Vermiss mein nicht
Roman
Als Sandy Shortt zehn Jahre alt ist, verschwindet ein Mädchen aus ihrer Klasse. Seit dieser Zeit sucht sie leidenschaftlich nach allem, was vermisst wird: nach Socken, Schlüsseln und später auch nach Menschen. In ihrer Suchagentur macht sie...
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Produktinformationen zu „Vermiss mein nicht “
Als Sandy Shortt zehn Jahre alt ist, verschwindet ein Mädchen aus ihrer Klasse. Seit dieser Zeit sucht sie leidenschaftlich nach allem, was vermisst wird: nach Socken, Schlüsseln und später auch nach Menschen. In ihrer Suchagentur macht sie Angehörigen Mut, denn sie gibt niemals auf.
Doch als Sandy den Auftrag bekommt, den Bruder von Jack Ruttle wiederzufinden, verirrt sie sich im Wald und verschwindet selbst an einen geheimnisvollen Ort, den alle nur Hier nennen. Dort begegnet sie Menschen, die sie schon lange gesucht hat, und auch jemandem, den sie fast vergessen hätte: sich selbst. Währenddessen macht sich Jack auf die Suche nach Sandy.
Klappentext zu „Vermiss mein nicht “
Als Sandy Shortt zehn Jahre alt ist, verschwindet ein Mädchen aus ihrer Klasse. Seit dieser Zeit sucht sie leidenschaftlich nach allem, was vermisst wird: nach Socken, Schlüsseln und später auch nach Menschen. In ihrer Suchagentur macht sie Angehörigen Mut, denn sie gibt niemals auf.Doch als Sandy den Auftrag bekommt, den Bruder von Jack Ruttle wiederzufinden, verirrt sie sich im Wald und verschwindet selbst - an einen geheimnisvollen Ort, den alle nur "Hier" nennen. Dort begegnet sie Menschen, die sie schon lange gesucht hat, und auch jemandem, den sie fast vergessen hätte: sich selbst.Währenddessen macht sich Jack auf die Suche nach Sandy ...
Lese-Probe zu „Vermiss mein nicht “
Vermiss mein nicht von Cecelia Ahern LESEPROBE EINS Jenny-May Butler, die in der gleichen Straße wohnte wie ich, verschwand, als ich noch ein Kind war. Die Polizei strengte umfassende Ermittlungen an, die in eine endlose Suche nach dem kleinen Mädchen mündeten. Monatelang war die Geschichte jeden Abend in den Fernsehnachrichten, prangte morgens auf der Titelseite der Zeitungen und war überall Gesprächsthema Nummer eins. Das ganze Land beteiligte sich – es war die größte Vermissten-Suchaktion, die ich je erlebt habe, und aus irgendeinem Grund schien jeder sich davon betroffen zu fühlen. Tag für Tag lächelte Jenny-May Butler, ein hübsches blauäugiges Blondchen, in jedem Wohnzimmer des Landes von der Mattscheibe, rührte die Menschen zu Tränen und brachte Eltern reihenweise dazu, ihre Kinder beim Gutenachtsagen ein bisschen fester und länger an sich zu drücken. Alle träumten von Jenny-May, alle schlossen sie in ihre Gebete mit ein.
