Veilchens Feuer / Valerie Mauser Bd.2
Valerie Mausers zweiter Fall. Alpenkrimi
HEISSE TAGE FÜR VALERIE "VEILCHEN" MAUSERValerie Mauser ist keine gewöhnliche Kriminalbeamtin, sie fällt auf. Und das nicht nur wegen ihrer blonden Afrofrisur. Valerie hat Hirn, Herz und Humor, was auch dem Tiroler Landesvater nicht entgangen ist. Aber der...
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Klappentext zu „Veilchens Feuer / Valerie Mauser Bd.2 “
HEISSE TAGE FÜR VALERIE "VEILCHEN" MAUSERValerie Mauser ist keine gewöhnliche Kriminalbeamtin, sie fällt auf. Und das nicht nur wegen ihrer blonden Afrofrisur. Valerie hat Hirn, Herz und Humor, was auch dem Tiroler Landesvater nicht entgangen ist. Aber der kann ihr gestohlen bleiben! Viel wohler fühlt sie sich an der Seite ihres ehemaligen Ermittlerkollegen aus Wien - und Manfred Stolwerk ist immer zur Stelle, wenn "sein Veilchen" Unterstützung braucht. So auch, als Wolf Rock für sein allerletztes Konzert in seine Heimatstadt Innsbruck zurückkehrt.VEILCHEN UND DER BÖSE WOLFWolf Rock, der streitbare Deutschrocker und berühmteste Tiroler Musikexport, beansprucht Polizeischutz, denn er wird bedroht: Jemand will ihn für eine Schandtat aus den Siebzigern büßen lassen. Doch was er damals verbrochen haben soll, weiß er nicht mehr. Drei Tage bleiben Valerie und ihrem Team, um Licht in die bewegte Vergangenheit des Stars zu bringen. Neider, frühere Weggefährten und Hardcore-Fans tauchen auf. Die Drohungen werden konkreter. Als sich dann die Pforten des Bergiselstadions zu Wolf Rocks großem Finale öffnen, überschlagen sich die Ereignisse: Die Alpenstadt wird zum Hexenkessel und der Rockstar zum Gejagten. Mittendrin Veilchen - da brennt nicht nur der Hut!GNADENLOSES TEMPO UND DER ULTIMATIVE SHOWDOWN IM NEUEN VEILCHEN-KRIMI!Nach dem Debüt "Veilchens Winter", der Krimi-Überraschung des Jahres, setzt Joe Fischler im zweiten Fall seiner kultigen Ermittlerin noch eins drauf: gnadenloses Tempo, eine anständige Portion Alpenstadt-Flair und das nötige Quäntchen Herz. Da kann man sich nur wünschen: go Veilchen go!**********************************************************************************Erster Band der kultigen Veilchen-Krimireihe:Veilchens Winter
Lese-Probe zu „Veilchens Feuer / Valerie Mauser Bd.2 “
Joe Fischler - Veilchens FeuerMittwoch
Der Endlostoaster spielte das Lied vom Tod. Als Valerie
Mauser sich bückte, um nachzusehen, wo denn ihr
Brötchen so lange blieb, schmerzte die Hitze des rheumatisch
knirschenden Geräts. Sie musste blinzeln,
wich aber nicht zurück. Eindeutig: Ihr Vollkorntoast
schwelgte immer noch in der Glut, die Ränder schon
angesengt. Einmal Hölle und zurück. Das hätte auch
zum Motto dieses letzten Tages werden können. Ihr
graute.
„Suchst was, Veilchen?", fragte Stolwerk.
Valerie fuhr hoch. Zu schnell, denn nun sah sie
Sterne, was weniger dem feucht-fröhlichen Vorabend
als ihrem niedrigen Blutdruck geschuldet war. „Hm?",
gab sie dem Mann zurück, der ihr den Besuch des
viertägigen Selbstfindungsseminars im Thermenhotel
Längenfeld eingebrockt hatte, und hielt sich mit
einer Hand am Tisch fest, während die andere das
hart gekochte Ei balancierte, das eifrig zwischen Putensalami
und gebratenen Champignons umherrollte
und schließlich am Frischkäse andockte.
Stolwerk funkelte sie an. Er hatte seinen Teller
randvoll mit Süßem bepackt: drei Stück Kuchen - Sachertorte,
Topfen- und Obsttorte, drapiert auf einem
Bett aus Schlagsahne. Irgendwie hatte er es geschafft,
eine mittelgroße Portion davon auf die Unterseite seiner
Nase zu manövrieren. Jedenfalls hoffte sie, dass
es sich um gequirlten Rahm handelte. Andererseits
war seine Gesichtshaut glatt wie ein Babypopo, also
konnte es auch Rasierschaum sein. Oder Schlimmeres.
„Du hast da was ...", stammelte sie und hob ihren
Teller zur eigenen Nase, die andere Hand brauchte sie
immer noch zum Festhalten. Roch es hier nach Pferd?
Stolwerk verstand den Wink, wischte das überflüssige
Dekor mit dem Zeigefinger und einem begleitenden
„Ha!" weg, schlürfte es ein und verzog das
... mehr
Gesicht.
„Kaffee oder Zschee, bitte?", sprach sie jemand von
der Seite an.
„Zschee, bitte", gab Valerie reflexartig zurück und
schämte sich sofort dafür. Stolwerk machte große Augen.
„Was für Zschee? Wir haben Kräuterzschee, Kamillenzschee,
weißen Zschee, Apfelzschee, Darzschielingzschee,
Rooiboschzschee, Ingwerzschee,
grünen Zschee, Oolongzschee, Hagebuttenzschee ...
Kirschzschee ... Pfefferminzzschee ... English Breakfäst
Zschie ..."
„Ja, den bitte."
„Und für Sie, mein Herr?"
„Kaffee bitte, Kaffee", haspelte er und vermied
es, die Dame anzusehen. Sobald sie sich weit genug
entfernt hatte, blies er die Luft aus und gluckste. Wie
er um diese Uhrzeit derart gute Laune haben konnte,
war ihr schleierhaft. Der Toast polterte aus dem
Gerät.
Als sie ihrem früheren Ermittlungspartner am
LKA Wien zum Tisch folgte, erinnerte sie sein Gang
an den einer Schwangeren. Tags zuvor hatte sie dieser
Titus Frankenfest frühmorgens aus ihren Zimmern
gescheucht und zusammen mit den anderen Seminarteilnehmern
durch den Wald getrieben, im strömenden
Regen - Schirme verboten, weil „das himmlische
Wasser reinige" - einen schmalen Weg hoch, bis sie
ein großes Tipi-Zelt erreichten. Stolwerk war knapp
vorm Herzinfarkt gestanden. Durchnässt, wie sie angekommen
waren, hätten sie erst mal Feuerholz sammeln,
sich dann trocknen und anschließend weiter
nach sich selber suchen sollen. Ob man sich nun finden
wollte oder nicht. Schon die beiden vorhergehenden
Tage waren eine Zumutung gewesen, seelische
Entblößung vor Wildfremden und keine Möglichkeit,
die Annehmlichkeiten des Thermalbads zu genießen
- was Valeries eigentliche Motivation gewesen
war, Stolwerk anstelle seiner erkrankten Schwester
nach Längenfeld zu begleiten.
Leonora Stolwerk hatte ihrem Bruder diesen Titus,
diesen selbst ernannten Guru, diesen gefeierten
Leuchtturm der Generation Y, diesen chronisch in
sich selbst und sein geshaptes Leben verliebten Fuzzi
zum Geburtstag geschenkt. Und eine solch einmalige
Gelegenheit durfte man nicht verstreichen lassen, nur
weil einer krankheitshalber ausfiel, schon des vielen
Geldes wegen - hatte sie gemeint und ihn alleine nach
Tirol geschickt.
Was soll's, wird sicher lustig, hatte Valerie sich
gedacht, leichtsinnig, wie sie gewesen war. Denn
vom ersten Augenblick an war ihr der Seminarleiter
mit dem giftgrünen Irokesen zuwider gewesen, und
was folgte, hatte diesen Eindruck nur noch verstärkt.
Wer war er, dass er ihre äußere Erscheinung, ihren
Beruf, ihr ganzes Leben infrage stellen konnte? Wer
war er, dass er sie ernsthaft fragen konnte, was sie
mit ihrem wollüstigen Hairstyle auszudrücken versuchte?
Wer war er, dass er Stolwerk Maßlosigkeit
vorwerfen durfte und den ganzen ersten Tag damit
verbringen konnte, Beleidigungen auszuteilen, die
auf das äußere Erscheinungsbild der Teilnehmer
gerichtet waren?
Und wie bereitwillig man sich unterworfen hatte!
Wenn Valerie nur an dieses „Schatten der Vergangenheit"-
Spiel dachte. Man sollte das Schlimmste, das
man je getan hatte, hervorkramen und den anderen
unverfälscht erzählen. Weil das reinige (der Deutsch-
Südafrikaner liebte dieses Wort offenbar), verbinde
und für die weiteren Tage unabdingbar sei. Und man
solle sich bloß nicht scheuen: What happens in Längenfeld,
stays in Längenfeld. Was gefolgt war, hätte
manchem Teilnehmer zu mehrmonatigen Haftstrafen
gereicht. Einige Male hatte es Valerie in den Fingern
gejuckt, die Kollegen der nächsten Polizeiwache anzurufen,
besonders, als diese Uta gestand, ihren fünf
Pflegekindern nur mit Schlägen beigekommen zu sein
(sie hatte es „Züchtigung" genannt und das „Z" verschluckt,
sodass es irgendwie nach „tüchtig" geklungen
hatte), und dafür auch noch breites Verständnis
geerntet hatte, gefolgt von Titus' Absolution: „Das ist
vergangen, das ist verflogen, das ist gut". Ja, so gut, so
unglaublich supergut, Kinder zu verdreschen, deren
Schicksal ohnehin schwer genug ist, hatte Valerie gedacht.
Und Uta, die Prügelkuh, hatte gelächelt und
war danach förmlich an Titus' Lippen geklebt.
Dann war Stolwerk an der Reihe gewesen, nicht
ohne Valerie vorher zugezwinkert zu haben, und
tischte eine abstruse Geschichte auf, über seinen
Wehrdienst, es habe alles ganz harmlos begonnen, sein
Oberst sei ein leicht verführbarer Alkoholiker gewesen
und habe sich von ihm und den anderen Grundwehrdienern
Flausen in den Kopf setzen lassen („irgendwie
mussten wir die Langeweile ja bekämpfen"),
man habe ihm eingeredet, zu Höherem berufen zu
sein, wahrhaftig einem Feldherrn gleichzukommen,
worau6in dieser zuerst Wegzölle vor der Kaserne
einheben und dann Dörfer im Marchfeld brandschatzen
ließ (die „Kornkammer Österreichs"). Detailreich
hatte er geschildert, wie sie wie die Hunnen von Le-
opoldsdorf über Obersiebenbrunn nach Gänserndorf
gezogen waren, mit Panzern, berittenen Einheiten
und Militärmusik, um schließlich in Schönkirchen ihren
eigenen Staat auszurufen, weil der Name gut klang,
jedenfalls besser als Gänserndorf. Nach dreitägiger
Belagerung durch das österreichische Bundesheer
habe man dann doch aufgeben müssen - dabei hatte er
sich gute Chancen auf den Posten des Schatzmeisters
der Republik Schönkirchen ausgerechnet. Das ganze
Lügengebäude hatte er ruhig, mit tödlichem Ernst und
reuevollem Kopfschütteln vorgetragen, sodass Titus
nicht zu zweifeln gewagt und auch ihn von seiner
schweren Schuld erlöst hatte. Diese Österreicher sind
ein verrücktes Völkchen, mochte er sich wohl gedacht
haben.
Dann Valerie. Sie kannte ihren „Schatten der Vergangenheit"
nur zu gut. Er lag tief verborgen. Nicht
einmal Stolwerk wusste, dass sie als Achtzehnjährige
eine Tochter geboren und diese zur anonymen Adoption
freigegeben hatte. Mit Rebecca hatte sie dem verstoßenen
Menschlein erst Jahre später einen Namen
gegeben, als die Schuldgefühle aufgekeimt waren und
seither prächtig wuchsen. Nichts wünschte sie sich
so sehr, und nichts war so aussichtslos, wie Rebecca
(oder wie sie eben in Wirklichkeit hieß) eines Tages
in die Arme schließen zu können und nie wieder loslassen
zu müssen. Aber das durfte niemand erfahren,
schon gar nicht diese Gruppe wildfremder Selbstsucher
und deren Irokesenhäuptling. Also hatte sie sich
ihr eigenes kleines Lügenmärchen ausgedacht, mit
dem sie dem Baron Münchhausen neben sich nicht
das Wasser reichen konnte und das dennoch von akzeptabler
Niedertracht war. Was sie überdeutlich an
ihre Schulbeichten erinnerte. „Das ist vergangen, das
ist verflogen, das ist gut." Was wusste dieser Titus
schon. Nichts war gut.
