Ulrich Greiners Leseverführer
Was geschieht mit uns, wenn wir lesen, und warum tun wir es so gern? Muß man alles zu Ende lesen, und was sollte man wirklich über den Autor wissen? Muß man sich einschüchtern lassen von großen Werken, und wie nähert man sich denen am elegantesten, an...
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Was geschieht mit uns, wenn wir lesen, und warum tun wir es so gern? Muß man alles zu Ende lesen, und was sollte man wirklich über den Autor wissen? Muß man sich einschüchtern lassen von großen Werken, und wie nähert man sich denen am elegantesten, an denen man bislang, sich respektvoll verbeugend, vorbeigerauscht ist? Und wo liest man was am besten?
Fragen, die jede leidenschaftliche Leserin und jeden Leser, der es werden will, umtreiben und die Ulrich Greiner, der Literaturchef der ZEIT, in seinem intelligenten und unterhaltsamen "Leseverführer" behutsam und sehr persönlich beantwortet. Das Buch wendet sich bewußt an die "Laien", an Leseanfänger und solche, die mehr darüber wissen wollen, was sie begeistert tun, aber es ist auch für die "Profis" ein Vergnügen. Ulrich Greiners Leseverführer ist kein Kanon, sondern eine passionierte Gebrauchsanweisung für den Weg durch das schöne Labyrinth der Literatur.
Fragen, die jede leidenschaftliche Leserin und jeden Leser, der es werden will, umtreiben und die Ulrich Greiner, der Literaturchef der ZEIT, in seinem intelligenten und unterhaltsamen 'Leseverführer' behutsam und sehr persönlich beantwortet. Das Buch wendet sich bewußt an die 'Laien', an Leseanfänger und solche, die mehr darüber wissen wollen, was sie begeistert tun, aber es ist auch für die 'Profis' ein Vergnügen.
Geschickt führt Greiner, sich vor allem am Roman orientierend, seine Leser von einfacheren Fragestellungen zu immer komplexeren, von zugänglicheren Werken zu immer schwierigeren, und dieses Buch, das von der Lust des Lesens handelt, macht umso mehr Lust, den vielfältigen Anregungen und Hinweisen, die der Autor gibt, zu folgen.
'Ulrich Greiners Leseverführer' ist kein Kanon, sondern eine passionierte 'Gebrauchsanweisung' für den Weg durch das schöne Labyrinth der Literatur...
Leseverführer vonUlrich Greiner
LESEPROBE
Erstes Kapitel
Über die Lust und das Laster desLesens
Die Frage, warum wir lesen, istweder leicht zu beantworten noch unerheblich. Die Antwort gibt nämlich Auskunftüber das Wesen der Literatur. Sie gibt Hinweise darauf, weshalb der eine Romaneschreibt und der andere sie liest. Beides ist ja nicht selbstverständlich undkann durchaus mühsam sein. Es versteht sich auch nicht von selbst, dass die sogenannte schöne Literatur in unserer Welt ein so hohes Ansehen genießt, dasszum Beispiel die Frankfurter Buchmesse ein Ereignis ist, dem Bundeskanzler undMinister beiwohnen, und dass etwa die Vergabe des Literaturnobelpreises eineNachricht ist, die selbstverständlich in der «Tagesschau» gemeldet wird. Auchscheint es erklärungsbedürftig, weshalb die Öffentlichkeit (jedenfalls in denmeisten europäischen Ländern) dazu neigt, im Schriftsteller eine moralischeInstanz zu sehen, deren Rat und Meinung in strittigen Fragen von Bedeutungsind.
Warum also lesen wir Romane? Um uns zu zerstreuen, zu unterhalten, zu amüsieren,wäre eine probate Antwort. Das glaube ich nicht. Wenn das unser einziges Zielwäre, würden wir fernsehen oder ins Kino gehen oder, wenn wir gesellig seinsollten, ins Café, in eine Diskothek oder auf den Sportplatz. Gut, lautet eineandere Antwort, wir lesen, um etwas zu lernen, über andere Länder, andereSitten, andere Zeiten. Auch das glaube ich nicht. Um an solche Informationen zukommen, wäre es doch besser, Geschichtsbücher, Biografien und Reiseberichte zulesen.