Sie war zehn Jahre alt, genau wie ich, ging in die gleiche Klasse, und jeden Tag sah ich ihr hübsches Foto in den Nachrichten. Die Leute sprachen von ihr, als wäre sie ein Engel. Wenn man ihre Gespräche hörte, wäre man nie auf die Idee gekommen, dass Jenny-May in der Pause, wenn die Lehrerin gerade mal nicht hinschaute, mit Steinen nach Fiona Brady warf oder dass sie mich gern als »blödes Kraushaarschaf« betitelte, vor allem, wenn Stephen Spencer in der Nähe war, und das nur, weil sie mit ihm gehen und mich als Konkurrentin ausstechen wollte. Nein, in
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diesen Monaten der Suche nach ihr war sie schlicht perfekt, und ich hätte es auch nicht fair gefunden, dieses Bild zu zerstören. Nach einer Weile vergaß ich sogar ihre ganzen Gemeinheiten, weil das Mädchen, das gesucht wurde, eigentlich gar nicht mehr die normale Jenny-May war, sondern die liebe süße Jenny-May Butler, die vermisst wurde und deren furchtbar nette Eltern jeden Abend in den Neun-Uhr-Nachrichten um sie weinten. Sie blieb verschwunden. Man fand weder ihre Leiche noch sonst irgendeine Spur – es war, als hätte sie sich in Luft aufgelöst. Niemand hatte in der Gegend irgendwelche zwielichtigen Subjekte bemerkt, auf keiner Überwachungskamera war zu sehen, was sie zuletzt getan hatte, es gab keine Zeugen, keine Verdächtigen, und das, obwohl die Polizei wirklich jeden Möglichen und Unmöglichen verhörte. Allmählich breitete sich ein gewisses Misstrauen unter den Menschen aus. Wenn man den Nachbarn morgens auf dem Weg zur Arbeit ein freundliches Hallo zurief, machte man sich plötzlich ungewohnte und unerfreuliche Gedanken. Gegen diese Phantasien war kein Kraut gewachsen – bei ganz normalen Samstagmorgenbeschäftigungen wie Autowaschen, Gartenzaunstreichen, Unkrautjäten und Rasenmähen blickte man sich verstohlen um, stellte sich im Stillen unangenehme Fragen und hing Spekulationen nach, die einen zutiefst beschämten. Schockiert und wütend stellten die Menschen fest, dass sie sich gegenseitig verdächtigten und dieser Vorfall sie auf völlig abwegige Ideen brachte. Sie schrubbten emsig, drehten den Gartenschlauch unerbittlich auf und versuchten alle vermeintlichen Schweinereien zusammen mit dem Seifenschaum von der Kühlerhaube zu spülen, bis der Lack glänzte und auch die Gartenzäune in makellosem Weiß erstrahlten. In dieser Gegend, wo ein grüner Daumen zur Grundausstattung gehörte, wusste man, dass die Blumenzwiebeln nicht lange unter der Erde ausharrten, sondern dass die Triebe bald durch die Oberfläche dringen würden. Das war auch nur richtig so, es entsprach schließlich ihrer Natur.
Doch die hinter verschlossenen Türen angedeuteten Vorwürfe waren für die Polizei nutzlos, ihr einziger Hinweis war ein hübsches Bild. So blieb Jenny-May Butlers Verschwinden ein unlösbares Rätsel. Ich fragte mich, wo sie jetzt wohl sein mochte. Wie um alles in der Welt konnte sich ein Mensch einfach in Luft auflösen, ohne die geringste Spur zu hinterlassen, ohne dass irgendwer irgendwas
darüber wusste? Nachts starrte ich aus meinem Schlafzimmerfenster zu ihrem Haus hinüber, wo immer Licht brannte. Anscheinend schlief auch Mrs. Butler nicht besonders gut, denn ich sah sie oft auf der Sofakante sitzen, als kauerte sie in den Startlöchern und wartete darauf, endlich einen Startschuss zu hören. Sie wartete auf Neuigkeiten. Manchmal winkte ich ihr zu, und sie winkte traurig zurück. Durch den Tränenschleier konnte sie mich wahrscheinlich kaum erkennen.
Genau wie Mrs. Butler war auch ich unglücklich darüber, dass wir keine Antworten auf all unsere Fragen hatten. Seit Jenny-May weg war, konnte ich sie viel besser leiden, und auch das erschien mir bemerkenswert. Ich vermisste sie, ich vermisste die Vorstellung von Jenny-May Butler und überlegte, ob sie wohl irgendwo in der Nähe war, andere Kinder mit Steinen bewarf und dabei laut und gehässig lachte. Aber wir fanden sie nicht, und ich hörte sie auch nicht lachen. Nach ihrem Verschwinden fi ng ich an, nach allem Möglichen zu suchen. Wenn eine meiner Lieblingssocken fehlte, stellte ich das ganze Haus auf den Kopf, suchte und suchte, während meine besorgten Eltern mich ratlos beobachteten. Meistens endete es damit, dass sie mir beim Suchen halfen.