Als die beiden nun am dritten Tag wie die begossenen
Pudel Feuerholz sammeln sollten, hatten Valerie
und Stolwerk ihren persönlichen Schlussstrich gezogen,
sich unter Vorwänden davongestohlen und in der
Thermalsauna verabredet. Aufgüsse mit Honig, Salz
und Joghurt (!) hatten ihnen die Zeit vertrieben. Der
immer noch strömende Sommerregen war zur willkommenen
Abkühlung geworden, pudelnackt waren
sie durch die Saunalandschaft gezogen, was bei Stolwerk
keinen besonderen Unterschied machte - jedenfalls
von vorne betrachtet. Sein Körpervolumen
musste nun wohl das Fünffache des ihren betragen
(das Wasser im eiskalten Tauchbecken war übergeschwappt,
als er sich hineinsenkte wie ein Kolben in
seinen Zylinder). Doch so sehr ihn die Schwerkraft
an Land plagen mochte, im Solebecken bewegte er
sich mit der Anmut eines See-Elefanten, was sie ihn
neckisch wissen ließ und sich postwendend die Bezeichnung
Fischgräte mit Bürstenkopf einfing. Dann
hatten sie die Stille umhüllt und das Wasser getragen
und Stolwerk hatte bald zu schnarchen begonnen.
An der gegenüberliegenden Wand des fensterlosen
Raums fügten sich Lichtpunkte zum Farbe wechselnden
Sternenhimmel. Und wären sie nicht nackt
gewesen, dort in der warmen Salzlauge hätte sie ihren
Begleiter glatt umarmen können, für alles, das ihr
fehlte und seine Nähe ihr gab. Lebensmensch, hatte sie
dann gedacht, ja, das ist immer noch ein schönes Wort.
„Hier bitte, Ihr Zschee!", sprach die Kellnerin und
reichte Valerie das Kännchen. Stolwerk hielt sich die
Serviette vors Gesicht und hustete. Dann servierte das
Fräulein seinen Kaffee und entfernte sich mit starrer
Miene. Stolwerks Schultern zuckten, der Bauch folgte
wackelpuddingartig.
„Valerie! Manfred! Na, haben wir es lustig, ja? Hahaha!"
Titus Frankenfest war an ihren Tisch getreten.
Sein Irokese, der im Regen des Vortags Schlagseite
bekommen hatte und schließlich auf der Seite
pappte, als sei der Erleuchtete einem Seerosentümpel
entstiegen, stand wieder in prächtigem Grün. „Was
machen deine Regelbeschwerden?", fragte er Valerie
mit kräftiger Stimme. Sie zog das Gesicht breit und
gestikulierte „so lala".
„Und Mannis Fußpilz?"
„Ach, nicht gut, gar nicht gut", antwortete Stolwerk
und rieb sich schmerzverzerrt das Schienbein, gegen
welches Valerie vorhin getreten hatte, um peinlichen
Lachanfällen vorzubeugen. Ihr Handy klingelte in der
Jackentasche ihres Trainingsanzugs.
„Turbogeiler Klingelton, Valerie! Haha! Na, was
sagt man dazu. Da seid ihr beide in einer Therme
und könnt sie gar nicht genießen. Haha! Glück für
mich. Start um Punkt zehn Uhr, meine Lieben. Ich
kann's gar nicht erwarten, eure Veränderungspläne
zu hören. Schade, dass ihr das gestern verpasst habt,
ich sage nur: Da bleibt kein Stein auf dem anderen!
Dieser Achim, ach, der will gleich sein ganzes Leben
umkrempeln. Das wird ein guter Tag!" Selbstverliebt
tätschelte er die Haarspitzen, welche sich gut zwanzig
Zentimeter über seinem Kopf befanden, nippte an seinem
Smoothie, leckte sich die Oberlippe ab und starrte
erwartungsvoll Valerie an, die ans Telefon ging. Der
Nummer nach rief sie sich gerade selbst an, denn der
Anruf kam aus ihrem eigenen Büro.
„Mauser, guten Morgen?"
„Guten Tag, Frau Oberstleutnant. Hier Doktor
Berger. Sie sind bis morgen auf Urlaub, meint Kollege
Schmatz?"
„Ja, warum?"
„Nun, weil Sie den Antrag nicht von mir abzeichnen
haben lassen."
„Sie waren am Freitag in Wien, also habe ich es mit
meinem Team koordiniert."
„Frau Oberstleutnant, Ihre Mitarbeiter haben keine
Entscheidungskompetenz, was Ihren Urlaub betri
fft. Ohne meine schriftliche Genehmigung gibt es
keine planmäßigen Abwesenheiten. Spätestens am
Montag hätten Sie das nachholen müssen. Nun ja. Wir
haben hier eine neue Sache. Ich erwarte Sie morgen
pünktlich um acht Uhr in meinem Büro."
Valerie überlegte kurz und spannte das Gesicht an.
„Ach, so dringend? Hm ... ja, ich verstehe ... dann
fahr ich gleich los ... ja, bis Mittag könnte ich es schaffen."
„Was? Nein, morgen um acht. Sie haben den Urlaub
nun schon angetreten, also ..."
Ein Blick in Stolwerks Gesicht genügte: Er war mit
ihrem Fluchtplan einverstanden. „Gut, da kann man
nichts machen. Also bis in zirka drei Stunden."
„Frau Oberstleutnant, ich verstehe nicht ..."
„Beeilen. Jawohl!", nickte Valerie, drückte aufs rote
Symbol und sprang auf. „Stolwerk, Einsatz!"
Dieser erhob sich, so schnell es eben ging. Titus
Frankenfest machte große Augen.
„Tut mir leid, wir müssen", waren die letzten Worte,
die sie in diesem Leben an den Seminarleiter zu
richten hoffte.
„Aber ... aber", stammelte er ihnen nach, als sie im
Laufschritt den Frühstücksraum verließen. Draußen
klatschten sie ab, packten und ließen Längenfeld hinter
sich.
Auf Stolwerks hartnäckigen Wunsch hin holten Valerie
und er das verpatzte Frühstück in einer Raststätte an
der Autobahn nach und erreichten das Landeskriminalamt
Innsbruck gegen elf Uhr fünfundvierzig. Manfred
Stolwerk war vor Jahren aus dem Polizeidienst ausgeschieden
und verdiente sein Geld als Sicherheitsberater
und Alarmanlagentechniker in Linz. Während er nun
unten im Wagen wartete, eilte Valerie zum Leiter des
Landeskriminalamts Tirol, Doktor Dietmar Berger.
„Frau Oberstleutnant, können Sie mir erklären, was
das sollte?", gab er ihr zur Begrüßung.
„Verzeihen Sie, Ihr Anruf hat mich vor der Selbstfindung
bewahrt. Was gibt es?", fragte sie und lächelte
ihren Vorgesetzten an, der weder auf Witz noch suggestive
Mimik zu reagieren pflegte.
„Nun gut, wir hatten zwar morgen um acht Uhr
vereinbart, aber Ihr Erscheinen bietet die Möglichkeit,
dass Sie sich gleich selbst einen Eindruck von diesem
Subjekt verschaffen."
„Von wem?" Valerie war erleichtert, dass er nicht
auf dem kurzfristigen Urlaub herumkaute.
Berger zog eine Akte zu sich, klappte sie auf und
machte es spannend. „Sagt Ihnen Gotthilf Semmelweis
etwas?"
Sie musste nicht überlegen, dieser Name wäre
sicher an irgendeiner neuronalen Kreuzung hängen
geblieben.
„Nein?"
„Besser bekannt als ..." Berger hielt sich den Zeigefinger
quer vor den Mund, als wollte er in Schranken
weisen, was gleich seinen Mund verließ, und murmelte:
„Wolf Rock."
„Oha!" Oha? Ja, der Name war ihr geläufig. „Der
Musiker?"
„Manche nennen ihn so, ja", sagte der LKA-Leiter
und zeigte weiterhin keine Regung. Immerhin schien
er doch Humor zu haben, wenngleich von der staubtrockenen
Sorte.
Wolf Rock. Wer kannte ihn nicht, diesen ach-sobeliebten,
auf bösen Dämon machenden Deutschrocker,
der von den Medien abwechselnd verteufelt und
in den Himmel gelobt wurde.
„Diese Woche soll sein großes Abschiedskonzert
hier in Innsbruck stattfinden. Und es gibt Probleme."
Nun sah Berger sie an und sprach lauter: „Besorgnis
erregende Probleme."
Valerie konnte sich dunkel an die abstoßenden Plakate
erinnern, die überall in Innsbruck hingen und mit
denen seit Monaten Werbung für Wolf Rocks große
Abschiedstournee gemacht wurde, irgendwas mit einem
Berg aus entblößten Körpern, schwarzen Rosen
und brennenden Kreuzen. Jedenfalls viel nackte Haut.
Sie hatte aber nie genau hingesehen, weil sie weder
ihn noch seine Musik je anziehend gefunden hatte.
„Was hat er angestellt?"
„Nichts. Er wird bedroht."
„Von der Schneider-Lobby?"
„Das verstehe ich nicht."
Was sonst sollte sie vom alten Berger erwarten.
„Ich meine, wegen der Plakate überall."
„Nun ja, nein. Der Urheber der Bedrohung ist unbekannt.
Ihr Mitarbeiter, Major Geyer, hat die Sache
an mich herangetragen, in Koordination mit der
Staatsanwaltschaft haben wir Ermittlungen eingeleifischler_
tet. Major Geyer kennt diesen Wolf ... Herrn Semmelweis
wohl persönlich und hat darum gebeten, die weiteren
Ermittlungen übernehmen zu dürfen. Ich habe
dem zugestimmt."
„Geyer?"
„Natürlich vorbehaltlich Ihrer Entscheidung."
Die Einhaltung des Dienstwegs war gerade weniger
interessant als die Tatsache, dass es eine persönliche
Verbindung zwischen ihrem Stellvertreter und
dem Musikstar gab. „Natürlich", gab sie zurück, „also,
was haben wir?"
„Bisher kein umfängliches Dossier ... nur Major
Geyers Bericht hier und ein paar Abfragen", antwortete
Berger und streckte ihr ein Blatt Papier entgegen.
Gezeichnetem persönlich bekannter Gotthilf Semmelweis,
geb. 05. 05. 1955, alias Wolf Rock hat die dringliche
Bitte an uns herangetragen, seine persönliche
Sicherheit rund um das anstehende Konzertfinale in
Innsbruck herzustellen. Dem Vernehmen nach sieht
er sich massiven Bedrohungen ausgesetzt (hier Drohschreiben,
Bedrohung LeibffLeben, wird nachgereicht),
was unserer persönlichen Beobachtung nach auch am
wachsenden Diskurs in einschlägigen Medien abzulesen
war, vor allem in Gestalt einer religiös motivierten
Gegenbewegung, die ihrerseits zu scharfen Protesten
gegen das anstehende Konzert anhält. Ebenso sind dem
scheinbar rechtsfreien Internet diverse drohähnliche
Botschaften zu entnehmen, wovon sich persönlich zu
überzeugen und den dringenden Verdacht zu erhärten
der sachkundige Kollege Sven Schmatz imstande war.
Aufgrund des mehrfach vermuteten Tatbestandes § 107
StGB wird umgehende Ermächtigung zu ausführlichen
Ermittlungen angeregt. Auch weil Gezeichneter
persönlich der unübersehbaren Tatsache gewahr wurde,
dass der private Sicherheitsdienst, welcher für das
Konzert vorgesehen ist, bestenfalls zur Beaufsichtigung
der Parkplätze geeignet scheint, jedoch keinesfalls zum
Personenschutze taugt, wird darüber hinaus empfohlen,
geschätzte Landespolizeidirektion sowie Sondereinsatzkommando
Cobra über die Situation in Kenntnis zu setzen
und Maßnahmenkoordination anzuregen.
