Und dann kam Paulette
...
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Auf liebevolle Weise zeichnet Barbara Constantine die Figuren des Buches in ihrem privaten Kosmos. Ein federleicht hingetupfter Roman, der menschlich einfühlsam nach einem zeitgemäßen „Wie" des Zusammenlebens der Generationen fragt.
Ein kleiner Ort irgendwo in Frankreich. Der 75-jährige Ferdinand, der einen Bauernhof besitzt, hadert mit dem Alleinsein: Seine Frau Henriette ist vor fünf Jahren gestorben, Sohn und Schwiegertochter sind samt Enkel vor kurzem ausgezogen. So lebt er ganz allein auf dem großen Anwesen und weiß nicht so recht, wie er seinen Ruhestand sinnvoll verbringen soll. Als ihm eines Tages ein Hund vors Auto läuft, ist das der erste Dominostein, der eine wundersame Geschichte in Gang setzt. Berthe, so heißt das Tier, gehört seiner Nachbarin Marceline. Obwohl die Frau aus Polen, die Ferdinand für eine Russin hält, schon seit mehreren Jahren auf dem Grundstück nebenan lebt, weiß er so gut wie nichts über sie.
Noch mal gut gegangen
Ferdinand, der nur den Hund zurückbringen will, schlägt beim Betreten von Marcelines windschiefem Häuschen Gasgeruch entgegen. Die dramatische Situation löst sich in Wohlgefallen auf, denn ein schnell geöffnetes Fenster rettet die schlafende Frau vor Schlimmerem. In einer an Situationskomik reichen Unterhaltung reden die beiden fulminant aneinander vorbei: Er vermutet Selbstmordgedanken und versucht, sie unbeholfen darauf anzusprechen; sie hält ihn für einen sympathischen, wenn auch etwas schwatzhaften Zausel, dessen Anspielungen sie nicht einordnen kann - ärgert sie sich doch nur über die Mäuse, die den Gasschlauch angenagt haben.
Warum eigentlich keine Senioren-WG?
Von da an gewinnt die Geschichte an Fahrt. Durch ein Unwetter wird das Dach von Marcelines ohnehin desolatem Haus schwer beschädigt. Ferdinands Enkel Ludovic und Lucien - von ihm liebevoll „die Lulus" genannt - verstehen nicht, warum ihr Großvater der netten Nachbarin nicht einfach Unterschlupf in seinem großen leeren Haus anbietet. Nach einigem Zögern ist der Plan gefasst, die von den Ereignissen mitgenommene Marceline überzeugt und der Grundstein für eine Senioren-WG gelegt. Mit Marceline ziehen noch der Esel Cornélius, der Kater Mosche und die Hündin Berthe mit ein, die Ferdinands Alltag gehörig durcheinanderwirbeln.
Der Hof erwacht zum Leben
Guy, Ferdinands bester Freund seit Jugendtagen, wird unvermittelt Witwer. Weil er in Trauer zu versinken droht, nimmt Ferdinand ihn kurzerhand bei sich auf. Schließlich verschlägt es noch die Schwestern Lumière auf den Hof: Die hochbetagte und etwas vergessliche Hortense und die resolute Simone fürchten, dass ihr Neffe sich ihr Haus unter den Nagel reißen will, weil er Hortense droht, sie wegen einer Alzheimererkrankung einweisen zulassen. Die Damen liegen schon mit einem Gewehr auf der Lauer, um Eindringlinge abzuwehren. Doch weil dieser Zustand allzu zermürbend ist, nehmen auch sie die WG-Einladung gerne an.
Brückenschlag zur Jugend
Das Modell bringt auch eine Menge Herausforderungen mit sich: Fünf Senioren im Alter von 67 bis 95, Tiere und ein Hof, der bewirtschaftet sein will. Dazu kommt, dass über kurz oder lang pflegerische Dienste nötig werden könnten. Ferdinand kommt die Idee, die junge Muriel anzusprechen, die manchmal im Restaurant seines Sohnes aushilft, aber eigentlich eine Ausbildung zur Krankenschwester macht. Ohnehin auf der Suche nach einer Unterkunft, lässt sie sich auf das „Abenteuer Generationenhaus" ein. Hortense, die inzwischen täglich Spritzen bekommen muss, ist begeistert von der zupackenden Frische ihrer Pflegerin: „Sie wünschte sich, dass die Kleine länger blieb, die Jugend war Balsam für ihre Seele, ihre Sauerstoffkur, ihre Erdbeeren mit Schlagsahne im tiefsten Winter."
