Über Governance
Institutionen und Prozesse politischer Regelung
Politische Steuerung und Governance sind zentrale Themen in der Arbeit von Renate Mayntz. Die hier versammelten, teilweise unveröffentlichten Aufsätze beleuchten die Entwicklung, die wesentlichen Merkmale und die Unterschiede zwischen diesen beiden...
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Klappentext zu „Über Governance “
Politische Steuerung und Governance sind zentrale Themen in der Arbeit von Renate Mayntz. Die hier versammelten, teilweise unveröffentlichten Aufsätze beleuchten die Entwicklung, die wesentlichen Merkmale und die Unterschiede zwischen diesen beiden Paradigmen. Es geht dabei sowohl um Probleme der Handlungsfähigkeit von Nationalstaaten als auch um Fragen von Governance in politischen Mehrebenensystemen. Renate Mayntz wendet die Governance-Theorie auf sehr unterschiedliche Politikfelder an, wie die pharmazeutische Industrie, die Elektrizitätsversorgung oder die Terrorismusbekämpfung. Damit gelingt ihr die schrittweise Unterscheidung eines analytischen Ansatzes, der an der Unbestimmtheit seiner zentralen Kategorie "Governance " leidet.
Lese-Probe zu „Über Governance “
Der Gegenstand des folgenden kritischen Arguments ist ein relativ eng umrissener Bereich innerhalb der politischen Wissenschaft, nämlich die Theorie politischer Steuerung. Im englischen Sprachbereich, wo eher von governance als etwa von steering die Rede ist, entspricht dem das weniger scharf umrissene (und ins Gebiet der policy studies übergehende) Feld der theory of the policy process. Der Kern dieser Theorie wird von Paul Sabatier im ersten Satz des von ihm kürzlich herausgegebenen Buches Theories of the Policy Process wie folgt gekennzeichnet:The process of public policymaking includes the manner in which problems get conceptualized and brought to government for solution; governmental institutions formulate alternatives and select policy solutions; and those solutions get implemented, evaluated, and revised. (Sabatier 1999: 3)
Ähnlich äußert sich die Politikwissenschaftlerin Renate Martinsen: Im Zentrum der mit policies beschäftigten politikwissenschaftlichen Ansätze habe seit den Achtzigerjahren "die Konzeptualisierung des Politischen als Problembear beitungsprozess durch die politisch-administrativen Instanzen" (Martinsen 2000: 3) gestanden. Beiden Autoren ist zuzustimmen: Politische Steuerung beziehungsweise policymaking zielt auf Problemlösung, und zwar, wie wohl von beiden Autoren stillschweigend unterstellt wird, auf die Lösung im weitesten Sinne gesellschaftlicher Probleme (zu denen natürlich auch wirtschaftliche Probleme gehören). Der methodologische Status dieser Feststellung ist dabei nicht nur ein defi nitorischer, sondern ein inhaltlicher: Es wird nicht etwa nur gesagt, dass wir beobachtbare Versuche politischer Steuerung als Problemlösungsprozesse bezeichnen wollen, sondern es wird gesagt, dass es Versuche der Lösung gesellschaftlicher Probleme sind. Ich will im Folgenden die These aufstellen und begründen, dass diese Konzeptualisierung von politischer Steuerung als Problemlösungsprozess die politische Wirklichkeit nicht korrekt erfasst, dass
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es sich um eine selektive und insofern verzerrende Perspektive handelt.
Indem ich diese These entwickle, übe ich in gewisser Weise Selbstkritik, denn ich selber war an der Begründung und Entfaltung der Steuerungstheorie, deren Selektivität ich hier unter die Lupe nehmen möchte, beteiligt. Schon Anfang der Siebzigerjahre des vorigen Jahrhunderts, als ich zusammen mit Fritz Scharpf über die Voraussetzungen "aktiver Politik" forschte und schrieb, hatte ich jedoch im Hinterkopf den vagen Verdacht, die unsere könnte eine allzu rationalistische Sichtweise sein. Indem wir die Voraussetzungen "aktiver Politik " untersuchten, schienen wir zu unterstellen, dass "aktive Politik" zu treiben, das heißt, zielbewusst gesellschaftsgestaltend zu handeln, tatsächlich das oberste Ziel unseres Auftraggebers, der Bundesregierung, ja überhaupt jedes politischadministrativen Systems ist.