Poet wird er keiner mehr ... Poet des Grauens vielleicht,
dachte Valerie und gab Berger das Blatt zurück.
„Ist das nicht zu dick aufgetragen?"
„Was meinen Sie?"
„Die Cobra für ein Rockkonzert in Innsbruck?"
„Machen Sie sich selbst ein Bild. Ich beobachte
dieses Ereignis mit wachsender Beunruhigung, um
offen zu sein. Aber andere Polizeieinheiten werden
uns wohl nicht zur Verfügung stehen."
„Warum?"
„Sehen Sie ... es gab diese Situation schon einmal
ganz ähnlich." Er nahm ein weiteres Blatt zur Hand.
„Wir haben gestern die jüngeren Ereignisse rund
um diesen Musiker überprüft. Gustav Benz heißt
sein Manager. Zwei Jahre ist es her, da wurde er in
Deutschland wegen Vortäuschung einer gefährlichen
Drohung - hier, Bedrohung nennen die deutschen Kollegen
das Delikt - verurteilt. Damals wurde gesagt,
dass es eine Finte war, um die aktuelle Platte seines
Schützlings zu bewerben."
„Und wer einmal lügt ...", zog Valerie den naheliegenden
Schluss.
„Dem glaubt man nicht. So würde es der Volksmund
sagen, ja. Darüber hinaus ist nicht wirklich ein
Terroranschlag zu befürchten, sondern es wird eine
konkrete Einzelperson bedroht ... und damit ist das ...
unsere Zuständigkeit."
„Was war mit dieser religiösen Bewegung?"
„Vergessen Sie das. Leute, die ihren Frust ablassen
und dabei glauben, im Internet seien sie anonym. Wir
konzentrieren uns auf die konkrete Bedrohung des
Künstlers."
„Sie nehmen die Sache ernst?", interpretierte Valerie
seine Nachdenklichkeit.
„Nun ..."
„Ja?"
Berger rieb sich das Kinn.
„Geyer ist überzeugt, dass mehr dahintersteckt.
Und sein kriminalistisches Urteilsvermögen lässt ihn
selten im Stich."
„Also glauben wir ihm doch, diesem Benz?"
„Solange wir keine Hinweise in die andere Richtung
haben, ja."
Womit klar war, dass Valerie nicht nur den Manager,
sondern auch Wolf Rock kennenlernen würde, ob
sie wollte oder - viel eher - nicht.
„Und wie geht es weiter?"
„Pressekonferenz im Hotel Europa um dreizehn
Uhr. In Ihrer Abwesenheit habe ich Kollegen Geyer
hingeschickt. Es wird wohl ratsam sein, wenn Sie sich
dort selbst ein Bild machen. Ich erwarte regelmäßigen
Bericht."
„Natürlich. Also, Mahlzeit."
Berger sah sie schief an und hob die Augenbrauen.
„Hier", sagte er und streckte ihr ein Blatt Papier
entgegen, „Ihr Urlaubsantrag. Ich habe mir erlaubt,
diesen für Sie auszufüllen. Mehr muss ich dazu nicht
sagen, nicht wahr."
Valerie unterzeichnete das Formular.
„Eine Kopie geht Ihnen zu, prägen Sie sich die
nötigen Punkte ein. Ohne vollständigen Antrag kein
Urlaub. Ich empfehle, es auch in Ihrem Team so zu
halten. Guten Tag, Frau Oberstleutnant."
Am Gang fragte sie sich, weshalb sie Menschen wie ihrem
Chef ständig Informelles zu entlocken versuchte,
und sei es nur ein „Mahlzeit" zur Mittagsstunde, wenn
doch klar war, dass er sich dafür zuerst einen kilometerlangen
Besenstiel aus dem Hintern ziehen müsste.
Nicht zum ersten Mal fühlte sie sich ihm unterlegen.
Sie prüfte die Uhrzeit. Bevor sie diesem Rocker das
Händchen halten würde müssen, ging es sich noch aus,
in ihrem Büro vorbeizuschauen.
„Ja grias di, Frau Mauser, hast du dich gut erholt?",
wurde sie von ihrem frisch gebackenen Assistenten
begrüßt.
Sie machte ein Gesicht zur Antwort.
„So schlimm?"
„Schlimmer, Schmatz. Was haben wir?"
„Das Übliche und einen echten Heuler. Warte ..."
Er tauchte in den Aktenberg ein, der sich auf seinem
Schreibtisch stapelte.
„Wolf Rock?", schlug Valerie vor.
Er sah auf.
„Was?" Seine Sommersprossen traten viel deutlicher
hervor als sonst, er musste zur Abwechslung mal
Sonne abbekommen haben.
„Na, der Heuler. Wolf Rock?"
„Bingo! Aber woher ..."
„Ich komme gerade von Berger."
„Au. Na wenn du den Niki gesehen hättest ..."
Schmatz überlegte angestrengt. „Warte!", rief er und
fuhr auf seinem Smartphone herum. Niki. War ja klar,
dass er Nikolaus Geyer auch schon duzte. Wie er es
mit allen tat, ob sie wollten oder nicht. „Hier!" Er
gab ihr sein Handy, auf dem ein Video lief. Offenbar
geheim aufgenommen. Geyer von hinten, wie er zu
Rhythmen von Wolf Rock durch das Großraumbüro
tanzte ( jedenfalls konnte man es tanzen nennen, wenn
man nett sein wollte). Andere klatschten dazu, gaben
sich aber nicht der Peinlichkeit preis, die Geyer nichts
auszumachen schien. „Glaubst du's, Frau Mauser? Der
steht echt voll auf den Scheiß!"
Valerie dachte an den Spruch mit Katze, Maus
und Kirtag. Kaum war sie mal nicht hier, wurde aus
der Abteilung Leib und Leben ein Tanzlokal. Klapse,
wurde sie von der kleinen bösen Sou9euse auf ihrer
rechten Schulter verbessert.
Mit verzogenem Mund, der ihr Grinsen verstecken
sollte, gab sie Schmatz das Gerät zurück. Es war gar
nicht so einfach gewesen, den jungen Mann aus der
EDV-Abteilung loszueisen. Und er hatte sich als der
erhoffte Glücksgriff herausgestellt. Jeder im Team war
fröhlicher und ungezwungener, seit der Jüngling mit
den blonden Wuschelhaaren als Valeries persönlicher
Assistent in ihrem Vorzimmer saß. Lebendiger Klebstoff.
„Ob Kollege Geyer will, dass du mir die Aufnahme
zeigst?"
Daran hatte er wohl nicht gedacht.
„Oh ... aber ... das bleibt ja unter uns, oder?"
„Klar, Schmatz. Ist Geyer noch hier?"
„Nein, vermutlich steht er schon Schlange, damit
er ganz vorne sitzen darf."
Und Witz hatte er auch.
„Du hast Wolf Rock für ihn überprüft?"
„Nur, was sich da gerade im Social Media tut. Soll
ich's dir zeigen?"
Valerie sah auf die Uhr am Display des Tischtelefons.
Schon zwölf Uhr zweiunddreißig.
„Geht sich nicht aus. Sag's mir kurz."
„Auf Facebook und anderen Sites verlinken sich
Leute gegen das Konzert. Geht gerade hoch wie eine
Rakete. Voll viral."
Aus Zeitmangel ignorierte sie das letzte Wort, das
sich nicht recht in den Kontext einfügen wollte.
„Weißt du, warum?"
„Was mit Religion, ich check's nicht so ganz. Sein
Plakat taucht immer wieder auf, vielleicht schaust du
dir das mal genauer an. Mir kommt's eher harmlos
vor."
„Gut, Schmatz, danke. Noch was?"
„Ja, warte ... hier." Er legte Valerie einen Aktenordner
vor. „Der alte Berger hat gemeint, du sollst dir
die internen Vorschriften für Urlaubsgenehmigungen
genau ansehen und die ... warte ...", Schmatz öffnete
den Ordner und las mit geschwollenem Akzent vom
Post-it vor, „... die Kenntnisnahme gegenzeichnen."
Wäre auch zu schön gewesen, dachte Valerie. Aber
der LKA-Leiter war ein glühender Verehrer der Doppelt-
genäht-Theorie.
„Leg's mir rein. Bis später!"
„Mahlzeit, Frau Mauser."
„So eilig, Veilchen?", fragte Stolwerk, nachdem sie
zum Auto gelaufen und auf den Fahrersitz gesprungen
war. Wie schon beim Frühstück nahm sie einen
merkwürdigen Geruch wahr.
„Sag mal, riecht es hier nach Pferd?"
Stolwerk sog die Luft um sich ein und schmatzte,
als könnte er Gerüche schmecken. „Wie? Öhm, wieso ...
nein?"
„Egal, ich muss gleich zum Hotel Europa beim
Hauptbahnhof. Pressekonferenz. Kann dich bei der
Altstadt absetzen."
„Was läuft?"
„Wolf Rock."
Stolwerk zeigte ihr seinen linken Zeigefinger und
kramte mit rechts eine Zeitung aus dem Fach der Beifahrertür
hervor.
„Na dann schau mal da!", rief er und hielt ihr die
Titelseite vors Gesicht, was ungünstig war, da sie bereits
fuhren.
„Hey!" Valerie konnte einen kurzen Blick auf das
Blatt werfen, bevor sie Stolwerks Hand wegdrückte
und sich auf das Geschehen vorm Auto konzentrierte.
Das Foto zeigte Wolf Rock, wie er - geschützt von
Regenschirmen - am Flughafen Innsbruck in eine
befleckte Limousine stieg, darüber die Schlagzeile:
„Chaos in der Stadt".
„Hab mir das Blatt vorhin geholt", sagte Stolwerk,
„und was sagst jetzt, schon geht's rein ins Vergnügen."
„Was schreiben die?"
„Scheint das Thema zu sein ... also, hier steht, dass
man ihn gestern am Flughafen mit Eiern beworfen
hat ... Ha!"
„Was?"
„Da ist ein Kommentar auf der Titelseite ... hör zu:
‚Der Wolf ist in der Stadt. Für sein großes Finale gibt
er sich von der dunkelsten Sorte und überschreitet die
letzten Schamgrenzen, tapeziert die Alpenstadt mit
Sex, Tod und Teufel. Tirol zeigt mit seiner geballten
Heiligkeit, was es davon hält, denn nun hat sich ein
Rudel formiert, um dem Wolf seine ganz persönliche
Abschiedsmelodie zu heulen. Der Tiroler Sohn, Musikexport
Nummer eins, kehrt noch einmal heim ins
Vaterland. Am Samstag wird der Bergisel zum Hexenkessel,
und er wird brodeln in leuchtend Rot.‘"
„In leuchtend Rot", rollte Valerie über spitze Lippen,
als wollte sie ein Gedicht vortragen, und bog in
die Bürgerstraße ein. Es hatte sich erübrigt, Stolwerk
anzubieten, es sich inzwischen in ihrer Wohnung
nahe dem Goldenen Dachl gemütlich zu machen,
denn diese Show hätte er sich niemals entgehen lassen.
„Wolf Rock ist Tiroler?", fragte sie überrascht.
„Ja, hast das nicht gewusst? Da seid's doch sonst so
stolz drauf, auf eure Söhne."
„Hat mich nie interessiert."
„Der Kerl oder die Musik?"
Zur Antwort sah sie Stolwerk schief an. Dieser
stimmte grinsend und mit wachsender Lautstärke den
größten Hit des Musikers an: „Drum komm und tauch
mich, tauch mich in Liebe ... tauch mich, tauch mich ..."
„Au6ören!", rief sie und schlug die flache Hand
auf seinen riesigen Oberschenkel, sodass es brennen
musste.
„Aua!" Stolwerk rieb sich die Stelle und gluckste.
„Du stehst wohl auf den Mist?"
„Wirst lachen, vor vielen Jahren war ich schon auf
einem seiner Konzerte."
Valerie lachte nicht.
„Weißt, die Sachen von früher sind echt gut. Aber
seit Jahren kommt nichts Neues dazu. Nur Kommerz."
„Hm", gab Valerie lustlos von sich und drehte das
Radio auf. Ein Reporter sprach, besser gesagt, er schrie,
um sich von dem ihn umgebenden Geräuschteppich
abzuheben: „... hier am Südtiroler Platz, und es strömen
immer neue herbei. Damit zurück zu dir ins
Studio." Eine weibliche Stimme bedankte sich, lachte
mädchenhaft (was Radiomoderatorinnen erstaunlich
häufig taten, ob es nun passte oder nicht) und fuhr
fort: „Ja, wir haben's gerade gehört, am Bahnhof geht
es schon rund, und passend zum Anlass haben wir für
euch jetzt ... na?" Die ersten Takte eines unverkennbaren
Lieds erklangen. „Genau, Rrrrru..."
