, weil sie ihren Vornamen hasste, weil sie ihn
nie ertragen konnte, keinen Tag lang. Brünhilde, lass die Toten
in Ruhe. Brünhilde, hör auf, mit ihnen zu spielen. Brünhilde,
hör auf, deine Finger in ihre Nasen zu stecken. Brünhilde. Ein
Name, der nichts mit ihr zu tun hatte, den sie ihr gegeben
hatten, weil Hagen deutscher war als erlaubt, weil er Wagner
liebte, die Nibelungen, weil er wollte, dass seine Tochter in
seine Welt passte. Brünhilde. Ein Name, den sie verbannt hat
aus ihrem Leben. Nur mehr Blum. Nicht Brünhilde. Seit sie
sechzehn war, seit sie aufgehört hat, Hagens kleiner Soldat zu
sein, seit sie nicht mehr uneingeschränkt tat, was er verlangte,
nicht mehr gehorchte. Nur Blum. Sie bestand darauf. Egal, ob
er sie dafür bestrafte.
Blum. Sie schaut den Himmel an. Sie dreht die Musik lauter,
das Boot wiegt hin und her, weit und breit ist da niemand.
Keiner, der hilft, keiner, der ihre Schreie hört. Niemand außer
ihr. Nackt liegt sie da. Fast so wie die Toten im Versorgungsraum.
Auf dem Tisch, kalt, ohne Leben seit sie denken
kann. Sie half ihrem Vater, Freunde hatte sie nicht. Der Beruf
schreckte die anderen Kinder ab. Dass ihr Vater mit Toten zu
tun hatte und auch sie selbst, damit konnten sie nicht umgehen.
Blum wurde zum Freak, man machte sich lustig über sie,
man grenzte sie aus, spottete, verschwor sich gegen sie. Blum
litt. Immer, eine Kindheit lang, eine Jugend. Sie sehnte sich
nach einem Freund, einer Freundin, nach jemandem, mit
dem sie ihr Leben teilen konnte, mit dem sie reden und lachen
konnte. Aber da war niemand, sie blieb allein, sie hatte
nichts außer ihren Eltern. Lieblosen Eltern. Eine stumme
Mutter ohne Umarmungen und ein Vater, der sie zwang,
Dinge zu tun, die ein Kind nicht tun sollte.
Seit sie sieben war, hatte sie die Toten zu versorgen. Du darfst
keine Zeit verlieren, Brünhilde, der frühe Vogel fängt den
Wurm. Stell dich nicht so an, Brünhilde, sie werden dich schon
nicht beißen. Sei kein Mädchen, beiß die Zähne zusammen und
hör auf zu weinen. Wenn du jetzt nicht still bist und tust, was
ich dir sage, kommst du in den Sarg. Hast du das verstanden,
Brünhilde? Da war keine Zeit zu verlieren, sie sollte lernen,
damit umzugehen, er verlangte Unmögliches von ihr. Blum
wusch den Toten die Haare, sie rasierte sie, sie wusch Blut
von ihren Körpern und half beim Anziehen. Als sie zehn war,
nähte sie zum ersten Mal einen Mund zu. Wenn sie sich weigerte,
sperrte man sie in den Sarg. Unzählige Male, stundenlang
im Dunkel, ein kleines Kind, ängstlich, allein. Blum. Hagen
brach ihren Willen, jedes Mal von Neuem. Wie sie sich
hi neinlegen musste und er den Deckel verschraubte. Du lässt
mir keine andere Wahl, Brünhilde. Wann wirst du endlich aufhören,
dich zu wehren, ich habe keine andere Wahl, Brünhilde.
Und Deckel zu. Ein Kind in einer Holzkiste. Sie blieb, solange
sie konnte, so gerne wäre sie stärker gewesen, doch sie war
nur ein Kind. Wehrlos ertrug sie es, niemand half ihr, keiner
kümmerte sich um ihre Tränen, um ihr Flehen. Ich will das
nicht tun. Ich kann nicht. Bitte nicht. Kurz bevor sie die Nadel
durch das Kinn von unten in eine Mundhöhle stach. Der
Faden durch totes Fleisch. Sie hat alles getan, aber es war zu
wenig. Egal, wie sehr sie sich danach sehnte, nach Berührung,
nach Blicken, die ihr sagten, dass ihre Eltern stolz auf sie waren.
Blums Haut blieb allein. Ihr Sehnen blieb ungestillt, sie
war nie genug, egal wie sehr sie sich bemühte. Sie war immer
nur ein kleines Mädchen. Hilflos und ohnmächtig. Die kleine
Blum. Bitte lass mich raus, Papa. Bitte sperr mich nicht ein.
Nicht schon wieder in den Sarg, Papa. Bitte nicht.
Es war Strafe und Qual. Was später Alltag wurde, war am
Anfang die Hölle. Jeder Handgriff, jeder Blick, die kalte, tote
Haut, die sie berührte. Tausendmal wischte sie Augen und
Münder aus, reinigte Wunden, da waren Blut und Maden,
entstellte Leichen, abgetrennte Körperteile, da war keine
Kindheit, keine Torte mit Kerzen, waren keine Puppen, die
sie anzog und auszog. Da waren nur Tote. Große Puppen,
schwere Puppen, behaarte Arme und Beine, Köpfe so schwer,
dass sie sie kaum halten konnte, reglose Münder. Kein Lächeln,
kein schönes Wort, gar nichts. Nur ihr Vater, der sie
antrieb. Unzählige Leichname, Gesichter, Genitalien und
Kot, tote Menschen, die vor ihr herumlagen, um die sie sich
kümmern musste. Ein zehnjähriges Mädchen mit Plastikhandschuhen.
