Verlorene Liebe
Roman
Zwei Schwestern in höchster Gefahr
Kathleen und Grace sind Schwestern, wie sie verschiedener gar nicht sein können. Während die unbekümmerte Grace alleine lebt und als Krimiautorin Karriere macht, arbeitet die...
Kathleen und Grace sind Schwestern, wie sie verschiedener gar nicht sein können. Während die unbekümmerte Grace alleine lebt und als Krimiautorin Karriere macht, arbeitet die...
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Produktinformationen zu „Verlorene Liebe “
Zwei Schwestern in höchster Gefahr
Kathleen und Grace sind Schwestern, wie sie verschiedener gar nicht sein können. Während die unbekümmerte Grace alleine lebt und als Krimiautorin Karriere macht, arbeitet die kühle, überlegte Kathleen nach einer gescheiterten Ehe als Lehrerin an einer Klosterschule und verdient sich mit Telefonsex das Geld für den Scheidungsanwalt. Ein lebensgefährlicher Nebenjob, der ihr zum Verhängnis wird.
Kathleen und Grace sind Schwestern, wie sie verschiedener gar nicht sein können. Während die unbekümmerte Grace alleine lebt und als Krimiautorin Karriere macht, arbeitet die kühle, überlegte Kathleen nach einer gescheiterten Ehe als Lehrerin an einer Klosterschule und verdient sich mit Telefonsex das Geld für den Scheidungsanwalt. Ein lebensgefährlicher Nebenjob, der ihr zum Verhängnis wird.
Lese-Probe zu „Verlorene Liebe “
Verlorene Liebe von Nora RobertsProlog
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»Und was möchten Sie, daß ich für Sie tue?« fragte die Frau, die sich Desiree nannte. Ihre Stimme war weich und sanft wie Rosenblätter. Sie erledigte ihre Arbeit gut, sehr gut sogar, und immer mehr Kunden verlangten nur sie. Im Moment hatte sie einen ihrer Stammkunden am Apparat, und sie kannte seine Vorlieben. »Das will ich gerne tun«, flüsterte sie. »Schließen Sie jetzt Ihre Augen und entspannen Sie sich. Schließen Sie die Augen. Ich möchte, daß Sie alles vergessen. Ihr Büro, Ihre Frau und Ihren Geschäftspartner. Es gibt nur noch Sie und mich.«
Als er wieder sprach, lachte sie leise und rauchig. »Ja, Sie wissen, daß ich das will. Habe ich das nicht immer gewollt? Schließen Sie nur die Augen, und lauschen Sie meiner Stimme. Wir befinden uns in einem Raum voller Kerzenlicht. Dutzende von weißen, duftenden Kerzen brennen. Können Sie sie riechen?« Sie lachte wieder leise, rauh und verlockend. »Ganz richtig. Weiß. Auch das Bett ist weiß. Groß, rund und weiß. Sie liegen darauf, nackt und bereit. Sind Sie bereit, Mr. Drake?«
Desiree verdrehte die Augen. Es nervte sie, daß der Mann wünschte, gesiezt und mit Mister angeredet zu werden. Aber in diesem Job kamen einem alle Arten von Männern unter. »Ich verlasse gerade die Dusche. Mein Haar ist naß, und kleine Wassertropfen bedecken meinen nackten Körper. Ein Tropfen hängt an meiner Brustwarze. Als ich mich aufs Bett knie, fällt er auf Sie herab. Können Sie den Tropfen fühlen? Ja, genau, er ist so kühl, und Sie sind so heiß.« Sie unterdrückte ein Gähnen. Mr. Drake keuchte bereits wie eine Dampfmaschine. Dem Himmel sei Dank, daß er sich so leicht hochbringen ließ. »Oh, wie ich Sie will. Meine Hände wollen Sie unablässig berühren. Ich will Sie spüren und schmecken. Ja, o ja, es bringt mich um den Verstand, wenn Sie das tun. Ohhh, Mr. Drake, Sie sind wahrhaftig der Größte. Der Allergrößte.«
Während der nächsten Minuten lauschte sie nur seinem lustvollen Stöhnen. Zuhören machte den größten Teil ihrer Arbeit aus. Mr. Drake stand kurz vor dem Höhepunkt, und Desiree warf dankbar einen Blick auf ihre Uhr. Seine Zeit war fast abgelaufen, und er war heute abend ihr letzter Kunde. Sie flüsterte ihm leise etwas zu und brachte ihn so zum Ziel.
»Ja, Mr. Drake, es war ganz wundervoll. Sie sind wirklich der Tollste. Nein, morgen arbeite ich nicht. Am Freitag? Ja, ich freue mich schon darauf. Gute Nacht, Mr. Drake.«
Sie wartete aufs Klicken, legte dann auf, und aus Desiree wurde Kathleen. Zweiundzwanzig Uhr fünfundfünfzig, dachte sie seufzend. Um dreiundzwanzig Uhr war Schluß, und somit waren heute keine Anrufe mehr zu erwarten. Kathleen mußte noch Klassenarbeiten korrigieren und für ihre Schüler ein Pop-Quiz vorbereiten. Als sie aufstand, warf sie einen Blick auf den Telefonapparat. Dank der Telefongesellschaft und der Firma Fantasy, Incorporated, hatte sie heute abend zweihundert Dollar verdient. Lachend packte sie ihre Kaffeetasse ein. Diese Arbeit war eindeutig besser, als irgendwo hinter einer Theke Kunden zu bedienen.
Ein paar Meilen entfernt betrachtete auch ein Mann sein Telefon. Seine Hand war feucht, und in seinem Zimmer roch es nach Sex, obwohl er sich allein hier aufhielt. Nur in seiner Vorstellung war Desiree bei ihm gewesen. Desiree mit ihrem weißen, tropfnassen Körper und ihrer süßen, leisen Stimme.
Desiree...
Sein Herz klopfte noch immer schnell, als er sich auf dem Bett ausstreckte.
Desiree.
Er mußte sie unbedingt treffen - und zwar bald.
1. Kapitel
Das Flugzeug sauste über das Lincoln Memorial hinweg. Grace' Aktenkoffer lag offen auf ihrem Schoß. Dutzende Dinge wollten eingepackt werden, doch sie blickte in aller Ruhe aus dem Fenster und freute sich zu sehen, wie der Boden näher kam. Was sie betraf, gab es nichts, das sich mit dem Fliegen vergleichen ließe.
Das Flugzeug hatte Verspätung. Grace wußte das, weil der Mann auf Sitzplatz 3B sich ständig darüber beschwerte. Sie war versucht, sich über den Mittelgang zu beugen, seine Hand zu tätscheln und ihm zu versichern, daß eine zehnminütige Verspätung nun wirklich nicht den Untergang der Welt bedeutete. Aber er machte nicht den Eindruck, als sei er für solchen Trost empfänglich.
Kathleen würde bestimmt auch schon ungehalten sein, dachte Grace. Natürlich würde sie sich nicht lautstark beschweren oder ihrem Unmut sonstwie Luft machen, sagte sie sich mit einem Lächeln und lehnte sich zurück, um sich für die Landung anzuschnallen. Kathleen mochte genauso irritiert sein wie der Herr auf 3B, aber sie war viel zu sehr Dame, um sich wie der Mann in lautstarken Beschwerden zu ergehen.
Grace kannte ihre Schwester gut genug, um zu wissen, daß Kathleen eine Stunde vor der Zeit das Haus verlassen hatte, weil sie natürlich damit rechnete, irgendwo im unvorhersehbaren Verkehr von Washington steckenzubleiben. Grace hatte deutlich aus der Stimme ihrer Schwester einen Vorwurf darüber herausgehört, daß sie sich ausgerechnet einen Flug ausgesucht hatte, der um achtzehn Uhr fünfzehn landen sollte, wenn die Rush Hour ihren Höhepunkt erreichte.
Kathleen war bestimmt zwanzig Minuten zu früh angekommen, hatte ihren Wagen auf den Platz für Kurzparker abgestellt, das Fenster hochgekurbelt, kontrolliert, ob alle Türen verriegelt waren, und sich dann, ohne sich von den Auslagen der Geschäfte ablenken zu lassen, direkt auf den Weg zur Ankunftshalle gemacht. Kathleen würde nie vor dem falschen Gate warten oder die Ankunftszeit durcheinanderbringen.
Kathleen war stets pünktlich. Grace hingegen kam ständig und überall zu spät. So war es immer gewesen, und so würde es immer sein.
Trotzdem hoffte Grace jetzt aus tiefstem Herzen, daß es zwischen ihnen ein paar Gemeinsamkeiten geben würde. Sie waren zwar Schwestern, hätten aber unterschiedlicher nicht sein können.