Valerie würgte das Gerät ab. Stolwerk übernahm
und grölte: „Ja-a-heute geht es RRUND! Dam dam, da
da da ..."
„Sch...luss jetzt! Sonst lass ich dich gleich hier aussteigen!"
Kein Lied war so schlimm wie dieses. Schon
alleine die Art, wie Wolf Rock die erste Strophe sang:
„A-heute lassen wirr uns nicht alleine ... a-komm, gib
mirr deine Hand, ich geb dirr meine ... und auch wenn
uns am nächsten Tag derr Schädel brrummt ... na
und ... a-heute geht es RRUND!" - ob man wollte oder
nicht, das Zeug brannte sich in jede Gehirnwindung.
Zum Davonlaufen. Links ging es weiter in die Maximilianstraße.
„Ist wohl schon einiges los am Südtiroler Platz",
wechselte Stolwerk mit gefasster Stimme das Thema.
Die Androhung, ihn am Gehsteig abzusetzen, hatte die
gewünschte Wirkung erzielt, war doch körperliche
Aktivität die zwingende Folge.
„Gleich sind wir schlauer."
Eine Minute darauf bogen sie auf den Platz vorm Innsbrucker
Hauptbahnhof ein. Am unteren Ende befand
sich mit dem Grand Hotel Europa das Fünfsternehaus,
in dem die Crème de la Crème abstieg, wenn
sie der Tiroler Landeshauptstadt die Ehre gab, und
was gekrönten Häuptern recht war, konnte diesem
akustischen Luftverschmutzer nur billig sein. Schon
von weitem waren heftig geschwenkte Transparente
und Schilder zu sehen, die an eine politische Demonsfischler_
tration erinnerten, davor einzelne Polizeiwägen mit
Blaulicht. Die Fahrbahn war blockiert.
„Stolwerk, ich spring rein zur Pressekonferenz,
kannst du einen Parkplatz suchen und dir diese Leute
da ansehen? ... bitte?", fragte sie und schenkte ihrem
Beifahrer ein Lächeln.
„Aber natürlich, mein Veilchen."
Sie stoppte ihr Auto wenige Meter vor dem ersten
Einsatzwagen, sprang mit gezückter Dienstmarke
raus und drängte sich durch die Menschenmenge,
die den Hoteleingang blockierte. Ein Ellenbogen
landete in ihren Rippen, unabsichtlich und doch
schmerzhaft, etwas streifte ihre Haare, was bei ihrer
Haarpracht so oder so unvermeidlich war, jemand
schrie ihr ins Ohr, sie wühlte sich weiter.
Dabei waren es höchstens zwei Dutzend Personen
gemischten Alters, die zusammen eine erstaunliche
Lautstärke entwickelten. Gerade skandierten sie im
Chor: „Treibt-den-Teufel ... raus! Treibt-den-Teufel ...
raus!" Valerie konnte nur einen kurzen Blick auf die
Slogans werfen, die sie auf Bannern schwenkten - im
Wesentlichen waren es Synonyme für den Leibhaftigen,
verbunden mit der Aufforderung, das Weite zu
suchen - ein drolliges „Kein Sex vor der Ehe!" hatte
sich dazwischen geschlichen. Am Eingang rempelte
sie versehentlich einen Polizisten an, der sich zu ihr
drehte und sie zu fassen versuchte. Sie wich zurück
und zeigte ihm ihre Marke.
„Mauser, LKA. Ich muss da rein, sofort!", brüllte sie
den jungen Mann an. Ihm stand die Angst im Gesicht.
Auf das Geschehen hier war die Stadtpolizei definitiv
nicht vorbereitet gewesen, es waren viel zu wenige
Polizisten hier, und die wenigen waren noch dazu
falsch ausgerüstet.
„Kommen Sie!", rief er, drängte eine Bahn frei und
winkte durch das Glas der Drehtüre, welche von einem
Polizisten im Innenraum freigegeben und gleich
nach ihrem Eintreten wieder verriegelt wurde. Valerie
wurde über eine breite Treppe und einen Gang in den
Meinhardsaal geleitet, wo die Konferenz in diesen Minuten
beginnen sollte.
Wobei Saal eine zu hoch gegriffene Bezeichnung
für den Raum war, in dem sich eine Meute aus Journalisten
und Kamerabewaffneten drängte und die Hitze
sich staute. Goldgelbe, weiß umrandete Wände, antiquierte
Luster, Gemälde, blauer Teppichboden. Vorne
hatte man einen langen Tisch aufgebaut, auf dem
fünf Mikrofone vor ebenso vielen Stühlen standen,
jener in der Mitte mehr Thron als Stuhl, dahinter ein
übergroßes Plakat, grell angestrahlt. Es war jenes Sujet,
welches sich an jeder Innsbrucker Hausecke fand.
Von Wolf Rock und Gefolge war noch nichts zu sehen
und so beschloss sie, sich ganz nach vorne zu drängen,
um sich dieses Bild mal genauer anzusehen - was
sich als ähnlich schwer herausstellte, wie durch die
Kundgebung vorm Haus zu kommen, und von ähnlich
freundlichen Kommentaren begleitet war. Ansonsten
verhielten sich die Anwesenden merkwürdig
ruhig, fast andächtig. Valerie lehnte sich an die Wand
und musterte den riesigen Stuhl mit knallroter Polsterung
und Seitenlehnen, an deren vorderen Enden
schwarze Kugeln nach oben standen. Gleich dahinter
das Plakat. Was Schmatz vorhin als eher harmlos beschrieben
hatte, war ganz und gar nicht ohne: Wolf
Rock, der in schwarzem Frack, rotem Hemd und mit
schwarzer Rose in der Hand auf einem Berg nackter
Menschen stand. Dabei grinste er, den Kopf zur Seite
geneigt und die Arme seitlich von sich gestreckt - un-
nötig auszuführen, auf welches Glaubenssymbol das
anspielen sollte. Im Hintergrund fiel ein brennendes
Kreuz kopfüber vom Himmel, einem Kometen gleich,
und es regnete pechschwarze, am Rand glimmende
Rosenblätter. EINSCHLAG stand in großen Lettern
darunter, gefolgt von IN INNSBRUCK. Es sah aus, als
hätte man einem Grafiker den Auftrag gegeben, alle
Tabus zu brechen, als wäre die Devise gewesen: „Hey,
schauen wir mal, ob wir es in diesem Heiligen Land
Tirol auf die Spitze treiben können!" Dabei war das
Bild nicht speziell auf das Alpenland ausgerichtet
worden, denn soweit Valerie sich erinnern konnte,
zierte es auch das letzte Album des Künstlers, welches
„Einschlag" hieß und neben zum x-ten Mal aufgewärmten
alten Hits auch einige Coverversionen
bewährter Gassenhauer enthielt. Und dass es sich im
gesamten deutschsprachigen Raum verkaufte wie die
warmen Semmeln, tönte aus allen Medien. Was Wolf
Rock anfasste, wurde zu Geld. Nirgendwo hatte sich
jemand daran gerieben, ausgerechnet zum Finale in
Tirol musste es jetzt passieren.
Doch so provokant sein öffentlicher Auftritt sein
mochte, man lebte in einer Zeit, in der Sexspielzeug
und Hausfrauenpornos in Buchform salonfähig waren
und Erotik im Marketing nicht mehr wegzudenken
war. Die Kirche war zu einer Randerscheinung der
Gesellschaft geworden. Für Blasphemie und Ketzerei
kam heute niemand mehr auf den Scheiterhaufen.
Nicht mal in Tirol.
Und doch schreien sie draußen.
Es war bereits einige Minuten nach dreizehn Uhr,
von Star und Gefolge noch nichts zu sehen. Valerie
ließ ihren Blick über die Wartenden streifen und blieb
in der ersten Reihe hängen, bei ihrem Stellvertreter
Nikolaus Geyer, der starr geradeaus sah, als wollte er
den Blickkontakt vermeiden. Allmählich wurde es stickig
und heiß, was sich der Pressefotograf, der eben
ein Fenster öffnete, wohl auch gedacht haben mochte.
Plötzlich brach Hektik aus. Mehrere Personen betraten
eilig den Raum. Zuerst ein lebendiger Schrank,
der die Dampflok machte, die einen Korridor freischob,
direkt auf Valerie zu. Sie stellte aus. Zu ihrem großen
Erstaunen folgte Sandro Weiler, ihr unterer Nachbar,
den sie schon öfter Gitarre spielen und singen gehört,
aber noch nie wirklich kennengelernt hatte. Dann
zwei Männer, die sie nicht kannte, und schließlich war
es so weit: Unter tosendem Klicken von Kameraverschlüssen
und stroboskopartigem Blitzen betrat Wolf
Rock den Raum, als wäre er gerade dem Tourplakat
entstiegen, knochig, in schwarzem Frack mit hohem
Kragen, rotem Hemd, roten Handschuhen, dunklen
Lippen in einem blass gepuderten Gesicht, Lidschatten,
darüber der Zylinder, darunter seine pechschwarzen,
zurückgegelten Haare. Sie hatte ihn sich größer
vorgestellt. Ein weiterer Securitymann begleitete ihn
Schritt auf Schritt, bis er seine Position in der Mitte
des Tisches erreicht hatte. Herablassend sah er durch
die Runde, fuchtelte dreimal mit der Rose, als wollte
er dem Raum damit die nötigen Weihen verpassen,
ging - besser gesagt: tänzelte etwas unbeholfen um
den Stuhl (eine glatte Acht auf der zehnteiligen Peinlichkeitsskala),
drehte sich einmal um die Achse und
ließ sich von einem der Herren den Thron unter den
Hintern schieben, bevor dieser in Richtung des Fensters
herrschte: „Sofort schließen!", was widerstandslos
passierte. Wolf Rock hob seine schaurige Blume
an die Nase, holte tief Luft, grinste, drapierte sie quer
vor sich auf den Tisch und atmete für alle hörbar aus.
Dann legte er eine Hand über die andere und schloss
sie zur Faust, womit das Leder zwischen seinen Fingern
knarzte. Schließlich lehnte er sich zurück und
gab seine Hände auf die schwarzen Kugeln an den
Sitzlehnen.
Niemand wagte mehr, den Auslöser seiner Kamera
zu bedienen. Eine Stille, man hätte glatt einen Rosenkranz
fallen hören können.
Alle Augen waren auf den Star gerichtet, auch Valeries,
und so bemerkte sie den Tiroler Landeshauptmann
Hubertus Freudenschuss erst Sekunden später.
Er hatte als Letzter Platz genommen und starrte sie
direkt an - keine zwei Meter entfernt -, und dann
musste er ihr auch noch winken! Alles andere als dezent.
Seit dem Winter hofierte er Valerie, dabei hatte
sie ihm mehrmals zu verstehen gegeben, dass ihr Interesse
ganz und gar seinen korrupten Machenschaften
und kriminellen Verstrickungen und nicht ihm
persönlich galt, was diesen nur noch zusätzlich angespornt
hatte. Mal für Mal setzte sie eins drauf, wurde
in ihren Aussagen immer deutlicher, doch dieser Kerl
schluckte alles und verstand es auch noch als Einladung.
Sein Auftritt im Lodenanzug mit Jägerhut war
fast so peinlich wie der des Rockers (sechs von zehn,
hätte Valerie geschätzt), und doch hätte der Kontrast
zwischen bodenständig-gottesfürchtigem Tiroler und
Wolf Rocks Aufzug nicht größer sein können.
Der hoch und breit gewachsene Glatzkopf mit Anzug
und Sonnenbrille (diese war eine glatte Zehn) baute
sich zwischen Valerie und dem Tisch auf, womit er
ihr die Sicht verstellte, andererseits nicht ungelegen
kam, denn nun konnte sie sich aussuchen, wen sie sehen
(und von wem sie gesehen werden) wollte. Sie beschloss,
links an dem mutmaßlichen Personenschützer
vorbeizuschauen, um Wolf Rock zwischen den beiden
unbekannten Herren sowie Sandro Weiler am Rand im
Blick zu behalten - und Hubertus Freudenschuss diesen
Riegel in Menschengestalt vorzuschieben.
