Transportnummer VIII/1 387 hat überlebt
Als Kind in Theresienstadt
Wie kann ein Kind den Holocaust überleben? Die 8-jährige Margot verliert ihr Zuhause, ihre Freunde werden ermordet, ihre Familie wird vergast. Nach der Entmenschlichung in den Judenhäusern Hannovers kommt sie in das KZ Theresienstadt. Sie überlebt...
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Klappentext zu „Transportnummer VIII/1 387 hat überlebt “
Wie kann ein Kind den Holocaust überleben? Die 8-jährige Margot verliert ihr Zuhause, ihre Freunde werden ermordet, ihre Familie wird vergast. Nach der Entmenschlichung in den Judenhäusern Hannovers kommt sie in das KZ Theresienstadt. Sie überlebt medizinische Versuche an ihrem kindlichen Körper, übersteht Hunger und Elend im KZ. Nach der Befreiung wagt sie einen Neuanfang im Land der Täter und Verräter. Ihr Lebensinhalt ist die Erinnerung: "Ich habe überlebt, damit diese unfassbare Geschichte und die vielen ermordeten Menschen niemals vergessen werden."In ihrer bewegenden Autobiografie führt Margot Kleinberger den Leser in die verlorene Welt des deutschen Judentums vor dem Krieg und in die Hölle des Konzentrationslagers.
Lese-Probe zu „Transportnummer VIII/1 387 hat überlebt “
Transportnummer VIII/1 387 hat überlebt von Margot Kleinberger Vorwort
Dieses ist ein Buch der Erinnerungen. Alles, was Sie auf den folgenden Seiten lesen werden, habe ich selbst erlebt. Dinge, die ich nicht erlebt oder gesehen habe, habe ich nur in Ausnahmefällen aufgeschrieben. Daher erhebt dieses Buch auch nicht den Anspruch, ein wissenschaftliches Dokument zu sein, auch wenn viele Wissenschaftler meine Erlebnisse für ihre Studien herangezogen haben oder dieses in Zukunft noch tun werden.
Dennoch ist dieses Buch auch ein historisches Dokument. Denn es spricht für all jene Menschen, die niemals in der Lage waren, über diese furchtbare Zeit zu sprechen. Sie wurden ermordet. 1938 lebten in Hannover noch 2000 Juden. Anfang der dreißiger Jahre waren es noch knapp 6000 Juden gewesen. 2400 Juden wurden deportiert, davon über 2200 ermordet. Meine Eltern, meine Schwester und ich überlebten wie durch ein Wunder die Shoa als eine der ganz wenigen hannoverschen Juden. Im Juli 1942 wurde ich mit meiner Familie in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert.
Die ehemaligen Kasernen aus der Zeit Maria Theresias wurden von den Nazis als „Altersghetto“ oder als Musterlager für prominente Juden deklariert. So kolportierte es jedenfalls die NS-Propaganda. Die Wirklichkeit sah ganz anders aus. Tatsächlich „lebten“ dort zeitweise 40.000 Insassen unter erbärmlichen Zuständen. Die Befreiung kam zu spät. Von den über 140.000 Menschen, die zwischen 1941 und 1945 nach Theresienstadt deportiert
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wurden, erlebten gerade noch 17.000 Personen die Befreiung.
Ich habe überlebt. Dennoch: Man hat uns ausgelöscht. Das deutsche Judentum, wie es vor dem Krieg existierte, wird es nie wieder geben. Meine Eltern waren stolz darauf, Deutsche zu sein. Mein Vater diente im Ersten Weltkrieg, meine Mutter versorgte als Krankenschwester die Kranken. Wir waren eine ganz normale deutsche Familie und wir waren Juden. Das war kein Widerspruch.