Und dann noch: ein Baby
Schließlich gesellt sich noch Kim dazu, Absolvent einer Landwirtschaftsschule, der ökologisch frischen Wind auf den Hof bringt. Ferdinand, der inzwischen Zuneigung für Marceline empfindet, wird erfahren, welch schicksalhaftes Geheimnis sie hütet. Und schließlich werden ein Todesfall und die Geburt eines Babys das Leben der Gemeinschaft von Grund auf verändern.In Frankreich hat „Und dann kam Paulette" bereits Bestsellerstatus - ein Beleg dafür, dass dieses unaufdringliche Plädoyer für Solidarität und die Aufgeschlossenheit neuen Modellen gegenüber den Nerv der Zeit trifft.
Ferdinand lebt allein auf seinem großen Bauernhof. Eines Tages, nach einem heftigen Gewitter, fährt er bei seiner Nachbarin Marceline vorbei und sieht, dass ihr Dach eingestürzt ist. Wie kann er der älteren Dame helfen? Ferdinands Enkel finden, ihr Opa müsse Marceline aufnehmen. Die Idee bringt ihn zum Lachen, aber die Jungs meinen es ernst. Also fragt er sie, und sie sagt ja. Schon sind sie zu zweit auf dem Bauernhof. Aber dabei bleibt es nicht. Nach und nach kommen immer mehr Personen dazu. Es wird lebendig. Ein Jugendfreund, zwei kopflose alte Damen, eine Krankenschwester in Not, ein verträumter Student und viele Tiere. Der Bauernhof erwacht zum Leben. Doch was ist mit Paulette?
"Ein anrührender Appell an die Solidarität zwischen den Generationen." Le Nouvel Observateur
1
Der Vorfall mit dem Gas Den Bauch hat er ans Lenkrad gepresst, die Nase klebt an der Windschutzscheibe, Ferdinand ist ganz auf die Straße konzentriert. Der Tachozeiger hat sich auf fünfzig eingependelt, das ideale Tempo. So spart er nicht nur Benzin, sondern hat auch genug Zeit, die Landschaft vorbeiziehen zu sehen, das Panorama zu genießen. Und vor allem beim geringsten Anzeichen von Gefahr anzuhalten, ohne einen Unfall zu riskieren. In dem Moment läuft vor ihm ein Hund auf die Straße. Reflexhaft tritt er auf die Bremse. Reifen quietschen, Splitt fliegt durch die Luft, die Stoßdämpfer knirschen. Der Wagen schlittert, kommt schließlich zum Stehen. Ferdinand lehnt sich aus der Tür. «Wo willst du denn hin, mein Guter?» Der Hund macht einen Satz, spurtet dann am Auto vorbei und legt sich weiter vorn am Straßenrand der Länge nach ins Gras. Ferdinand klettert aus dem Wagen.