Und wie die Mutter sie zum Essen rief. So als
hätte Blum mit Freundinnen im Hof gespielt. Essen ist fertig.
Wascht euch die Hände, Papas Lieblingsgericht wartet. So als
wäre alles normal, als wäre alles richtig gewesen. Ein ordentlicher
Braten für den Vater, ein Unfallopfer für Blum. Hagen,
wie er die beladene Gabel in seinen Mund schob. Blum, wie
sie an kaputtes Fleisch dachte, an alte, wundgelegene Männer,
an Haut wie Papier, an den Urin und das Blut im Nebenraum,
das sie nach dem Essen wegwischen musste. Es schmeckt herrlich,
Herta, wie immer ein Gedicht. Und wie Blum den Teller
von sich schob.
Seit sie denken kann, waren da Tote. Sie kamen im Leichenwagen,
in Transportsärgen, sie kamen direkt aus ihren Betten,
in denen sie für immer eingeschlafen waren, sie kamen blutend,
verstümmelt, sie kamen mit Herzinfarkten, erstochen,
erschlagen, obduziert, sie kamen einfach in Blums Leben,
drangen ein in ihre kleine Welt. Niemand fragte sie, ob sie
das wollte. Ob sie das konnte. Sie lagen einfach da, tote Menschen
auf dem Aluminiumtisch. Angsteinflößend am Anfang,
irgendwann aber still und friedlich. Blum freundete sich
an mit ihrer Welt, sie begann zu akzeptieren, dass sie keine
Wahl hatte, dass sie nirgendwo sonst hinkonnte. Dass sie die
Lebenden fürchten musste, nicht die Toten. Es war eine Erkenntnis,
die guttat. Mit ihnen allein zu sein. Immer wenn
es ging, zog sie sich in den Versorgungsraum zurück. Die
Toten wurden irgendwann zu Freunden, sie sprach mit ihnen,
Blum war stärker als sie. Sie konnte entscheiden, was mit
ihnen passierte. Keiner konnte ihr wehtun, egal, wie schwer
und wie groß sie waren, sie bewegten sich nicht mehr. Atmeten
nicht, ihre Arme und Beine lagen einfach nur da. Wie
Puppen waren sie, große, kalte Puppen, mit denen sie spielte.
Sie vertraute sich ihnen an, sagte ihnen alles, immer. Sonst
schwieg sie, zu ihren Eltern kein Wort, sie wollte ihre Ruhe,
nichts wissen, sie tat einfach, was von ihr verlangt wurde, und
zog sich zurück. In ihre Welt. Bis gerade eben.
Blum. Wie die Sonne brennt. Wie gut es tut, dass sie endlich
still sind. Mit ihren Eltern auf dem Segelboot, seit sie denken
kann. Die jährlichen drei Wochen auf dem Wasser, das wiederkehrende
Blau. Es war immer wie eine Auszeit von der
Wirklichkeit, ein Traum. Einfach nur schön. Von Triest nach
Jugoslawien, nach Griechenland, in die Türkei, nach Spanien.
Wochenlang auf dem Boot, wochenlang war das Leben gut.
Darauf freute sie sich. Wenn der Anker nach oben ging und
der Wind in die Segel fuhr. Wenn Hagen ihr zeigte, was wichtig
war, wie man steuerte, wie man überlebte im Sturm. Blum
erinnert sich. An alles, was sie gelernt hat, was sie nicht gelernt
hat. Die Inseln, der Wind und die Eltern, die sich sogar
zu einem Lachen hinreißen ließen. Weil Urlaub war.
Ihre Gesichter, die sonst verschlossen waren, öffneten sich,
manchmal hatte Blum sogar das Gefühl, dass da Liebe war,
kurz nur, ein kleines Aufflackern. Zwanzig Jahre lang suchte
sie danach, wartete darauf, sehnte sich danach, ein ganz normales
Mädchen zu sein, eine junge Frau, die mehr kann, als
nur Leichen zu versorgen. Sie will endlich leben, endlich Entscheidungen
treffen.
Sie wird sich nicht rühren, egal, was passiert, nicht bewegen.
Da ist nur Blum, und die Sonne auf ihrer Haut. Sie ignoriert
die Schreie und das Klopfen.
Zwei schwimmende Körper, verzweifelt. Man sieht sie von
oben. Sie versuchen sich festzuhalten, ihre Nägel kratzen immer
noch an der Bordwand entlang. Das gute alte Boot, die
Leiter, die man nach oben klappen kann, die Leiter, die nicht
da ist, wenn man nach ihr schreit. Hagen hat darauf bestanden,
alles im Originalzustand zu belassen, keine Umbauten,
keine Vorkehrungen für den Ernstfall. Macht euch nicht ins
Hemd, nur Idioten vergessen die Leiter oben, sollte mir das je
passieren, dann könnt ihr mich absaufen lassen. Wie selbstherrlich
er war, wie kleinlaut und hilflos jetzt. Der große Hagen
und seine Herta. Kein Weg zurück mehr für die beiden,
sie waren einfach hineingesprungen, kopflos, zwei alte Menschen
ohne Liebe. Zwei Menschen mit schwachen Herzen,
atemlos, panisch. Sie schreien, sie schlucken Wasser. Seit zwei
Stunden schon. Sie wollen zurück ins Boot, die Bordwand
hinauf , sie versuchen alles, sie treten Wasser, sie schwimmen
neben dem Boot, sie weinen, sie schreien, sie prügeln mit
Fäusten auf das Holz ein, sie rufen ihren Namen. Brünhilde.