"Aktive Politik" setzt Planung voraus. Also befassten wir, und nicht nur Fritz Scharpf und ich, uns damals mit Fragen der Planungsorganisation (Mayntz/Scharpf 1973). Die Steuerungssemantik wurde erst dominant, als die Planungssemantik zusammen mit der Planungseuphorie verblasste. Aber die Entwicklung des klassischen steuerungstheoretischen Paradigmas begann tatsächlich bereits in den späten Sechzigerjahren mit der - weitgehend präskriptiven - Planungstheorie. Diese erfuhr dann in den Siebzigerjahren eine empirische Wende, indem zunächst die institutionellen und organisatorischen Rahmenbedingungen der Politikentwicklung, sodann die Voraussetzungen für den Einsatz unterschiedlicher Instrumente der Politik und schließlich der Implementationsprozess zum Forschungsgegenstand wurden. Damit war gegen Ende der Siebzigerjahre das steuerungstheoretische Kernparadigma vollendet. Seine Hauptelemente waren die Politikentwicklung innerhalb des politisch-administrativen Systems und die Implementation der so entwickelten Politik durch staatliche Vollzugsinstanzen.
Wie bekannt und verschiedentlich ausführlich beschrieben (zum Beispiel Mayntz 1996), wurde dieses erste steuerungstheoretische Paradigma anschließend erweitert und damit zugleich revidiert. Zum einen wurde die bisherige Top-down-Sichtweise durch eine Bottom-up-Perspektive ergänzt, das heißt, das Adressatenverhalten und die strukturellen Besonderheiten verschiedener Regelungsfelder wurden in die Analyse einbezogen. In einem zweiten Schritt löste man sich von der Konzentration auf das politisch-administrative System und bezog die Mitwirkung korporativer gesellschaftlicher Akteure an der Entwicklung und Implementation von Politik mit ein. Neokorporatistische Entscheidungsstrukturen, Politiknetzwerke und die gesellschaftliche Selbstregelung in private governments zogen die Aufmerksamkeit auf sich. Am Ende dieser perspektivischen Erweiterung stand das heute dominierende Modell des kooperativen Staates.
Auch der so erweiterten steuerungstheoretischen Perspektive haften jedoch ihre Geburtsfehler noch an. Sie hat erstens einen Nationalstaatsbias. Das wurde mit der zunehmenden europäischen Integration sichtbar und hat inzwischen zu einer neuen Erweiterung der steuerungstheoretischen Perspektive geführt (Mayntz 1998 bzw. Aufsatz 1 in diesem Band). Politische Steuerung im europäischen Mehrebenensystem heißt jetzt das Stichwort. Zweitens aber hat die Steuerungstheorie von Anfang an einen Problemlösungsbias gehabt. Dieses ist die spezifi sche Selektivität, mit der ich mich hier näher befassen will. Der Problemlösungsbias besteht im Kern darin, dass die Steuerungstheorie nicht fragt, ob politische Akteure primär an der Lösung gesellschaftlicher Probleme orientiert sind, sondern unterstellt, dass dieses ihr dominantes Ziel und gesellschaftliche Problemlösung die zentrale Aktivität von Politik und Verwaltung ist. Gelegentlich wird eine solche Orientierung in die Defi nition von politischer Steuerung aufgenommen; meist bleibt diese Annahme jedoch implizit. Die Unterstellung, dass der Staat - auch der kooperative Staat auf seine Weise - tatsächlich auf gesellschaftliche Problemlösung beziehungsweise die Förderung des Gemeinwohls aus ist, macht die Steuerungstheorie krypto-normativ.