«Du gehörst doch meiner Nachbarin. Was treibst du denn hier so ganz allein?» Er geht auf den Hund zu, streckt vorsichtig die Hand aus, streichelt ihm den Kopf. Der Hund zittert. Nach einem kurzen Moment wird er so zutraulich, dass er bereit ist mitzukommen. Ferdinand lässt ihn hinten ins Auto einsteigen und fährt wieder los. Als er zu einem kleinen Weg kommt, öffnet er die Tür. Der Hund springt heraus, drückt sich jedoch an Ferdinands Beine und wimmert, als hätte er Angst. Ferdinand macht das Holztürchen auf, lockt ihn nach drinnen, doch der Hund weicht ihm nicht von der Seite, hört nicht auf zu winseln. Ferdinand geht zwischen den buschigen Hecken hindurch und gelangt schließlich zu einem kleinen Haus. Die Tür steht einen Spaltbreit offen. Hallo? Jemand da?, ruft er. Keine Antwort. Er sieht sich um, kein Mensch zu sehen. Er stößt die Tür auf. Ganz hinten im Halbdunkel kann er eine Gestalt erkennen, sie liegt auf dem Bett. Er ruft, keine Reaktion. Er schnuppert, Gott, wie es hier stinkt. Er schnuppert noch einmal. Oh, oh, es riecht nach Gas! Er rennt zum Herd, dreht die Gasflasche zu, tritt ans Bett. Madame, Madame! Mit flacher Hand bearbeitet er die Wangen der Frau, zurückhaltend zunächst, doch als sie nicht reagiert, immer heftiger. Der Hund kläfft und springt um das Bett herum. Ferdinand verliert ebenfalls die Fassung, geht zu Ohrfeigen über, schreit sie an, dass sie aufwachen soll. Sein Rufen vermischt sich mit dem Gebell des Hundes. Madame Marceline! Wuff! Wuff! Machen Sie die Augen auf, um Gottes wuff! Wachen Sie auf, ich flehe Sie an, wuff, wuff! Schließlich gibt sie ein leises Stöhnen von sich. Ferdinand und der Hund seufzen erleichtert auf.
2
Fünf Minuten später geht's ihr schon besser Marceline hat wieder Farbe im Gesicht und besteht darauf, ihm etwas anzubieten. Schließlich bekommt sie nicht jeden Tag Besuch. Ferdinand und sie sind zwar Nachbarn, aber er ist zum ersten Mal bei ihr zu Hause. Das muss gefeiert werden. Da mag Ferdinand noch so oft sagen, dass er keinen Durst hat, dass er nur den Hund nach Hause bringen wollte, sie steht trotzdem auf und wankt zum Geschirrschrank, holt eine Flasche Pflaumenwein heraus und möchte seine Meinung dazu hören. Immerhin hat sie den Wein zum ersten Mal selbst gemacht. Sie sagen mir ehrlich, was Sie davon halten? Er nickt. Sie schenkt ihm ein, hält plötzlich inne, fragt besorgt, ob er noch fahren muss. Er sei auf dem Weg nach Hause, antwortet er. Von hier sind es nur fünfhundert Meter, die kann er notfalls zu Fuß zurücklegen. Beruhigt schenkt sie weiter ein. Kaum hat er das Glas mit den Lippen berührt, wird ihr schwindlig. Sie sackt auf einen Stuhl und stützt den Kopf in beide Hände. Ferdinand fühlt sich nicht wohl in seiner Haut, starrt unentwegt auf die Wachstuchdecke, fährt mit dem Glas die Linien und Quadrate entlang. Er wagt nicht zu trinken und schon gar nicht zu sprechen. Nach einer Weile fragt er fast flüsternd, ob er sie ins Krankenhaus fahren soll. «Warum?» «Damit Sie sich untersuchen lassen.» «Aber ich habe doch nur Kopfschmerzen.» «Na ja, ich meine nur, wegen dem Gas.» «Ja...» «Das ist nicht gut.» «Nein.» «Wegen möglicher Begleiterscheinungen.» «Ja?» «Es könnte sein, dass Sie sich übergeben müssen.» «Ach so. Das wusste ich nicht.» Wieder folgt langes Schweigen. Sie hält die Augen geschlossen. Er nutzt die Situation, um sich ein bisschen umzuschauen. Das Zimmer ist klein, dunkel und unglaublich