Das Flugzeug setzte auf, und Grace fing an, alles, was ihr zwischen die Finger kam, in den Aktenkoffer zu werfen: Lippenstift und Streichholzbriefchen, Kugelschreiber und Pinzette. Das war auch eines der Dinge, die eine so ordentliche Frau wie Kathleen nie verstehen konnte. Bei ihr hatte alles seinen festen Platz. Grace stimmte ihr da im Prinzip durchaus zu, aber irgendwie schienen sich bei ihr die Plätze für die Dinge von Mal zu Mal zu ändern.
Mehr als einmal hatte Grace sich gefragt, wie zwei so verschiedene Frauen Schwestern sein konnten. Sie selbst war sorglos, saumselig und erfolgreich, Kathleen hingegen liebte die Ordnung, war praktisch veranlagt und hatte es im Leben nie leicht gehabt. Dabei hatten sie dieselben Eltern, waren im selben Einfamilienhaus in einem Vorort von Washington aufgewachsen und hatten dieselben Schulen besucht.
Die Nonnen in der Schule hatten es nie vermocht, Grace beizubringen, ihre Hefte ordentlich zu führen. Aber schon in der sechsten Klasse waren sie davon fasziniert, wie geschickt und spannend das Mädchen Geschichten erfinden und erzählen konnte.
Als das Flugzeug am Gate stand, blieb Grace sitzen, während die eiligeren Passagiere bereits den Mittelgang verstopften. Sie wußte, daß Kathleen jetzt nervös vor dem Ausgang auf und ab lief und sich bereits fragte, ob ihre schusselige Schwester womöglich den Flug verpaßt hatte. Aber Grace brauchte noch eine Minute, um sich zu sammeln. Wenn sie gleich ihrer Schwester gegenüberstand, wollte sie an die schönen Momente und nicht an die Wortgefechte denken.
Wie Grace es vermutet hatte, wartete Kathleen unmittelbar am Ausgang. Sie verfolgte, wie die Passagiere einer nach dem anderen herausströmten, und spürte eine neue Aufwallung von Arger. Die ersten fünfzig Personen hatten sie passiert, und Grace war nicht unter ihnen gewesen. Vermutlich hält sie gerade mit den Flugbegleitern ein Schwätzchen, dachte Kathleen und bemühte sich, den Neid zu unterdrücken, der bei dieser Vorstellung in ihr hochstieg.
Grace hatte nie Mühe gehabt, Freunde zu finden. Im Gegenteil, die Menschen fühlten sich sofort zu ihr hingezogen. Schon zwei Jahre nach ihrem Abschluß hatte Grace, die auf der Wolke ihres Charmes durch die Schule geschwebt war, ihre Karriere begonnen. Ein halbes Leben später arbeitete Kathleen, die ihren Abschluß mit Auszeichnung bestanden hatte, an derselben High-School, die sie und ihre Schwester früher besucht hatten. Sie saß zwar heute auf der anderen Seite des Lehrerpults, aber sonst hatte sich seit damals wenig geändert.
Aus dem Lautsprecher ertönten in endloser Folge Ankunfts- und Abflugzeiten. Änderungen der Gate-Nummer und Verspätungen wurden durchgegeben, und noch immer war keine Grace in Sicht. Gerade als Kathleen sich entschloß, an der Information nach ihrer Schwester zu fragen, kam Grace heranmarschiert. Der Neid in Kathleen verging, und ebenso verflog ihre Irritation. Es war unmöglich, auf Grace böse zu sein, wenn man ihr von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand.
Warum sah Grace immer so aus, als käme sie gerade aus einem schweren Sturm? Ihr Haar, genauso tiefschwarz wie das von Kathleen, reichte bis auf Kinnhöhe herab und wirkte in seinem kühnen Schwung, als hätten sich diverse Böen daran ausgetobt. Beide Frauen besaßen den gleichen Körper, doch während er bei Kathleen zu stämmig aussah, wirkte er bei Grace schlank und biegsam. Sie ähnelte einer Weide, die sich geschmeidig im Wind beugt. Allerdings machte sie im Moment einen etwas verknitterten Eindruck. Sie trug einen hüftlangen Pullover über Leggings, eine Sonnenbrille, die von der Nase zu rutschen drohte, und gelbe hohe Turnschuhe, die farblich zum Pullover paßten. Kathleen hingegen hatte noch immer den Rock und das Jackett an, in denen sie zum Unterricht erschienen war.
»Kath!« Kaum hatte Grace ihre Schwester erspäht, ließ sie alle Taschen fallen, die sie mit sich schleppte, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, daß sie den nachfolgenden Passagieren dadurch den Weg versperrte. Sie umarmte Kathleen mit dem Enthusiasmus, mit dem sie alles anzugehen pflegte. »Ich freue mich so sehr, dich zu sehen. Du siehst großartig aus. Oh, ein neues Parfüm.« Sie schnüffelte intensiv. »Hm, gefällt mir.«
»Lady, geht es heute nochmal weiter?«
Ohne Kathleen loszulassen, lächelte Grace den entnervten Geschäftsmann hinter ihr an und riet ihm: »Steigen Sie doch einfach über die Sachen.« Knurrend befolgte er ihren Vorschlag. Grace hatte ihn schon vergessen, so wie ihr Unannehmlichkeiten nie lange etwas anhaben konnten. »Und, wie gefällt dir mein Outfit?«
fragte sie ihre Schwester. »Was sagst du zu meiner neuen Frisur? Ich hoffe, du magst sie, denn ich habe ein wahres Vermögen für die Publicity-Aufnahmen hingeblättert.«
»Ich hoffe, du hast dich vorher wenigstens gekämmt.«
Grace fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. »Wahrscheinlich.«
»Die neue Frisur steht dir gut«, urteilte Kathleen. »Und jetzt komm. Gleich bricht hier ein Aufstand los, wenn wir deine Sachen nicht endlich aus dem Weg räumen. Was ist denn das?« Sie hob einen klobigen Aktenkoffer.
»Maxwell«, antwortete Grace und sammelte ihre Taschen ein. Mein tragbarer Computer. Maxwell und ich haben die wundervollste Affäre, die du dir nur vorstellen kannst.«
»Ich dachte, du wolltest Urlaub machen.« Kathleen gelang es, sich den wiederaufkeimenden Arger nicht anmerken zu lassen. Der Computer war ein zu deutliches Symbol für Grace' Erfolg und ihr eigenes Scheitern.
»Ich will ja auch Urlaub machen. Aber irgendwie muß ich mir doch die Zeit vertreiben, wenn du in der Schule unterrichtest. Hätte das Flugzeug noch weitere zehn Minuten Verspätung gehabt, wäre das Kapitel zu Ende geschrieben.« Sie warf einen Blick auf ihre Uhr, stellte fest, daß sie schon wieder stehengeblieben war, und vergaß sie im nächsten Moment. »Ehrlich, Kath, das wird der sensationelleste Mord, von dem du je gelesen hast.«
»Wo ist dein Gepäck?« unterbrach Kathleen sie rasch, weil sie wußte, daß Grace ihr sonst den ganzen Roman erzählt hätte.