Immer wieder Brünhilde. Doch Brünhilde hört sie nicht.
Egal, wie laut sie schreien, wie stark ihre Finger bluten. Sie
wissen, dass sie sterben werden. Hagen und Herta. Sie wissen
es. Dass Blum sie hört, dass sie oben liegt und nichts tut. Nur
ihre Musik hört, während das Boot dahintreibt. Sie lächelt,
weil sie weiß, dass es bald zu Ende geht. Dass sie aufhören
werden zu schreien, dass endlich alles gut sein wird. Warm
alles, glücklich fast. Da sind nur sie und der Himmel. Sonst
nichts. Endlich leben.
Über drei Stunden in der prallen Sonne. Still brennt ihre
Haut. Still. Sie kann nichts mehr hören, kein Klopfen mehr.
Niemanden mehr, der ihr sagt, was sie zu tun hat. Hagen und
Herta für immer ohne Worte. Nichts mehr, keine Vergangenheit,
kein altes Leben, in das sie zurückmuss. Blum wird
jetzt steuern, sie wird das Boot zurück nach Triest bringen,
sie wird umbauen, die alten Täfelungen aus dem Haus reißen,
sie wird eine neue Verabschiedungshalle bauen, einen
neuen Versorgungsraum, sie wird das komplette Haus sanieren,
bis in den letzten Winkel. Sie wird alles, was an die beiden
erinnert, auf den Müll bringen. Blum. Sie ist vierundzwanzig
Jahre alt. Sie wird jetzt aufstehen, sich anziehen und
die Küstenwache anfunken, sie wird verzweifelt melden, dass
ihre Eltern verschwunden sind, spurlos, einfach so, während
sie geschlafen hat. Sie wird einen großen Schluck aus Hagens
Schnapsflasche nehmen und auf Hilfe warten. Immer wieder
wird sie über Funk ihr Entsetzen spielen, sie wird schreien
und weinen. Jetzt.
Vierzig Minuten vergehen. Blum sucht das Meer nach ihnen
ab, während sie wartet. Keine Spur von Hagen. Von Herta.
Nichts. Nur ein Unglück ist es gewesen. Sie sind einfach verschwunden,
untergetaucht für immer. Wasser in ihren Lungen,
zwei aufgeschwemmte Leichen irgendwann, die man aus
dem Meer fischen wird.
Blum. Wie sie an Deck steht und winkt. Wie sie um Hilfe
schreit, als sie das Boot sieht. Ein kleiner Segler, nicht die
Küstenwache, ein Tourist, der als Erster ihre Verzweiflung
spürt. Die zitternde Blum, die erzählt, was passiert ist. Der
fremde Mann, der an Bord kommt und ihr hilft, der sich um
sie kümmert, der das Boot absucht und seine Augen über das
Meer schweifen lässt. Seine Stimme, die ihr guttut, die tröstet,
seine Arme, die sich um sie legen. Einfach so, ganz plötzlich
Zärtlichkeit. Seine Hände, der Sonnenbrand, ihre Haut.
Ich bin eingeschlafen. Es ist meine Schuld, wir müssen sie finden.
Wo sind sie, um Gottes willen, wo sind sie nur? Was habe
ich nur getan, wir müssen zurück, sie suchen, sie sind nicht
mehr da, sie sind weg, einfach weg. Was, wenn sie tot sind? Sie
schreit. Laut reißt sie sich von ihm los, sie schlägt sich ins
Gesicht, immer wieder, sie gibt sich die Schuld für das, was
passiert ist. Es ist meine Schuld, brüllt sie. Als er sie festhalten
will, schlägt sie auch ihn, sie weint, sie will sich losreißen,
sie muss jetzt alles richtig machen. Blum. Alles, was sie jetzt
sagt, alles, was sie tut, muss ihn überzeugen, er muss ihr glauben,
er darf nicht zweifeln, keine Sekunde, der fremde schöne
Mann. Sie lässt sich festhalten von ihm, sie ist ihm ganz nah,
ihr Gesicht an seiner Brust, er hält sie, sie atmet schnell, sie
kann ihn riechen, sie hört ihn. Seine Stimme, wie er flüstert.
Mein Name ist Mark, sagt er. Ich bin Polizist, alles wird gut.
1
Uma springt. Der kleine Körper fliegt durch die Luft, ein großes
Lachen ist in ihrem Gesicht, kleine weiße Zähne, glückliche
Augen. Ein kleines Mädchen, drei Jahre alt, wie sie fröhlich
landet, sich umarmen lässt, sich an sie schmiegt. Mama,
ich habe von einem Bären geträumt, er hat laut geknurrt, er
wollte mich fressen. Ich musste davonlaufen, Mama. Blum umarmt
sie, streicht zärtlich mit ihren Fingern über den kleinen
Kopf, berührt die Kinderwange und sagt ihr, dass der
Bär nur mit ihr spielen wollte. Dass es nur ein Traum war.
Dir wird nichts passieren, ich beschütze dich. Du musst keine
Angst haben. Blum küsst Uma auf die Stirn. Uma Blum, sie ist
drei Jahre alt, seit einigen Monaten spricht sie, ein Engel mit
blonden Locken. Noch ein Engel. Nela ist wieder eingeschlafen,
zufrieden liegt sie im Arm ihres Vaters. Im Ehebett am
Morgen. Blum und Mark. Ein ganz normaler Tag.