Lange habe ich nicht darüber gesprochen, was tatsächlich passiert ist. Weder wollte ich meine sechs Kinder damit belasten, noch wollte ich bei den nichtjüdischen Nachgeborenen ein schlechtes Gewissen hervorrufen. Doch je mehr Zeit verstrichen ist, desto mehr musste ich erkennen, wie viel Ungerechtigkeit uns Kindern widerfahren ist. Man hat uns unserer kindlichen Unschuld beraubt, unser Eigentum gestohlen, unsere Zukunft genommen. Eine wirkliche Entschädigung hat niemals stattgefunden.
Es sind viele Dinge in diesem Land passiert, die viele deutsche Nichtjuden entweder noch immer nicht wahrhaben wollen oder tatsächlich nicht gewusst haben. Doch die wenigsten haben ihren Kindern oder Enkeln von dieser Zeit erzählt. So stoße ich bei meinen Vorträgen vor Schulklassen auf erstaunende Unkenntnis bei Schülern, aber auch bei vielen Lehrern. Auch für sie ist dieses Buch.
Was geschehen ist, soll niemals vergessen werden.
Margot Kleinberger
Das Mädchen mit der Schultüte
Staubig ist er, der alte Koffer, den die Kinder aus dem Keller geholt haben. Eigentlich wollten sie, die inzwischen schon längst ausgezogen waren und ihre eigenen Familien gegründet hatten, nur noch nach ihren alten Kindersachen sehen, aber dann entdeckten sie diesen alten Koffer. Staubig war er und ganz gelb von den vielen Jahren im feuchten Keller. Niemand wusste eigentlich genau, wie er dahin gekommen war. Und keiner, selbst ich nicht, konnte ahnen, welche Geheimnisse dieser schäbige alte Koffer, der gewiss einmal auf vielen Reisen war, in seinem Innern verbarg. Da waren alte Fotos von mir und meinen drei erstgeborenen Söhnen. Sie erzählen von ihrer Kindheit, von ihren Bar Mitzwot und meinem Leben mit ihnen und meinem ersten Mann. Das war schon so lange her. Dann wurde es still. Eine meiner Töchter hatte ein Foto in der Hand und drehte sich zu mir um. Da war ein kleines Mädchen mit langen Zöpfen und einer Schultüte im Arm. Sie fragte mich: „Wer ist das?“ und ich antwortete: „Ich.“ Es war das erste Mal, dass meine Kinder mich als Kind gesehen hatten. Dieses kleine Mädchen war tatsächlich einmal ich gewesen. Wie unschuldig und unwissend ich damals in die Kamera schaute. Wer sollte ahnen, dass dieses Mädchen aus wohlbehütetem Elternhaus ein paar Jahre später wirklich den wahren Ernst des Lebens kennen lernen sollte und ihre Kindheit bald ein abruptes Ende nehmen würde.
Doch noch schien die Sonne warm vom blauen Himmel. Ich balancierte auf den weißen Steinen am Rande des Maschparks. Unser Kindermädchen ging mit uns hierhin. Sie kam aus dem jüdischen Waisenhaus am Emmerberge und betreute uns während der Woche. Uns, das waren ich und meine kleine Schwester Gerda. Sie war ein Jahr jünger als ich. Wir gingen über den feuchten Kies zu den Stufen, auf denen schon die weißen Schwäne und bunten Enten auf Brot warteten.
Es war so ruhig und idyllisch – das blaue Wasser, das Grün mit den bunten Blumen ringsumher, die Sonne – das hat sich als eine meiner ersten Erinnerungen, ich war wohl etwa vier Jahre alt, tief in mir eingegraben.
Ich kannte den Maschpark nur zu gut. Schließlich wohnten wir ganz in der Nähe. Wer hier wohnte, hatte es zu bescheidenem Wohlstand gebracht. Darauf war mein Vater stolz. Die Wohnung in der Bleichenstraße war groß. Es gab ein Herrenzimmer in dunklem Holz, ein Wohnzimmer in Mahagoni, ein Esszimmer in Kirschholz, dann kam das Badezimmer, daneben das Gäste-WC und das Schlafzimmer meiner Eltern. Diesem gegenüber lag das große Kinderzimmer und neben der breiten Eingangstür die große Küche, beide mit Blick auf die Straße.