vollgestellt. Was ihn sogleich daran erinnert, dass bei ihm das Gegenteil der Fall ist. Fast hallt es, so leer ist das Haus. Der Gedanke stimmt ihn traurig, er widmet sich wieder der Wachstuchdecke. Schließlich fragt er sie doch. «Ich mische mich normalerweise nicht in anderer Leute Angelegenheiten ein, Madame Marceline, das wissen Sie. Aber - könnte es vielleicht sein, dass Sie im Moment so viele Sorgen haben, dass Sie deshalb - dass Sie deshalb ...?» «Dass ich was?» «Das Gas?» «Was ist mit dem Gas?» «Na ja, dass Sie ...» Jetzt wird es kompliziert. Das Thema ist viel zu persönlich, so etwas ist gar nicht sein Ding. Trotzdem spürt er, dass er etwas sagen muss. Er redet um den heißen Brei herum, flüchtet sich in Phrasen, versucht sich mit Andeutungen verständlich zu machen. (Ihm gefällt die Formulierung «zwischen den Zeilen lesen».) Er ist felsenfest davon überzeugt, dass Worte seine Gedanken nur unzulänglich wiedergeben, und würde sich am liebsten von seinem Instinkt leiten lassen. Obwohl er, wenn er ehrlich ist, zugeben muss, dass der ihm schon häufiger übel mitgespielt hat, der Schurke! Da zwangsläufig eins das andere nach sich zieht, fürchtet er, dass Marceline gleich furchtbar emotional reagieren, in Tränen ausbrechen oder gar ein Geheimnis lüften könnte. Der Gedanke gefällt ihm überhaupt nicht. Um wie vieles leichter wäre das Leben, wenn jeder sich einfach nur um seine eigenen Angelegenheiten kümmern würde! Bei seiner Frau hatte er ein Mittel parat, um allzu intimen Unterhaltungen zu entgehen: Sobald er spürte, dass sie in diese Richtung abzudriften drohte, fing er an, von der Vergangenheit zu reden. Ein dahingesagtes Wort genügte, fortan brauchte er nur noch mit halbem Ohr hinzuhören. Sie hat das Plaudern geliebt, seine arme Frau. Das Plaudern über alles, über nichts, über Banalitäten, ein echtes Waschweib. Was sie am meisten geliebt hat, waren Gespräche über die Vergangenheit, ihre Jugend, darüber, dass früher alles besser war. Um wie viel schöner damals alles war, vor allem, bevor sie sich kennengelernt hatten! Es endete immer damit, dass sie voller Zorn aufzählte, was sie anderswo hätte erleben können, in Amerika, in Australien, vielleicht auch in Kanada. Na klar, warum nicht, möglich wäre es schon gewesen. Wenn er sie nur nicht zum Tanz aufgefordert, ihr zärtliche Worte ins Ohr geflüstert, sie nicht so fest an sich gedrückt hätte, auf diesem verfluchten Ball am 14. Juli. Unendliches Bedauern. Er nahm es ihr nicht übel. Auch er hatte geträumt, von großartigen Dingen. Doch er hatte rasch begriffen, dass seine Träume und die Liebe nicht miteinander zu vereinbaren waren. Vielleicht war er auch einfach nicht für die Liebe geschaffen. Oder seine Zeit war noch nicht gekommen. Er musste noch warten, auf ein anderes Leben vielleicht, wie die Katzen.
Gut. Zurück zur Gegenwart. Er ist im Haus seiner Nachbarin. Sie hat ein Problem, scheint aber - trotz seiner vorsichtigen Fragen - nicht darüber reden zu wollen. Er weiß nicht viel über sie, nur, dass sie Marceline heißt. Sie verkauft Honig, Obst und Gemüse auf dem Markt und kommt wahrscheinlich nicht von hier. Sie könnte Russin sein oder Ungarin? Jedenfalls stammt sie aus einem östlichen Land. Und sie ist noch nicht lange hier, ein paar Jahre erst. Sechs oder sieben? Na ja, immerhin ... Er sieht sich weiter um. Diesmal fällt ihm auf, dass über der Spüle kein Warmwasserboiler hängt, auch sind weder Kühlschrank