Der Problemlösungsbias der Steuerungstheorie hat Wurzeln, die sich bis in die klassische politische Philosophie eines Plato und eines Aristoteles zurück verfolgen lassen. Gewiss, die Klassiker sprachen nicht von "Steuerung"; aber es ging ihnen um Formen der Regierung. Bei Plato weiß der Philosophen-König, was der Allgemeinheit dient, und ist durch seine Liebe zur Gerechtigkeit motiviert, im Interesse des Gemeinwohls zu handeln. Auch bei Aristoteles sucht der gute Monarch zu verwirklichen, was der Allgemeinheit dient. Bei Plato wie bei Aristoteles wird dabei das Gemeinwohl am individuellen Wohl der Untertanen, der Bürger festgemacht (Kaufmann 1994). Im Europa der Renaissance griff man auf diese klassischen Vorstellungen zurück. Wieder sollte der "gute" Herrscher das Wohl seiner Untertanen zu verwirklichen trachten, Frieden stiften und Gerechtigkeit üben. In der idealistischen Staatsphilosophie schließlich wird diese Aufgabe dem Staat zugewiesen; die Wohlfahrt des Ganzen, der Gesellschaft wie der Nation zu sichern wurde zum staatsbegründenden Ziel (Münkler/Fischer 1999).
Von hier lässt sich eine direkte Linie zur Vorstellung des politisch-administrativen Systems als Steuerungszentrum der Gesellschaft ziehen. Steuerung als Versuch der Lösung von gesellschaftlichen Problemen, die wie auch immer auf die Tagesordnung der Politik gelangt sind, ist eine moderne Reformulierung des Staatszwecks der Gemeinwohlmaximierung. Zu den klassischen Staatsaufgaben gehört die - gewissermaßen nach innen gerichtete - Mehrung der öffentlichen Wohlfahrt und die - nach außen gerichtete - Wahrung nationaler Interessen. Die Wahrung nationaler Interessen in der Außenbeziehung zu anderen Staaten hat die Steuerungstheorie infolge ihres bereits erwähnten Nationalstaatsbias lange Zeit dem Forschungsbereich der Internationalen Beziehungen beziehungsweise der Außenpolitik überlassen und sich stattdessen auf innenpolitische Probleme konzentriert. Das hat sich erst geändert, als sich mit der erweiterten steuerungstheoretischen Perspektive auf das Mehrebenensystem der Europäischen Union die Trennungslinie zwischen Innen- und Außenpolitik verwischte. Geblieben ist jedoch das Postulat, dass der Staat beziehungsweise das politisch-administrative System auf dem eigenen Territorium im Interesse seiner Bürger in soziale und ökonomische Prozesse interveniert, also - steuert. Aber während Aristoteles sein Augenmerk nicht nur auf den guten Monarchen, sondern gleichermaßen auf die Entartungsform der Tyrannis richtete, in der es dem Herrscher nur um sein eigenes Wohl geht, fragt die moderne Steuerungstheorie nicht, ob es in der Politik tatsächlich zuerst und vor allem um die Lösung von Problemen geht, die das Gemeinwesen betreffen. An die aristotelischen Überlegungen über Entartungsformen der Politik haben andere Stränge politikwissenschaftlicher Theoriebildung angeknüpft, nicht zuletzt Theorien der Klassenherrschaft.
Der Problemlösungsbias der politikwissenschaftlichen Steuerungstheorie hängt sowohl mit ihrer besonderen Entstehungssituation wie auch mit den theoretischen Denkströmungen zusammen, in die ihre Entwicklung eingebettet war und ist. Die Planungstheorie und die frühen Untersuchungen über Planungsorganisation fanden in einem Klima politischen Reformwillens statt (vgl. unter anderem Mayntz/Scharpf 1975). Sie dienten explizit der Politikberatung und konnten, ja mussten deshalb von einem "Steuerungswillen" der Adressaten beziehungsweise Auftraggeber ausgehen. Der hauptsächliche Adressat (und oft genug auch Auftraggeber) steuerungstheoretischer Arbeiten war außerdem die öffentliche Verwaltung1, zu deren Selbstverständnis es gehört, dass sie mit ihrem Tun dem öffentlichen Wohl dient. Das gilt genauso für die Ministerialbürokratie, deren Fachleute die Sachentscheidungen des Parlaments vorbereiten, wie für nachgeordnete Verwaltungsebenen und die kommunale Selbstverwaltung. Mit der öffentlichen Verwaltung als primärem Adressaten im Hinterkopf war die Unterstellung einer Problemlösungsorientierung, bei aller Berücksichtigung organisatorischer Eigeninteressen, nicht abwegig.