In der Küche war alles doppelt angeordnet – getrennt für die koschere Zubereitung für milchig und fleischig. Wir waren nicht orthodox, aber religiös. Mein Vater war ein guter Deutscher und ein religiöser Jude. So hatte er es von seinen Eltern in Bückeburg gelernt und so wünschte er es sich auch von seinen Töchtern.
Mein Opa, Wolf Kreuzer, war aus Kalisch an der deutsch-polnischen Grenze. Seine Mutter war bei seiner Geburt gestorben, seine Geschwister auf die Geschwister der Eltern verteilt worden. Als er vierzehn Jahre alt war, trank sein Vater erhitzt kaltes Wasser aus dem Brunnen und starb an einem Herzschlag. Das ist jedenfalls die Geschichte, die er uns Kindern erzählte. Opa Wolf beschloss daraufhin, nach Amerika auszuwandern, wo er Verwandte hatte. Die Reise führte ihn nach Deutschland. In Köln konnte er aber die Brückenmaut nicht bezahlen und so schloss er sich einer Familie an, die mit ihm weiter in Richtung Bremerhaven zog. Juden wie sie gab es damals viele in Deutschland. Ihre Vorfahren waren während der Kreuzzüge nach Polen, Galizien und in andere östliche Staaten geflohen. Nun kamen sie zurück, die meisten mit dem Ziel Amerika. Aber nicht allen gelang der Weg über den Ozean. Vielen fehlte das Geld für die Überfahrt und sie mussten in Deutschland bleiben. Unter den deutschen Juden war es daher üblich, die ärmeren polnischen Glaubensbrüder am Freitagabend nach dem Besuch der Synagoge zu sich nach Hause einzuladen. So hatten sie wenigstens einmal in der Woche ein warmes Essen in schöner Atmosphäre. Dann bekamen sie etwas Geld und zogen weiter. So erging es auch meinem Großvater Wolf Kreuzer, den ich immer nur Opa nannte. Opa kam bis Steinhude am Steinhuder Meer, wo er erst einmal blieb und eine Gerberlehre machte. Er lernte dann in Hannover meine geliebte Oma Jette kennen und heiratete sie. Sie hieß eigentlich Henriette Kleinberger und war eines von sieben Kindern des Uhrmachers David Kleinberger. Meine Großeltern wohnten erst in Hannover und bekamen dort zwei ihrer sechs Söhne.
Zu jener Zeit durften sich Juden in Hannover nicht selbstständig machen. Daher zogen die meisten von ihnen nach Hannover-Linden, das damals noch eine separate Stadt war. Meine Großeltern gingen jedoch nach Bückeburg, das mein Opa wohl von seiner Zeit in Steinhude kannte. Doch als Gerber konnte er dort nicht sein Brot verdienen. Aber wir Kreuzers sind erfinderisch: Er besorgte sich Pferd und Wagen, zog morgens um vier in weitem Umkreis zu den Bauernhöfen und Dörfern und sammelte Eisen, Stoffe und Papier. Das musste er sortieren und bis ein Uhr mittags beim Großhändler in Minden abgeben. Der Handel mit den Resten Anderer war erfolgreich. Bald kaufte sich mein Opa auf der Sackstraße im Zentrum von Bückeburg ein großes Haus mit Pferdeställen und Scheune (heute steht dort ein Feuerwehrmuseum). Die Straße liegt nahe dem Rathaus, und wenn mein Großvater früh am Morgen die Straße vor seinem Haus fegte, kam oft der Bürgermeister vorbei und die beiden Männer unterhielten sich. Mein Opa war wegen seiner Redlichkeit bald bei den Bauern und Dorfbewohnern beliebt. Man nannte ihn „Vadder Kreuzer“ und hielt gerne im Bückeburger Plattdeutsch ein Pläuschchen mit ihm. Im Sommer, wenn alle auf dem Feld waren, legte man ihm Geld und einen Zettel mit Bestellungen hin und der gewissenhafte Wolf Kreuzer erledigte das alles pflichtbewusst in der Stadt. Er hatte sich in Bückeburg einbürgern lassen und er wurde schließlich zum geehrten und geachteten Bürger der Stadt. Als der Kaiser dem Fürsten von Schaumburg-Lippe einen Besuch abstattete, waren auch meine Großeltern eingeladen. Man möge sich das vorstellen: der Jude Wolf Kreuzer beim deutschen Kaiser.
