Über meinen Schatten
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Offen, sympathisch und sehr direkt lässt der Ausnahmesportler die Leser seiner Biografie am inneren Dialog teilhaben, der sich nach seinem schweren Sturz Anfang 2014 in seinem Kopf abspielte, und dabei wechselten sich sachliche Diskussion und lautstarker Streit regelmäßig ab. Es geht um die Zerrissenheit zwischen Ehrgeiz, Siegeswillen und Erschöpfung, um den Wunsch nach Selbstbestimmung und um die Angst, es alleine nicht zu schaffen. Da kämpfen zwei Persönlichkeiten miteinander - der professionelle, ehrgeizige Teil will noch weiter nach oben, immer noch mehr erreichen, niemals aufgeben, der andere Teil will sich zurückziehen, das Leben und die Familie genießen und Ruhe finden.
Thomas ringt mit Thomas um große, bedeutende Fragen: Ob er seiner kleinen Tochter ein guter Vater sein kann, während er jeden Tag aufs Neue sein Leben aufs Spiel setzt? Ob er sein Privatleben aufgeben soll und kann für den Erfolg? Und ob die engen Schranken des Leistungssports etwas mit seiner Krankheit zu tun haben?
Österreich hat eine innige Beziehung zu seinen Skifliegern - jenen jungen und mutigen Ausnahmetalenten, die so schnell von uns ins Herz geschlossen werden und dann fiebern, feiern und leiden wir mit den Athleten und ihren Erfolgen und Rückschlägen mit. Thomas Morgensterns Aufstieg, seine Erfolge und das Ende seiner Karriere haben niemanden kalt gelassen. Das Buch erzählt auf ungewöhnliche, unterhaltsame und äußerst persönliche Art und Weise die Geschichte von der besonderen Karriere eines sehr besonderen Mannes.
Seit seiner Jugend ist Thomas Morgenstern fest im ÖSV verwurzelt und ständig von Menschen umgeben: von Trainern, Ernährungsberatern, Pressevertretern, Ärzten, Physiotherapeuten. Man sagt ihm von morgens bis abends, wie er sich in der Öffentlichkeit bewegen und wohin er gehen soll, wann er zu schlafen und was er zu essen hat. Entscheidungen selber treffen muss er nie, das wird alles für ihn übernommen, sein Leben folgt einem genauen, stets geregelten Plan, der ihn zwar zu Höchstleistungen antreibt, ihn aber gleichzeitig auch aller Freiheiten und Mündigkeit beraubt.
Als er sich nur wenige Monate nach der Geburt seiner Tochter von deren Mutter trennt, bricht aus den Boulevard-Medien ein Shitstorm über ihn aus und auch das letzte bisschen seiner Privatsphäre geht verloren und wird zum Gegenstand öffentlicher Diskussionen.
Wenige Wochen nach seinen beiden schweren Stürzen im Jänner 2014 steht er wieder auf der Schanze und am Siegertreppchen. Niemand weiß, dass der ewige Strahlemann zu diesem Zeitpunkt an schweren Depressionen und beklemmenden Angstzuständen leidet. Im Spätsommer desselben Jahres gibt er seinen Rückzug aus dem aktiven Schisport bekannt.
„Über meinen Schatten" ist die zutiefst bewegende und hochinteressante Autobiografie von und über einen der bekanntesten, österreichischen Spitzensportler der Gegenwartsgeschichte und für jeden Wintersport- und Skiflugfan ein absolutes Kauf-Muss. Thomas Morgenstern, so hautnah wie man ihn bisher noch nie erlebt hat.
Stürzen und erinnern
Ich öffne meine Augen. Diese kleine Bewegung lässt mein
Gesicht brennen. Ich sehe in gedämpftes weißes Neonlicht.
Neben mir piepst gleichmäßig ein EKG. Ich will hinsehen.
Aber der Versuch, meinen Kopf zu drehen, scheitert an
einem
stechenden Schmerz, der sich von den Schläfen über
die Wangen bis tief hinein in meinen Brustkorb zieht. Sind
das meine Herzschläge, die ich höre? Das hier ist eindeutig
nicht mein Hotelzimmer in Tauplitz!