Romanen, das ist hinlänglich bekannt, kann man nicht trauen. Im Englischengehören sie zur Abteilung fiction. Fiktion heißt: Jemand hat sich dasausgedacht. Ob es wahr und zutreffend ist, ob es mit der historischenWirklichkeit übereinstimmt, das wissen wir zumeist nicht. Es kann sein, oderauch nicht. Was Herman Melville in seinem Roman «Moby-Dick» (1851) über dieTechnik und Ökonomie des Walfangs erzählt, ist verbürgt durch eigene Erfahrungund durch sein Studium walkundlicher Werke. Aber können wir aus Hölderlins«Hyperion» (1799) wirklich etwas über die Griechen und ihren Freiheitskampferfahren? Wir lernen etwas über das Griechenlandbild der Deutschen, überHölderlins Enthusiasmus für die Ideale der Französischen Revolution und seineVerzweiflung über die deutschen Zustände. Aber um diese Begriffe undSachverhalte zu verstehen, müssen wir nicht «Hyperion » lesen, dafür genügteine gute Literaturgeschichte.
Warum also? Meine Antwort lautet: Eskapismus. Darunter versteht das Lexikon dieFlucht vor der Wirklichkeit in eine Scheinwelt. «Escape from Alcatraz» heißtein berühmter Film von Don Siegel (1979). Clint Eastwood, der Held, ist auf derGefängnisinsel Alcatraz eingesperrt. Sie besteht eigentlich nur aus einemgewaltigen Felsbrocken, der mitten in der Bucht von San Francisco liegt. Vonhier zu fliehen, gilt als aussichtslos. Natürlich, sonst hätte der Film nichtszu erzählen, gelingt dem Helden die Flucht.
Es ist wohl so, dass wir den Alltag und die Wiederkehr des Gleichengelegentlich, vielleicht auch sehr oft als ein Gefängnis empfinden, aus dem wirin das Reich der Vorstellungen, der Fantasien und der Tagträume entfliehen.
Die meisten Menschen tun das, ohne sich dessen immer bewusst zu sein. Ichbehaupte nun, dass dieses Fluchtbedürfnis Hauptantrieb der Leseleidenschaftist. Literatur zu schreiben und zu lesen ist eine hoch entwickelte Form desEskapismus. Schauen wir uns das folgende, 1980 geschriebene Gedicht von HansMagnus Enzensberger an:
Der Fliegende Robert
Eskapismus, ruft ihr mir zu,
vorwurfsvoll.
Was denn sonst, antworte ich,
bei diesem Sauwetter! -,
spanne den Regenschirm auf
und erhebe mich in die Lüfte.
Von euch aus gesehen,
werde ich immer kleiner und kleiner,
bis ich verschwunden bin.
Ich hinterlasse nichts weiter
als eine Legende,
mit der ihr Neidhammel,
wenn es draußen stürmt,
euern Kindern in den Ohren liegt,
damit sie euch nicht davonfliegen.
Im «Struwwelpeter», dem legendärenKinderbuch des Frankfurter Arztes Heinrich Hoffmann (1845), wagt sich derkleine Robert, allen Warnungen zum Trotz, bei Regen und Sturm hinaus ins Freie.Er trägt, was kleine Jungen eigentlich selten tun, einen Regenschirm. Der Sturmpackt ihn, und der Junge verschwindet als der «Fliegende Robert» im Himmel.Darauf bezieht sich Enzensberger, und er dreht die Nutzanwendung des Lehrstücksin ihr Gegenteil. Die Zurückgebliebenen sind nur «Neidhammel », und Robert wagtaus freien Stücken den Flug. Es ist der Flug ins Reich der Fantasie, und denVorwurf des Eskapismus erheben nur diejenigen, die feige und einfallslos genugsind, um am heimischen Herd zu verharren.
Wer also das Gefühl haben sollte, Eskapismus sei etwas Verächtliches und Fluchteigentlich eine Schande, den belehrt Enzensbergers Gedicht, dass man es auchumgekehrt sehen kann. Diese Sichtweise hat den Vorzug, dass sie derliterarischen Lektüre keinen vordergründigen Nutzen unterstellt. Der könnteallenfalls in einer Steigerung der Lese- und Sprachfähigkeit bestehen, und daswäre ja nicht wenig. Aber auch hier gilt, dass man diesen Effekt ebenso gutdurch die Lektüre von Sachbüchern erreichen könnte. Worin der eigentlicheGewinn des Lesens von Romanen liegt, das werden wir im Verlauf dieses Buchesnoch sehen. Zunächst gilt die Wahrnehmung, dass man beim Lesen im Buchverschwindet wie der Fliegende Robert im Himmel.