Trotz allem: Die Kreuzers lebten bescheiden. Nur am Wochenende gab es Fleisch zu essen. Aber die Söhne gingen alle sechs auf das fürstliche Gymnasium, was sicher viel Geld kostete. Nach dem „Einjährigen“ machten alle eine Lehre als Textilkaufmann – auch das kostete Geld –, alle, bis auf meinen Vater Hermann. Er wollte unbedingt Bankkaufmann werden. Und so schickte ihn Opa in ein jüdisches Bankhaus in Rawitsch in die Lehre.
Das alles erarbeitete sich Opa mit seinem Pferd und Wagen, aber als sein ältester Sohn Leo heiratete und dessen Frau, Tante Frieda, eine größere Mitgift bekam, verkaufte er sein Haus in der Sackstraße und kaufte zusammen mit seinem Sohn Leo ein großes Haus mitten auf der Hauptstraße Bückeburgs, der Langen Straße. Onkel Leo bezog die oberen Prachträume, meine Großeltern die Wohnung im Erdgeschoss hinter dem Laden, in dem Onkel Leo Stoffe und Aussteuerwaren an die Kunden verkaufte, die vorher die Kunden von meinem Opa waren.
Dann kam der Erste Weltkrieg. Mein Vater war inzwischen mit der Banklehre fertig und natürlich meldete er sich sofort freiwillig. Das taten auch seine Brüder, gemeinsam mit fast allen anderen deutschen Juden. Sie waren deutsche Patrioten. Mein Vater wurde den Liegnitzer Grenadieren zugeteilt.
Er kam nach Russland und hatte die Aufgabe, als Gefreiter mit seiner Truppe ein vermintes Wäldchen zu stürmen. Die Minen gingen hoch und alle wurden unter Erdreich und Bäumen verschüttet.
Erst nach mehreren Tagen wurde er entdeckt. Ein Baumstamm hatte sein linkes Bein abgequetscht. Es wurde im Lazarett stückweise abgenommen, bis nur noch ein kleiner Stumpf übrig blieb. So war mein Vater ein noch junger Mann mit nur einem Bein, einem geplatzten Trommelfell und anderen Verwundungen.
Der Fürst von Schaumburg-Lippe stellte Krankenbetten in seinen Sälen auf und holte alle Landeskinder heim, auch meinen Vater. Mein Vater bekam das Eiserne Kreuz „für besondere Tapferkeit vor dem Feind“ und viele andere Auszeichnungen. Ein Trost, der ihm aber nicht weiterhalf. Körperlich behindert, aber immerhin geehrt, wurde er ins Leben entlassen.
Aber hatte er noch seine Ausbildung. Daher nahm er das Angebot der Reichsbank an, ihn als kriegsbeschädigten Bankkaufmann einzustellen. Also wurde mein Vater Beamter bei der Reichsbank in „Gehobener Laufbahn“. In Deutschland herrschte Inflation. Die Löhne der Arbeiter wurden von den Fabriken täglich ausgezahlt. Züge brachten die Säcke mit dem Geld jeden Tag zu den Fabriken,
sicher bewacht von den Waffen der Bankbeamten. Einer von ihnen war mein Vater.
