Traumfänger
Aus nächster Nähe erfährt sie das Leben in und mit der Natur.
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Aus nächster Nähe erfährt sie das Leben in und mit der Natur.
Traumfänger von Marlo Morgan
LESEPROBE
Der Ehrengast
Man sollte meinen, eshätte irgendeine Warnung geben müssen, aber ich
habe nichts dergleichenverspürt. Die Ereignisse hatten bereits ihren
Lauf genommen. Meilen vonmir entfernt saß eine Gruppe Raubvögel und
harrte ihres Opfers. DasGepäck, das ich erst vor einer Stunde ausgepackt
hatte, würde am nächstenTag mit dem Aufkleber »nicht abgeholt« versehen
und in Aufbewahrunggegeben werden - viele Monate lang.
Es war ein schwülerOktobermorgen. Ich stand in der Auffahrt des
australischenFünfsternehotels und wartete auf einen mir unbekannten
Kurier. Und statt eineunangenehme Vorahnung zu empfinden, jubelte
mein Herz. Es ging mireinfach wunderbar: Ich war freudig erregt,
fühlte mich erfolgreichund gut vorbereitet. Tief in meinem Inneren
wußte ich es: »Heute ist mein Tag.«
Ein Jeep ohne Verdeck bogin die kreisförmige Auffahrt ein. Ich kann
mich erinnern, daß die Räder auf dem glühendheißen Asphalt zischten.
Feine Wassertropfen wehtenwie ein Sprühregen über die strahlendroten
Lampenputzerbäume auf dasrostige Metall. Der Wagen hielt an, und
der Fahrer, ein etwadreißigjähriger Aborigine, blickte in meine Richtung.
»Kommen Sie«, bedeutete mir seine schwarze Hand. Er suchte nach
einer blondenAmerikanerin. Und ich wartete auf jemanden, der mich
zu einem Stammestreffenvon Aborigines bringen sollte. Unter dem kritischen
Blick und der mißbilligenden Gestik des uniformierten australischen
Türstehers erkannten wir,daß wir uns gefunden hatten.
Noch bevor ich denlächerlichen Kampf mit meinen hochhackigen Schuhen
aufnahm, um in denGeländewagen zu klettern, war mir klar, daß ich
völlig unpassendgekleidet war. Der junge Fahrer an meiner Seite trug
Shorts, ein schmuddeligesweißes T-Shirt und Tennisschuhe ohne Socken.
Als wir den Transport zudem Stammestreffen arrangierten, hatte ich
vermutet, sie wurden mireinen normalen Wagen schicken, vielleicht
einen Holden, den Stolzder australischen Automobilindustrie. Niemals
hatte ich mir erträumt, daß man mir ein völlig offenes Gefährt schicken
wurde. Nun denn, dachteich, lieber zu gut als zu schlecht gekleidet,
wenn es zu einem Empfanggeht - noch dazu einem Bankett zu meinen
Ehren.
Ich stellte mich vor. Ernickte nur und tat so, als sei ihm langst
klar, wer ich war. DerTürsteher runzelte die Stirn, als wir an ihm
vorbeischössen. Wirfuhren durch die Straßen der Küstenstadt, vorbei
an Reihen von Häusern mitVeranden vor der Tür, an den für Australien
typischen Milchbars und zubetonierten Parkplatzen ohne einen Tupfen
Grün. Als wir in einenKreisverkehr einfuhren, in den sechs Straßen
mundeten, umklammerte ichkrampfhaft den Türgriff. Als wir ihn wieder
verließen, brannte mirdie Sonne von hinten auf den Rucken. Schon
jetzt wurde es mir in meinemneuerworbenen pfirsichfarbenen Seidenkostüm
mit farblich abgestimmterBluse unangenehm warm. Ich vermutete, daß
wir zu einem Gebäude amanderen Ende der Stadt fuhren, aber da irrte
ich. Wir bogen in dieHauptverkehrsstraße ein, die parallel zur Küste
verlief. Offensichtlichspielte sich der Empfang außerhalb der Stadt
ab, an einem Ort, derweiter vom Hotel entfernt lag, als ich erwartet
hatte. Ich zog meineJacke aus und machte mir Vorwurfe, daß ich so
dumm gewesen war, nichtgenauer nachzufragen. Wenigstens hatte ich
eine Haarbürste in meineHandtasche gesteckt, und mein schulterlanges
blondiertes Haar war -ganz der Mode entsprechend - zu einem Zopf
geflochten undhochgesteckt.