„Meine hochverehrten Damen und Herren, Wolf
Rock ist in der Stadt. EINSCHLAG!", rief jener Mann,
der seinem Meister eben noch den Stuhl untergeschoben
hatte, in bayerischer Färbung. Vermutlich sollte
hier Applaus kommen. Kam aber nicht. Dem Namensschild
nach handelte es sich um „Gustav Benz, Manager".
Teurer Anzug, kein Schlips, das Gesicht spiegelglatt
rasiert, das Haupthaar millimeterkurz. Der
Verurteilte, erinnerte sich Valerie an das Gespräch mit
Berger, der Mann, der vor zwei Jahren eine Drohung
gegen Wolf Rock inszeniert hatte, um die Plattenverkäufe
zu steigern. Sichtlich irritiert von der fehlenden
Resonanz nahm er ein Blatt zur Hand und fuhr fort:
„Erleben Sie mit uns das große Finale des Superstars,
live in Concert, live in TV, Live-Album und Live-DVDProduktion
in seiner Heimatstadt Innsbruck - ein
Event, das seinesgleichen sucht, mitten im Herz der
Alpen am historischen Bergisel." Er sah auf und blickte
zur Seite. „Mit besonderer Freude begrüße ich die
Anwesenden, allen voran den Tiroler Landeshauptmann
Hubertus Freudenschuss ..."
Valerie linste verstohlen um die andere Seite des
menschlichen Bollwerks vor ihr herum. Mit einem
Satz stand der Politiker kerzengerade und verneigte
sich, wodurch den Anwesenden nichts anderes übrig
blieb, als zu applaudieren und ihn ebenfalls abzulichten
(der Besuch hunderter Zeltfeste lehrte eben, wie
man sich in den Mittelpunkt rückte). Dann entriss
er dem Manager nicht nur das Wort, sondern gleich
noch dessen Mikrofon.
© Haymon Verlag
„Kaffee oder Zschee, bitte?", sprach sie jemand von
der Seite an.
„Zschee, bitte", gab Valerie reflexartig zurück und
schämte sich sofort dafür. Stolwerk machte große Augen.
„Was für Zschee? Wir haben Kräuterzschee, Kamillenzschee,
weißen Zschee, Apfelzschee, Darzschielingzschee,
Rooiboschzschee, Ingwerzschee,
grünen Zschee, Oolongzschee, Hagebuttenzschee ...
Kirschzschee ... Pfefferminzzschee ... English Breakfäst
Zschie ..."
„Ja, den bitte."
„Und für Sie, mein Herr?"
„Kaffee bitte, Kaffee", haspelte er und vermied
es, die Dame anzusehen. Sobald sie sich weit genug
entfernt hatte, blies er die Luft aus und gluckste. Wie
er um diese Uhrzeit derart gute Laune haben konnte,
war ihr schleierhaft. Der Toast polterte aus dem
Gerät.
Als sie ihrem früheren Ermittlungspartner am
LKA Wien zum Tisch folgte, erinnerte sie sein Gang
an den einer Schwangeren. Tags zuvor hatte sie dieser
Titus Frankenfest frühmorgens aus ihren Zimmern
gescheucht und zusammen mit den anderen Seminarteilnehmern
durch den Wald getrieben, im strömenden
Regen - Schirme verboten, weil „das himmlische
Wasser reinige" - einen schmalen Weg hoch, bis sie
ein großes Tipi-Zelt erreichten. Stolwerk war knapp
vorm Herzinfarkt gestanden. Durchnässt, wie sie angekommen
waren, hätten sie erst mal Feuerholz sammeln,
sich dann trocknen und anschließend weiter
nach sich selber suchen sollen. Ob man sich nun finden
wollte oder nicht. Schon die beiden vorhergehenden
Tage waren eine Zumutung gewesen, seelische
Entblößung vor Wildfremden und keine Möglichkeit,
die Annehmlichkeiten des Thermalbads zu genießen
- was Valeries eigentliche Motivation gewesen
war, Stolwerk anstelle seiner erkrankten Schwester
nach Längenfeld zu begleiten.
Leonora Stolwerk hatte ihrem Bruder diesen Titus,
diesen selbst ernannten Guru, diesen gefeierten
Leuchtturm der Generation Y, diesen chronisch in
sich selbst und sein geshaptes Leben verliebten Fuzzi
zum Geburtstag geschenkt. Und eine solch einmalige
Gelegenheit durfte man nicht verstreichen lassen, nur
weil einer krankheitshalber ausfiel, schon des vielen
Geldes wegen - hatte sie gemeint und ihn alleine nach
Tirol geschickt.
Was soll's, wird sicher lustig, hatte Valerie sich
gedacht, leichtsinnig, wie sie gewesen war. Denn
vom ersten Augenblick an war ihr der Seminarleiter
mit dem giftgrünen Irokesen zuwider gewesen, und
was folgte, hatte diesen Eindruck nur noch verstärkt.
Wer war er, dass er ihre äußere Erscheinung, ihren
Beruf, ihr ganzes Leben infrage stellen konnte? Wer
war er, dass er sie ernsthaft fragen konnte, was sie
mit ihrem wollüstigen Hairstyle auszudrücken versuchte?
Wer war er, dass er Stolwerk Maßlosigkeit
vorwerfen durfte und den ganzen ersten Tag damit
verbringen konnte, Beleidigungen auszuteilen, die
auf das äußere Erscheinungsbild der Teilnehmer
gerichtet waren?
Und wie bereitwillig man sich unterworfen hatte!
Wenn Valerie nur an dieses „Schatten der Vergangenheit"-
Spiel dachte. Man sollte das Schlimmste, das
man je getan hatte, hervorkramen und den anderen
unverfälscht erzählen. Weil das reinige (der Deutsch-
Südafrikaner liebte dieses Wort offenbar), verbinde
und für die weiteren Tage unabdingbar sei. Und man
solle sich bloß nicht scheuen: What happens in Längenfeld,
stays in Längenfeld. Was gefolgt war, hätte
manchem Teilnehmer zu mehrmonatigen Haftstrafen
gereicht. Einige Male hatte es Valerie in den Fingern
gejuckt, die Kollegen der nächsten Polizeiwache anzurufen,
besonders, als diese Uta gestand, ihren fünf
Pflegekindern nur mit Schlägen beigekommen zu sein
(sie hatte es „Züchtigung" genannt und das „Z" verschluckt,
sodass es irgendwie nach „tüchtig" geklungen
hatte), und dafür auch noch breites Verständnis
geerntet hatte, gefolgt von Titus' Absolution: „Das ist
vergangen, das ist verflogen, das ist gut". Ja, so gut, so
unglaublich supergut, Kinder zu verdreschen, deren
Schicksal ohnehin schwer genug ist, hatte Valerie gedacht.
Und Uta, die Prügelkuh, hatte gelächelt und
war danach förmlich an Titus' Lippen geklebt.
Dann war Stolwerk an der Reihe gewesen, nicht
ohne Valerie vorher zugezwinkert zu haben, und
tischte eine abstruse Geschichte auf, über seinen
Wehrdienst, es habe alles ganz harmlos begonnen, sein
Oberst sei ein leicht verführbarer Alkoholiker gewesen
und habe sich von ihm und den anderen Grundwehrdienern
Flausen in den Kopf setzen lassen („irgendwie
mussten wir die Langeweile ja bekämpfen"),
man habe ihm eingeredet, zu Höherem berufen zu
sein, wahrhaftig einem Feldherrn gleichzukommen,
worau6in dieser zuerst Wegzölle vor der Kaserne
einheben und dann Dörfer im Marchfeld brandschatzen
ließ (die „Kornkammer Österreichs"). Detailreich
hatte er geschildert, wie sie wie die Hunnen von Le-
opoldsdorf über Obersiebenbrunn nach Gänserndorf
gezogen waren, mit Panzern, berittenen Einheiten
und Militärmusik, um schließlich in Schönkirchen ihren
eigenen Staat auszurufen, weil der Name gut klang,
jedenfalls besser als Gänserndorf. Nach dreitägiger
Belagerung durch das österreichische Bundesheer
habe man dann doch aufgeben müssen - dabei hatte er
sich gute Chancen auf den Posten des Schatzmeisters
der Republik Schönkirchen ausgerechnet. Das ganze
Lügengebäude hatte er ruhig, mit tödlichem Ernst und
reuevollem Kopfschütteln vorgetragen, sodass Titus
nicht zu zweifeln gewagt und auch ihn von seiner
schweren Schuld erlöst hatte. Diese Österreicher sind
ein verrücktes Völkchen, mochte er sich wohl gedacht
haben.
Dann Valerie. Sie kannte ihren „Schatten der Vergangenheit"
nur zu gut. Er lag tief verborgen. Nicht
einmal Stolwerk wusste, dass sie als Achtzehnjährige
eine Tochter geboren und diese zur anonymen Adoption
freigegeben hatte. Mit Rebecca hatte sie dem verstoßenen
Menschlein erst Jahre später einen Namen
gegeben, als die Schuldgefühle aufgekeimt waren und
seither prächtig wuchsen. Nichts wünschte sie sich
so sehr, und nichts war so aussichtslos, wie Rebecca
(oder wie sie eben in Wirklichkeit hieß) eines Tages
in die Arme schließen zu können und nie wieder loslassen
zu müssen. Aber das durfte niemand erfahren,
schon gar nicht diese Gruppe wildfremder Selbstsucher
und deren Irokesenhäuptling. Also hatte sie sich
ihr eigenes kleines Lügenmärchen ausgedacht, mit
dem sie dem Baron Münchhausen neben sich nicht
das Wasser reichen konnte und das dennoch von akzeptabler
Niedertracht war. Was sie überdeutlich an
ihre Schulbeichten erinnerte. „Das ist vergangen, das
ist verflogen, das ist gut." Was wusste dieser Titus
schon. Nichts war gut.
Als die beiden nun am dritten Tag wie die begossenen
Pudel Feuerholz sammeln sollten, hatten Valerie
und Stolwerk ihren persönlichen Schlussstrich gezogen,
sich unter Vorwänden davongestohlen und in der
Thermalsauna verabredet. Aufgüsse mit Honig, Salz
und Joghurt (!) hatten ihnen die Zeit vertrieben. Der
immer noch strömende Sommerregen war zur willkommenen
Abkühlung geworden, pudelnackt waren
sie durch die Saunalandschaft gezogen, was bei Stolwerk
keinen besonderen Unterschied machte - jedenfalls
von vorne betrachtet. Sein Körpervolumen
musste nun wohl das Fünffache des ihren betragen
(das Wasser im eiskalten Tauchbecken war übergeschwappt,
als er sich hineinsenkte wie ein Kolben in
seinen Zylinder). Doch so sehr ihn die Schwerkraft
an Land plagen mochte, im Solebecken bewegte er
sich mit der Anmut eines See-Elefanten, was sie ihn
neckisch wissen ließ und sich postwendend die Bezeichnung
Fischgräte mit Bürstenkopf einfing. Dann
hatten sie die Stille umhüllt und das Wasser getragen
und Stolwerk hatte bald zu schnarchen begonnen.
An der gegenüberliegenden Wand des fensterlosen
Raums fügten sich Lichtpunkte zum Farbe wechselnden
Sternenhimmel. Und wären sie nicht nackt
gewesen, dort in der warmen Salzlauge hätte sie ihren
Begleiter glatt umarmen können, für alles, das ihr
fehlte und seine Nähe ihr gab. Lebensmensch, hatte sie
dann gedacht, ja, das ist immer noch ein schönes Wort.
„Hier bitte, Ihr Zschee!", sprach die Kellnerin und
reichte Valerie das Kännchen. Stolwerk hielt sich die
Serviette vors Gesicht und hustete. Dann servierte das
Fräulein seinen Kaffee und entfernte sich mit starrer
Miene. Stolwerks Schultern zuckten, der Bauch folgte
wackelpuddingartig.
„Valerie! Manfred! Na, haben wir es lustig, ja? Hahaha!"
Titus Frankenfest war an ihren Tisch getreten.
Sein Irokese, der im Regen des Vortags Schlagseite
bekommen hatte und schließlich auf der Seite
pappte, als sei der Erleuchtete einem Seerosentümpel
entstiegen, stand wieder in prächtigem Grün. „Was
machen deine Regelbeschwerden?", fragte er Valerie
mit kräftiger Stimme. Sie zog das Gesicht breit und
gestikulierte „so lala".