Meine Augen erkunden den hellen Raum. Rechts neben
mir ist ein Fenster. Die Sonne kitzelt meine brennende Haut.
Ich will etwas sagen, jemanden fragen, wo ich bin, warum
ich hier bin - jemanden fragen, was geschehen ist. Doch ich
kann meinen Mund nicht bewegen. Die Lippen sind zugeschwollen.
Ein Schlauch aus Plastik führt in die Vene meines
rechten Unterarms. Das Piepsen ist gleichmäßig und
hebt sich aus dem allgemeinen Rauschen der technischen
Geräte ab, die sich rund um mein Bett befinden. Ich bin im
Krankenhaus.
Die Tür geht auf. Herein kommt eine freundlich lächelnde
Krankenschwester, geschätzt Anfang 30. Ihre brünetten
Haare reichen über die Schultern, die Augen strahlen
Wärme und Herzlichkeit aus. Ich will sprechen. Aber es
wollen keine Worte aus meinem Mund kommen und wenn
meine Lippen so aussehen, wie sie sich anfühlen, dann müssen
sie an die Münchner Allianz-Arena
erinnern.
Zum Glück nimmt mir die Schwester das Reden ab. Sie
erzählt etwas von einem Sturz und dass ich hier im Unfallkrankenhaus
in Salzburg wäre. Sie sagt, ich solle mich ausruhen
und dass sie den Oberarzt holen will.
Sturz? Welcher Sturz? Ich versuche verzweifelt, mich zu
erinnern. Natürlich bin ich gestürzt. Vor drei Wochen schon.
In Titisee-Neustadt. Aber jetzt bin ich doch eben erst wieder
geflogen - am Kulm. Ich hatte einen großartigen Trainingssprung.
Die Bedingungen ideal. War ich nicht gerade noch
am Lift?
Herbert hat immer so herrlich aufmunternde Worte für
mich, wenn ich mich über etwas ärgere. Wo ist er? Ihn
könnte ich jetzt brauchen. Herbert Leitner ist nicht nur ein
hervorragender Physiotherapeut, sondern ein mindestens so
talentierter Psychologe. Vor allem ist er ein Freund. Mein
»Buddy«. Diesen Beinamen hat er bekommen, weil er mich
seit meinem Sturz in Titisee-Neustadt ständig begleitet. Ich
habe mir dort den kleinen Finger gebrochen und Abschürfungen
zugezogen. Die Abschürfungen im Gesicht sind für
das Skispringen nicht das große Problem. Aber nach der
Operation an der Hand kann ich mit dem Verband am Finger
weder meine Skier selbst tragen noch die Sprungschuhe
zubinden. Deshalb hat Herbert eine Ausnahmegenehmigung
von der FIS, der Fédération Internationale de Ski, be9
kommen, mich bis zum Balken begleiten zu dürfen. Dorthin
kann normalerweise kein Betreuer mehr, aber die Trainer
haben in der Mannschaftsführersitzung einstimmig beschlossen,
dass er mir helfen darf, damit ich weiter an den
Wettkämpfen teilnehmen kann. Es ist eine sehr verantwortungsvolle
Aufgabe, denn er muss unmittelbar vor dem
Sprung meine Bindung zumachen. Ich kontrolliere selbstverständlich
jeden seiner Handgriffe, aber wenn da etwas
nicht stimmt und er einen Fehler macht, kann das für mich
einen schweren Sturz zur Folge haben.
Sturz? Nein. Ich kann nicht gestürzt sein. Die Bedingungen
am Kulm waren perfekt. Kein Wind. Ich bin in
großartiger
Form, war der Beste im ersten Trainingsdurchgang.