Was zweitens theoretische Einfl üsse angeht, hängt der Problemlösungsbias der Steuerungstheorie erkennbar mit ihrer Verwandtschaft zu systemtheoretischen Ansätzen, ja ihrer bei einigen Autoren ganz deutlichen Einbettung in einen systemtheoretischen Kontext zusammen. Der Steuerungsbegriff selbst ist in kybernetischem Gedankengut verwurzelt, das beispielsweise von David Easton und Karl W. Deutsch auf die Politik übertragen wurde: Das politische System erscheint hier eindeutig als Steuerungsinstanz innerhalb des gesellschaftlichen Gesamtsystems, das von ihm geregelt (um den eher technischen Begriff zu benutzen) beziehungsweise reguliert wird. Das war dann bei Talcott Parsons recht ähnlich: Bei ihm erfüllt das politische Teilsystem den Systemimperativ des goal attainment, der Ausrichtung von Handlungen im System auf (politisch) gesetzte Systemziele. Parsons funktionalistischer Systemtheorie ist oft Herrschaftsblindheit vorgeworfen worden. Diesen genetischen Defekt hat die Systemtheorie offensichtlich auf die Steuerungstheorie übertragen.
Auch Luhmanns Abkehr von Parsons Funktionalismus hat daran nichts Grundsätzliches geändert. Zwar ist Macht haben oder nicht haben der Code des politischen Systems, aber Macht wird als Kommunikationsmedium und damit als Instrument angesehen, und auch bei Luhmann hat das politische System mit der Produktion kollektiv verbindlicher Entscheidungen eine positive, ordnende Funktion - selbst wenn er zumal nach der autopoietischen Wende seiner Systemtheorie die Möglichkeit politischer Steuerung verneinte. Jüngere Vertreter der Systemtheorie haben dem politischen System beziehungsweise dem Staat dagegen erneut eine Steuerungsfunktion zuerkannt, selbst wenn es sich nur noch um Kontextsteuerung handelt (Teubner/Willke 1984). Wurde der Staat auch "entzaubert" (Willke 1983) und zum bloßen gesellschaftlichen Teilsystem herabgestuft, so behielt dieses Teilsystem doch eine zentrale, positive Funktion. Bei alledem ist die Verwandtschaft zwischen deutscher Staatsphilosophie und soziologischer Systemtheorie unübersehbar, was die Funktionsbestimmung des Staates beziehungsweise des politisch-administrativen Systems angeht. Zwar negiert weder die Staatsphilosophie noch die Systemtheorie, dass der Staat beziehungsweise das politisch-administrative System Macht ausüben. Machtausübung ist jedoch nicht Selbstzweck, sondern bloßes Instrument - ein notwendiges Mittel der Funktionserfüllung.
Das sieht ganz anders aus, wenn man die Wirklichkeit nicht systemtheoretisch, sondern in der Tradition von Max Weber aus der Perspektive der Herrschaftssoziologie oder durch die Brille marxistischer Klassentheorie betrachtet. Hier sind nicht Funktion oder Leistung, sondern Herrscher, Herrschaft und politische Klasse die Schlüsselbegriffe. Aber herrschaftssoziologische Ansätze, die zuletzt in der Stamokap-Variante eine gewisse Konjunktur hatten, sind heute auf den Foren der Politikwissenschaft ziemlich an den Rand gerückt. Wie wenig heute die Betonung herrschaftssoziologischer Aspekte in den theoretischen mainstream passt, wird deutlich, wenn zum Beispiel Gertrud Nunner-Winkler die von mir (im differenzierungstheoretischen Kontext!) getroffene Feststellung, dass Herrschaftssicherung und Herrschaftsausübung bei aller semantischen Umstellung auf die Leistung von Teilsystemen die Basis politischer Handlungslogik bleibt, als "kontinentaleuropäische Tradition einer Politikauffassung" bezeichnet und, so relativiert, der anglo-amerikanischen Tradition gegenüberstellt, die sich bei näherem Zusehen als eine steuerungstheoretische erweist: Staat als verantwortliche Instanz für Gemeinwohlproduktion (Nunner-Winkler 1994: 137).