»Meine Kiste wird morgen bei dir zu Hause abgeliefert.«
Die Kiste. In Kathleens Augen eine weitere Exzentrizität ihrer Schwester. »Grace, wann fängst du endlich an, wie normale Menschen mit Koffern zu verreisen?«
Sie liefen am Gepäckförderband vorbei, wo die Menschen dicht gedrängt standen, um sich beim Anblick ihres geliebten Samsonite-Koffers gegenseitig totzutrampeln. Erst wenn die Hölle zufriert, verreise ich so wie alle normalen Menschen, dachte Grace und lächelte. »Du siehst wirklich gut aus. Wie fühlst du dich?«
»Gut.« Doch weil sie schließlich ihre Schwester vor sich hatte, fügte Kathleen hinzu: »Eigentlich schon besser.«
»Du bist ohne den Mistkerl auch wirklich besser dran«, sagte Grace, als sie durch die automatischen Türen gingen. »Ich sage das nicht gern, weil ich weiß, wie sehr du ihn geliebt hast, aber es ist die Wahrheit.« Eine kalte Brise wehte aus dem Norden heran und ließ die Menschen vergessen, daß es bereits Frühling war. Über ihnen dröhnten startende und landende Flugzeuge. Grace lief, ohne sich nach links oder rechts umzusehen, auf die Straße und zum Parkplatz. »Das einzige Schöne, was er in dein Leben gebracht hat, war Kevin. Wo steckt mein Neffe eigentlich? Ich hatte gehofft, du würdest ihn mitbringen.«
Der schmerzhafte Stich kam und verging. »Er ist bei seinem Vater. Wir sind übereingekommen, daß es für ihn besser ist, wenn er während der Schulzeit bei Jonathan bleibt.«
»Wie bitte?« Grace blieb mitten auf der Fahrbahn stehen. Eine Hupe ertönte, aber sie kümmerte sich nicht darum. »Kathleen, das kann doch unmöglich dein Ernst sein. Kevin ist erst sechs! Er sollte bei seiner Mutter sein. Jonathan läßt ihn wahrscheinlich nicht die Sesamstraße, sondern irgendwelche Schund comics gucken.«
»Die Entscheidung ist getroffen. Wir sind der festen Überzeugung, daß es so für alle am besten ist.«
Grace kannte den Gesichtsausdruck, den ihre Schwester bei diesen Worten aufsetzte. Er besagte, daß Kathleen jetzt nicht mehr darüber reden wollte. Sie würde das Thema erst dann wiederaufnehmen, wenn sie sich dazu bereit fühlte. »Okay«, sagte Grace und lief neben ihr her. Automatisch beschleunigte sie ihre Schritte, während Kathleen über den Parkplatz raste. Ihre Schwester hatte es immer eilig. Sie selbst hingegen wanderte eher ziellos hierhin und dahin. »Du weißt, daß du immer mit mir reden kannst, wenn du das Bedürfnis dazu hast.«
»Ja, das weiß ich.« Kathleen blieb neben ihrem gebrauchten Toyota stehen. Vor einem Jahr noch hatte sie einen Mercedes gefahren. Aber dieser Verlust war noch der geringste gewesen. »Tut mir leid, wenn ich eben etwas barsch geklungen habe, Grace. Es ist nur so, daß ich im Moment nicht daran erinnert werden möchte. Ich habe mein Leben fast wieder in den Griff bekommen.«
Grace sagte nichts dazu und stellte ihre Taschen in den Kofferraum. Sie sah dem Wagen an, daß er seine besten Jahre hinter sich hatte, und sie wußte, daß er bei weitem nicht dem Lebensstil entsprach, den ihre Schwester früher gepflegt hatte. Aber weitaus mehr als dieser soziale Abstieg besorgte sie der angespannte Unterton in Kathleens Stimme. Am liebsten hätte Grace sie jetzt in den Arm genommen, unterließ das aber, weil sie wußte, daß ihre Schwester Mitgefühl für eine Form von Mitleid hielt. »Hast du in der letzten Zeit mit Mom und Dad gesprochen?«
»Ja, letzte Woche. Es geht ihnen gut.« Kathleen setzte sich hinters Steuer und legte den Sicherheitsgurt an. »Wenn man sie hört, könnte man annehmen, Phoenix sei das Paradis auf Erden.«
»Solang es ihnen nur gutgeht.« Grace nahm auf dem Beifahrersitz Platz und fand zum erstenmal Gelegenheit, sich umzusehen. National Airport. Von hier aus war sie abgeflogen, vor acht, nein, großer Gott, schon vor zehn Jahren. Was für eine Angst sie damals gehabt hatte. Sie wünschte, sie könnte diese Mischung aus Elan und Bangen vor der Zukunft in all ihrer Unschuld und Frische noch einmal erleben.
Bist du es langsam müde, Gracie? fragte sie sich, die zu vielen Flüge, die zu vielen Städte, die zu vielen Gesichter? Nun war sie zurückgekehrt, nur noch wenige Meilen von dem Haus entfernt, in dem sie ihre Kindheit verbracht hatte, und Seite an Seite mit ihrer Schwester. Eigenartig, daß sie nicht das Gefühl hatte heimzukommen.
»Was hat dich eigentlich dazu bewogen, nach Washington zurückzukehren, Kath?«
»Ich mußte dringend raus aus Kalifornien. Und das hier war der einzige Ort, den ich kannte.«
Aber warum wolltest du nicht bei deinem Sohn bleiben? Wie kannst du als Mutter dein Kind zurücklassen? dachte Grace, und sie mußte an sich halten, das nicht laut auszusprechen; sie wußte aber, das dies nicht der rechte Moment war, ihre Schwester danach zu fragen. »Und jetzt unterrichtest du wieder an der Our Lady of Hope? Auch vertrautes Terrain, nicht wahr, obwohl sich dort so manches verändert hat.«
»Es gefällt mir da sehr gut. Vermutlich brauche ich die Disziplin, die das Unterrichten von mir fordert.« Kathleen fuhr den Toyota mit gewohnter Präzision aus der Parklücke und zum Schalter. Hinter dem Sonnenschutz steckten der Parkschein und drei Ein-Dollar-Noten. Grace fiel ein, daß Kathleen immer schon ihr Geld abgezählt bereitgelegt hatte.
»Und gefällt es dir im Haus?«
»Die Miete ist erträglich, und von dort fahre ich nur fünfzehn Minuten bis zur Schule.«
Grace unterdrückte das Bedürfnis zu seufzen.
Konnte Kathleen denn nie Freude über etwas zeigen? »Und, hast du jemand Neues kennengelernt?«
»Nein.« Aber Kathleen setzte wenigstens ein leises Lächeln auf, als sie sich in den Verkehr einfädelte. »Sex interessiert mich nicht mehr.«
Grace zog die Brauen hoch. »Aber jeder interessiert sich doch für Sex. Was glaubst du denn, warum die Bücher von Jackie Collins immer auf den Bestsellerlisten landen? Aber davon abgesehen, ich meinte, ob du jemanden kennst, der hin und wieder mal mit dir etwas unternimmt, mit dem du reden kannst.«
»Im Moment steht mir nicht der Sinn danach, mit jemandem zusammenzusein.« Dann legte sie eine Hand auf die ihrer Schwester, und das war mehr, als sie, mit Ausnahme von ihrem Mann und Kevin, je einem Menschen zu geben vermocht hatte. »Damit meine ich natürlich nicht dich. Im Gegenteil, ich bin richtig froh, daß du gekommen bist.«
Wie stets reagierte Grace ihrerseits mit Wärme, sobald sie solche empfing. »Ich wäre schon viel früher gekommen, wenn du mich gelassen hättest.«
»Du warst doch mitten in einer Tournee.«
»Tourneen kann man auch absagen.« Sie rutschte auf dem Sitz hin und her. Sie hätte die Tournee platzen lassen, wenn das ihrer Schwester hätte weiterhelfen können. »Na ja, jetzt ist die Sache ja ausgestanden, und ich bin hier.« Sie kurbelte das Fenster herunter und spürt den Aprilwind, der noch genauso wie der im März biß. »Frühling in Washington. Was machen die Kirschblüten?«
»Der späte Frosteinbruch hat ihnen großen Schaden zugefügt.«
»Hier bleibt doch stets alles gleich.« Hatten sie sich eigentlich immer noch so wenig zu sagen? Grace drehte das Radio auf, um die Kluft zwischen ihnen zu füllen. Wie konnten zwei Menschen miteinander aufwachsen, zusammen leben, miteinander streiten und sich doch fremd bleiben? Jedesmal, wenn sie ihre Schwester sah, hoffte sie, diesmal würde es anders. Und regelmäßig wurde sie enttäuscht.
Als der Toyota die Fourteenth Street Bridge überquerte, erinnerte sich Grace an das Zimmer, das sie sich in der Kindheit mit Kathleen geteilt hatte: die eine Hälfte stets adrett und ordentlich, die andere ein immerwährendes Chaos. Dieser krasse Gegensatz war zwischen ihnen ein stetiger Stein des Anstoßes gewesen. Ein anderer waren die Spiele, die Grace sich ausdachte und die ihre Schwester mehr frustrierten als erfreuten. Wie lauten die Regeln? Kathleen hatte bei allem und jedem stets zuerst die Regeln auswendig gelernt. Und wenn es keine gab - oder zumindest keine klaren -, war Kathleen nicht in der Lage, das Spiel an sich zu begreifen.
Immer nur Regeln, Kath, dachte Grace, während sie schweigend neben ihrer Schwester saß. In der Schule, in der Kirche und im Leben. Kein Wunder, daß eine Regeländerung sie in tiefste Verwirrung stürzte. Und jetzt hatten sich die Regeln im Spiel ihres Lebens schon wieder gewandelt.