Ich habe mich nur geärgert, weil der Sprung nicht
perfekt war und mich der Trainer auf keine Fehler hinweisen
wollte. Alexander Pointner hat sich als Cheftrainer
ganz dem Neurocoaching verschrieben: Positives verinnerlichen
und abrufen. Aber ich will doch wissen, was ich
falsch mache und warum ich beim letzten Sprung das Gefühl
hatte, dass zu viel Druck am Vorderski war und es
deshalb in der Luft gebremst hat. Der Sprung war gut. Aber
er hätte besser sein können. Für den Trainer war er einfach
nur »super«. War er aber nicht. Ich weiß das.
Wieder geht die Tür auf. Diesmal ist es ein etwas älterer
Herr um die 50 mit Schnauzer. Der Oberarzt. Auf seiner
Nase sitzt eine schlichte, schwarze Brille. Sie macht ihn sehr
seriös und das soll sie wohl auch. Sein etwas kleinerer und
stärkerer Körperbau, die grauen, schon etwas dünnen Haare,
sein Lächeln und der warme Blick lassen ihn gleich sehr
sympathisch erscheinen. Auch er will mir etwas von einem
Sturz erzählen. Ich hätte mir ein schweres Schädel-Hirn-10
Trauma zugezogen. Außerdem eine Lungenquetschung und
einige Schürfwunden, vor allem im Gesicht. Worte wie
»CT« oder »Röntgen« ziehen durch meinen Kopf an der
bewussten Wahrnehmung vorbei. Mich beschäftigt im Moment
nur eines. Welcher Sturz? Ich bin müde.
Ich erinnere mich nicht. Ich kann mich an alle Stürze erinnern.
In allen Einzelheiten. Ich habe alles immer bewusst
erlebt und nichts vergessen. Vielleicht wäre es besser, wenn
ich mich an die ganz argen Stürze nicht erinnern könnte.
Raus aus dem Kopf. Weg damit. Die Erinnerung an Schmerzen
bremst, aber sie hilft auch dabei, Fehler zu vermeiden.
Man könnte sagen, die Erinnerung schützt. Aber tut sie das
wirklich? Mein erster schwerer Sturz in Kuusamo war nämlich
nicht der letzte. Ehrlich gesagt tut die Erinnerung daran
ziemlich weh und wäre ich ein misstrauischer Mensch, würde
ich diese vermeintliche Schutzfunktion der Erinnerung
als kleine Mogelpackung bezeichnen, denn was hat sie genützt,
diese Schutzfunktion?
Der Sturz in Kuusamo ist elf Jahre her. 2003. Ich war jung
und unverwundbar. Der Weltcupauftakt fand damals in
Finnland statt. Ende November ist der hohe Norden recht
schneesicher. Kuusamo liegt fast am nördlichen Polarkreis.
Das Wetter dort ist um diese Jahreszeit recht instabil und oft
sehr windig. Trotzdem mag ich Kuusamo. Diese weite finnische
Landschaft, die nur aus Wald und Seen besteht, hat
etwas Beruhigendes. Man ist dem Lärm und der Hektik so
fern.
Allerdings auch dem nächsten Krankenhaus - falls etwas
passiert.
Die Erinnerung. Gerade eben schützt sie mich nicht, sondern
macht mich ein wenig verlegen, denn mir ist in Kuusamo
nur deswegen etwas passiert, weil ich übermütig war.
Vielleicht ja auch genau deshalb, weil ich mich so wohl gefühlt
habe, wer weiß?
Mittlerweile ist aus Ruka, so heißt der Ort, in dem die
Schanze steht, ein richtiges Wintersportzentrum geworden. Es
ist in den letzten Jahren wahnsinnig schnell gewachsen. Damals
gab es dort nur die Schanze, ein Hotel, ein paar Holzhäuser
und einen großen Parkplatz neben der Skipiste. Wo der
Parkplatz war, stehen heute ein Einkaufszentrum mit Lokalen
und Appartements. Aber es gefällt mir immer noch, obwohl
ich mittlerweile mit Kuusamo automatisch den Sturz verbinde.
Es sollte meine erste komplette Weltcupsaison werden.