Fängt nicht jedes Lesen so an? Wir fürchten uns mit Rotkäppchen vor dem bösenWolf und freuen uns, wenn es Hänsel und Gretel gelingt, die Hexe zu verbrennen.Wir lauschen mit Heidi dem Glockenklang des Frankfurter Doms und bestehen mitOld Shatterhand die gefährlichsten Zweikämpfe. Wir springen mit der roten Zoradie steilsten Klippen hinab und fliegen mit Nils Holgersson auf dem Rücken desGänserichs in den schwedischen Frühling hinein. Schon in frühesten Jahren zeigtsich, wes Geistes Kind man ist, es zeigt sich das Ausmaß der Verführ- undEntführbarkeit. Man liest Karl May und Enid Blyton, «Jim Knopf» und «HarryPotter» und den «Herrn der Ringe» - und all die anderen furchtbaren undwunderbaren Schmöker. Und die Frage, ob das große Literatur sei, kümmert einenüberhaupt nicht.
So fängt es an. Später aber, wenn man vielerlei gelesen hat, taucht die Fragevon selbst auf. Sie beantwortet sich durch den Vergleich, den man gar nichtsucht. Es kann zum Beispiel passieren, dass man irgendwann zu viel Enid Blytongelesen hat und auf einmal sieht, wie simpel ihre Geschichten gestrickt sind,so dass es leicht wäre, wenn man die Methode einmal begriffen hat, sie zuimitieren. Was ja in der Tat auch geschehen ist, denn viele Blyton-Romanestammen gar nicht von ihr selbst. Die Frage des Qualitätsunterschieds werdenwir im Lauf unserer Betrachtung noch häufiger erörtern. Ich stelle mir das soähnlich vor wie bei einem Wanderführer mit wachsendem Schwierigkeitsgrad. Alsgeübtem Wanderer wird es Ihnen am Ende nicht schwer fallen, jene Höhen zuerklimmen, wo die unglaublichste Aussicht herrscht.
Worin diese Aussicht bestehen könnte, ist vorher nicht zu bestimmen. Sie istmit Sicherheit nicht für jeden Leser dieselbe. Im «Stimmenimitator» von ThomasBernhard, einer Sammlung erfundener Anekdoten, erschienen 1978, findet sichunter dem Titel «Schöne Aussicht» die folgende Geschichte, die ich leichtgekürzt zitiere:
Auf dem Großglockner hatten, nachstundenlangem Aufstieg, zwei freundschaftlich miteinander verbundeneProfessoren der Universität Göttingen, die in Heiligenblut einquartiert gewesenwaren, den Platz vor dem oberhalb des Gletschers montierten Fernrohr erreicht.Sie hatten sich naturgemäß der einzigartigen Schönheit dieses Hochgebirgesnicht entziehen können und einer hatte immer wieder den Anderen zuerst durchdas Fernrohr schauen und sich auf diese Weise den Vorwurf des Anderen ersparenwollen, er dränge sich an das Fernrohr. Schließlich hatten sich die beideneinigen können und der ältere und gebildetere hatte zuerst durch das Fernrohrgeschaut und war von dem Gesehenen überwältigt gewesen. Als sein Kollege jedochan das Fernrohr herangetreten war, hatte er, kaum daß er durch das Fernrohrgeschaut hatte, einen gellenden Schrei ausgestoßen und war tödlich getroffen zuBoden gestürzt. Dem hinterbliebenen Freund des auf diese merkwürdige WeiseGetöteten gibt es naturgemäß noch heute zu denken, was tatsächlichsein Kollege im Fernrohr gesehen hat, denn dasselbe bestimmt nicht.
Wir können diese Geschichte alseine Parabel über literarische Mentalitäten lesen. Wie reagiert derLiteraturleser angesichts des Einzigartigen und Überwältigenden? Geht es darum,dass der eine Leser die Wahrheit erkennt und der andere nicht? Wichtig ist derletzte Satz der Anekdote: Die beiden, die durch das Fernrohr geschaut haben,haben bestimmt nicht dasselbe gesehen. Der eine war überwältigt, und er hatdavon erzählen können. Was der andere gesehen hat, wissen wir nicht, aber eswird schrecklich gewesen sein. Der Blick in die Nachtseite unserer Existenz,der Anblick des Ungeheuerlichen kann einem die Sprache verschlagen, aber diesenBlick zu riskieren, ist die hervorragende Aufgabe der Literatur.
...
© C.H. Beck Verlag
- Autor: Ulrich Greiner
- 2005, 3. Aufl., 215 Seiten, Maße: 12,8 x 20,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Beck
- ISBN-10: 3406536441
- ISBN-13: 9783406536441
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Ulrich Greiners Leseverführer".
Kommentar verfassen