Hast du deine Familie einfach verlassen, Kath, so wie du früher immer aufgestanden und gegangen bist, wenn dir die Regeln eines Spiels nicht zusagten? Bist du hierher an den Anfang zurückgekehrt, um alle bisherigen Ergebnisse zu tilgen und nach deinen eigenen Regeln von vorn anzufangen? Ja, das ist deine Art, die Dinge anzugehen, dachte Grace und hoffte für ihre Schwester, daß es so endlich funktionieren würde.
Aber dann war sie doch überrascht, als sie die Straße sah, in die Kathleen gezogen war. Grace hatte ein hochmodernes Apartmenthaus erwartet. Die modernsten Einrichtungen und vierundzwanzigstündiger Hausmeisterdienst entsprachen mehr Kathleens Stil als diese altmodischen, leicht heruntergekommenen Häuser inmitten von hohen Bäumen.
Kathleens Haus war eines der kleinsten auf dieser Straßenseite. Obwohl Grace sich kaum vorstellen konnte, daß ihre Schwester mehr im Garten getan hatte, als den Rasen zu mähen, schoben sich am Rand des gepflegten Bürgersteigs die ersten Blüten aus dem Boden.
Als Grace neben dem Wagen stand, ließ sie den Blick über die Straße wandern. Vor jedem Haus lagen Fahrräder und standen mehrere Jahre alte Kombiwagen. Hier und da war ein frischer Farbanstrich auszumachen. Man sah den Häusern an, daß die Familien schon lange in ihnen wohnten, und die Gegend lag irgendwo in der Mitte zwischen frisch renoviert und altersschwach. Grace gefiel diese Straße; irgendwie fühlte man sich hier gleich wie zu Hause und geborgen.
Genau ein solches Viertel hätte Grace sich ausgesucht, wenn sie hierher zurückgezogen wäre. Und ihr Lieblingshaus wäre das nebenan gewesen, entschied sie sofort und ohne länger darüber nachzudenken. Das Gebäude mußte dringend generalüberholt werden. Eines der Fenster war mit Brettern vernagelt, und auf dem Dach fehlten ein paar Ziegel. Aber im Garten hatte jemand Azaleen gepflanzt. Die Erde sah noch frisch umgegraben aus, und die Pflanzen waren in kleine Hügel eingebettet. Noch erreichten die Sträucher kaum einen halben Meter Höhe, aber schon zeigten sich die ersten Knospen, die bald aufblühen würden. Während Grace sie betrachtete, hoffte sie, sie könnte lange genug bleiben, um die Azaleen in voller Blütenpracht zu erleben.
»Oh, Kath, es ist wunderschön hier.«
»Na ja, ist nicht ganz Palm Springs«, entgegnete Kathleen, doch ohne Bitterkeit in der Stimme, und fing an, Grace' Sachen auszupacken.
»Nein, meine Liebe, ich meine es ernst. So stelle ich mir ein richtiges Zuhause vor.« Und sie sagte das wirklich nicht aus Höflichkeit. Ihre Fantasie und ihr Schriftstellerauge malten sich bereits aus, wie es sein mußte, hier zu leben.
»Ich wollte Kevin etwas bieten . . . wenn er zu mir kommt.«
»Er wird sich sofort darin verlieben«, verkündete Grace mit der für sie typischen Selbstverständlichkeit. »Der Bürgersteig ist wie geschaffen für Skateboards und erst die vielen Bäume.« Ein Stück weiter stand ein Baum, der aussah, als sei der Blitz in ihn eingeschlagen, aber davon ließ Grace sich nicht beeinträchtigen. »Kath, wenn ich dieses wunderbare Haus so sehe, frage ich mich ernsthaft, was ich eigentlich noch in Upper Manhattan will.«
»Reich und berühmt werden.« Wieder war ihr nichts von ihrer Bitterkeit anzumerken. Sie reichte ihrer Schwester die Taschen.
Grace blickte abermals zum Nachbarhaus. »Ich denke, ein paar Azaleen könnte ich mir auch zulegen.« Sie hakte sich bei Kathleen ein. »Und jetzt mußt du mir unbedingt zeigen, wie es drinnen aussieht.«
Die Einrichtung entsprach dem, was Grace erwartet hatte. Kathleen hatte es gern, wenn alles ordentlich war und hübsch an seinem Platz stand. Das Mobiliar war eine Spur zu wuchtig, aber geschmackvoll (und natürlich entstaubt und poliert). Genauso wie Kath, dachte Grace mit einer Spur Bedauern. Die vielen kleinen Zimmer, die irgendwie ineinander verschachtelt wirkten, gefielen ihr sehr.
Kathleen hatte in einem Raum ein Arbeitszimmer eingerichtet. Der Schreibtisch wirkte noch sehr neu. Sie hat wirklich nichts aus Kalifornien mitgenommen, sagte sich Grace. Nicht einmal ihren Sohn. Ihr fiel auf, daß auf dem Schreibtisch ein Telefon stand und nicht weit davon auf einem Stuhl noch eins. Aber sie schwieg dazu, wußte sie doch, daß Kathleen bestimmt eine durchaus einleuchtende Erklärung dafür hatte.
»Spaghetti-Soße!« Der Duft führte Grace geradewegs in die Küche. Wenn jemand sie nach ihrer Lieblingsfreizeitbeschäftigung fragen würde, hätte Essen bestimmt ganz oben auf der Liste gestanden.
Die Küche war genauso makellos gepflegt wie der Rest des Hauses. Grace war fest davon überzeugt, daß sich im Toaster kein einziger Krümel finden ließe, darauf hätte sie sogar gewettet. Ihre Schwester hob immer noch alle Reste in Plastikdosen auf und stellte sie ordentlich etikettiert in den Kühlschrank; die Gläser waren bestimmt der Größe nach geordnet im Küchenschrank untergebracht. So hatte Kathleen es immer schon gehalten und sich in dieser Hinsicht in dreißig Jahren um keinen Deut geändert.
Während Grace über den alten Linoleumboden lief, hoffte sie, daß sie nicht vergessen hatte, sich vor der Tür die Füße abzutreten. Dann hob sie den Deckel vom Topf auf dem Herd und sog das Aroma lange und tief ein. »Ich würde sagen, du hast deine Kochkünste nicht verlernt.«
»Ich habe mich wieder auf sie besonnen.« Und das nach Jahren in einem Haushalt voller Bediensteter und Köche. »Hast du Hunger mitgebracht?« Zum erstenmal wirkte Kathleens Lächeln ehrlich und entspannt. »Was frage ich überhaupt.«
»Ach je, ich habe völlig vergessen, daß ich dir etwas mitgebracht habe.«
Während Grace in die Diele zurückeilte, stellte sich Kathleen ans Fenster. Warum nur wurde ihr nun, da Grace gekommen war, bewußt, wie leer sich ihr Haus vorher angefühlt hatte? Welchen besonderen Zauber besaß ihre Schwester, mit dem sie einen Raum, ein Haus, ja vermutlich eine ganze Arena ausfüllen konnte? Und was um alles in der Welt sollte sie nur anfangen, wenn Grace wieder abgereist war?
»Valpolicella!« verkündete sie, als sie in die Küche zurückkehrte. »Du siehst, ich habe schon mit einem italienischen Essen gerechnet.« Als Kathleen sich vom Fenster abwandte und zu ihr umdrehte, konnte sie die Tränen nicht länger zurückhalten. »Ach, du armes Liebes.« Mit der Flasche in der Hand lief Grace auf sie zu.
»Gracie, ich vermisse ihn so furchtbar, daß ich manchmal am liebsten sterben möchte.«
»Ich weiß, wie du dich fühlst. Ach, Kleines, mir tut es so leid für dich.« Sie fuhr ihrer Schwester übers Haar, und Kathleen strich die Strähnen sofort wieder gerade. »Laß mich dir helfen, Kath. Sag mir, was ich für dich tun kann.«
»Ach, da ist nichts.« Diese Worte auszusprechen, kostete sie mehr Kraft, als sie je zuzugeben bereit gewesen wäre, aber wenigstens hörten die Tränen auf. »Ich mache mich jetzt besser an den Salat.«
»Nein, tust du nicht.« Grace nahm ihren Arm und führte sie zu dem kleinen Küchentisch. »Setz dich hin. Es ist mir ernst, Kath.«
Obwohl sie ein Jahr älter war als ihre Schwester, gehorchte sie. So war es zwischen ihnen immer schon gewesen, und beide konnten es sich nicht anders vorstellen. »Ich möchte eigentlich nicht darüber reden, Grace.«
»Dann scheint es ja wirklich schlimm um dich zu stehen. Wo bewahrst du den Korkenzieher auf?«
»In der obersten Schublade links vom Ausguß.« »Und die Gläser?«
»Im zweiten Fach im Schrank neben dem Kühlschrank.«
Grace entkorkte die Flasche. Obwohl draußen bereits die Dämmerung einsetzte, machte sie sich nicht die Mühe, in der Küche das Licht einzuschalten.