Indem ich diese These entwickle, übe ich in gewisser Weise Selbstkritik, denn ich selber war an der Begründung und Entfaltung der Steuerungstheorie, deren Selektivität ich hier unter die Lupe nehmen möchte, beteiligt. Schon Anfang der Siebzigerjahre des vorigen Jahrhunderts, als ich zusammen mit Fritz Scharpf über die Voraussetzungen "aktiver Politik" forschte und schrieb, hatte ich jedoch im Hinterkopf den vagen Verdacht, die unsere könnte eine allzu rationalistische Sichtweise sein. Indem wir die Voraussetzungen "aktiver Politik " untersuchten, schienen wir zu unterstellen, dass "aktive Politik" zu treiben, das heißt, zielbewusst gesellschaftsgestaltend zu handeln, tatsächlich das oberste Ziel unseres Auftraggebers, der Bundesregierung, ja überhaupt jedes politischadministrativen Systems ist.
"Aktive Politik" setzt Planung voraus. Also befassten wir, und nicht nur Fritz Scharpf und ich, uns damals mit Fragen der Planungsorganisation (Mayntz/Scharpf 1973). Die Steuerungssemantik wurde erst dominant, als die Planungssemantik zusammen mit der Planungseuphorie verblasste. Aber die Entwicklung des klassischen steuerungstheoretischen Paradigmas begann tatsächlich bereits in den späten Sechzigerjahren mit der - weitgehend präskriptiven - Planungstheorie. Diese erfuhr dann in den Siebzigerjahren eine empirische Wende, indem zunächst die institutionellen und organisatorischen Rahmenbedingungen der Politikentwicklung, sodann die Voraussetzungen für den Einsatz unterschiedlicher Instrumente der Politik und schließlich der Implementationsprozess zum Forschungsgegenstand wurden. Damit war gegen Ende der Siebzigerjahre das steuerungstheoretische Kernparadigma vollendet. Seine Hauptelemente waren die Politikentwicklung innerhalb des politisch-administrativen Systems und die Implementation der so entwickelten Politik durch staatliche Vollzugsinstanzen.
Wie bekannt und verschiedentlich ausführlich beschrieben (zum Beispiel Mayntz 1996), wurde dieses erste steuerungstheoretische Paradigma anschließend erweitert und damit zugleich revidiert. Zum einen wurde die bisherige Top-down-Sichtweise durch eine Bottom-up-Perspektive ergänzt, das heißt, das Adressatenverhalten und die strukturellen Besonderheiten verschiedener Regelungsfelder wurden in die Analyse einbezogen. In einem zweiten Schritt löste man sich von der Konzentration auf das politisch-administrative System und bezog die Mitwirkung korporativer gesellschaftlicher Akteure an der Entwicklung und Implementation von Politik mit ein. Neokorporatistische Entscheidungsstrukturen, Politiknetzwerke und die gesellschaftliche Selbstregelung in private governments zogen die Aufmerksamkeit auf sich. Am Ende dieser perspektivischen Erweiterung stand das heute dominierende Modell des kooperativen Staates.