Das war in Berlin. Irgendwie muss er sich in der großen Stadt doch sehr einsam gefühlt haben. Sein verletztes Bein schmerzte immer noch, die Prothese wollte nicht sitzen. Schließlich suchte er per Zeitungsinserat nach einer jüdischen Frau, die gelernte Krankenschwester sein sollte. Aus Friedeberg in der Neumark meldete sich ein Mann für seine Tochter Rose Goldberg. Friedeberg gehört seit 1946 zu Polen und heißt heute Strzelce Krajeskie. Rose war Krankenschwester gewesen, konnte kochen und war wohl auch sonst ganz zugänglich. Jedenfalls harmonierte es zwischen den beiden wohl so sehr, dass sie sich bald verlobten. Die Heirat fand noch in Berlin statt. Meine Mutter bekam eine stattliche Mitgift und als einzige Tochter den gesamten Familienschmuck. Jetzt war Papa zwar nicht mehr einsam, aber so ganz glücklich war er immer noch nicht. Ihm fehlte die Nähe seiner Eltern. Ihm fehlten seine Brüder und vielleicht auch der berühmte Zuckerkuchen der Mutter. Weil Hannover die nächste Reichsbankhauptstelle bei Bückeburg war, ließ er sich dorthin versetzen. © Droste Verlag
Ich habe überlebt. Dennoch: Man hat uns ausgelöscht. Das deutsche Judentum, wie es vor dem Krieg existierte, wird es nie wieder geben. Meine Eltern waren stolz darauf, Deutsche zu sein. Mein Vater diente im Ersten Weltkrieg, meine Mutter versorgte als Krankenschwester die Kranken. Wir waren eine ganz normale deutsche Familie und wir waren Juden. Das war kein Widerspruch.
Lange habe ich nicht darüber gesprochen, was tatsächlich passiert ist. Weder wollte ich meine sechs Kinder damit belasten, noch wollte ich bei den nichtjüdischen Nachgeborenen ein schlechtes Gewissen hervorrufen. Doch je mehr Zeit verstrichen ist, desto mehr musste ich erkennen, wie viel Ungerechtigkeit uns Kindern widerfahren ist. Man hat uns unserer kindlichen Unschuld beraubt, unser Eigentum gestohlen, unsere Zukunft genommen. Eine wirkliche Entschädigung hat niemals stattgefunden.
Es sind viele Dinge in diesem Land passiert, die viele deutsche Nichtjuden entweder noch immer nicht wahrhaben wollen oder tatsächlich nicht gewusst haben. Doch die wenigsten haben ihren Kindern oder Enkeln von dieser Zeit erzählt. So stoße ich bei meinen Vorträgen vor Schulklassen auf erstaunende Unkenntnis bei Schülern, aber auch bei vielen Lehrern. Auch für sie ist dieses Buch.
Was geschehen ist, soll niemals vergessen werden.
Margot Kleinberger
Das Mädchen mit der Schultüte
Staubig ist er, der alte Koffer, den die Kinder aus dem Keller geholt haben. Eigentlich wollten sie, die inzwischen schon längst ausgezogen waren und ihre eigenen Familien gegründet hatten, nur noch nach ihren alten Kindersachen sehen, aber dann entdeckten sie diesen alten Koffer. Staubig war er und ganz gelb von den vielen Jahren im feuchten Keller. Niemand wusste eigentlich genau, wie er dahin gekommen war. Und keiner, selbst ich nicht, konnte ahnen, welche Geheimnisse dieser schäbige alte Koffer, der gewiss einmal auf vielen Reisen war, in seinem Innern verbarg. Da waren alte Fotos von mir und meinen drei erstgeborenen Söhnen. Sie erzählen von ihrer Kindheit, von ihren Bar Mitzwot und meinem Leben mit ihnen und meinem ersten Mann. Das war schon so lange her. Dann wurde es still. Eine meiner Töchter hatte ein Foto in der Hand und drehte sich zu mir um. Da war ein kleines Mädchen mit langen Zöpfen und einer Schultüte im Arm. Sie fragte mich: „Wer ist das?“ und ich antwortete: „Ich.“ Es war das erste Mal, dass meine Kinder mich als Kind gesehen hatten. Dieses kleine Mädchen war tatsächlich einmal ich gewesen. Wie unschuldig und unwissend ich damals in die Kamera schaute. Wer sollte ahnen, dass dieses Mädchen aus wohlbehütetem Elternhaus ein paar Jahre später wirklich den wahren Ernst des Lebens kennen lernen sollte und ihre Kindheit bald ein abruptes Ende nehmen würde.