...
Übersetzung: Marcel Bieger
Copyright © 1995 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH
»Und was möchten Sie, daß ich für Sie tue?« fragte die Frau, die sich Desiree nannte. Ihre Stimme war weich und sanft wie Rosenblätter. Sie erledigte ihre Arbeit gut, sehr gut sogar, und immer mehr Kunden verlangten nur sie. Im Moment hatte sie einen ihrer Stammkunden am Apparat, und sie kannte seine Vorlieben. »Das will ich gerne tun«, flüsterte sie. »Schließen Sie jetzt Ihre Augen und entspannen Sie sich. Schließen Sie die Augen. Ich möchte, daß Sie alles vergessen. Ihr Büro, Ihre Frau und Ihren Geschäftspartner. Es gibt nur noch Sie und mich.«
Als er wieder sprach, lachte sie leise und rauchig. »Ja, Sie wissen, daß ich das will. Habe ich das nicht immer gewollt? Schließen Sie nur die Augen, und lauschen Sie meiner Stimme. Wir befinden uns in einem Raum voller Kerzenlicht. Dutzende von weißen, duftenden Kerzen brennen. Können Sie sie riechen?« Sie lachte wieder leise, rauh und verlockend. »Ganz richtig. Weiß. Auch das Bett ist weiß. Groß, rund und weiß. Sie liegen darauf, nackt und bereit. Sind Sie bereit, Mr. Drake?«
Desiree verdrehte die Augen. Es nervte sie, daß der Mann wünschte, gesiezt und mit Mister angeredet zu werden. Aber in diesem Job kamen einem alle Arten von Männern unter. »Ich verlasse gerade die Dusche. Mein Haar ist naß, und kleine Wassertropfen bedecken meinen nackten Körper. Ein Tropfen hängt an meiner Brustwarze. Als ich mich aufs Bett knie, fällt er auf Sie herab. Können Sie den Tropfen fühlen? Ja, genau, er ist so kühl, und Sie sind so heiß.« Sie unterdrückte ein Gähnen. Mr. Drake keuchte bereits wie eine Dampfmaschine. Dem Himmel sei Dank, daß er sich so leicht hochbringen ließ. »Oh, wie ich Sie will. Meine Hände wollen Sie unablässig berühren. Ich will Sie spüren und schmecken. Ja, o ja, es bringt mich um den Verstand, wenn Sie das tun. Ohhh, Mr. Drake, Sie sind wahrhaftig der Größte. Der Allergrößte.«
Während der nächsten Minuten lauschte sie nur seinem lustvollen Stöhnen. Zuhören machte den größten Teil ihrer Arbeit aus. Mr. Drake stand kurz vor dem Höhepunkt, und Desiree warf dankbar einen Blick auf ihre Uhr. Seine Zeit war fast abgelaufen, und er war heute abend ihr letzter Kunde. Sie flüsterte ihm leise etwas zu und brachte ihn so zum Ziel.
»Ja, Mr. Drake, es war ganz wundervoll. Sie sind wirklich der Tollste. Nein, morgen arbeite ich nicht. Am Freitag? Ja, ich freue mich schon darauf. Gute Nacht, Mr. Drake.«
Sie wartete aufs Klicken, legte dann auf, und aus Desiree wurde Kathleen. Zweiundzwanzig Uhr fünfundfünfzig, dachte sie seufzend. Um dreiundzwanzig Uhr war Schluß, und somit waren heute keine Anrufe mehr zu erwarten. Kathleen mußte noch Klassenarbeiten korrigieren und für ihre Schüler ein Pop-Quiz vorbereiten. Als sie aufstand, warf sie einen Blick auf den Telefonapparat. Dank der Telefongesellschaft und der Firma Fantasy, Incorporated, hatte sie heute abend zweihundert Dollar verdient. Lachend packte sie ihre Kaffeetasse ein. Diese Arbeit war eindeutig besser, als irgendwo hinter einer Theke Kunden zu bedienen.
Ein paar Meilen entfernt betrachtete auch ein Mann sein Telefon. Seine Hand war feucht, und in seinem Zimmer roch es nach Sex, obwohl er sich allein hier aufhielt. Nur in seiner Vorstellung war Desiree bei ihm gewesen. Desiree mit ihrem weißen, tropfnassen Körper und ihrer süßen, leisen Stimme.
Desiree...
Sein Herz klopfte noch immer schnell, als er sich auf dem Bett ausstreckte.
Desiree.
Er mußte sie unbedingt treffen - und zwar bald.
1. Kapitel
Das Flugzeug sauste über das Lincoln Memorial hinweg. Grace' Aktenkoffer lag offen auf ihrem Schoß. Dutzende Dinge wollten eingepackt werden, doch sie blickte in aller Ruhe aus dem Fenster und freute sich zu sehen, wie der Boden näher kam. Was sie betraf, gab es nichts, das sich mit dem Fliegen vergleichen ließe.
Das Flugzeug hatte Verspätung. Grace wußte das, weil der Mann auf Sitzplatz 3B sich ständig darüber beschwerte. Sie war versucht, sich über den Mittelgang zu beugen, seine Hand zu tätscheln und ihm zu versichern, daß eine zehnminütige Verspätung nun wirklich nicht den Untergang der Welt bedeutete. Aber er machte nicht den Eindruck, als sei er für solchen Trost empfänglich.
Kathleen würde bestimmt auch schon ungehalten sein, dachte Grace. Natürlich würde sie sich nicht lautstark beschweren oder ihrem Unmut sonstwie Luft machen, sagte sie sich mit einem Lächeln und lehnte sich zurück, um sich für die Landung anzuschnallen. Kathleen mochte genauso irritiert sein wie der Herr auf 3B, aber sie war viel zu sehr Dame, um sich wie der Mann in lautstarken Beschwerden zu ergehen.
Grace kannte ihre Schwester gut genug, um zu wissen, daß Kathleen eine Stunde vor der Zeit das Haus verlassen hatte, weil sie natürlich damit rechnete, irgendwo im unvorhersehbaren Verkehr von Washington steckenzubleiben. Grace hatte deutlich aus der Stimme ihrer Schwester einen Vorwurf darüber herausgehört, daß sie sich ausgerechnet einen Flug ausgesucht hatte, der um achtzehn Uhr fünfzehn landen sollte, wenn die Rush Hour ihren Höhepunkt erreichte.
Kathleen war bestimmt zwanzig Minuten zu früh angekommen, hatte ihren Wagen auf den Platz für Kurzparker abgestellt, das Fenster hochgekurbelt, kontrolliert, ob alle Türen verriegelt waren, und sich dann, ohne sich von den Auslagen der Geschäfte ablenken zu lassen, direkt auf den Weg zur Ankunftshalle gemacht. Kathleen würde nie vor dem falschen Gate warten oder die Ankunftszeit durcheinanderbringen.
Kathleen war stets pünktlich. Grace hingegen kam ständig und überall zu spät. So war es immer gewesen, und so würde es immer sein.
Trotzdem hoffte Grace jetzt aus tiefstem Herzen, daß es zwischen ihnen ein paar Gemeinsamkeiten geben würde. Sie waren zwar Schwestern, hätten aber unterschiedlicher nicht sein können.
Das Flugzeug setzte auf, und Grace fing an, alles, was ihr zwischen die Finger kam, in den Aktenkoffer zu werfen: Lippenstift und Streichholzbriefchen, Kugelschreiber und Pinzette. Das war auch eines der Dinge, die eine so ordentliche Frau wie Kathleen nie verstehen konnte. Bei ihr hatte alles seinen festen Platz. Grace stimmte ihr da im Prinzip durchaus zu, aber irgendwie schienen sich bei ihr die Plätze für die Dinge von Mal zu Mal zu ändern.
Mehr als einmal hatte Grace sich gefragt, wie zwei so verschiedene Frauen Schwestern sein konnten. Sie selbst war sorglos, saumselig und erfolgreich, Kathleen hingegen liebte die Ordnung, war praktisch veranlagt und hatte es im Leben nie leicht gehabt. Dabei hatten sie dieselben Eltern, waren im selben Einfamilienhaus in einem Vorort von Washington aufgewachsen und hatten dieselben Schulen besucht.
Die Nonnen in der Schule hatten es nie vermocht, Grace beizubringen, ihre Hefte ordentlich zu führen. Aber schon in der sechsten Klasse waren sie davon fasziniert, wie geschickt und spannend das Mädchen Geschichten erfinden und erzählen konnte.