Auch der so erweiterten steuerungstheoretischen Perspektive haften jedoch ihre Geburtsfehler noch an. Sie hat erstens einen Nationalstaatsbias. Das wurde mit der zunehmenden europäischen Integration sichtbar und hat inzwischen zu einer neuen Erweiterung der steuerungstheoretischen Perspektive geführt (Mayntz 1998 bzw. Aufsatz 1 in diesem Band). Politische Steuerung im europäischen Mehrebenensystem heißt jetzt das Stichwort. Zweitens aber hat die Steuerungstheorie von Anfang an einen Problemlösungsbias gehabt. Dieses ist die spezifi sche Selektivität, mit der ich mich hier näher befassen will. Der Problemlösungsbias besteht im Kern darin, dass die Steuerungstheorie nicht fragt, ob politische Akteure primär an der Lösung gesellschaftlicher Probleme orientiert sind, sondern unterstellt, dass dieses ihr dominantes Ziel und gesellschaftliche Problemlösung die zentrale Aktivität von Politik und Verwaltung ist. Gelegentlich wird eine solche Orientierung in die Defi nition von politischer Steuerung aufgenommen; meist bleibt diese Annahme jedoch implizit. Die Unterstellung, dass der Staat - auch der kooperative Staat auf seine Weise - tatsächlich auf gesellschaftliche Problemlösung beziehungsweise die Förderung des Gemeinwohls aus ist, macht die Steuerungstheorie krypto-normativ.
Der Problemlösungsbias der Steuerungstheorie hat Wurzeln, die sich bis in die klassische politische Philosophie eines Plato und eines Aristoteles zurück verfolgen lassen. Gewiss, die Klassiker sprachen nicht von "Steuerung"; aber es ging ihnen um Formen der Regierung. Bei Plato weiß der Philosophen-König, was der Allgemeinheit dient, und ist durch seine Liebe zur Gerechtigkeit motiviert, im Interesse des Gemeinwohls zu handeln. Auch bei Aristoteles sucht der gute Monarch zu verwirklichen, was der Allgemeinheit dient. Bei Plato wie bei Aristoteles wird dabei das Gemeinwohl am individuellen Wohl der Untertanen, der Bürger festgemacht (Kaufmann 1994). Im Europa der Renaissance griff man auf diese klassischen Vorstellungen zurück. Wieder sollte der "gute" Herrscher das Wohl seiner Untertanen zu verwirklichen trachten, Frieden stiften und Gerechtigkeit üben. In der idealistischen Staatsphilosophie schließlich wird diese Aufgabe dem Staat zugewiesen; die Wohlfahrt des Ganzen, der Gesellschaft wie der Nation zu sichern wurde zum staatsbegründenden Ziel (Münkler/Fischer 1999).
Von hier lässt sich eine direkte Linie zur Vorstellung des politisch-administrativen Systems als Steuerungszentrum der Gesellschaft ziehen. Steuerung als Versuch der Lösung von gesellschaftlichen Problemen, die wie auch immer auf die Tagesordnung der Politik gelangt sind, ist eine moderne Reformulierung des Staatszwecks der Gemeinwohlmaximierung. Zu den klassischen Staatsaufgaben gehört die - gewissermaßen nach innen gerichtete - Mehrung der öffentlichen Wohlfahrt und die - nach außen gerichtete - Wahrung nationaler Interessen. Die Wahrung nationaler Interessen in der Außenbeziehung zu anderen Staaten hat die Steuerungstheorie infolge ihres bereits erwähnten Nationalstaatsbias lange Zeit dem Forschungsbereich der Internationalen Beziehungen beziehungsweise der Außenpolitik überlassen und sich stattdessen auf innenpolitische Probleme konzentriert. Das hat sich erst geändert, als sich mit der erweiterten steuerungstheoretischen Perspektive auf das Mehrebenensystem der Europäischen Union die Trennungslinie zwischen Innen- und Außenpolitik verwischte. Geblieben ist jedoch das Postulat, dass der Staat beziehungsweise das politisch-administrative System auf dem eigenen Territorium im Interesse seiner Bürger in soziale und ökonomische Prozesse interveniert, also - steuert. Aber während Aristoteles sein Augenmerk nicht nur auf den guten Monarchen, sondern gleichermaßen auf die Entartungsform der Tyrannis richtete, in der es dem Herrscher nur um sein eigenes Wohl geht, fragt die moderne Steuerungstheorie nicht, ob es in der Politik tatsächlich zuerst und vor allem um die Lösung von Problemen geht, die das Gemeinwesen betreffen. An die aristotelischen Überlegungen über Entartungsformen der Politik haben andere Stränge politikwissenschaftlicher Theoriebildung angeknüpft, nicht zuletzt Theorien der Klassenherrschaft.