Ich war in fantastischer Form, so wie am Ende der letzten
Saison. Wir sind damals schon ein paar Tage vor dem Weltcupauftakt
hingeflogen,
um zu trainieren, denn Kuusamo
bot die einzige Möglichkeit in Europa, auf einer Schanze
mit Schnee zu springen.
Ja, Schnee war dort genug. Und Eis. Kein Wunder bei
minus 25 Grad. Da sind sogar die nordfinnischen Tannen
eingefroren. Und dazu noch der Wind, der aus den 25 Grad
gefühlte 35 macht. Aber die Optik war toll. Alle Bäume
waren wie aus weißem Eis gezeichnet. Der See war gefroren
und der Himmel leuchtete vier Stunden am Tag blau. Die
restlichen 20 Stunden herrscht dort um diese Zeit finstere
Nacht. Da leuchtet nichts. In diesen vier Stunden erkennst
du ganz klar, wo die finnische Flagge ihren Ursprung hat.
Weiß und blau. Zwei dieser Fahnen wehen auch oben am
Schanzenturm. Auch dieses Bild hat sich in meine Erinnerung
fest eingebrannt.
Trotz der Kälte hat mir das Sprungtraining dort großen
Spaß gemacht. Natürlich auch deshalb, weil ich in wirklich
großartiger Form war. Ich wusste, unter normalen Umständen
musste dieser erste Wettkampf ein Spitzenergebnis bringen.
Was mir diese Gewissheit am Ende des Tages eingebracht
hat? Einen Krankenhausaufenthalt in Kuusamo.
Weil ich übermütig war. Es gibt nichts schönzureden.
Am Wettkampftag war es ziemlich windig. Ich kann
mich genau erinnern. Der Wind kam von links vorne. Das
ist in Kuusamo die einzige nicht windgeschützte Seite. Auf
dieser Seite ist der Kampfrichterturm. Am Vorbau links
gleich unter dem Trainerturm
steht ein riesiger Windsack.
Der ist so groß, dass er sich normalerweise nicht so leicht
bewegt. Da braucht es schon ein ordentliches Lüftchen. Der
Windsack stand an diesem Tag jedenfalls steif in der Luft
und zeigte schräg nach oben. Er war genauso regungslos
wie die eingefrorenen Bäume. Das hätte eigentlich
schon
eine deutliche Warnung sein müssen. Noch deutlichere
Warnsignale waren die Schwierigkeiten von Martin Schmitt
und Andi Kofler bei ihren Sprüngen. Andi war sogar gestürzt
und Sven Hannawald bei 50 Metern notgelandet. Die
meisten Athleten waren an diesem Tag auf Sicherheit gesprungen.
Ich habe mir gedacht, da darf ich jetzt nicht den
Schwanz einziehen. Ich wollte es wie im Training machen
und den Sprung voll durchziehen. Ich war 17 Jahre alt, fühlte
mich unverwundbar, strotzte vor Kraft. Für den Sieg
musste ich schon etwas Risiko in Kauf nehmen.
Auf das, was dann passierte, konnte ich mich vorbereiten,
denn ich habe es kommen sehen. Bei meinen üblichen Visualisierungsübungen
vor dem Wettkampf, bei denen ich
mir meinen Sprung im Kopf genau vorstelle und jede Bewegung
visualisiere, sah ich mich einen Salto schlagen. Das hat
mich kurz zögern lassen, aber ich bin trotzdem mit vollem
Risiko gesprungen, weil ich gewinnen wollte. Klar habe ich
gewusst, dass es gefährlich ist und dass mir genau diese
Windbedingungen gar nicht liegen. Aber die Verantwortlichen
wissen, was sie tun. Die lassen keinen Springer hinunter,
wenn es zu gefährlich ist, haben andererseits aber auch
einen Wettkampf durchzubringen. Natürlich schaltet die
Ampel nur dann auf Grün, wenn der Wind nicht zu stark ist.
Aber keiner kann Böen ausschließen und niemand kann
ausschließen, dass ein junger und erfolgshungriger Draufgänger
bei diesen grenzwertigen Bedingungen eine Spur zu
viel Risiko nimmt.