noch Waschmaschine oder Fernseher zu sehen. Keinerlei moderner Komfort. Wie früher, als er ein Kind war. Damals hatten sie nur ein Radio, um sich auf dem Laufenden zu halten, und kaltes Wasser aus dem Hahn. Im Winter, daran erinnert er sich gut, versuchte er stets, sich vor dem Waschen zu drücken. Auch vor der Mühsal des Wäschewaschens, wenn die Sachen steif und eisig aus dem Brunnen kamen und er beim Auswringen helfen musste, mit seinen rissigen Fingerkuppen. Was hat man sich damals abgerackert, meine Güte! Vielleicht, überlegt er, hat die arme Madame Marceline auch genug gehabt von diesem Leben. Von der Härte und all den Widrigkeiten. Womöglich hat sie den Mut verloren. Und außerdem ist sie weit weg von ihrer Heimat, von ihrer Familie. Das könnte sehr wohl der Grund sein ... Er spürt, dass er nicht drum herum kommt. Dass er die Sache in die Hand nehmen, dass er reden muss. Über andere Dinge als Nichtigkeiten, den Regen oder das schöne Wetter. Oder ihren Hund. Ein schlaues Kerlchen, was? Mit dem haben Sie einen Glücksgriff getan. Mein letzter war ziemlich dusselig, aber dafür sehr anhänglich. Der hier ... Das ist ein Weibchen? Sind Sie sicher? Ich habe vorhin nicht genau hingeschaut. Er holt tief Luft und gibt sich einen Ruck. Ohne Umschweife sagt er, dass er versteht. Dass auch er schon ein- oder zweimal so weit war. Dreimal sogar. Na ja, um ganz ehrlich zu sein, viermal. Ja, aber - dann hat er sich Zeit genommen und nachgedacht. Und hat sehr gute Gründe gefunden, die dagegensprachen. Wie zum Beispiel ... Auf die Schnelle fällt ihm nichts ein. Na klar, wie konnte er es vergessen: seine Enkel! Enkel sind ein Segen. Sind hinreißend. Und so anders als die eigenen Kinder. Doch, wirklich: goldiger, lebhafter und viel intelligenter. Vielleicht liegt es an der Zeit, in der wir leben. Ja, die Zeiten haben sich wahrhaftig geändert. Oder wir werden im Alter einfach geduldiger. Schon möglich ... Sie haben keine? Überhaupt keine Kinder? Mist. Das ist schade. Aber es gibt noch andere Dinge, an die man sein Herz hängen kann. Warten Sie mal, ich denke nach. Sie hebt den Blick, starrt zur Decke. Er kratzt sich am Kopf, überlegt krampfhaft, was er sagen könnte. «Wissen Sie, von Zeit zu Zeit muss man sich in Erinnerung rufen, dass es anderen noch schlimmer geht. Das holt einen wieder auf den Boden der Tatsachen zurück, rückt die Dinge ins rechte Licht. Manchmal braucht man das, finden Sie nicht?» Sie wirkt abwesend. Er sucht nach einem lustigen Spruch. «Da kein Mensch je zurückgekommen ist, um uns zu sagen, wie es auf der anderen Seite aussieht, muss man sich vielleicht nicht gerade vordrängeln, Madame Marceline? Man muss auch warten können.» Er kichert. Wartet auf ihre Reaktion. Nichts. Jetzt macht er sich ernsthaft Sorgen. Beugt sich zu ihr vor. Verstehen Sie, was ich sage? Vielleicht benutze ich ja Wörter, die Sie nicht ... Sie zeigt auf den Schlauch am Gasherd und sagt mit leicht zittriger Stimme, das Problem befindet sich dort, sie hat die ganze Zeit danach gesucht. Schuld an dem Schlamassel ist Mosche, ihr alter Kater. Er ist vor ein paar Tagen verschwunden. Vielleicht ist er tot? Hoffentlich nicht. Das wäre ein herber Verlust ... In der Zwischenzeit ist hier das Chaos ausgebrochen. Sie machen, was sie wollen, die Mäuse. Tanzen die ganze Zeit. Die ganze Nacht, den ganzen Tag. In den Schränken, unter dem Bett, im Fliegenschrank. Sie knabbern alles an, alles. Sie