Als das Flugzeug am Gate stand, blieb Grace sitzen, während die eiligeren Passagiere bereits den Mittelgang verstopften. Sie wußte, daß Kathleen jetzt nervös vor dem Ausgang auf und ab lief und sich bereits fragte, ob ihre schusselige Schwester womöglich den Flug verpaßt hatte. Aber Grace brauchte noch eine Minute, um sich zu sammeln. Wenn sie gleich ihrer Schwester gegenüberstand, wollte sie an die schönen Momente und nicht an die Wortgefechte denken.
Wie Grace es vermutet hatte, wartete Kathleen unmittelbar am Ausgang. Sie verfolgte, wie die Passagiere einer nach dem anderen herausströmten, und spürte eine neue Aufwallung von Arger. Die ersten fünfzig Personen hatten sie passiert, und Grace war nicht unter ihnen gewesen. Vermutlich hält sie gerade mit den Flugbegleitern ein Schwätzchen, dachte Kathleen und bemühte sich, den Neid zu unterdrücken, der bei dieser Vorstellung in ihr hochstieg.
Grace hatte nie Mühe gehabt, Freunde zu finden. Im Gegenteil, die Menschen fühlten sich sofort zu ihr hingezogen. Schon zwei Jahre nach ihrem Abschluß hatte Grace, die auf der Wolke ihres Charmes durch die Schule geschwebt war, ihre Karriere begonnen. Ein halbes Leben später arbeitete Kathleen, die ihren Abschluß mit Auszeichnung bestanden hatte, an derselben High-School, die sie und ihre Schwester früher besucht hatten. Sie saß zwar heute auf der anderen Seite des Lehrerpults, aber sonst hatte sich seit damals wenig geändert.
Aus dem Lautsprecher ertönten in endloser Folge Ankunfts- und Abflugzeiten. Änderungen der Gate-Nummer und Verspätungen wurden durchgegeben, und noch immer war keine Grace in Sicht. Gerade als Kathleen sich entschloß, an der Information nach ihrer Schwester zu fragen, kam Grace heranmarschiert. Der Neid in Kathleen verging, und ebenso verflog ihre Irritation. Es war unmöglich, auf Grace böse zu sein, wenn man ihr von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand.
Warum sah Grace immer so aus, als käme sie gerade aus einem schweren Sturm? Ihr Haar, genauso tiefschwarz wie das von Kathleen, reichte bis auf Kinnhöhe herab und wirkte in seinem kühnen Schwung, als hätten sich diverse Böen daran ausgetobt. Beide Frauen besaßen den gleichen Körper, doch während er bei Kathleen zu stämmig aussah, wirkte er bei Grace schlank und biegsam. Sie ähnelte einer Weide, die sich geschmeidig im Wind beugt. Allerdings machte sie im Moment einen etwas verknitterten Eindruck. Sie trug einen hüftlangen Pullover über Leggings, eine Sonnenbrille, die von der Nase zu rutschen drohte, und gelbe hohe Turnschuhe, die farblich zum Pullover paßten. Kathleen hingegen hatte noch immer den Rock und das Jackett an, in denen sie zum Unterricht erschienen war.
»Kath!« Kaum hatte Grace ihre Schwester erspäht, ließ sie alle Taschen fallen, die sie mit sich schleppte, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, daß sie den nachfolgenden Passagieren dadurch den Weg versperrte. Sie umarmte Kathleen mit dem Enthusiasmus, mit dem sie alles anzugehen pflegte. »Ich freue mich so sehr, dich zu sehen. Du siehst großartig aus. Oh, ein neues Parfüm.« Sie schnüffelte intensiv. »Hm, gefällt mir.«
»Lady, geht es heute nochmal weiter?«
Ohne Kathleen loszulassen, lächelte Grace den entnervten Geschäftsmann hinter ihr an und riet ihm: »Steigen Sie doch einfach über die Sachen.« Knurrend befolgte er ihren Vorschlag. Grace hatte ihn schon vergessen, so wie ihr Unannehmlichkeiten nie lange etwas anhaben konnten. »Und, wie gefällt dir mein Outfit?«
fragte sie ihre Schwester. »Was sagst du zu meiner neuen Frisur? Ich hoffe, du magst sie, denn ich habe ein wahres Vermögen für die Publicity-Aufnahmen hingeblättert.«
»Ich hoffe, du hast dich vorher wenigstens gekämmt.«
Grace fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. »Wahrscheinlich.«
»Die neue Frisur steht dir gut«, urteilte Kathleen. »Und jetzt komm. Gleich bricht hier ein Aufstand los, wenn wir deine Sachen nicht endlich aus dem Weg räumen. Was ist denn das?« Sie hob einen klobigen Aktenkoffer.
»Maxwell«, antwortete Grace und sammelte ihre Taschen ein. Mein tragbarer Computer. Maxwell und ich haben die wundervollste Affäre, die du dir nur vorstellen kannst.«
»Ich dachte, du wolltest Urlaub machen.« Kathleen gelang es, sich den wiederaufkeimenden Arger nicht anmerken zu lassen. Der Computer war ein zu deutliches Symbol für Grace' Erfolg und ihr eigenes Scheitern.
»Ich will ja auch Urlaub machen. Aber irgendwie muß ich mir doch die Zeit vertreiben, wenn du in der Schule unterrichtest. Hätte das Flugzeug noch weitere zehn Minuten Verspätung gehabt, wäre das Kapitel zu Ende geschrieben.« Sie warf einen Blick auf ihre Uhr, stellte fest, daß sie schon wieder stehengeblieben war, und vergaß sie im nächsten Moment. »Ehrlich, Kath, das wird der sensationelleste Mord, von dem du je gelesen hast.«
»Wo ist dein Gepäck?« unterbrach Kathleen sie rasch, weil sie wußte, daß Grace ihr sonst den ganzen Roman erzählt hätte.
»Meine Kiste wird morgen bei dir zu Hause abgeliefert.«
Die Kiste. In Kathleens Augen eine weitere Exzentrizität ihrer Schwester. »Grace, wann fängst du endlich an, wie normale Menschen mit Koffern zu verreisen?«
Sie liefen am Gepäckförderband vorbei, wo die Menschen dicht gedrängt standen, um sich beim Anblick ihres geliebten Samsonite-Koffers gegenseitig totzutrampeln. Erst wenn die Hölle zufriert, verreise ich so wie alle normalen Menschen, dachte Grace und lächelte. »Du siehst wirklich gut aus. Wie fühlst du dich?«
»Gut.« Doch weil sie schließlich ihre Schwester vor sich hatte, fügte Kathleen hinzu: »Eigentlich schon besser.«
»Du bist ohne den Mistkerl auch wirklich besser dran«, sagte Grace, als sie durch die automatischen Türen gingen. »Ich sage das nicht gern, weil ich weiß, wie sehr du ihn geliebt hast, aber es ist die Wahrheit.« Eine kalte Brise wehte aus dem Norden heran und ließ die Menschen vergessen, daß es bereits Frühling war. Über ihnen dröhnten startende und landende Flugzeuge. Grace lief, ohne sich nach links oder rechts umzusehen, auf die Straße und zum Parkplatz. »Das einzige Schöne, was er in dein Leben gebracht hat, war Kevin. Wo steckt mein Neffe eigentlich? Ich hatte gehofft, du würdest ihn mitbringen.«
Der schmerzhafte Stich kam und verging. »Er ist bei seinem Vater. Wir sind übereingekommen, daß es für ihn besser ist, wenn er während der Schulzeit bei Jonathan bleibt.«
»Wie bitte?« Grace blieb mitten auf der Fahrbahn stehen. Eine Hupe ertönte, aber sie kümmerte sich nicht darum. »Kathleen, das kann doch unmöglich dein Ernst sein. Kevin ist erst sechs! Er sollte bei seiner Mutter sein. Jonathan läßt ihn wahrscheinlich nicht die Sesamstraße, sondern irgendwelche Schund comics gucken.«
»Die Entscheidung ist getroffen. Wir sind der festen Überzeugung, daß es so für alle am besten ist.«
Grace kannte den Gesichtsausdruck, den ihre Schwester bei diesen Worten aufsetzte. Er besagte, daß Kathleen jetzt nicht mehr darüber reden wollte. Sie würde das Thema erst dann wiederaufnehmen, wenn sie sich dazu bereit fühlte. »Okay«, sagte Grace und lief neben ihr her. Automatisch beschleunigte sie ihre Schritte, während Kathleen über den Parkplatz raste. Ihre Schwester hatte es immer eilig. Sie selbst hingegen wanderte eher ziellos hierhin und dahin. »Du weißt, daß du immer mit mir reden kannst, wenn du das Bedürfnis dazu hast.«
»Ja, das weiß ich.« Kathleen blieb neben ihrem gebrauchten Toyota stehen. Vor einem Jahr noch hatte sie einen Mercedes gefahren. Aber dieser Verlust war noch der geringste gewesen. »Tut mir leid, wenn ich eben etwas barsch geklungen habe, Grace. Es ist nur so, daß ich im Moment nicht daran erinnert werden möchte. Ich habe mein Leben fast wieder in den Griff bekommen.«
Grace sagte nichts dazu und stellte ihre Taschen in den Kofferraum. Sie sah dem Wagen an, daß er seine besten Jahre hinter sich hatte, und sie wußte, daß er bei weitem nicht dem Lebensstil entsprach, den ihre Schwester früher gepflegt hatte. Aber weitaus mehr als dieser soziale Abstieg besorgte sie der angespannte Unterton in Kathleens Stimme. Am liebsten hätte Grace sie jetzt in den Arm genommen, unterließ das aber, weil sie wußte, daß ihre Schwester Mitgefühl für eine Form von Mitleid hielt. »Hast du in der letzten Zeit mit Mom und Dad gesprochen?«
»Ja, letzte Woche. Es geht ihnen gut.« Kathleen setzte sich hinters Steuer und legte den Sicherheitsgurt an. »Wenn man sie hört, könnte man annehmen, Phoenix sei das Paradis auf Erden.«
»Solang es ihnen nur gutgeht.« Grace nahm auf dem Beifahrersitz Platz und fand zum erstenmal Gelegenheit, sich umzusehen. National Airport. Von hier aus war sie abgeflogen, vor acht, nein, großer Gott, schon vor zehn Jahren. Was für eine Angst sie damals gehabt hatte. Sie wünschte, sie könnte diese Mischung aus Elan und Bangen vor der Zukunft in all ihrer Unschuld und Frische noch einmal erleben.