Der Problemlösungsbias der politikwissenschaftlichen Steuerungstheorie hängt sowohl mit ihrer besonderen Entstehungssituation wie auch mit den theoretischen Denkströmungen zusammen, in die ihre Entwicklung eingebettet war und ist. Die Planungstheorie und die frühen Untersuchungen über Planungsorganisation fanden in einem Klima politischen Reformwillens statt (vgl. unter anderem Mayntz/Scharpf 1975). Sie dienten explizit der Politikberatung und konnten, ja mussten deshalb von einem "Steuerungswillen" der Adressaten beziehungsweise Auftraggeber ausgehen. Der hauptsächliche Adressat (und oft genug auch Auftraggeber) steuerungstheoretischer Arbeiten war außerdem die öffentliche Verwaltung1, zu deren Selbstverständnis es gehört, dass sie mit ihrem Tun dem öffentlichen Wohl dient. Das gilt genauso für die Ministerialbürokratie, deren Fachleute die Sachentscheidungen des Parlaments vorbereiten, wie für nachgeordnete Verwaltungsebenen und die kommunale Selbstverwaltung. Mit der öffentlichen Verwaltung als primärem Adressaten im Hinterkopf war die Unterstellung einer Problemlösungsorientierung, bei aller Berücksichtigung organisatorischer Eigeninteressen, nicht abwegig.
Was zweitens theoretische Einfl üsse angeht, hängt der Problemlösungsbias der Steuerungstheorie erkennbar mit ihrer Verwandtschaft zu systemtheoretischen Ansätzen, ja ihrer bei einigen Autoren ganz deutlichen Einbettung in einen systemtheoretischen Kontext zusammen. Der Steuerungsbegriff selbst ist in kybernetischem Gedankengut verwurzelt, das beispielsweise von David Easton und Karl W. Deutsch auf die Politik übertragen wurde: Das politische System erscheint hier eindeutig als Steuerungsinstanz innerhalb des gesellschaftlichen Gesamtsystems, das von ihm geregelt (um den eher technischen Begriff zu benutzen) beziehungsweise reguliert wird. Das war dann bei Talcott Parsons recht ähnlich: Bei ihm erfüllt das politische Teilsystem den Systemimperativ des goal attainment, der Ausrichtung von Handlungen im System auf (politisch) gesetzte Systemziele. Parsons funktionalistischer Systemtheorie ist oft Herrschaftsblindheit vorgeworfen worden. Diesen genetischen Defekt hat die Systemtheorie offensichtlich auf die Steuerungstheorie übertragen.
Auch Luhmanns Abkehr von Parsons Funktionalismus hat daran nichts Grundsätzliches geändert. Zwar ist Macht haben oder nicht haben der Code des politischen Systems, aber Macht wird als Kommunikationsmedium und damit als Instrument angesehen, und auch bei Luhmann hat das politische System mit der Produktion kollektiv verbindlicher Entscheidungen eine positive, ordnende Funktion - selbst wenn er zumal nach der autopoietischen Wende seiner Systemtheorie die Möglichkeit politischer Steuerung verneinte. Jüngere Vertreter der Systemtheorie haben dem politischen System beziehungsweise dem Staat dagegen erneut eine Steuerungsfunktion zuerkannt, selbst wenn es sich nur noch um Kontextsteuerung handelt (Teubner/Willke 1984). Wurde der Staat auch "entzaubert" (Willke 1983) und zum bloßen gesellschaftlichen Teilsystem herabgestuft, so behielt dieses Teilsystem doch eine zentrale, positive Funktion. Bei alledem ist die Verwandtschaft zwischen deutscher Staatsphilosophie und soziologischer Systemtheorie unübersehbar, was die Funktionsbestimmung des Staates beziehungsweise des politisch-administrativen Systems angeht. Zwar negiert weder die Staatsphilosophie noch die Systemtheorie, dass der Staat beziehungsweise das politisch-administrative System Macht ausüben. Machtausübung ist jedoch nicht Selbstzweck, sondern bloßes Instrument - ein notwendiges Mittel der Funktionserfüllung.