hat das Gefühl, verrückt zu werden! Wenn das so weitergeht, klettern sie noch auf den Tisch und futtern von ihrem Teller, sie sind dermaßen frech, die kleinen Biester! Ferdinand hat sich ausgeklinkt. Er hört kaum noch zu. Jetzt redet sie nur noch wirres Zeug, die arme Frau. Das Gas ist schuld. Ihre Geschichte von dem toten Kater und den tanzenden Mäusen ist völlig abstrus. Er sieht ihr beim Reden zu, dann senkt er den Blick auf ihre Hände. Sie hat schöne, abgearbeitete Hände. Es muss an der Gartenarbeit liegen, sie müsste sie pflegen, sie eincremen, das würde ihnen guttun. Dabei sieht sie jünger aus, als er sie geschätzt hätte. In den Sechzig... Plötzlich steht sie auf. Überrascht zuckt er zusammen, erhebt sich ebenfalls. Sie findet es reichlich ärgerlich, sich nur mit Luft zu unterhalten, sagt sie. Es geht ihr auch schon viel besser. Vielen Dank für alles, er kann jetzt gehen, sie wird sich hinlegen und ein wenig ausruhen. Das Gas hat ihr ziemlich zugesetzt. Ferdinand wirft einen Blick auf die Pendeluhr an der Wand: halb fünf, ganz schön früh, um sich schlafen zu legen. Er wundert sich. Sie wird ihn nicht zur Tür begleiten, sagt sie, er findet bestimmt selbst hinaus. Selbstverständlich, sagt er und unterdrückt ein Grinsen. In einem Haus mit nur einem Zimmer kann man sich schwerlich verlaufen! Er streicht der Hündin über den Kopf. Nun gut, auf Wiedersehen, Madame Marceline. Wenn Sie irgendetwas brauchen, rufen Sie mich an. Danke, ja, das mache ich. Sie zuckt mit den Schultern, brummt etwas in sich hinein: Sobald das Telefon angeschlossen ist ... Während Ferdinand zu seinem Wagen zurückkehrt, versucht er zu verstehen, was soeben passiert ist. Diese Frau, die fast an einer Gasvergiftung gestorben wäre, lebt seit Jahren in diesem winzigen Haus, wenige Schritte von ihm entfernt, er ist ihr bestimmt schon hundertmal begegnet, auf der Straße, bei der Post, auf dem Markt, hat kaum je ein Wort mit ihr gewechselt, mal über das Wetter oder die Honigernte... Und jetzt, rums! Läuft ihm ihr Hund - äh, ihre Hündin - über den Weg ... Und wenn er vorhin nicht angehalten hätte, um das Tier nach Hause zu bringen, wäre die gute Madame Marceline zur Stunde ganz sicher tot! Und kein Mensch würde sich darum scheren. Scheiße.
Das ist nicht witzig. Er steigt ins Auto, fährt los. Bereut, dass er vorhin nicht auf ihre Frage geantwortet hat. Ihr ehrlich gesagt hat, was er von ihrem Pflaumenwein hält. Dass ihr der Wein ausgesprochen gut gelungen ist. Alle Achtung, für eine Premiere, Madame Marceline! Henriette, seine verstorbene Frau, hat früher auch welchen gemacht. Aber der war nie so gut. Doch, doch, wenn ich es Ihnen sage, das meine ich ernst. In ihrem Häuschen legt Marceline sich aufs Bett. Ihr Kopf tut nicht mehr so weh. Sie kann wieder denken. Drolliger Kerl, dieser Ferdinand. Und was für ein Schwätzer! Er hat pausenlos geredet, ganz schön anstrengend. Sie hat nicht alles verstanden. Die Geschichte mit dem Licht, in das die Dinge gerückt werden müssen, zum Beispiel, warum hat er das wohl gesagt, merkwürdig. Er muss eine schwere Depression hinter sich haben und scheint jemandem sein Herz ausschütten zu wollen. Es war etwas ermüdend, aber Zuhören war das mindeste, was sie für ihn tun konnte. Es war jedenfalls sehr nett von ihm gewesen, ihr den Hund zurückzubringen. Sie muss sich das nächste Mal unbedingt bei ihm bedanken. Mit einem Glas Honig vielleicht, wenn er den mag.