Vor acht Jahren haben sie sich das erste Mal berührt. Auf
dem Boot hat er sie umarmt. Ein wundervoller Mann, vom
ersten Augenblick an, plötzlich war er da und kümmerte sich
um sie. Mark wartete mit ihr, bis die Küstenwache kam, bis
sie Hunderte von Fragen beantwortet hatte. Er blieb einfach
da. Er schilderte den zuständigen Polizisten, wie er Blum gefunden
hatte, er beteuerte, dass er keinen Zweifel an ihrer
Version der Geschichte habe. Alles sprach dafür, dass sie die
Wahrheit sagte. Die verbrannte Haut, die Verzweiflung, die
Tränen, Blum hatte bei einem tragischen Unfall ihre Eltern
verloren. Und Mark hatte sie gefunden. Ein Kriminalbeamter
im Urlaub, ein Österreicher wie sie. Leidenschaftlicher Segler,
alleinstehend. Alles passte zusammen, es war Schicksal, dass
sie sich an diesem Tag begegneten, sie hatten einander gefunden,
und sie haben einander bis heute nicht mehr losgelassen.
Ihre ineinander verflochtenen Körper, Haut an Haut, wie sie
sich liebevoll berühren. Ganz nah sind sie sich, ihre Münder,
die Guten Morgen flüstern, bevor sie beginnen, knurrend
mit ihren Kindern herumzubalgen. Uma und Nela. Mark und
Blum. Alles fühlt sich gut an, glücklich bleiben sie nebeneinander
liegen und schauen zu, wie die Mädchen aus dem Bett
steigen und sich auf den Weg zu ihrem Großvater machen.
Ich will Kakao, Papa. Ich will Salami, Mama. Wir gehen zu
Opa. Ihr seid langweilig. Blum lacht. Mark hält sie liebevoll
in seinen Armen, er lässt sie nicht los, schnurrend schmiegt
sie sich an ihn. Ich will für immer mit dir in diesem Bett bleiben,
sagt sie. Blum genießt es. Alles. Jeden Tag, jede Stunde,
ihr Leben. Seit acht Jahren tanzen seine Finger auf ihr, seit
sechs Jahren sind sie verheiratet, seit fünf Jahren sind sie eine
Familie , leidenschaftlich stürzten sie sich in diese Liebe. Wie
ein Rausch ist es, immer noch.
– Mark?
– Ja?
– Kannst du nicht einfach zu Hause bleiben?
– Leider nein, aber ich komme ja wieder. Es ist viel los im
Moment.
– Was denn?
– Das willst du nicht wissen, meine Schöne.
– Wir könnten doch einfach so tun, als wäre die Welt nicht
da draußen.
– Ja, das könnten wir.
– Aber?
– Ich muss die Bösen jagen.
– Du musst nicht. Du willst.
– Und du willst mit deinen Leichen spielen, ich kenne dich.
Lange würdest du es sowieso nicht aushalten hier, in zehn
Minuten würdest du aufspringen und mir erklären, dass
du dringend eine Versorgung machen musst, dass der alte
Herr, der gestern gekommen ist, nicht mehr länger auf
dich warten kann.
– Würde ich das?
– Ja, würdest du.
– Zwei Minuten noch, einverstanden?
– Auch zehn, wenn du willst.
– Weißt du, was das Schlimmste wäre?
– Was?
– Wenn du mich nicht mehr halten würdest.
– Ich werde dich immer halten, meine Blume.
– Bitte, hör nie auf damit.
Schon auf dem Boot hatte sie gespürt, dass dieser Mann sie
glücklich machen würde. Wie er sie umarmt und getröstet
hat, ein Fremder. Ein Kriminalbeamter, wie absurd. Er hätte
sie durchschauen können, ihr die Maske herunterreißen und
sie einsperren, er hätte alles beenden können, noch bevor es
begonnen hatte. Doch es war anders gekommen. Blum wollte,
dass die Umarmung, die da plötzlich war, nicht mehr aufhörte,
sie wollte diese Arme kennenlernen, diese Hände. Sie
wollte ihn haben, zum ersten Mal einen Mann, zum ersten
Mal hielt sie es für möglich. Sie war bereit, ihn an sich heranzulassen,
ohne Zögern, ohne Angst. Ganz nah. Mark. Er tat
ihr gut, er stellte keine Fragen, er ließ sie einfach so sein, wie
sie war. Und er ließ sich auch nicht abschrecken von dem,
was sie machte, er hatte keine Angst vor den Toten.
Sie traf ihn wieder. Zurück im Hafen von Triest, zurück in
Österreich, sie verstanden sich, ohne viele Worte fanden sie
sich. Er war ein Freund, ihr Beschützer, er war da, als sie ihre
Eltern beerdigte, er war da, als sie das Bestattungsinstitut umbaute,
er half ihr, wo er konnte. Und irgendwann war da der
erste Kuss. Es passierte einfach. Sie saßen im Kühlraum und
tranken Bier, erschöpft und glücklich. Sie hatten den Versorgungsraum
neu verfliest, es war Spätsommer, sie schwitzten,
sie lachten, sie saßen auf Bierkisten.
– Blum?
– Ja?
– Das ist der geilste Kühlschrank, in dem ich je gesessen bin.
– Du sitzt öfters in Kühlschränken?
– Ich bin Polizist.
– Und Polizisten sitzen in Kühlschränken?
– Selbstverständlich.
– Du bist verrückt.
– Nicht mehr als du. War schließlich deine Idee, das Feierabendbier
hier drin zu trinken.
– Es ist unser viertes.
– Hör auf zu zählen, Blum.
– Es stört dich tatsächlich nicht, dass hier normalerweise die
Verstorbenen liegen?
– Nein.
– Ich war viel hier, als ich ein Kind war.