Es beunruhigte mich, wenn ich Sachen verlor und nicht finden konnte, und wenn dann doch einmal etwas wieder auftauchte, war es meist nur eine einzelne poplige Socke, was ich ebenfalls irritierend fand. Dann stellte ich mir wieder vor, wie Jenny-May Butler irgendwo mit Steinen warf, gehässig lachte und dabei meine Lieblingssocken anhatte.Ich wollte nie etwas Neues für meine verschwundenen Sachen haben. Schon mit zehn Jahren war ich überzeugt, dass man etwas Verlorenes nicht ersetzen kann. Ich beharrte darauf, dass es wiedergefunden werden musste. Vermutlich machte ich mir noch mehr Gedanken über Jenny-May Butler und die einzelnen Socken als Mrs. Butler. Aber wir waren beide nachts wach und grübelten. Vielleicht ist mir alles deshalb passiert. Vielleicht habe ich, weil ich so viele Jahre damit verbracht habe, in meinem Leben das Oberste zuunterst zu kehren und krampfhaft nach allem Möglichen zu suchen, irgendwann vergessen, mich um mich selbst zu kümmern, mich zu fragen, wer und wo ich eigentlich war. Vierundzwanzig Jahre nach Jenny-May Butlers Verschwinden verschwand ich ebenfalls. Hier ist meine Geschichte. ZWEI
In meinem Leben hat das Schicksal eine Menge Ironie bewiesen, und dass ich verschwunden bin, ist nur einer von vielen absurden und aberwitzigen Vorfällen. Ich würde gern darüber lachen, wenn ich nicht meinen Sinn für Humor verloren hätte, als ich selbst verloren gegangen bin.
Zuerst einmal bin ich einen Meter fünfundachtzig groß. Schon als Kind habe ich fast immer alle um mich herum überragt. Im Einkaufszentrum konnte ich nicht unauffällig in der Menge untertauchen wie andere Kids, beim Versteckspielen wurde ich immer als Erste gefunden. In der Disco forderte mich keiner zum Tanzen auf, und ich war vermutlich der einzige weibliche Teenager, der nicht den dringenden Wunsch verspürte, endlich hochhackige Schuhe tragen zu dürfen. Jenny-May Butler nannte mich gern eine blöde Bohnenstange und zwang mich regelmäßig jeden Dienstag um zehn, vor aller Augen ein Buch für sie aus der obersten Reihe der Schulbibliothek zu angeln. Glaubt mir, ich weiß, wovon ich spreche. Ich war diejenige, die man meilenweit sehen konnte, ich war diejenige, die auf dem Tanzparkett ungelenk rumhampelte, ich war diejenige, hinter der im Kino niemand sitzen wollte, ich war die, die im Jeansgeschäft nach Hosen mit Überlänge fragen musste. Kurz gesagt, ich falle auf wie ein bunter Hund, und jeder, der an mir vorbeigeht, bemerkt mich und erinnert sich später an mich. Lassen wir die vereinzelten Socken und ausnahmsweise auch Jenny-May Butler beiseite – die Krönung all dieser unerklärlichen Vorkommnisse war eindeutig,dass ausgerechnet ich, das schwarze Schaf in einer durchgängig weißen Herde, plötzlich unsichtbar war. Das Rätsel, das ich mir selbst aufgab, übertraf alle anderen bei weitem.