Doch noch schien die Sonne warm vom blauen Himmel. Ich balancierte auf den weißen Steinen am Rande des Maschparks. Unser Kindermädchen ging mit uns hierhin. Sie kam aus dem jüdischen Waisenhaus am Emmerberge und betreute uns während der Woche. Uns, das waren ich und meine kleine Schwester Gerda. Sie war ein Jahr jünger als ich. Wir gingen über den feuchten Kies zu den Stufen, auf denen schon die weißen Schwäne und bunten Enten auf Brot warteten.
Es war so ruhig und idyllisch – das blaue Wasser, das Grün mit den bunten Blumen ringsumher, die Sonne – das hat sich als eine meiner ersten Erinnerungen, ich war wohl etwa vier Jahre alt, tief in mir eingegraben.
Ich kannte den Maschpark nur zu gut. Schließlich wohnten wir ganz in der Nähe. Wer hier wohnte, hatte es zu bescheidenem Wohlstand gebracht. Darauf war mein Vater stolz. Die Wohnung in der Bleichenstraße war groß. Es gab ein Herrenzimmer in dunklem Holz, ein Wohnzimmer in Mahagoni, ein Esszimmer in Kirschholz, dann kam das Badezimmer, daneben das Gäste-WC und das Schlafzimmer meiner Eltern. Diesem gegenüber lag das große Kinderzimmer und neben der breiten Eingangstür die große Küche, beide mit Blick auf die Straße.
In der Küche war alles doppelt angeordnet – getrennt für die koschere Zubereitung für milchig und fleischig. Wir waren nicht orthodox, aber religiös. Mein Vater war ein guter Deutscher und ein religiöser Jude. So hatte er es von seinen Eltern in Bückeburg gelernt und so wünschte er es sich auch von seinen Töchtern.
Mein Opa, Wolf Kreuzer, war aus Kalisch an der deutsch-polnischen Grenze. Seine Mutter war bei seiner Geburt gestorben, seine Geschwister auf die Geschwister der Eltern verteilt worden. Als er vierzehn Jahre alt war, trank sein Vater erhitzt kaltes Wasser aus dem Brunnen und starb an einem Herzschlag. Das ist jedenfalls die Geschichte, die er uns Kindern erzählte. Opa Wolf beschloss daraufhin, nach Amerika auszuwandern, wo er Verwandte hatte. Die Reise führte ihn nach Deutschland. In Köln konnte er aber die Brückenmaut nicht bezahlen und so schloss er sich einer Familie an, die mit ihm weiter in Richtung Bremerhaven zog. Juden wie sie gab es damals viele in Deutschland. Ihre Vorfahren waren während der Kreuzzüge nach Polen, Galizien und in andere östliche Staaten geflohen. Nun kamen sie zurück, die meisten mit dem Ziel Amerika. Aber nicht allen gelang der Weg über den Ozean. Vielen fehlte das Geld für die Überfahrt und sie mussten in Deutschland bleiben. Unter den deutschen Juden war es daher üblich, die ärmeren polnischen Glaubensbrüder am Freitagabend nach dem Besuch der Synagoge zu sich nach Hause einzuladen. So hatten sie wenigstens einmal in der Woche ein warmes Essen in schöner Atmosphäre. Dann bekamen sie etwas Geld und zogen weiter. So erging es auch meinem Großvater Wolf Kreuzer, den ich immer nur Opa nannte. Opa kam bis Steinhude am Steinhuder Meer, wo er erst einmal blieb und eine Gerberlehre machte. Er lernte dann in Hannover meine geliebte Oma Jette kennen und heiratete sie. Sie hieß eigentlich Henriette Kleinberger und war eines von sieben Kindern des Uhrmachers David Kleinberger. Meine Großeltern wohnten erst in Hannover und bekamen dort zwei ihrer sechs Söhne.