– Mit den Toten oder ohne sie?
– Mit.
– Türe geschlossen oder offen?
– Geschlossen.
– Warum?
– Das war mein Versteck. Hier haben sie mich nicht gesucht,
ich war oft stundenlang hier. Habe einfach dagesessen und
habe sie beobachtet. Wie sie tot waren.
– Etwas kalt vielleicht bei geschlossener Tür.
– Skiunterwäsche, Skianzug, Handschuhe, Mütze.
– Etwas abgedreht, aber dir glaube ich das.
– Kannst du auch.
– Du würdest mich nicht anlügen, stimmt’s?
– Wie meinst du das?
– Du bist ehrlich zu mir.
– Warum sollte ich das nicht sein?
– Ich kann dir vertrauen?
– Warum fragst du mich das?
– Weil ich dich küssen muss.
– Musst du?
– Ich kann nicht mehr anders, seit zwei Monaten will ich es
tun, eigentlich wollte ich dich schon küssen, als ich dich
auf dem Boot gesehen habe. Es tut mir leid, ich muss es
wirklich.
– Du musst mich also küssen? Und dazu musst du mir vertrauen
können?
– Wenn ich dich geküsst habe, werde ich dich heiraten
wollen . Da ist es von Vorteil, wenn man sich vertraut, findest
du nicht auch?
– Du kennst mich doch gar nicht.
– Doch, ich kenne dich.
– Ich habe als Kind mit Toten gespielt.
– Und ich habe Katzen in einen Sack gesteckt und ertränkt.
Ich habe Feuerwerkskörper in Frösche gesteckt und zugesehen,
wie sie zerrissen wurden.
– Hast du nicht.
– Doch.
– Warum?
– Ich war neugierig.
– Ich auch.
– Deshalb muss ich dich küssen.
– Und ich? Werde ich nicht gefragt?
– Auf keinen Fall.
– Warum?
– Weil du wahrscheinlich Nein sagen würdest.
– Würde ich das?
– Ja.
– Warum bist du dir da so sicher?
– Weil du seit zwei Monaten Angst davor hast.
– Habe ich das?
– Ja.
– Und jetzt?
– Nehme ich dir diese Angst.
Wie schön es war. Wie nah sich ihre Gesichter kamen, ihre
Lippen. Wie sie sich trafen, weich, aufgeregt, zitternd. Vertraut
und fremd und schön. Mark und Blum im Kühlraum.
Wie sie sich küssten, lange und zärtlich.
Bis heute liegen ihre Münder aufeinander, bis heute ist
die Angst nicht zurückgekehrt. Seit acht Jahren berühren sie
sich, halten sich. Seit acht Jahren der gemeinsame Morgen,
das Bett, in dem sie liegen, das Haus, das sie zum Paradies gemacht
haben.
Eine Jugendstilvilla mitten in Innsbruck, ein großer Garten
mit Apfelbäumen, zwei Geschosse. Als Hagen und Herta unter
der Erde waren, hat Blum alles Alte aus dem Haus gerissen,
das Schlafzimmer ihrer Eltern, die alte Zirbenstube, die
Küche, alles. Nichts mehr blieb, nur die alten Holzböden behielt
sie, in stundenlanger Arbeit schliff sie sie ab. Sie putzte
und malte, Mark half ihr dabei. Er bot sich an, und sie bedankte
sich. Wenn du sonst nichts Besseres zu tun hast. Wie
kann ein Mensch nur so freundlich sein? Mark, du bist meine
gute Fee. Hast du eigentlich keine Freundin? Er sagte stirnrunzelnd
Nein, und Blum genoss es. Dass er immer wieder
zu ihr kam, dass er beschlossen hatte, sich um sie zu kümmern.
Dass er sie schön fand und Urlaub für sie nahm. Dass
er sogar Arbeitskollegen dazu brachte, mit anzupacken, das
halbe Landeskriminalamt half mit, Wände einzureißen und
Schutt zu verräumen.
Das Haus der Blums wurde ausgehöhlt und neu eingerichtet,
die Wände wurden bunt und die alten Geister vertrieben.
Gemeinsam mit Mark wanderte sie nachts durch das ganze
Haus und räucherte aus. Sie gingen von Raum zu Raum,
Rauch stieg auf, der Duft von Wacholder, Zimt und Orangenschalen
lag in der Luft. Egal, ob Mark daran glaubte oder
nicht, er ging neben ihr, er assistierte der Hexe, er bemühte
sich, das Böse zu spüren. Sie durchstreiften das Haus vom
Keller bis zum Dachboden, jeder Winkel wurde mit positiven
Gedanken geflutet, alles, was gewesen war, verschwand.
Die Gedanken an Hagen und Herta, an den Alltag mit ihnen,
Blum warf sie in den Müll. Für immer. Was übrig blieb, war
ein Wohntraum, eine Oase der Ruhe mitten in Innsbruck, ein
modernes Bestattungsinstitut im Schatten von Apfelbäumen,
geführt von einer jungen Frau, die den Toten und den Trauernden
mit Respekt begegnete. Das Unternehmen begann zu
blühen. So wie Blum selbst auch.