Vertrauen ist eine der wichtigsten Zutaten im Skispringen.
Man muss dem Trainer vertrauen, wenn er einem die Freigabe
zum Sprung erteilt. Man muss der Jury und der Wettkampfleitung
vertrauen, dass die Bedingungen nicht gefährlich
sind. Und wie ich an diesem Tag gelernt habe, muss
man auch auf sein eigenes Gefühl vertrauen. Wenn es einem
so deutlich sagt: »Aufpassen!«, sollte man das tun, denn
schlussendlich ist jeder für sich selbst verantwortlich. Auf
die innere Stimme hören, das kann ich nicht besonders gut,
ich nehme sie wahr, das schon, sehr intensiv sogar, aber
wenn es wie in unserem Beruf so viele kompetente Stimmen
ringsherum gibt, dann lernt man, auf die zu hören und denen
zu vertrauen.
Wettkämpfe an der Grenze der Regularität gibt es genügend.
Passiert nichts Schlimmes, steht am Ende ein Ergebnis.
Manchmal ist der Gewinner ein Zufallssieger, oft nach nur
einem Durchgang. Dann schimpfen zwar alle, aber ein paar
Wochen später fragt niemand mehr, wie das Ergebnis zustande
gekommen ist, und dem Veranstalter bleiben die finanziellen
Schwierigkeiten als Folge einer
Absage erspart.
Wenn allerdings etwas passiert, wie an diesem Tag in Kuusamo,
ist ein Sturz oft der Auslöser für einen Abbruch des
Wettkampfes. Dann beginnen die Diskussionen: Hätte man
nicht schon früher abbrechen sollen? Hätte man überhaupt
beginnen dürfen? Hätte man vielleicht zuwarten sollen?
Diejenigen, die trotz der schlechten Bedingungen gut gesprungen
sind, ärgern sich, weil sie um ein gutes Ergebnis
umfallen, denn bei einem Abbruch gibt es keine Ergebnisse
und keine Weltcuppunkte.
In diesem Fall traf es Martin Höllwarth. Er war unmittelbar
vor mir gesprungen und in Führung gegangen. Das
hat mir für meinen Sprung ein noch besseres Gefühl gegeben.
Auch die Kälte machte mir nichts aus. Ich mag es,
wenn es kalt ist. Da habe ich das Gefühl, die Luft ist irgendwie
dichter und trägt einen besser. Jedenfalls leuchtete mein
oranger Anzug durch die finnische Luft. Alles fühlte sich
perfekt an: die Hocke, der Absprung, der Übergang ins
Flugsystem. Alles deutete auf einen Triumph hin, bis plötzlich
in der Luft beide Skier zu meinem Körper schlugen.
Mein Oberkörper fiel regelrecht gegen die Skier und ich sah,
wie der rechte wegkippte. Ein fürchterliches Gefühl! Einerseits
geht alles wahnsinnig schnell, andererseits dauert es
eine gefühlte Ewigkeit. Du spürst, wie sich dein Körper in
der Luft überschlägt. Du verlierst gänzlich die Orientierung,
weißt nicht mehr, wo oben und wo unten ist. Nur eines
weißt du in diesem Moment ganz genau: dass es gleich ver15
dammt wehtun wird. Und du wartest auf den Aufprall auf
dem pickelharten, eisigen Vorbau. Du beißt die Zähne zusammen,
nimmst instinktiv irgendeine Art von Schutzhaltung
ein, spannst jeden Muskel im Körper an und hoffst,
dass alles nicht so schlimm werden wird, wie du eigentlich
schon weißt, dass es wird.
Ich bin auf dem Rücken gelandet. Irgendwie hat es mich
dann so gedreht, dass ich auf meinem Hintern zu sitzen
kam und über die eisigen Rillen hinuntergerattert bin, die
von den Schanzenarbeitern mit ihren Alpinskiern in das Eis
getreten worden sind. Das dauerte eine gefühlte Ewigkeit
lang, bis ich dachte, die Schmerzen nicht mehr auszuhalten.