Das sieht ganz anders aus, wenn man die Wirklichkeit nicht systemtheoretisch, sondern in der Tradition von Max Weber aus der Perspektive der Herrschaftssoziologie oder durch die Brille marxistischer Klassentheorie betrachtet. Hier sind nicht Funktion oder Leistung, sondern Herrscher, Herrschaft und politische Klasse die Schlüsselbegriffe. Aber herrschaftssoziologische Ansätze, die zuletzt in der Stamokap-Variante eine gewisse Konjunktur hatten, sind heute auf den Foren der Politikwissenschaft ziemlich an den Rand gerückt. Wie wenig heute die Betonung herrschaftssoziologischer Aspekte in den theoretischen mainstream passt, wird deutlich, wenn zum Beispiel Gertrud Nunner-Winkler die von mir (im differenzierungstheoretischen Kontext!) getroffene Feststellung, dass Herrschaftssicherung und Herrschaftsausübung bei aller semantischen Umstellung auf die Leistung von Teilsystemen die Basis politischer Handlungslogik bleibt, als "kontinentaleuropäische Tradition einer Politikauffassung" bezeichnet und, so relativiert, der anglo-amerikanischen Tradition gegenüberstellt, die sich bei näherem Zusehen als eine steuerungstheoretische erweist: Staat als verantwortliche Instanz für Gemeinwohlproduktion (Nunner-Winkler 1994: 137).
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Inhaltsverzeichnis zu „Über Governance “
Einleitung 1 New Challenges to Governance Theory (1998) 2 Zur Selektivität der steuerungstheoretischen Perspektive (2001) 3 Governance Theory als fortentwickelte Steuerungstheorie? (2005) 4 Die Handlungsfähigkeit des Nationalstaats in Zeiten der Globalisierung (2007) 5 Common Goods and Governance (2002) 6 The Architecture of Multi-level Governance of Economic Sectors (2007) 7 Von politischer Steuerung zu Governance? Überlegungen zur Architektur von Innovationspolitik (2008) 8 The Changing Governance of Large Technical Infrastructure Systems (2008) 9 Control of a Terrorist Network: Lessons from the 9/11 Commission Report (2006) Quellennachweise
Autoren-Porträt von Renate Mayntz
Renate Mayntz war Gründungsdirektorin des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln, das sie bis zu ihrer Emeritierung 1997 gemeinsam mit Fritz W. Scharpf leitete. Renate Mayntz lehrte an der Freien Universität Berlin und der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer, der Universität zu Köln sowie in New York, Edinburgh, Santiago de Chile und an der Stanford University. Sie erhielt Doktorgrade honoris causa von den Universitäten Uppsala und Paris und vom Europäischen Hochschulinstitut und wurde unter anderem mit dem Schader-Preis, dem Bielefelder Wissenschaftspreis und dem Ernst- Hellmut-Vits-Preis der Universität Münster ausgezeichnet.Renate Mayntz war Gründungsdirektorin des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln, das sie bis zu ihrer Emeritierung 1997 gemeinsam mit Fritz W. Scharpf leitete. Renate Mayntz lehrte an der Freien Universität Berlin und der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer, der Universität zu Köln sowie in New York, Edinburgh, Santiago de Chile und an der Stanford University. Sie erhielt Doktorgrade honoris causa von den Universitäten Uppsala und Paris und vom Europäischen Hochschulinstitut und wurde unter anderem mit dem Schader-Preis, dem Bielefelder Wissenschaftspreis und dem Ernst- Hellmut-Vits-Preis der Universität Münster ausgezeichnet.
Bibliographische Angaben
- Autor: Renate Mayntz
- 2009, 171 Seiten, 5 Schwarz-Weiß-Abbildungen, Maße: 14,1 x 21,4 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: CAMPUS VERLAG
- ISBN-10: 3593388928
- ISBN-13: 9783593388922
- Erscheinungsdatum: 09.02.2009
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