Der Kuss im Kühlraum. Mark, der bei ihr einzog. Die Liebe,
die die alte Villa plötzlich erfüllte. Alles war wie ein Traum,
ein Märchen, das wahr wurde, es war wie in den Büchern, die
Blum gelesen hatte, wie in den Geschichten, in die sie sich
geflüchtet hatte. Es war das Glück der anderen gewesen, das
sie am Leben erhalten hatte, die Sehnsucht danach. Das, woran
sie nie wirklich geglaubt hatte, liegt jetzt neben ihr. Immer
noch. Acht Jahre später seine Arme um ihre Hüften,
sein Atem in ihrem Ohr, sein Flüstern. Alles soll so bleiben,
nichts soll sich verändern. Jeden Tag sagt sie es, jeden Tag bittet
sie ihn, nicht damit aufzuhören, sie zu lieben. Jeden Tag
ein Kuss, bevor sie mit dem Tag beginnen. Dankbar dafür
löst sie sich von ihm und springt aus dem Bett. Dankbar für
den Kuss. Dankbar für die Kinder. Dass das Glück so weit
gehen konnte, damit hätte Blum damals nicht eine Sekunde
lang gerechnet. Dass es ihr vergönnt sein würde, kleine Menschen
in die Welt zu setzen, zu lieben. Blum wollte damals
nicht daran denken, sie stürzte sich in die Umarmung mit
Mark. An Kinder zu denken, das hatte sie nicht gewagt. Sie
hatte Angst, dass das Glück aufhören könnte, wenn sie es herausforderte,
dass die Liebe über Nacht einfach nicht mehr
da sein würde. Eigene Kinder zu haben, sie aufwachsen zu
sehen, sie zu lieben, Blum wischte die Gedanken daran drei
Jahre lang vom Tisch. Mutter zu sein, sie konnte es sich nicht
vorstellen, sie hatte Angst, zu wiederholen, was sie gelernt
hatte. Die Lieblosigkeit, die Kälte, sie wollte nicht herausfinden,
ob sie so war wie Herta und Hagen. Immer war da
diese Angst, wenn Mark davon zu reden begann, es schnürte
ihr den Hals zu, ließ sie schweigen. Sie traute es sich nicht
zu, lange Zeit nicht, doch irgendwann überwand sie sich. Die
Sehnsucht wurde zu groß, der Wunsch nach Kindern. Zweimal
passierte es. Vor fünf und vor drei Jahren, kleine Wunderwesen.
Blum kümmerte sich um jede Träne, um jeden
Schrei, sie sorgte sich, berührte sie, wann immer sie konnte,
stundenlang trug sie sie, streichelte sie, redete ihnen gut zu.
Nächtelang lag sie wach und schaute ihre Engel an, wie sie
schliefen. Bis heute zweifelt sie manchmal daran, dass es wahr
ist. Dass sie da sind.
2
Uma und Nela. Sie sind oben bei Karl. Marks Vater, der jeden
Morgen über seiner Zeitung sitzt, wenn sie in seine
Küche stürmen. Ein gütiger alter Mann, der den Kindern
Kakao macht, der mit ihnen lacht und bastelt, ihr Opa, der
sie liebt und alles für sie tun würde. Uma auf seinem Arm,
Nela löffelt Kakao in eine pinke Tasse. Karl erzählt ihnen Geschichten
zum Frühstück, er ist ein Segen für alle im Haus.
Mark und Blum haben ihn zu sich genommen vor zwei Jahren,
eine Zecke hatte ihn gebissen, eine Gehirnhautentzündung
war schuld an der Frühpension, daran, dass er sich verändert
hatte. Dass er auf Hilfe angewiesen war in manchen
Situationen. Hilfe, nach der er niemals verlangen würde, über
die er aber froh ist. Es gibt Dinge, die er vergisst, an die er
sich nicht mehr erinnert, Alltägliches, das ihm schwerfällt.
Mark wollte ihn nicht alleine in seiner kleinen Wohnung
lassen, deshalb schlug Blum vor, den ungenutzten zweiten
Stock des Hauses umzubauen. Karl sollte bei ihnen wohnen,
Blum wusste, wie wichtig er für Mark war. Karl war lange Zeit
alles für ihn, Marks Mutter war früh gestorben, da war immer
nur Karl gewesen, seit er denken konnte. Wenn er aufwachte,
wenn er schlafen ging, immer nur Karl. Sohn und
Vater, Alleinerzieher, zwei Männer am Frühstückstisch, väterliche
Worte, wenn es die Zeit zuließ. Sie hielten zusammen,
so gut es ging. Mark war viel allein gewesen, oft tagelang,
Nächte. Ein kleiner Junge allein unter der Bettdecke, ein
kleiner Junge, der immer darauf vertraute, dass sein Vater zurückkam.
Dass ihm nichts passieren würde, dass das Band
zwischen ihm und seinem Vater stärker war als alles sonst.
Mark war allein, er trieb sich herum, er war wie ein streunender
Hund, doch er war glücklich. So glücklich es ging.
Weil Karl sich bemühte. Immer. Auch vor zwanzig Jahren in
der Küche, Mark war fünfzehn, er hat Blum davon erzählt,
von seinem Leben ohne Mutter, von diesen Gesprächen zwischen
Vater und Sohn, die sich so oft wiederholten, von Karl,
der mit seinem Feierabendbier am Küchentisch saß, während
Mark das Geschirr abspülte.
– Weißt du schon, was du machen willst, Mark? Nach der
Schule?
– Ich will zur Polizei. Wie du. Zur Kripo.
– Ach, Junge, du weißt ja nicht, was du da redest.
– Doch, ich weiß es.
– Dieser Beruf ist nicht immer nur schön.
– Welcher Beruf ist das schon.
– Wir haben heute eine junge Mutter in ihrer Wohnung gefunden,
sie hatte ihr Baby so lange geschüttelt, bis es tot
war. Ihre Schwester hatte sie gefunden und uns angerufen.