Bist du es langsam müde, Gracie? fragte sie sich, die zu vielen Flüge, die zu vielen Städte, die zu vielen Gesichter? Nun war sie zurückgekehrt, nur noch wenige Meilen von dem Haus entfernt, in dem sie ihre Kindheit verbracht hatte, und Seite an Seite mit ihrer Schwester. Eigenartig, daß sie nicht das Gefühl hatte heimzukommen.
»Was hat dich eigentlich dazu bewogen, nach Washington zurückzukehren, Kath?«
»Ich mußte dringend raus aus Kalifornien. Und das hier war der einzige Ort, den ich kannte.«
Aber warum wolltest du nicht bei deinem Sohn bleiben? Wie kannst du als Mutter dein Kind zurücklassen? dachte Grace, und sie mußte an sich halten, das nicht laut auszusprechen; sie wußte aber, das dies nicht der rechte Moment war, ihre Schwester danach zu fragen. »Und jetzt unterrichtest du wieder an der Our Lady of Hope? Auch vertrautes Terrain, nicht wahr, obwohl sich dort so manches verändert hat.«
»Es gefällt mir da sehr gut. Vermutlich brauche ich die Disziplin, die das Unterrichten von mir fordert.« Kathleen fuhr den Toyota mit gewohnter Präzision aus der Parklücke und zum Schalter. Hinter dem Sonnenschutz steckten der Parkschein und drei Ein-Dollar-Noten. Grace fiel ein, daß Kathleen immer schon ihr Geld abgezählt bereitgelegt hatte.
»Und gefällt es dir im Haus?«
»Die Miete ist erträglich, und von dort fahre ich nur fünfzehn Minuten bis zur Schule.«
Grace unterdrückte das Bedürfnis zu seufzen.
Konnte Kathleen denn nie Freude über etwas zeigen? »Und, hast du jemand Neues kennengelernt?«
»Nein.« Aber Kathleen setzte wenigstens ein leises Lächeln auf, als sie sich in den Verkehr einfädelte. »Sex interessiert mich nicht mehr.«
Grace zog die Brauen hoch. »Aber jeder interessiert sich doch für Sex. Was glaubst du denn, warum die Bücher von Jackie Collins immer auf den Bestsellerlisten landen? Aber davon abgesehen, ich meinte, ob du jemanden kennst, der hin und wieder mal mit dir etwas unternimmt, mit dem du reden kannst.«
»Im Moment steht mir nicht der Sinn danach, mit jemandem zusammenzusein.« Dann legte sie eine Hand auf die ihrer Schwester, und das war mehr, als sie, mit Ausnahme von ihrem Mann und Kevin, je einem Menschen zu geben vermocht hatte. »Damit meine ich natürlich nicht dich. Im Gegenteil, ich bin richtig froh, daß du gekommen bist.«
Wie stets reagierte Grace ihrerseits mit Wärme, sobald sie solche empfing. »Ich wäre schon viel früher gekommen, wenn du mich gelassen hättest.«
»Du warst doch mitten in einer Tournee.«
»Tourneen kann man auch absagen.« Sie rutschte auf dem Sitz hin und her. Sie hätte die Tournee platzen lassen, wenn das ihrer Schwester hätte weiterhelfen können. »Na ja, jetzt ist die Sache ja ausgestanden, und ich bin hier.« Sie kurbelte das Fenster herunter und spürt den Aprilwind, der noch genauso wie der im März biß. »Frühling in Washington. Was machen die Kirschblüten?«
»Der späte Frosteinbruch hat ihnen großen Schaden zugefügt.«
»Hier bleibt doch stets alles gleich.« Hatten sie sich eigentlich immer noch so wenig zu sagen? Grace drehte das Radio auf, um die Kluft zwischen ihnen zu füllen. Wie konnten zwei Menschen miteinander aufwachsen, zusammen leben, miteinander streiten und sich doch fremd bleiben? Jedesmal, wenn sie ihre Schwester sah, hoffte sie, diesmal würde es anders. Und regelmäßig wurde sie enttäuscht.
Als der Toyota die Fourteenth Street Bridge überquerte, erinnerte sich Grace an das Zimmer, das sie sich in der Kindheit mit Kathleen geteilt hatte: die eine Hälfte stets adrett und ordentlich, die andere ein immerwährendes Chaos. Dieser krasse Gegensatz war zwischen ihnen ein stetiger Stein des Anstoßes gewesen. Ein anderer waren die Spiele, die Grace sich ausdachte und die ihre Schwester mehr frustrierten als erfreuten. Wie lauten die Regeln? Kathleen hatte bei allem und jedem stets zuerst die Regeln auswendig gelernt. Und wenn es keine gab - oder zumindest keine klaren -, war Kathleen nicht in der Lage, das Spiel an sich zu begreifen.
Immer nur Regeln, Kath, dachte Grace, während sie schweigend neben ihrer Schwester saß. In der Schule, in der Kirche und im Leben. Kein Wunder, daß eine Regeländerung sie in tiefste Verwirrung stürzte. Und jetzt hatten sich die Regeln im Spiel ihres Lebens schon wieder gewandelt.
Hast du deine Familie einfach verlassen, Kath, so wie du früher immer aufgestanden und gegangen bist, wenn dir die Regeln eines Spiels nicht zusagten? Bist du hierher an den Anfang zurückgekehrt, um alle bisherigen Ergebnisse zu tilgen und nach deinen eigenen Regeln von vorn anzufangen? Ja, das ist deine Art, die Dinge anzugehen, dachte Grace und hoffte für ihre Schwester, daß es so endlich funktionieren würde.
Aber dann war sie doch überrascht, als sie die Straße sah, in die Kathleen gezogen war. Grace hatte ein hochmodernes Apartmenthaus erwartet. Die modernsten Einrichtungen und vierundzwanzigstündiger Hausmeisterdienst entsprachen mehr Kathleens Stil als diese altmodischen, leicht heruntergekommenen Häuser inmitten von hohen Bäumen.
Kathleens Haus war eines der kleinsten auf dieser Straßenseite. Obwohl Grace sich kaum vorstellen konnte, daß ihre Schwester mehr im Garten getan hatte, als den Rasen zu mähen, schoben sich am Rand des gepflegten Bürgersteigs die ersten Blüten aus dem Boden.