Zu jener Zeit durften sich Juden in Hannover nicht selbstständig machen. Daher zogen die meisten von ihnen nach Hannover-Linden, das damals noch eine separate Stadt war. Meine Großeltern gingen jedoch nach Bückeburg, das mein Opa wohl von seiner Zeit in Steinhude kannte. Doch als Gerber konnte er dort nicht sein Brot verdienen. Aber wir Kreuzers sind erfinderisch: Er besorgte sich Pferd und Wagen, zog morgens um vier in weitem Umkreis zu den Bauernhöfen und Dörfern und sammelte Eisen, Stoffe und Papier. Das musste er sortieren und bis ein Uhr mittags beim Großhändler in Minden abgeben. Der Handel mit den Resten Anderer war erfolgreich. Bald kaufte sich mein Opa auf der Sackstraße im Zentrum von Bückeburg ein großes Haus mit Pferdeställen und Scheune (heute steht dort ein Feuerwehrmuseum). Die Straße liegt nahe dem Rathaus, und wenn mein Großvater früh am Morgen die Straße vor seinem Haus fegte, kam oft der Bürgermeister vorbei und die beiden Männer unterhielten sich. Mein Opa war wegen seiner Redlichkeit bald bei den Bauern und Dorfbewohnern beliebt. Man nannte ihn „Vadder Kreuzer“ und hielt gerne im Bückeburger Plattdeutsch ein Pläuschchen mit ihm. Im Sommer, wenn alle auf dem Feld waren, legte man ihm Geld und einen Zettel mit Bestellungen hin und der gewissenhafte Wolf Kreuzer erledigte das alles pflichtbewusst in der Stadt. Er hatte sich in Bückeburg einbürgern lassen und er wurde schließlich zum geehrten und geachteten Bürger der Stadt. Als der Kaiser dem Fürsten von Schaumburg-Lippe einen Besuch abstattete, waren auch meine Großeltern eingeladen. Man möge sich das vorstellen: der Jude Wolf Kreuzer beim deutschen Kaiser.
Trotz allem: Die Kreuzers lebten bescheiden. Nur am Wochenende gab es Fleisch zu essen. Aber die Söhne gingen alle sechs auf das fürstliche Gymnasium, was sicher viel Geld kostete. Nach dem „Einjährigen“ machten alle eine Lehre als Textilkaufmann – auch das kostete Geld –, alle, bis auf meinen Vater Hermann. Er wollte unbedingt Bankkaufmann werden. Und so schickte ihn Opa in ein jüdisches Bankhaus in Rawitsch in die Lehre.
Das alles erarbeitete sich Opa mit seinem Pferd und Wagen, aber als sein ältester Sohn Leo heiratete und dessen Frau, Tante Frieda, eine größere Mitgift bekam, verkaufte er sein Haus in der Sackstraße und kaufte zusammen mit seinem Sohn Leo ein großes Haus mitten auf der Hauptstraße Bückeburgs, der Langen Straße. Onkel Leo bezog die oberen Prachträume, meine Großeltern die Wohnung im Erdgeschoss hinter dem Laden, in dem Onkel Leo Stoffe und Aussteuerwaren an die Kunden verkaufte, die vorher die Kunden von meinem Opa waren.