Die Mutter saß am Boden und hat das Baby gehalten, sie
hat geweint, als ihr die Sanitäter das Kind aus den Armen
nahmen. Sie hat gesagt, dass das Kind nicht aufgehört hat
zu schreien. Sie wollte nur, dass es still ist.
– Wir haben kein Spülmittel mehr.
– Hast du mich verstanden, Mark?
– So ist das Leben, Papa.
– Nein, so ist es nicht, so ist es nur für Leute wie mich, für
diejenigen, die sich dafür entscheiden, damit ihr Geld zu
verdienen. Du musst das nicht sehen, solche Dinge, du
kannst dem aus dem Weg gehen.
– Will ich aber nicht.
– Du solltest studieren, Mark, die ganze Welt steht dir offen,
zur Polizei kannst du immer noch gehen.
– Ich will es aber so.
– Warum?
– Wenn es gut für dich ist, dann ist es auch gut für mich.
– Deine Mutter hätte bestimmt gewollt, dass du studierst,
Wirtschaft oder Medizin.
– Meine Mutter ist aber nicht mehr da.
– Ich weiß.
– Du musst dir keine Sorgen um mich machen.
– Es tut mir alles so leid, Mark.
– Was?
– Alles.
– Du hast alles richtig gemacht, alles, verstehst du, und jetzt
trink dein Bier und hör endlich auf, dir Sorgen zu machen.
Karl. Zwanzig Jahre später erzählt er den Kindern Geschichten.
Uma und Nela lieben ihn, seinen Bart, an dem sie ihre Kinderhaut
reiben, seine Stimme, seine Arme, die sie in die Luft
werfen, sein Lachen. Karls Leben ist einfach geworden, keine
Verbrechen mehr, keine Toten, nur noch die Kinder und sein
Ohrensessel, in dem er die Tage verbringt. Wie er stundenlang
Musik hört, auf der Terrasse sein Gesicht in der Sonne, immer
ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen. Karl. Wie Mark
immer wieder nach dem alten Mann sieht, ihn zudeckt, wenn
er eingeschlafen ist in seinem Sessel. Die Kinder lieben ihn, es
steht in ihren Gesichtern, wenn sie von oben herunterkommen
und berichten, was Opa ihnen alles erzählt hat.
Alles, was früher war, ist vergessen. Das Leben vor Mark.
Alles, was ist, will sie für immer festhalten. Blum, mit einem
Lächeln am Frühstückstisch. Wie Mark seine Kaffeetasse hält
und ihr zusieht. Wie sie Butterbrote schmiert, wie sie den
Kindern erklärt, dass die Bienen den Honig machen, dass
sie nicht trödeln sollen, dass sie in den Kindergarten müssen.
Wie ungeduldig sie ist und trotzdem liebevoll, wie sie die
Kinder antreibt und trotzdem noch einmal fragt, ob sie noch
ein Brot wollen. Wie die Kinder kauen und schmatzen, wie
sie den Honig überall auf dem Tisch verteilen, während Blum
sich noch kurz mit Mark unterhält, bevor er in den Tag geht.
– Wann kommst du wieder?
– Spät.
– Schwierige Dinge?
– Ja.
– Welche?
– Das willst du nicht wissen, Blum.
– Vielleicht ja doch.
– Die Welt ist schlecht, es reicht, wenn ich mich damit herumschlagen
muss.
– Du willst es so.
– Ich kann nicht anders.
– Mein Held, mein Retter, das gute Gewissen der Stadt.
– Etwas Eigenartiges passiert hier.
– Du meinst den Honig?
– Ja, ich meine den Honig.
– Willst du darüber reden?
– Nein.
– Du weißt, dass du das kannst, ich bin einiges gewohnt.
– Ja. Trotzdem nein, ich muss zuerst Gewissheit haben. Im
Moment bin ich allein damit, ich bin der Einzige, der ein
Verbrechen sieht, wo keines ist.
– Vertrau auf dein Gefühl.
– Das ist ja das Problem, genau das tue ich nämlich.
– Du wirst die Bösen kriegen, du wirst sie hinter Gitter bringen
und für Gerechtigkeit sorgen. Und ich werde mich um
den alten Mann kümmern.
– Wie ist er gestorben?
– Das willst du nicht wissen.
– Vielleicht ja doch.
– Du bist so süß, wenn du lachst.
– Ach du.
Keine Wut, kein Ärger, keine Traurigkeit, nichts. Es ist nur
schön, nichts tut weh, keine Kunden nerven, die Kinder sind
pflegeleicht an diesem Morgen. Nichts bereitet ihr Sorgen, es
ist ein guter Tag, Blum genießt es, dieses unbeschwerte Gefühl,
das Glück, wenn sie ihn anschaut. Mark. Seine Mundwinkel,
die nach oben zeigen, die Ruhe, die von ihm ausgeht,
die Kraft. Sie fühlt sich beschützt und geborgen, Mark
ist Heimat, er ist einfach da, er geht nicht weg. Egal wie laut
sie schreit, egal ob sie sich gehen lässt und wütet, egal ob sie
manchmal am Leben zweifelt und Angst hat. Mark liegt neben
ihr, wenn sie aufwacht. Sie spürt ihn, immer. Mark.
Blum weiß, dass ihn etwas plagt, dass er sich Sorgen macht.
Es nagt an ihm, lautlos und heimlich, aber Blum merkt es. Sosehr
er sich auch bemüht, seinen Polizeialltag am Eingangstor
abzustreifen, es gelingt ihm nicht immer. Blum sieht,
wie seine Gedanken rasen, wie er nicht loslassen kann, wie
seine Aufmerksamkeit ihr und den Kindern gegenüber im-
mer wieder nachlässt. Mark und seine Leidenschaft für diesen
Beruf. Der Kriminalbeamte. Wie er schwärmt, wenn
man ihn fragt, was er macht. Dass es keinen schöneren Beruf
gibt für ihn auf dieser Welt, dass nichts ihn davon abbringen
kann weiterzumachen, weiter an das Gute zu glauben.