„Und Mannis Fußpilz?"
„Ach, nicht gut, gar nicht gut", antwortete Stolwerk
und rieb sich schmerzverzerrt das Schienbein, gegen
welches Valerie vorhin getreten hatte, um peinlichen
Lachanfällen vorzubeugen. Ihr Handy klingelte in der
Jackentasche ihres Trainingsanzugs.
„Turbogeiler Klingelton, Valerie! Haha! Na, was
sagt man dazu. Da seid ihr beide in einer Therme
und könnt sie gar nicht genießen. Haha! Glück für
mich. Start um Punkt zehn Uhr, meine Lieben. Ich
kann's gar nicht erwarten, eure Veränderungspläne
zu hören. Schade, dass ihr das gestern verpasst habt,
ich sage nur: Da bleibt kein Stein auf dem anderen!
Dieser Achim, ach, der will gleich sein ganzes Leben
umkrempeln. Das wird ein guter Tag!" Selbstverliebt
tätschelte er die Haarspitzen, welche sich gut zwanzig
Zentimeter über seinem Kopf befanden, nippte an seinem
Smoothie, leckte sich die Oberlippe ab und starrte
erwartungsvoll Valerie an, die ans Telefon ging. Der
Nummer nach rief sie sich gerade selbst an, denn der
Anruf kam aus ihrem eigenen Büro.
„Mauser, guten Morgen?"
„Guten Tag, Frau Oberstleutnant. Hier Doktor
Berger. Sie sind bis morgen auf Urlaub, meint Kollege
Schmatz?"
„Ja, warum?"
„Nun, weil Sie den Antrag nicht von mir abzeichnen
haben lassen."
„Sie waren am Freitag in Wien, also habe ich es mit
meinem Team koordiniert."
„Frau Oberstleutnant, Ihre Mitarbeiter haben keine
Entscheidungskompetenz, was Ihren Urlaub betri
fft. Ohne meine schriftliche Genehmigung gibt es
keine planmäßigen Abwesenheiten. Spätestens am
Montag hätten Sie das nachholen müssen. Nun ja. Wir
haben hier eine neue Sache. Ich erwarte Sie morgen
pünktlich um acht Uhr in meinem Büro."
Valerie überlegte kurz und spannte das Gesicht an.
„Ach, so dringend? Hm ... ja, ich verstehe ... dann
fahr ich gleich los ... ja, bis Mittag könnte ich es schaffen."
„Was? Nein, morgen um acht. Sie haben den Urlaub
nun schon angetreten, also ..."
Ein Blick in Stolwerks Gesicht genügte: Er war mit
ihrem Fluchtplan einverstanden. „Gut, da kann man
nichts machen. Also bis in zirka drei Stunden."
„Frau Oberstleutnant, ich verstehe nicht ..."
„Beeilen. Jawohl!", nickte Valerie, drückte aufs rote
Symbol und sprang auf. „Stolwerk, Einsatz!"
Dieser erhob sich, so schnell es eben ging. Titus
Frankenfest machte große Augen.
„Tut mir leid, wir müssen", waren die letzten Worte,
die sie in diesem Leben an den Seminarleiter zu
richten hoffte.
„Aber ... aber", stammelte er ihnen nach, als sie im
Laufschritt den Frühstücksraum verließen. Draußen
klatschten sie ab, packten und ließen Längenfeld hinter
sich.
Auf Stolwerks hartnäckigen Wunsch hin holten Valerie
und er das verpatzte Frühstück in einer Raststätte an
der Autobahn nach und erreichten das Landeskriminalamt
Innsbruck gegen elf Uhr fünfundvierzig. Manfred
Stolwerk war vor Jahren aus dem Polizeidienst ausgeschieden
und verdiente sein Geld als Sicherheitsberater
und Alarmanlagentechniker in Linz. Während er nun
unten im Wagen wartete, eilte Valerie zum Leiter des
Landeskriminalamts Tirol, Doktor Dietmar Berger.
„Frau Oberstleutnant, können Sie mir erklären, was
das sollte?", gab er ihr zur Begrüßung.
„Verzeihen Sie, Ihr Anruf hat mich vor der Selbstfindung
bewahrt. Was gibt es?", fragte sie und lächelte
ihren Vorgesetzten an, der weder auf Witz noch suggestive
Mimik zu reagieren pflegte.
„Nun gut, wir hatten zwar morgen um acht Uhr
vereinbart, aber Ihr Erscheinen bietet die Möglichkeit,
dass Sie sich gleich selbst einen Eindruck von diesem
Subjekt verschaffen."
„Von wem?" Valerie war erleichtert, dass er nicht
auf dem kurzfristigen Urlaub herumkaute.
Berger zog eine Akte zu sich, klappte sie auf und
machte es spannend. „Sagt Ihnen Gotthilf Semmelweis
etwas?"
Sie musste nicht überlegen, dieser Name wäre
sicher an irgendeiner neuronalen Kreuzung hängen
geblieben.
„Nein?"
„Besser bekannt als ..." Berger hielt sich den Zeigefinger
quer vor den Mund, als wollte er in Schranken
weisen, was gleich seinen Mund verließ, und murmelte:
„Wolf Rock."
„Oha!" Oha? Ja, der Name war ihr geläufig. „Der
Musiker?"
„Manche nennen ihn so, ja", sagte der LKA-Leiter
und zeigte weiterhin keine Regung. Immerhin schien
er doch Humor zu haben, wenngleich von der staubtrockenen
Sorte.
Wolf Rock. Wer kannte ihn nicht, diesen ach-sobeliebten,
auf bösen Dämon machenden Deutschrocker,
der von den Medien abwechselnd verteufelt und
in den Himmel gelobt wurde.
„Diese Woche soll sein großes Abschiedskonzert
hier in Innsbruck stattfinden. Und es gibt Probleme."
Nun sah Berger sie an und sprach lauter: „Besorgnis
erregende Probleme."
Valerie konnte sich dunkel an die abstoßenden Plakate
erinnern, die überall in Innsbruck hingen und mit
denen seit Monaten Werbung für Wolf Rocks große
Abschiedstournee gemacht wurde, irgendwas mit einem
Berg aus entblößten Körpern, schwarzen Rosen
und brennenden Kreuzen. Jedenfalls viel nackte Haut.
Sie hatte aber nie genau hingesehen, weil sie weder
ihn noch seine Musik je anziehend gefunden hatte.
„Was hat er angestellt?"
„Nichts. Er wird bedroht."
„Von der Schneider-Lobby?"
„Das verstehe ich nicht."
Was sonst sollte sie vom alten Berger erwarten.
„Ich meine, wegen der Plakate überall."
„Nun ja, nein. Der Urheber der Bedrohung ist unbekannt.
Ihr Mitarbeiter, Major Geyer, hat die Sache
an mich herangetragen, in Koordination mit der
Staatsanwaltschaft haben wir Ermittlungen eingeleifischler_
tet. Major Geyer kennt diesen Wolf ... Herrn Semmelweis
wohl persönlich und hat darum gebeten, die weiteren
Ermittlungen übernehmen zu dürfen. Ich habe
dem zugestimmt."
„Geyer?"
„Natürlich vorbehaltlich Ihrer Entscheidung."
Die Einhaltung des Dienstwegs war gerade weniger
interessant als die Tatsache, dass es eine persönliche
Verbindung zwischen ihrem Stellvertreter und
dem Musikstar gab. „Natürlich", gab sie zurück, „also,
was haben wir?"
„Bisher kein umfängliches Dossier ... nur Major
Geyers Bericht hier und ein paar Abfragen", antwortete
Berger und streckte ihr ein Blatt Papier entgegen.
Gezeichnetem persönlich bekannter Gotthilf Semmelweis,
geb. 05. 05. 1955, alias Wolf Rock hat die dringliche
Bitte an uns herangetragen, seine persönliche
Sicherheit rund um das anstehende Konzertfinale in
Innsbruck herzustellen. Dem Vernehmen nach sieht
er sich massiven Bedrohungen ausgesetzt (hier Drohschreiben,
Bedrohung LeibffLeben, wird nachgereicht),
was unserer persönlichen Beobachtung nach auch am
wachsenden Diskurs in einschlägigen Medien abzulesen
war, vor allem in Gestalt einer religiös motivierten
Gegenbewegung, die ihrerseits zu scharfen Protesten
gegen das anstehende Konzert anhält. Ebenso sind dem
scheinbar rechtsfreien Internet diverse drohähnliche
Botschaften zu entnehmen, wovon sich persönlich zu
überzeugen und den dringenden Verdacht zu erhärten
der sachkundige Kollege Sven Schmatz imstande war.
Aufgrund des mehrfach vermuteten Tatbestandes § 107
StGB wird umgehende Ermächtigung zu ausführlichen
Ermittlungen angeregt. Auch weil Gezeichneter
persönlich der unübersehbaren Tatsache gewahr wurde,
dass der private Sicherheitsdienst, welcher für das
Konzert vorgesehen ist, bestenfalls zur Beaufsichtigung
der Parkplätze geeignet scheint, jedoch keinesfalls zum
Personenschutze taugt, wird darüber hinaus empfohlen,
geschätzte Landespolizeidirektion sowie Sondereinsatzkommando
Cobra über die Situation in Kenntnis zu setzen
und Maßnahmenkoordination anzuregen.
Poet wird er keiner mehr ... Poet des Grauens vielleicht,
dachte Valerie und gab Berger das Blatt zurück.
„Ist das nicht zu dick aufgetragen?"
„Was meinen Sie?"
„Die Cobra für ein Rockkonzert in Innsbruck?"
„Machen Sie sich selbst ein Bild. Ich beobachte
dieses Ereignis mit wachsender Beunruhigung, um
offen zu sein. Aber andere Polizeieinheiten werden
uns wohl nicht zur Verfügung stehen."
„Warum?"
„Sehen Sie ... es gab diese Situation schon einmal
ganz ähnlich." Er nahm ein weiteres Blatt zur Hand.
„Wir haben gestern die jüngeren Ereignisse rund
um diesen Musiker überprüft. Gustav Benz heißt
sein Manager. Zwei Jahre ist es her, da wurde er in
Deutschland wegen Vortäuschung einer gefährlichen
Drohung - hier, Bedrohung nennen die deutschen Kollegen
das Delikt - verurteilt. Damals wurde gesagt,
dass es eine Finte war, um die aktuelle Platte seines
Schützlings zu bewerben."
„Und wer einmal lügt ...", zog Valerie den naheliegenden
Schluss.
„Dem glaubt man nicht. So würde es der Volksmund
sagen, ja. Darüber hinaus ist nicht wirklich ein
Terroranschlag zu befürchten, sondern es wird eine
konkrete Einzelperson bedroht ... und damit ist das ...
unsere Zuständigkeit."
„Was war mit dieser religiösen Bewegung?"
„Vergessen Sie das. Leute, die ihren Frust ablassen
und dabei glauben, im Internet seien sie anonym. Wir
konzentrieren uns auf die konkrete Bedrohung des
Künstlers."
„Sie nehmen die Sache ernst?", interpretierte Valerie
seine Nachdenklichkeit.
„Nun ..."
„Ja?"
Berger rieb sich das Kinn.
„Geyer ist überzeugt, dass mehr dahintersteckt.
Und sein kriminalistisches Urteilsvermögen lässt ihn
selten im Stich."
„Also glauben wir ihm doch, diesem Benz?"
„Solange wir keine Hinweise in die andere Richtung
haben, ja."
Womit klar war, dass Valerie nicht nur den Manager,
sondern auch Wolf Rock kennenlernen würde, ob
sie wollte oder - viel eher - nicht.
„Und wie geht es weiter?"
„Pressekonferenz im Hotel Europa um dreizehn
Uhr. In Ihrer Abwesenheit habe ich Kollegen Geyer
hingeschickt. Es wird wohl ratsam sein, wenn Sie sich
dort selbst ein Bild machen. Ich erwarte regelmäßigen
Bericht."
„Natürlich. Also, Mahlzeit."
Berger sah sie schief an und hob die Augenbrauen.
„Hier", sagte er und streckte ihr ein Blatt Papier
entgegen, „Ihr Urlaubsantrag. Ich habe mir erlaubt,
diesen für Sie auszufüllen. Mehr muss ich dazu nicht
sagen, nicht wahr."
Valerie unterzeichnete das Formular.
„Eine Kopie geht Ihnen zu, prägen Sie sich die
nötigen Punkte ein. Ohne vollständigen Antrag kein
Urlaub. Ich empfehle, es auch in Ihrem Team so zu
halten. Guten Tag, Frau Oberstleutnant."