Seit ich den ersten Anrufin dieser Sache erhalten hatte, war ich
vor allem neugieriggewesen. Ich kann jedoch nicht sagen, daß er mich
wirklich überraschte.Schließlich war es nicht das erste Mal, daß
meine Arbeit öffentlichanerkannt wurde, und dieses Projekt war ein
besonders erfolgreiches.Ich arbeitete mit städtischen Halbblut-Aborigines,
die durchSelbstmordversuche auf sich aufmerksam gemacht hatten. Ich
hatte ihnen zu erstenfinanziellen Erfolgen und Selbstwertgefühl verholfen,
und das mußte früher oder später bemerkt werden. Nur eines warmerkwürdig:
Der Stamm, der micheingeladen hatte, lebte zweitausend Meilen weit
entfernt an der anderenKüste des Kontinents. Allerdings wußte ich
bis auf ein paargelegentlich aufgeschnappte Bemerkungen auch nur
wenig über dieverschiedenen Aborigine-Völker. So war mir zumBeispiel
nicht klar, ob es sichbei ihnen um eine ziemlich einheitliche Rasse
handelte, oder ob es, wiebei den Ureinwohnern Amerikas, zwischen
den einzelnen Stämmengroße Unterschiede und verschiedene Sprachen
gab.
Über eines aber machteich mir wirklich Gedanken: Was wurde man mir
überreichen? Noch eine holzgeschnitzte Gedenktafel, die ich zur Aufbewahrung
heim nach Kansas Cityschicken würde? Oder vielleicht einfach nur
einen Blumenstrauß? Nein,bei Temperaturen um die 40 Grad sicher keine
Blumen. Außerdem waren diefür den Ruckflug viel zu umständlich zu
transportieren. Wievereinbart war der Fahrer pünktlich um zwölf Uhr
mittags gekommen. Also mußte es sich um einen Empfang mit Mittagessen
handeln. Ich fragte mich,was ein Ureinwohnerrat wohl servieren würde?
Hoffentlich keintraditionelles australisches Essen von irgendeinem
Partyservice. Vielleichtwar es ja ein improvisiertes Büffet, zu dem
jeder etwas mitbrachte,so daß ich erstmals die Gelegenheit hatte,
die verschiedensten Aborigine-Gerichte zu kosten. Ich hoffte auf einen
mit vielen, bunten.Topfen beladenen Tisch.
Dies versprach, einewunderbare und wirklich einzigartige Erfahrung
zu werden, und ich freutemich auf einen Tag, den ich so schnell nicht
wieder vergessen wurde.In meiner Handtasche, die ich mir extra für
diesen Anlaß gekauft hatte, befanden sich eine 35-mm-Kamera undein
kleines Tonband. Es warzwar nie von Mikrophonen und Scheinwerfern
die Rede gewesen, auchhatte man nie erwähnt, daß ich eine Ansprache
halten sollte, aberzumindest war ich auf alles vorbereitet. Es zählte
zu meinen bestenEigenschaften, daß ich immer vorausdachte.Schließlich
war ich mittlerweilefünfzig Jahre alt und hatte in meinem Leben genügend
Enttäuschungen undpeinliche Situationen erlebt, um für jede Lage
einen Alternativplandabeizuhaben. Meine Freunde lobten meine Flexibilität:
»Immer einen Plan B imÄrmel«, pflegten sie zu sagen.
Ein Highway-Straßenzug(die australische Bezeichnung für einen LKW-Konvoi,
in dem jeder Wagenmehrere riesige Anhänger hinter sich herzieht)
fuhr auf derGegenfahrbahn an uns vorbei. Die Wagen tauchten plötzlich
aus den flirrendenHitzewellen auf und donnerten mitten auf der Fahrbahn
auf uns zu. MeineGedanken wurden abrupt unterbrochen, als der Fahrer
das Steuer herumriß und vom Highway in einen holprigen Weg abbog,
auf dem wir einemeilenlange rote Staubwolke hinter uns ließen. Irgendwann
verschwanden auch diebeiden ausgefahrenen Spuren, und jetzt konnte
ich gar keine Straße mehrerkennen. Wir fuhren im Zickzack um die
Büsche und holperten überden ausgetrockneten, sandigen Wüstenboden.
Mehrmals versuchte ichein Gespräch anzufangen, aber der Motorlärm
in dem offenen Fahrzeugund das Geräusch des Gestrüpps, das von unten
gegen die Karosserieschlug, machten jede Unterhaltung unmöglich.