Dann kam der Erste Weltkrieg. Mein Vater war inzwischen mit der Banklehre fertig und natürlich meldete er sich sofort freiwillig. Das taten auch seine Brüder, gemeinsam mit fast allen anderen deutschen Juden. Sie waren deutsche Patrioten. Mein Vater wurde den Liegnitzer Grenadieren zugeteilt.
Er kam nach Russland und hatte die Aufgabe, als Gefreiter mit seiner Truppe ein vermintes Wäldchen zu stürmen. Die Minen gingen hoch und alle wurden unter Erdreich und Bäumen verschüttet.
Erst nach mehreren Tagen wurde er entdeckt. Ein Baumstamm hatte sein linkes Bein abgequetscht. Es wurde im Lazarett stückweise abgenommen, bis nur noch ein kleiner Stumpf übrig blieb. So war mein Vater ein noch junger Mann mit nur einem Bein, einem geplatzten Trommelfell und anderen Verwundungen.
Der Fürst von Schaumburg-Lippe stellte Krankenbetten in seinen Sälen auf und holte alle Landeskinder heim, auch meinen Vater. Mein Vater bekam das Eiserne Kreuz „für besondere Tapferkeit vor dem Feind“ und viele andere Auszeichnungen. Ein Trost, der ihm aber nicht weiterhalf. Körperlich behindert, aber immerhin geehrt, wurde er ins Leben entlassen.
Aber hatte er noch seine Ausbildung. Daher nahm er das Angebot der Reichsbank an, ihn als kriegsbeschädigten Bankkaufmann einzustellen. Also wurde mein Vater Beamter bei der Reichsbank in „Gehobener Laufbahn“. In Deutschland herrschte Inflation. Die Löhne der Arbeiter wurden von den Fabriken täglich ausgezahlt. Züge brachten die Säcke mit dem Geld jeden Tag zu den Fabriken,
sicher bewacht von den Waffen der Bankbeamten. Einer von ihnen war mein Vater.
Das war in Berlin. Irgendwie muss er sich in der großen Stadt doch sehr einsam gefühlt haben. Sein verletztes Bein schmerzte immer noch, die Prothese wollte nicht sitzen. Schließlich suchte er per Zeitungsinserat nach einer jüdischen Frau, die gelernte Krankenschwester sein sollte. Aus Friedeberg in der Neumark meldete sich ein Mann für seine Tochter Rose Goldberg. Friedeberg gehört seit 1946 zu Polen und heißt heute Strzelce Krajeskie. Rose war Krankenschwester gewesen, konnte kochen und war wohl auch sonst ganz zugänglich. Jedenfalls harmonierte es zwischen den beiden wohl so sehr, dass sie sich bald verlobten. Die Heirat fand noch in Berlin statt. Meine Mutter bekam eine stattliche Mitgift und als einzige Tochter den gesamten Familienschmuck. Jetzt war Papa zwar nicht mehr einsam, aber so ganz glücklich war er immer noch nicht. Ihm fehlte die Nähe seiner Eltern. Ihm fehlten seine Brüder und vielleicht auch der berühmte Zuckerkuchen der Mutter. Weil Hannover die nächste Reichsbankhauptstelle bei Bückeburg war, ließ er sich dorthin versetzen. © Droste Verlag
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Autoren-Porträt von Margot Kleinberger
Margot Kleinberger, geboren 1931, lebt als Unternehmerin in Niedersachsen. Sie hat sechs Kinder und 15 Enkelkinder.
Bibliographische Angaben
- Autor: Margot Kleinberger
- 2009, 3. Aufl., 192 Seiten, 40 Abbildungen, Maße: 13,5 x 21,2 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Droste
- ISBN-10: 3770013344
- ISBN-13: 9783770013340
- Erscheinungsdatum: 09.03.2009
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