Und auf einen Schlag kehren Erinnerungen wieder. An seine Frau. Oje, die war alles andere als sympathisch! Sie war sogar ziemlich unausstehlich gewesen, ganz am Anfang, als Marceline hier noch niemanden kannte. Die Tiere hatten Hunger, sie auch. Sie hatte sich Gemüse aus dem Garten geholt und dann angefangen, diesen zu bestellen. Um genug zu essen zu haben und sich ein paar Groschen dazuzuverdienen, während sie über die Zukunft nachdachte. Doch allen Anstrengungen zum Trotz war das erste Jahr ein Fiasko gewesen. In reifem Zustand waren ihre Karotten groß wie Radieschen gewesen und ihre Zwiebeln so winzig wie kleine Murmeln! Und jede Woche, wenn die gnädige Frau Henriette zum Markt kam, blieb sie vor dem Stand stehen und betrachtete abschätzig ihr Gemüse. Im Jahr darauf hatte sich die Lage gebessert. Die Karotten ähnelten allmählich Karotten, der Lauch war über die Größe eines Füllfederhalters hinausgewachsen. Und die gute Henriette fing an, ihr Kleinigkeiten abzukaufen, mal dies, mal das, wobei sie jedes Mal so tat, als handle es sich um ein Almosen. Am liebsten hätte Marceline sie zum Teufel gejagt. Aber das konnte sie sich nicht leisten. Ja, wirklich, sie hatte die Frau gehasst. Ehen sind und bleiben ein Rätsel, sagt sie sich. Auch ihre eigene, keine Frage. Sie hat keine große Lust, darüber nachzudenken. Es kommt ihr so weit weg vor, fast wie in einem anderen Leben. Aber diese beiden, unglaublich ... Henriette und Ferdinand. Ohne sie wirklich gekannt zu haben, fragt sie sich, wie sie es miteinander ausgehalten haben, wo sie so unterschiedlich waren. Warum hatte keiner von ihnen das Weite gesucht, als das Feuer der Leidenschaft nachließ? Tja, solche Gedanken bringen nichts. Er wirkt auf den ersten Blick jedenfalls ganz anders als sie. Hinter seinem etwas steifen, distanzierten Äußeren scheint sich nichts Bösartiges zu verbergen. Mit seiner großen Wunde, die schwer auf seinem Brustkorb lastet und die er um jeden Preis verstecken will, hat er etwas Rührendes. Wenn er von seinen Enkeln spricht, sieht man genau, dass er sie vermisst, er hat sich noch nicht daran gewöhnt, dass sie ausgezogen sind. Es muss ein Schock für ihn gewesen sein, plötzlich allein auf diesem großen leeren Bauernhof zu leben. Der arme Kerl. Das ist nicht witzig. Als es dunkel wurde, stand Marceline wieder auf. Ihre Kopfschmerzen waren verschwunden. Sie untersuchte zunächst den Gasschlauch, an dem die Mäuse genagt hatten. Ein langes Stück war noch intakt. Das konnte sie reparieren, danach setzte sie ihre Suppe auf.
Copyright © 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Barbara Constantine ist Drehbuchautorin, Töpferin und Schriftstellerin. Sie lebt in der Nähe von Paris, fährt aber so oft wie möglich ins Berry, um dort Bäume zu pflanzen, alte Scheunen wiederherzurichten, dem Gesang der Nachtigall in warmen Sommernächten zu lauschen. "Und dann kam Paulette" ist ihr dritter Roman und wurde in Frankreich ein Nummer-eins-Bestseller.Kronenberger, Ina
Ina Kronenberger übersetzt aus den Sprachen Norwegisch und Französisch, unter anderem Philippe Claudel, Barbara Constantine, Anna Gavalda, Per Petterson, Jan-Erik Fjell und Linn Ullmann. Sie wurde mit dem Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. Die Übersetzerin lebt in Bremen.
- Autor: Barbara Constantine
- 2013, Neuausg., 320 Seiten, Maße: 13,3 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Kronenberger, Ina
- Übersetzer: Ina Kronenberger
- Verlag: Kindler
- ISBN-10: 3463406411
- ISBN-13: 9783463406411
- Erscheinungsdatum: 08.03.2013
5 von 5 Sternen
5 Sterne 3Schreiben Sie einen Kommentar zu "Und dann kam Paulette".
Kommentar verfassen