Dann hat sich mein Körper wie von selbst auf den Rücken
gelegt und das letzte Stück bin ich mit dem Kopf nach unten
gerutscht. Mein Blick ging ins Nichts. Geschockt habe
ich nur das Gefühl genossen, dass mein Körper nicht mehr
über die Wellen rattert. Ich bin am Rücken liegen geblieben
und habe geweint. Gernot Landerer, unser damaliger Physiotherapeut,
war sofort bei mir, hat mich angesprochen
und alle wichtigen Körperteile durchbewegt. Besonders das
Schienbein hat geschmerzt. Ich dachte im ersten Moment es
sei gebrochen, aber ich hatte nur eine böse Schnittwunde
vom Ski.
Der Oberschenkel war blau und mein Kopf brummte.
Gehirnerschütterung. Mit Halskrause und Folgetonhorn
der finnischen Rettung wurde ich ins Krankenhaus von
Kuusamo
gefahren. Die Gedanken im Rettungswagen waren
nicht schön. Das hier war kein harmloser Kindersturz,
sondern hat mir gleich zu Beginn meiner ersten kompletten
Saison aufgezeigt, was alles passieren kann!
© Ecowin Verlag
Was hat Sie dazu bewogen, ein Buch über Ihre Erfahrungen zu schreiben?
Eigentlich wollte ich ja nie ein Buch schreiben, weil ich immer das Gefühl hatte die Leute glauben, dass man nach seinem Karriereende nichts Besseres zu tun hat als ein Buch zu schreiben. Genau das wollte ich eigentlich nicht. Ich wollte keine klassische Biographie.
Wenn, dann muss das Buch jemanden fesseln und dem Leser etwas mitgeben, mit dem sich auch jeder identifizieren kann, weil er oder sie ähnliche Situationen erlebt hat.
Lesen Sie selbst gerne und wenn ja, was?
Eine echte Leseratte bin ich nicht, aber wenn dann lese ich gerne Bücher, aus denen ich etwas mitnehmen kann. Auch über andere Sportler zu lesen ist immer interessant.
Sie schreiben in Ihrem Buch über eine persönliche Krise, die Sie hatten. Was hat sich dadurch für Sie verändert?
Das Buch war für mich ein Weg, um die Ereignisse der letzten Monate bis hin zu meinem Ende als aktiver Skispringer Revue passieren zu lassen und sie zu verarbeiten.
Gibt es einen Ratschlag, den Sie aufgrund Ihrer eigenen Erfahrungen Ihren Lesern mitgeben möchten?
Ich war selbst jemand, der nie Angst hatte bzw. sie nicht zugelassen hat. Bis zu diesem gewissen Punkt, an dem mir bewusst geworden ist, dass jeder Mensch Angst hat und auch Angst haben darf. Vielleicht sogar soll, weil es eine Schutzfunktion des Körpers ist, auf die man hören sollte.
Wie sieht nach dem Karriereende jetzt ein normaler Tag im Leben des Thomas Morgenstern aus? Was machen Sie gerne?
Ich habe selbstverständlich gerade eine Menge Termine, die sich um das Buch drehen, aber gleichzeitig bereite ich mich gewissenhaft auf die World Air Games vor. Dort werde ich im Helikopter Bewerb an den Start gehen. Viel Zeit
Was sind Ihre Ambitionen und Ziele für die Zukunft?
Kurzfristig möchte ich bei den World Air Games eine gute Leistung abliefern. Danach geht auch meine Ausbildung zum Berufspiloten weiter. Langfristig sind einige Projekte in Planung, aber fixiert habe ich noch nichts. Ich bin ein vielseitiger Mensch und möchte verschiedene Sachen ausprobieren.
- Autor: Thomas Morgenstern
- 2015, 158 Seiten, mit farbigen Abbildungen, Maße: 14,9 x 21,6 cm, Gebunden, Deutsch
- Mitarbeit: Roscher, Michael
- Verlag: ecoWing
- ISBN-10: 3711000827
- ISBN-13: 9783711000828
- Erscheinungsdatum: 26.09.2015
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