Als Grace neben dem Wagen stand, ließ sie den Blick über die Straße wandern. Vor jedem Haus lagen Fahrräder und standen mehrere Jahre alte Kombiwagen. Hier und da war ein frischer Farbanstrich auszumachen. Man sah den Häusern an, daß die Familien schon lange in ihnen wohnten, und die Gegend lag irgendwo in der Mitte zwischen frisch renoviert und altersschwach. Grace gefiel diese Straße; irgendwie fühlte man sich hier gleich wie zu Hause und geborgen.
Genau ein solches Viertel hätte Grace sich ausgesucht, wenn sie hierher zurückgezogen wäre. Und ihr Lieblingshaus wäre das nebenan gewesen, entschied sie sofort und ohne länger darüber nachzudenken. Das Gebäude mußte dringend generalüberholt werden. Eines der Fenster war mit Brettern vernagelt, und auf dem Dach fehlten ein paar Ziegel. Aber im Garten hatte jemand Azaleen gepflanzt. Die Erde sah noch frisch umgegraben aus, und die Pflanzen waren in kleine Hügel eingebettet. Noch erreichten die Sträucher kaum einen halben Meter Höhe, aber schon zeigten sich die ersten Knospen, die bald aufblühen würden. Während Grace sie betrachtete, hoffte sie, sie könnte lange genug bleiben, um die Azaleen in voller Blütenpracht zu erleben.
»Oh, Kath, es ist wunderschön hier.«
»Na ja, ist nicht ganz Palm Springs«, entgegnete Kathleen, doch ohne Bitterkeit in der Stimme, und fing an, Grace' Sachen auszupacken.
»Nein, meine Liebe, ich meine es ernst. So stelle ich mir ein richtiges Zuhause vor.« Und sie sagte das wirklich nicht aus Höflichkeit. Ihre Fantasie und ihr Schriftstellerauge malten sich bereits aus, wie es sein mußte, hier zu leben.
»Ich wollte Kevin etwas bieten . . . wenn er zu mir kommt.«
»Er wird sich sofort darin verlieben«, verkündete Grace mit der für sie typischen Selbstverständlichkeit. »Der Bürgersteig ist wie geschaffen für Skateboards und erst die vielen Bäume.« Ein Stück weiter stand ein Baum, der aussah, als sei der Blitz in ihn eingeschlagen, aber davon ließ Grace sich nicht beeinträchtigen. »Kath, wenn ich dieses wunderbare Haus so sehe, frage ich mich ernsthaft, was ich eigentlich noch in Upper Manhattan will.«
»Reich und berühmt werden.« Wieder war ihr nichts von ihrer Bitterkeit anzumerken. Sie reichte ihrer Schwester die Taschen.
Grace blickte abermals zum Nachbarhaus. »Ich denke, ein paar Azaleen könnte ich mir auch zulegen.« Sie hakte sich bei Kathleen ein. »Und jetzt mußt du mir unbedingt zeigen, wie es drinnen aussieht.«
Die Einrichtung entsprach dem, was Grace erwartet hatte. Kathleen hatte es gern, wenn alles ordentlich war und hübsch an seinem Platz stand. Das Mobiliar war eine Spur zu wuchtig, aber geschmackvoll (und natürlich entstaubt und poliert). Genauso wie Kath, dachte Grace mit einer Spur Bedauern. Die vielen kleinen Zimmer, die irgendwie ineinander verschachtelt wirkten, gefielen ihr sehr.
Kathleen hatte in einem Raum ein Arbeitszimmer eingerichtet. Der Schreibtisch wirkte noch sehr neu. Sie hat wirklich nichts aus Kalifornien mitgenommen, sagte sich Grace. Nicht einmal ihren Sohn. Ihr fiel auf, daß auf dem Schreibtisch ein Telefon stand und nicht weit davon auf einem Stuhl noch eins. Aber sie schwieg dazu, wußte sie doch, daß Kathleen bestimmt eine durchaus einleuchtende Erklärung dafür hatte.
»Spaghetti-Soße!« Der Duft führte Grace geradewegs in die Küche. Wenn jemand sie nach ihrer Lieblingsfreizeitbeschäftigung fragen würde, hätte Essen bestimmt ganz oben auf der Liste gestanden.
Die Küche war genauso makellos gepflegt wie der Rest des Hauses. Grace war fest davon überzeugt, daß sich im Toaster kein einziger Krümel finden ließe, darauf hätte sie sogar gewettet. Ihre Schwester hob immer noch alle Reste in Plastikdosen auf und stellte sie ordentlich etikettiert in den Kühlschrank; die Gläser waren bestimmt der Größe nach geordnet im Küchenschrank untergebracht. So hatte Kathleen es immer schon gehalten und sich in dieser Hinsicht in dreißig Jahren um keinen Deut geändert.
Während Grace über den alten Linoleumboden lief, hoffte sie, daß sie nicht vergessen hatte, sich vor der Tür die Füße abzutreten. Dann hob sie den Deckel vom Topf auf dem Herd und sog das Aroma lange und tief ein. »Ich würde sagen, du hast deine Kochkünste nicht verlernt.«
»Ich habe mich wieder auf sie besonnen.« Und das nach Jahren in einem Haushalt voller Bediensteter und Köche. »Hast du Hunger mitgebracht?« Zum erstenmal wirkte Kathleens Lächeln ehrlich und entspannt. »Was frage ich überhaupt.«
»Ach je, ich habe völlig vergessen, daß ich dir etwas mitgebracht habe.«
Während Grace in die Diele zurückeilte, stellte sich Kathleen ans Fenster. Warum nur wurde ihr nun, da Grace gekommen war, bewußt, wie leer sich ihr Haus vorher angefühlt hatte? Welchen besonderen Zauber besaß ihre Schwester, mit dem sie einen Raum, ein Haus, ja vermutlich eine ganze Arena ausfüllen konnte? Und was um alles in der Welt sollte sie nur anfangen, wenn Grace wieder abgereist war?
»Valpolicella!« verkündete sie, als sie in die Küche zurückkehrte. »Du siehst, ich habe schon mit einem italienischen Essen gerechnet.« Als Kathleen sich vom Fenster abwandte und zu ihr umdrehte, konnte sie die Tränen nicht länger zurückhalten. »Ach, du armes Liebes.« Mit der Flasche in der Hand lief Grace auf sie zu.
»Gracie, ich vermisse ihn so furchtbar, daß ich manchmal am liebsten sterben möchte.«
»Ich weiß, wie du dich fühlst. Ach, Kleines, mir tut es so leid für dich.« Sie fuhr ihrer Schwester übers Haar, und Kathleen strich die Strähnen sofort wieder gerade. »Laß mich dir helfen, Kath. Sag mir, was ich für dich tun kann.«
»Ach, da ist nichts.« Diese Worte auszusprechen, kostete sie mehr Kraft, als sie je zuzugeben bereit gewesen wäre, aber wenigstens hörten die Tränen auf. »Ich mache mich jetzt besser an den Salat.«
»Nein, tust du nicht.« Grace nahm ihren Arm und führte sie zu dem kleinen Küchentisch. »Setz dich hin. Es ist mir ernst, Kath.«
Obwohl sie ein Jahr älter war als ihre Schwester, gehorchte sie. So war es zwischen ihnen immer schon gewesen, und beide konnten es sich nicht anders vorstellen. »Ich möchte eigentlich nicht darüber reden, Grace.«
»Dann scheint es ja wirklich schlimm um dich zu stehen. Wo bewahrst du den Korkenzieher auf?«
»In der obersten Schublade links vom Ausguß.« »Und die Gläser?«
»Im zweiten Fach im Schrank neben dem Kühlschrank.«
Grace entkorkte die Flasche. Obwohl draußen bereits die Dämmerung einsetzte, machte sie sich nicht die Mühe, in der Küche das Licht einzuschalten.
...
Übersetzung: Marcel Bieger
Copyright © 1995 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Nora Roberts
Roberts, NoraNora Roberts wurde 1950 in Maryland geboren. Ihren ersten Roman veröffentlichte sie 1981. Inzwischen zählt sie zu den meistgelesenen Autorinnen der Welt: Ihre Bücher haben eine weltweite Gesamtauflage von über 500 Millionen Exemplaren. Auch in Deutschland erobern ihre Bücher und Hörbücher regelmäßig die Bestsellerlisten. Nora Roberts hat zwei erwachsene Söhne und lebt mit ihrem Ehemann in Maryland.Unter dem Namen J. D. Robb veröffentlicht Nora Roberts seit Jahren ebenso erfolgreich Kriminalromane.
Bibliographische Angaben
- Autor: Nora Roberts
- 2012, 384 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Bieger, Marcel
- Übersetzer: Marcel Bieger
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453409450
- ISBN-13: 9783453409453
- Erscheinungsdatum: 09.04.2012
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