Er liebt, was er tut, er glaubt daran, und er ist auch bereit,
den gewohnten Weg manchmal zu verlassen, um sein Ziel
zu erreichen. Mark glaubt an sein Gefühl, er spürt mehr, als
er denkt, Logik ist nicht immer seine Sache, er handelt aus
dem Bauch heraus, folgt einem Geruch, einem Wort, einem
Eindruck. Er glaubt an Intuition, und er glaubt an alles, was
ihm sein Vater beigebracht hat, an die vielen Kleinigkeiten,
die er über die Jahre beobachtet hat, die Einschätzungen seines
Vaters beim Bier am Abend. Die stundenlangen Gespräche
über ungelöste Fälle. Noch bevor er sich tatsächlich dazu
entschieden hatte, Polizist zu werden. Karl war sein Lehrer,
er brachte ihm bei, menschlich zu sein. Was er als Sechzehnjähriger
belächelte, beherzigt er bis heute. Manchmal musst
du Entscheidungen treffen, Mark. Völlig egal, was die anderen
sagen, du wirst das tun, was dir dein Herz sagt. Keine Gewalt,
keine Übergriffe. Wenn einer am Boden liegt, trete nicht auf ihn
ein. Du bist einer von den Guten. Vergiss das nie. Karl machte
aus Mark einen Polizisten. Einen der besten. Einen, der auch
einmal Gnade vor Recht ergehen lässt. Mark bemüht sich,
immer nach dem Grund eines Verbrechens zu fragen, er will
verstehen, wie es dazu gekommen ist, warum jemand straffällig
geworden ist. Warum jemand riskiert, geächtet und
eingesperrt zu werden. Warum jemand bereit ist, mit einem
Vorschlaghammer auf einen Geldautomaten einzuschlagen.
Jemand wie Reza.
3
Es war vor sechs Jahren. Reza wollte doch nur das Geld, ein
bisschen davon, nur so viel, dass er überleben würde, er wollte
sich Essen kaufen, er hatte Hunger. Reza hatte die Überwachungskamera
an der Fassade mit einem Stein außer Gefecht
gesetzt, die Kamera am Automaten hatte er mit Klebeband
verdeckt. Als Mark kam, schlug er gerade zum wiederholten
Mal auf den Automaten ein. Mit voller Wucht, dorthin, wo
das Geld war, immer wieder. Reza bemerkte nicht, wie Mark
auf ihn zustürmte. Mark drückte ihn nach hinten, es war wie
im Krieg, ein Soldat am Boden, verletzt, am Ende angekommen,
der Feind über ihm, mit einer Waffe in der Hand. Mark,
wie er auf Reza zielte, wie er ihn zwang, sich auf den Bauch
zu legen, aufzugeben.
Reza ist Bosnier. Seit sechs Jahren arbeitet er nun als Bestatter.
Ist Blums Gehilfe, ihre rechte Hand. Er hatte alles verloren
im Krieg, seine Brüder, seine Eltern, sein Haus. Alles
war verbrannt, nichts mehr war übrig. Dass er überlebt hatte,
war wie ein Wunder, er hatte sich versteckt, hatte zugesehen,
wie die Serben schlachteten. Von einem Tag auf den anderen
musste er lernen, was Krieg bedeutete, wie brutal das Leben
sein konnte, der Tod, wie blutig, wie laut. Nichts blieb ihm,
niemand, der für ihn da war, sich um ihn kümmerte, Reza
war allein, ohne Dach über dem Kopf, ohne Geld, da war
nichts mehr. Nur Blut und Krieg und Töten.
© BTB Verlag
... weniger
Autoren-Porträt von Bernhard Aichner
Bernhard Aichner (1972) lebt als Schriftsteller und Fotograf in Innsbruck. Er schreibt Romane, Hörspiele und Theaterstücke. Für seine Arbeit wurde er mit mehreren Literaturpreisen und Stipendien ausgezeichnet, zuletzt mit dem Burgdorfer Krimipreis 2014, dem Crime Cologne Award 2015 und dem Friedrich Glauser Preis 2017.Die Thriller seiner "Totenfrau"-Trilogie standen monatelang an der Spitze der Bestsellerlisten. Die Romane wurden in 16 Länder verkauft, u.a. auch nach USA und England. Mehrere seiner Romane wurden verfilmt, u.a. seine Totenfrau-Trilogie für Netflix/ORF.
Bibliographische Angaben
- Autor: Bernhard Aichner
- 2014, Originalausgabe, 448 Seiten, Maße: 13,5 x 21,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: BTB
- ISBN-10: 3442754429
- ISBN-13: 9783442754427
- Erscheinungsdatum: 05.03.2014
Rezension zu „Totenfrau / Totenfrau-Trilogie Bd.1 “
"Eine Adrenalin-Spritze für das Krimi-Genre! Die Totenfrau ist eine rasende Rachegöttin, die einen schauern lässt. Ein Hammerbuch." Kester Schlenz - STERN
Pressezitat
"Eine Adrenalin-Spritze für das Krimi-Genre! Die Totenfrau ist eine rasende Rachegöttin, die einen schauern lässt. Ein Hammerbuch." Kester Schlenz - STERN
Kommentare zu "Totenfrau / Totenfrau-Trilogie Bd.1"
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