Ich wurde ordentlichdurchgeschüttelt und mußte meine Kiefer fest
aufeinanderpressen, um mir nicht auf die Zunge zu beißen. Auch der
Fahrer schien ganzoffensichtlich wenig geneigt, ein Gespräch anzubahnen.
Mein Kopf wurde hin- und hergeworfen, und ich fühlte mich wie eine
Lumpenpuppe mitschlenkernden Gliedern. Mir wurde immer heißer. Meine
Seidenstrumpfhose schienan meinen Füßen zu schmelzen, doch ich traute
mich nicht, die Schuheauszuziehen, weil ich befürchtete, sie könnten
aus dem Wagen hinaus indie unendlich weite, kupferfarbene Ebene geworfen
werden, die uns umgab, soweit das Auge reichte. Ich hatte wenig Hoffnung,
daß mein stummer Fahrer wegen so etwas anhalten würde.Ein feiner
Staubfilm legte sich aufmeine Sonnenbrille, und ich wischte ihn immer
wieder mit dem Saummeines Unterrocks ab. Diese Armbewegungen öffneten
die Schleusen für wahreStrome von Schweiß. Ich spürte, wie mein Make-up
sich aufloste, undstellte mir vor, wie der rosafarbene Hauch, den
ich mir am Morgen auf dieWangen gepinselt hatte, jetzt in roten Streifen
an meinem Halshinunterlief. Sicherlich wurde man mir zwanzig Minuten
zugestehen, damit ichmich vor dem Empfang wieder etwas zurechtmachen
konnte. Ich wurde daraufbestehen!
Ich blickte auf meineUhr; wir fuhren nun schon seit zwei Stunden
durch die Wüste. Ichkonnte mich nicht erinnern, mich jemals so verschwitzt
und unbehaglich gefühltzu haben. Mein Fahrer blieb stumm und summte
nur gelegentlich ein paarTakte vor sich hin. Plötzlich dämmerte es
mir: Er hatte sichüberhaupt nicht vorgestellt. Vielleicht saß ich
ja gar nicht im richtigenAuto! Aber das war dumm. Ich konnte im Moment
nicht aussteigen, und erschien keine Bedenken zu haben, daß ich der
richtige Passagier war.
Vier Stunden später fuhrenwir auf eine verrostete Wellblechhütte
zu. Draußen war einkleines, schwelendes Feuer zu sehen. Als wir uns
näherten, erhoben sichzwei Aborigine-Frauen. Sie waren beide mittelalt,
klein und nur spärlichbekleidet. Als Zeichen des Willkommens lächelten
sie mir warmherzig zu.Die eine trug ein Band im Haar, das die dicken
Locken in eigenartigenWinkeln von ihrem Kopf abstehen ließ. Beide
wirkten schlank unddurchtrainiert, und aus ihren runden Gesichtern
blickten mich strahlendebraune Augen an. Als ich aus dem Jeep kletterte,
sagte mein Fahrer: »Ichbin hier übrigens der einzige, der Englisch
spricht. Ich werde deinÜbersetzer und Freund sein.«
»Na, wunderbar!« dachte ich. »Um diese australischen Ureinwohner
kennenzulernen, hast du siebenhundert Dollar für einen Flug, einHotelzimmer
und neue Kleidungausgegeben, und jetzt können sie noch nicht einmal
Englisch, von Modebewußtsein ganz zu schweigen.«
Aber da ich nun schoneinmal hier war, konnte ich auch genausogut
versuchen, michanzupassen, obwohl ich tief in meinem Herzen wußte,
daß es mir nicht gelingen wurde.
Die Frauen stießen rauhe, fremdartige Geräusche aus, die nicht wie
Sätze klangen, sondernhöchstens wie einzelne Wörter. Mein Übersetzer
wandte sich mir zu underklärte, daß ich erst gereinigt werden müsse,
um an der Versammlungteilnehmen zu dürfen. Mir war nicht klar, was
er damit meinte.Natürlich war ich mit mehreren Schichten Staub bedeckt
und von der Fahrtverschwitzt, aber darauf schien er nicht anzuspielen.
Er überreichte mir einStoffbündel. Als ich es öffnete, entpuppte
es sich als eine ArtLumpen-Wickelkleid. Sie wiesen mich an, meine
Kleider abzulegen und esanzuziehen.
© GoldmannVerlag
Übersetzung: AnneRademacher
- Autor: Marlo Morgan
- 1998, 256 Seiten, 1 Schwarz-Weiß-Abbildungen, Maße: 11,5 x 18 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Anne Rademacher
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442437407
- ISBN-13: 9783442437405
- Erscheinungsdatum: 21.02.2001
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