Am Gang fragte sie sich, weshalb sie Menschen wie ihrem
Chef ständig Informelles zu entlocken versuchte,
und sei es nur ein „Mahlzeit" zur Mittagsstunde, wenn
doch klar war, dass er sich dafür zuerst einen kilometerlangen
Besenstiel aus dem Hintern ziehen müsste.
Nicht zum ersten Mal fühlte sie sich ihm unterlegen.
Sie prüfte die Uhrzeit. Bevor sie diesem Rocker das
Händchen halten würde müssen, ging es sich noch aus,
in ihrem Büro vorbeizuschauen.
„Ja grias di, Frau Mauser, hast du dich gut erholt?",
wurde sie von ihrem frisch gebackenen Assistenten
begrüßt.
Sie machte ein Gesicht zur Antwort.
„So schlimm?"
„Schlimmer, Schmatz. Was haben wir?"
„Das Übliche und einen echten Heuler. Warte ..."
Er tauchte in den Aktenberg ein, der sich auf seinem
Schreibtisch stapelte.
„Wolf Rock?", schlug Valerie vor.
Er sah auf.
„Was?" Seine Sommersprossen traten viel deutlicher
hervor als sonst, er musste zur Abwechslung mal
Sonne abbekommen haben.
„Na, der Heuler. Wolf Rock?"
„Bingo! Aber woher ..."
„Ich komme gerade von Berger."
„Au. Na wenn du den Niki gesehen hättest ..."
Schmatz überlegte angestrengt. „Warte!", rief er und
fuhr auf seinem Smartphone herum. Niki. War ja klar,
dass er Nikolaus Geyer auch schon duzte. Wie er es
mit allen tat, ob sie wollten oder nicht. „Hier!" Er
gab ihr sein Handy, auf dem ein Video lief. Offenbar
geheim aufgenommen. Geyer von hinten, wie er zu
Rhythmen von Wolf Rock durch das Großraumbüro
tanzte ( jedenfalls konnte man es tanzen nennen, wenn
man nett sein wollte). Andere klatschten dazu, gaben
sich aber nicht der Peinlichkeit preis, die Geyer nichts
auszumachen schien. „Glaubst du's, Frau Mauser? Der
steht echt voll auf den Scheiß!"
Valerie dachte an den Spruch mit Katze, Maus
und Kirtag. Kaum war sie mal nicht hier, wurde aus
der Abteilung Leib und Leben ein Tanzlokal. Klapse,
wurde sie von der kleinen bösen Sou9euse auf ihrer
rechten Schulter verbessert.
Mit verzogenem Mund, der ihr Grinsen verstecken
sollte, gab sie Schmatz das Gerät zurück. Es war gar
nicht so einfach gewesen, den jungen Mann aus der
EDV-Abteilung loszueisen. Und er hatte sich als der
erhoffte Glücksgriff herausgestellt. Jeder im Team war
fröhlicher und ungezwungener, seit der Jüngling mit
den blonden Wuschelhaaren als Valeries persönlicher
Assistent in ihrem Vorzimmer saß. Lebendiger Klebstoff.
„Ob Kollege Geyer will, dass du mir die Aufnahme
zeigst?"
Daran hatte er wohl nicht gedacht.
„Oh ... aber ... das bleibt ja unter uns, oder?"
„Klar, Schmatz. Ist Geyer noch hier?"
„Nein, vermutlich steht er schon Schlange, damit
er ganz vorne sitzen darf."
Und Witz hatte er auch.
„Du hast Wolf Rock für ihn überprüft?"
„Nur, was sich da gerade im Social Media tut. Soll
ich's dir zeigen?"
Valerie sah auf die Uhr am Display des Tischtelefons.
Schon zwölf Uhr zweiunddreißig.
„Geht sich nicht aus. Sag's mir kurz."
„Auf Facebook und anderen Sites verlinken sich
Leute gegen das Konzert. Geht gerade hoch wie eine
Rakete. Voll viral."
Aus Zeitmangel ignorierte sie das letzte Wort, das
sich nicht recht in den Kontext einfügen wollte.
„Weißt du, warum?"
„Was mit Religion, ich check's nicht so ganz. Sein
Plakat taucht immer wieder auf, vielleicht schaust du
dir das mal genauer an. Mir kommt's eher harmlos
vor."
„Gut, Schmatz, danke. Noch was?"
„Ja, warte ... hier." Er legte Valerie einen Aktenordner
vor. „Der alte Berger hat gemeint, du sollst dir
die internen Vorschriften für Urlaubsgenehmigungen
genau ansehen und die ... warte ...", Schmatz öffnete
den Ordner und las mit geschwollenem Akzent vom
Post-it vor, „... die Kenntnisnahme gegenzeichnen."
Wäre auch zu schön gewesen, dachte Valerie. Aber
der LKA-Leiter war ein glühender Verehrer der Doppelt-
genäht-Theorie.
„Leg's mir rein. Bis später!"
„Mahlzeit, Frau Mauser."
„So eilig, Veilchen?", fragte Stolwerk, nachdem sie
zum Auto gelaufen und auf den Fahrersitz gesprungen
war. Wie schon beim Frühstück nahm sie einen
merkwürdigen Geruch wahr.
„Sag mal, riecht es hier nach Pferd?"
Stolwerk sog die Luft um sich ein und schmatzte,
als könnte er Gerüche schmecken. „Wie? Öhm, wieso ...
nein?"
„Egal, ich muss gleich zum Hotel Europa beim
Hauptbahnhof. Pressekonferenz. Kann dich bei der
Altstadt absetzen."
„Was läuft?"
„Wolf Rock."
Stolwerk zeigte ihr seinen linken Zeigefinger und
kramte mit rechts eine Zeitung aus dem Fach der Beifahrertür
hervor.
„Na dann schau mal da!", rief er und hielt ihr die
Titelseite vors Gesicht, was ungünstig war, da sie bereits
fuhren.
„Hey!" Valerie konnte einen kurzen Blick auf das
Blatt werfen, bevor sie Stolwerks Hand wegdrückte
und sich auf das Geschehen vorm Auto konzentrierte.
Das Foto zeigte Wolf Rock, wie er - geschützt von
Regenschirmen - am Flughafen Innsbruck in eine
befleckte Limousine stieg, darüber die Schlagzeile:
„Chaos in der Stadt".
„Hab mir das Blatt vorhin geholt", sagte Stolwerk,
„und was sagst jetzt, schon geht's rein ins Vergnügen."
„Was schreiben die?"
„Scheint das Thema zu sein ... also, hier steht, dass
man ihn gestern am Flughafen mit Eiern beworfen
hat ... Ha!"
„Was?"
„Da ist ein Kommentar auf der Titelseite ... hör zu:
‚Der Wolf ist in der Stadt. Für sein großes Finale gibt
er sich von der dunkelsten Sorte und überschreitet die
letzten Schamgrenzen, tapeziert die Alpenstadt mit
Sex, Tod und Teufel. Tirol zeigt mit seiner geballten
Heiligkeit, was es davon hält, denn nun hat sich ein
Rudel formiert, um dem Wolf seine ganz persönliche
Abschiedsmelodie zu heulen. Der Tiroler Sohn, Musikexport
Nummer eins, kehrt noch einmal heim ins
Vaterland. Am Samstag wird der Bergisel zum Hexenkessel,
und er wird brodeln in leuchtend Rot.‘"
„In leuchtend Rot", rollte Valerie über spitze Lippen,
als wollte sie ein Gedicht vortragen, und bog in
die Bürgerstraße ein. Es hatte sich erübrigt, Stolwerk
anzubieten, es sich inzwischen in ihrer Wohnung
nahe dem Goldenen Dachl gemütlich zu machen,
denn diese Show hätte er sich niemals entgehen lassen.
„Wolf Rock ist Tiroler?", fragte sie überrascht.
„Ja, hast das nicht gewusst? Da seid's doch sonst so
stolz drauf, auf eure Söhne."
„Hat mich nie interessiert."
„Der Kerl oder die Musik?"
Zur Antwort sah sie Stolwerk schief an. Dieser
stimmte grinsend und mit wachsender Lautstärke den
größten Hit des Musikers an: „Drum komm und tauch
mich, tauch mich in Liebe ... tauch mich, tauch mich ..."
„Au6ören!", rief sie und schlug die flache Hand
auf seinen riesigen Oberschenkel, sodass es brennen
musste.
„Aua!" Stolwerk rieb sich die Stelle und gluckste.
„Du stehst wohl auf den Mist?"
„Wirst lachen, vor vielen Jahren war ich schon auf
einem seiner Konzerte."
Valerie lachte nicht.
„Weißt, die Sachen von früher sind echt gut. Aber
seit Jahren kommt nichts Neues dazu. Nur Kommerz."
„Hm", gab Valerie lustlos von sich und drehte das
Radio auf. Ein Reporter sprach, besser gesagt, er schrie,
um sich von dem ihn umgebenden Geräuschteppich
abzuheben: „... hier am Südtiroler Platz, und es strömen
immer neue herbei. Damit zurück zu dir ins
Studio." Eine weibliche Stimme bedankte sich, lachte
mädchenhaft (was Radiomoderatorinnen erstaunlich
häufig taten, ob es nun passte oder nicht) und fuhr
fort: „Ja, wir haben's gerade gehört, am Bahnhof geht
es schon rund, und passend zum Anlass haben wir für
euch jetzt ... na?" Die ersten Takte eines unverkennbaren
Lieds erklangen. „Genau, Rrrrru..."
Valerie würgte das Gerät ab. Stolwerk übernahm
und grölte: „Ja-a-heute geht es RRUND! Dam dam, da
da da ..."
„Sch...luss jetzt! Sonst lass ich dich gleich hier aussteigen!"
Kein Lied war so schlimm wie dieses. Schon
alleine die Art, wie Wolf Rock die erste Strophe sang:
„A-heute lassen wirr uns nicht alleine ... a-komm, gib
mirr deine Hand, ich geb dirr meine ... und auch wenn
uns am nächsten Tag derr Schädel brrummt ... na
und ... a-heute geht es RRUND!" - ob man wollte oder
nicht, das Zeug brannte sich in jede Gehirnwindung.
Zum Davonlaufen. Links ging es weiter in die Maximilianstraße.
„Ist wohl schon einiges los am Südtiroler Platz",
wechselte Stolwerk mit gefasster Stimme das Thema.
Die Androhung, ihn am Gehsteig abzusetzen, hatte die
gewünschte Wirkung erzielt, war doch körperliche
Aktivität die zwingende Folge.
„Gleich sind wir schlauer."
Eine Minute darauf bogen sie auf den Platz vorm Innsbrucker
Hauptbahnhof ein. Am unteren Ende befand
sich mit dem Grand Hotel Europa das Fünfsternehaus,
in dem die Crème de la Crème abstieg, wenn
sie der Tiroler Landeshauptstadt die Ehre gab, und
was gekrönten Häuptern recht war, konnte diesem
akustischen Luftverschmutzer nur billig sein. Schon
von weitem waren heftig geschwenkte Transparente
und Schilder zu sehen, die an eine politische Demonsfischler_
tration erinnerten, davor einzelne Polizeiwägen mit
Blaulicht. Die Fahrbahn war blockiert.
„Stolwerk, ich spring rein zur Pressekonferenz,
kannst du einen Parkplatz suchen und dir diese Leute
da ansehen? ... bitte?", fragte sie und schenkte ihrem
Beifahrer ein Lächeln.
„Aber natürlich, mein Veilchen."
Sie stoppte ihr Auto wenige Meter vor dem ersten
Einsatzwagen, sprang mit gezückter Dienstmarke
raus und drängte sich durch die Menschenmenge,
die den Hoteleingang blockierte. Ein Ellenbogen
landete in ihren Rippen, unabsichtlich und doch
schmerzhaft, etwas streifte ihre Haare, was bei ihrer
Haarpracht so oder so unvermeidlich war, jemand
schrie ihr ins Ohr, sie wühlte sich weiter.
Dabei waren es höchstens zwei Dutzend Personen
gemischten Alters, die zusammen eine erstaunliche
Lautstärke entwickelten. Gerade skandierten sie im
Chor: „Treibt-den-Teufel ... raus! Treibt-den-Teufel ...
raus!" Valerie konnte nur einen kurzen Blick auf die
Slogans werfen, die sie auf Bannern schwenkten - im
Wesentlichen waren es Synonyme für den Leibhaftigen,
verbunden mit der Aufforderung, das Weite zu
suchen - ein drolliges „Kein Sex vor der Ehe!" hatte
sich dazwischen geschlichen. Am Eingang rempelte
sie versehentlich einen Polizisten an, der sich zu ihr
drehte und sie zu fassen versuchte. Sie wich zurück
und zeigte ihm ihre Marke.
„Mauser, LKA. Ich muss da rein, sofort!", brüllte sie
den jungen Mann an. Ihm stand die Angst im Gesicht.
Auf das Geschehen hier war die Stadtpolizei definitiv
nicht vorbereitet gewesen, es waren viel zu wenige
Polizisten hier, und die wenigen waren noch dazu
falsch ausgerüstet.
„Kommen Sie!", rief er, drängte eine Bahn frei und
winkte durch das Glas der Drehtüre, welche von einem
Polizisten im Innenraum freigegeben und gleich
nach ihrem Eintreten wieder verriegelt wurde. Valerie
wurde über eine breite Treppe und einen Gang in den
Meinhardsaal geleitet, wo die Konferenz in diesen Minuten
beginnen sollte.
Wobei Saal eine zu hoch gegriffene Bezeichnung
für den Raum war, in dem sich eine Meute aus Journalisten
und Kamerabewaffneten drängte und die Hitze
sich staute. Goldgelbe, weiß umrandete Wände, antiquierte
Luster, Gemälde, blauer Teppichboden. Vorne
hatte man einen langen Tisch aufgebaut, auf dem
fünf Mikrofone vor ebenso vielen Stühlen standen,
jener in der Mitte mehr Thron als Stuhl, dahinter ein
übergroßes Plakat, grell angestrahlt. Es war jenes Sujet,
welches sich an jeder Innsbrucker Hausecke fand.
Von Wolf Rock und Gefolge war noch nichts zu sehen
und so beschloss sie, sich ganz nach vorne zu drängen,
um sich dieses Bild mal genauer anzusehen - was
sich als ähnlich schwer herausstellte, wie durch die
Kundgebung vorm Haus zu kommen, und von ähnlich
freundlichen Kommentaren begleitet war. Ansonsten
verhielten sich die Anwesenden merkwürdig
ruhig, fast andächtig. Valerie lehnte sich an die Wand
und musterte den riesigen Stuhl mit knallroter Polsterung
und Seitenlehnen, an deren vorderen Enden
schwarze Kugeln nach oben standen. Gleich dahinter
das Plakat. Was Schmatz vorhin als eher harmlos beschrieben
hatte, war ganz und gar nicht ohne: Wolf
Rock, der in schwarzem Frack, rotem Hemd und mit
schwarzer Rose in der Hand auf einem Berg nackter
Menschen stand. Dabei grinste er, den Kopf zur Seite
geneigt und die Arme seitlich von sich gestreckt - un-
nötig auszuführen, auf welches Glaubenssymbol das
anspielen sollte. Im Hintergrund fiel ein brennendes
Kreuz kopfüber vom Himmel, einem Kometen gleich,
und es regnete pechschwarze, am Rand glimmende
Rosenblätter. EINSCHLAG stand in großen Lettern
darunter, gefolgt von IN INNSBRUCK. Es sah aus, als
hätte man einem Grafiker den Auftrag gegeben, alle
Tabus zu brechen, als wäre die Devise gewesen: „Hey,
schauen wir mal, ob wir es in diesem Heiligen Land
Tirol auf die Spitze treiben können!" Dabei war das
Bild nicht speziell auf das Alpenland ausgerichtet
worden, denn soweit Valerie sich erinnern konnte,
zierte es auch das letzte Album des Künstlers, welches
„Einschlag" hieß und neben zum x-ten Mal aufgewärmten
alten Hits auch einige Coverversionen
bewährter Gassenhauer enthielt. Und dass es sich im
gesamten deutschsprachigen Raum verkaufte wie die
warmen Semmeln, tönte aus allen Medien. Was Wolf
Rock anfasste, wurde zu Geld. Nirgendwo hatte sich
jemand daran gerieben, ausgerechnet zum Finale in
Tirol musste es jetzt passieren.
Doch so provokant sein öffentlicher Auftritt sein
mochte, man lebte in einer Zeit, in der Sexspielzeug
und Hausfrauenpornos in Buchform salonfähig waren
und Erotik im Marketing nicht mehr wegzudenken
war. Die Kirche war zu einer Randerscheinung der
Gesellschaft geworden. Für Blasphemie und Ketzerei
kam heute niemand mehr auf den Scheiterhaufen.
Nicht mal in Tirol.
Und doch schreien sie draußen.
Es war bereits einige Minuten nach dreizehn Uhr,
von Star und Gefolge noch nichts zu sehen. Valerie
ließ ihren Blick über die Wartenden streifen und blieb
in der ersten Reihe hängen, bei ihrem Stellvertreter
Nikolaus Geyer, der starr geradeaus sah, als wollte er
den Blickkontakt vermeiden. Allmählich wurde es stickig
und heiß, was sich der Pressefotograf, der eben
ein Fenster öffnete, wohl auch gedacht haben mochte.
Plötzlich brach Hektik aus. Mehrere Personen betraten
eilig den Raum. Zuerst ein lebendiger Schrank,
der die Dampflok machte, die einen Korridor freischob,
direkt auf Valerie zu. Sie stellte aus. Zu ihrem großen
Erstaunen folgte Sandro Weiler, ihr unterer Nachbar,
den sie schon öfter Gitarre spielen und singen gehört,
aber noch nie wirklich kennengelernt hatte. Dann
zwei Männer, die sie nicht kannte, und schließlich war
es so weit: Unter tosendem Klicken von Kameraverschlüssen
und stroboskopartigem Blitzen betrat Wolf
Rock den Raum, als wäre er gerade dem Tourplakat
entstiegen, knochig, in schwarzem Frack mit hohem
Kragen, rotem Hemd, roten Handschuhen, dunklen
Lippen in einem blass gepuderten Gesicht, Lidschatten,
darüber der Zylinder, darunter seine pechschwarzen,
zurückgegelten Haare. Sie hatte ihn sich größer
vorgestellt. Ein weiterer Securitymann begleitete ihn
Schritt auf Schritt, bis er seine Position in der Mitte
des Tisches erreicht hatte. Herablassend sah er durch
die Runde, fuchtelte dreimal mit der Rose, als wollte
er dem Raum damit die nötigen Weihen verpassen,
ging - besser gesagt: tänzelte etwas unbeholfen um
den Stuhl (eine glatte Acht auf der zehnteiligen Peinlichkeitsskala),
drehte sich einmal um die Achse und
ließ sich von einem der Herren den Thron unter den
Hintern schieben, bevor dieser in Richtung des Fensters
herrschte: „Sofort schließen!", was widerstandslos
passierte. Wolf Rock hob seine schaurige Blume
an die Nase, holte tief Luft, grinste, drapierte sie quer
vor sich auf den Tisch und atmete für alle hörbar aus.
Dann legte er eine Hand über die andere und schloss
sie zur Faust, womit das Leder zwischen seinen Fingern
knarzte. Schließlich lehnte er sich zurück und
gab seine Hände auf die schwarzen Kugeln an den
Sitzlehnen.
Niemand wagte mehr, den Auslöser seiner Kamera
zu bedienen. Eine Stille, man hätte glatt einen Rosenkranz
fallen hören können.
Alle Augen waren auf den Star gerichtet, auch Valeries,
und so bemerkte sie den Tiroler Landeshauptmann
Hubertus Freudenschuss erst Sekunden später.
Er hatte als Letzter Platz genommen und starrte sie
direkt an - keine zwei Meter entfernt -, und dann
musste er ihr auch noch winken! Alles andere als dezent.
Seit dem Winter hofierte er Valerie, dabei hatte
sie ihm mehrmals zu verstehen gegeben, dass ihr Interesse
ganz und gar seinen korrupten Machenschaften
und kriminellen Verstrickungen und nicht ihm
persönlich galt, was diesen nur noch zusätzlich angespornt
hatte. Mal für Mal setzte sie eins drauf, wurde
in ihren Aussagen immer deutlicher, doch dieser Kerl
schluckte alles und verstand es auch noch als Einladung.
Sein Auftritt im Lodenanzug mit Jägerhut war
fast so peinlich wie der des Rockers (sechs von zehn,
hätte Valerie geschätzt), und doch hätte der Kontrast
zwischen bodenständig-gottesfürchtigem Tiroler und
Wolf Rocks Aufzug nicht größer sein können.
Der hoch und breit gewachsene Glatzkopf mit Anzug
und Sonnenbrille (diese war eine glatte Zehn) baute
sich zwischen Valerie und dem Tisch auf, womit er
ihr die Sicht verstellte, andererseits nicht ungelegen
kam, denn nun konnte sie sich aussuchen, wen sie sehen
(und von wem sie gesehen werden) wollte. Sie beschloss,
links an dem mutmaßlichen Personenschützer
vorbeizuschauen, um Wolf Rock zwischen den beiden
unbekannten Herren sowie Sandro Weiler am Rand im
Blick zu behalten - und Hubertus Freudenschuss diesen
Riegel in Menschengestalt vorzuschieben.
„Meine hochverehrten Damen und Herren, Wolf
Rock ist in der Stadt. EINSCHLAG!", rief jener Mann,
der seinem Meister eben noch den Stuhl untergeschoben
hatte, in bayerischer Färbung. Vermutlich sollte
hier Applaus kommen. Kam aber nicht. Dem Namensschild
nach handelte es sich um „Gustav Benz, Manager".
Teurer Anzug, kein Schlips, das Gesicht spiegelglatt
rasiert, das Haupthaar millimeterkurz. Der
Verurteilte, erinnerte sich Valerie an das Gespräch mit
Berger, der Mann, der vor zwei Jahren eine Drohung
gegen Wolf Rock inszeniert hatte, um die Plattenverkäufe
zu steigern. Sichtlich irritiert von der fehlenden
Resonanz nahm er ein Blatt zur Hand und fuhr fort:
„Erleben Sie mit uns das große Finale des Superstars,
live in Concert, live in TV, Live-Album und Live-DVDProduktion
in seiner Heimatstadt Innsbruck - ein
Event, das seinesgleichen sucht, mitten im Herz der
Alpen am historischen Bergisel." Er sah auf und blickte
zur Seite. „Mit besonderer Freude begrüße ich die
Anwesenden, allen voran den Tiroler Landeshauptmann
Hubertus Freudenschuss ..."
Valerie linste verstohlen um die andere Seite des
menschlichen Bollwerks vor ihr herum. Mit einem
Satz stand der Politiker kerzengerade und verneigte
sich, wodurch den Anwesenden nichts anderes übrig
blieb, als zu applaudieren und ihn ebenfalls abzulichten
(der Besuch hunderter Zeltfeste lehrte eben, wie
man sich in den Mittelpunkt rückte). Dann entriss
er dem Manager nicht nur das Wort, sondern gleich
noch dessen Mikrofon.
© Haymon Verlag
... weniger
Autoren-Porträt von Joe Fischler
Joe Fischler, geboren 1975 in Innsbruck, lebt ebendort. Studium der Rechtswissenschaften, danach Bankmitarbeiter, seit 2007 Blogger und freier Autor. Mit "Veilchens Winter", dem ersten Teil seiner Krimireihe rund um Valerie Mauser, legte Fischler ein fulminantes Debüt vor.
Bibliographische Angaben
- Autor: Joe Fischler
- 2019, 3. Aufl., 288 Seiten, 1 Schwarz-Weiß-Abbildungen, mit Abbildungen, Maße: 11,3 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Haymon Verlag
- ISBN-10: 3709978327
- ISBN-13: 9783709978320
- Erscheinungsdatum: 19.11.2015
Pressezitat
"Toller Regionalkrimi mit Charme und Witz." www.mordsbuch.net, Bianca Pohlig "witzig, rasant und hochspannend" VORmagazin "Mit seinem zweiten Veilchen-Abenteuer ist Fischler ein rundum guter Krimi gelungen" Tiroler Tageszeitung "Nach dem Überraschungserfolg des ersten Teiles sorgt auch dieser Alpenkrimi für viel Spannung und Amüsement mit ordentlich tirolerischem Flair." Bezirksblätter
Kommentare zu "Veilchens Feuer / Valerie Mauser Bd.2"
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