Die zweite große Ironie meines Lebens besteht darin, dass ich beruflich nach vermissten Personen suchte. Nach dem Schulabschluss wurde ich Polizistin und arbeitete am liebsten an Fällen, in denen jemand vermisst wurde. Aber da es dafür keine eigene Abteilung gab, spielte mir der Zufall nur gelegentlich etwas nach meinem Geschmack in die Hände. Wisst ihr, die Situation mit Jenny-May Butler brachte in mir echt etwas in Bewegung. Ich wollte Antworten, Lösungen, und ich wollte sie alle selbst finden. Vermutlich mutierte meine Sucherei dabei zu einer Art Besessenheit, und ich war so damit beschäftigt, in der Außenwelt nach Hinweisen zu forschen, dass ich nicht ein einziges Mal überlegte, was eigentlich in meinem eigenen Kopf vor sich ging. Bei der Polizei fanden wir manchmal Leute in einem Zustand wieder, den ich für den Rest meines Lebens und noch weit ins nächste hinein nicht vergessen werde, und es gab auch Menschen, die einfach nicht gefunden werden wollten. Doch viel zu oft fanden wir Vermisste gar nicht, keine Spur. Solche Fälle machten mich wahnsinnig, so sehr, dass ich oft einfach auf eigene Faust weitersuchte. Ich ermittelte in Fällen, die längst abgeschlossen waren, ich blieb mit den Familien in Kontakt, nachdem die offizielle Suche längst abgeblasen war. Bis man mir irgendwann mitteilte, ich solle gefälligst mit diesen Sperenzchen aufhören. Es gab dringendere Fälle, bei denen meine Arbeitskraft gebraucht wurde. Nach einer ganzen Serie von solchen und ähnlichen Ermahnungen wurde mir klar, dass es für mich schlicht nicht möglich war, mich einem neuen Fall zuzuwenden, bevor ich den vorhergehenden hundertprozentig gelöst hatte.
Man warf mir vor, ich würde den Leuten falsche Hoffnungen machen, und meine ständige Sucherei hindere die Familien daran, sich damit abzufinden, dass die gesuchte Person einfach verschwunden war und man nie etwas Genaues über ihren Verbleib in Erfahrung bringen würde. Aber ich konnte einfach keinen Schlussstrich ziehen, denn für mich galt als Schlussstrich nur, wenn ich die vermisste Person wiederfand. Ich akzeptierte keine Zwischenlösung. Deshalb schmiss ich meinen Job bei der Polizei eines Tages hin, machte mich selbständig und das Suchen zu meinem Beruf. Ihr würdet nicht glauben, wie vielen Menschen das genauso am Herzen lag wie mir. Allerdings fragten sich meine Klienten oft, aus welchem Grund ich eigentlich suchte. Sie selbst hatten ja eine Beziehung zu den Vermissten, sie liebten sie und wollten sie wiederhaben. Wenn es mir also nicht ums Geld ging – und darum ging es mir ganz offensichtlich nicht –, worin bestand dann meine Motivation? Vermutlich ging es mir um meinen Seelenfrieden. Das Suchen half mir, abends einzuschlafen.
Aber wie kann jemand wie ich, mit meinen körperlichen Eigenschaften und meiner inneren Einstellung, verloren gehen? Dabei fällt mir ein, dass ich euch noch gar nicht meinen Namen gesagt habe. Ich heiße Sandy Shortt. »Short« wie »klein«. Ja, es darf gelacht werden. Wenn es mir nicht das Herz brechen würde, würde ich auch darüber lachen. Meine Eltern haben mich Sandy genannt, weil ich mit dichten sandfarbenen Haaren auf die Welt gekommen bin. Leider konnten sie nicht wissen, dass meine Haare pechschwarz werden würden und dass meine niedlichen feisten Beinchen bald nicht mehr strampeln, sondern viel zu schnell wachsen und viel zu lang werden würden. Also nochmal: Mein Name ist Sandy Shortt. Sandhell und klein sollte ich sein, so definiert mich mein Name für alle Zeiten, aber leider trifft das genaue Gegenteil auf mich zu. Dieser Widerspruch bringt die Leute fast immer zum Lachen, wenn ich mich vorstelle, aber ich hoffe, ihr könnt mir verzeihen, wenn ich selbst unter diesen Umständen keine Miene verziehe. Wisst ihr, es ist nicht lustig, verschwunden zu sein, aber ich habe gemerkt, dass es auch nicht viel anders ist als vorher – ich mache eigentlich genau dasselbe wie immer.
Ich suche. Nur suche ich jetzt nach einer Möglichkeit, gefunden zu werden. Eines hab ich allerdings gelernt, und das ist durchaus erwähnenswert: Auf einmal sehne ich mich nach Hause zurück. Und das ist vollkommen neu. Was für ein miserables Timing. Dass mir das ausgerechnet jetzt klar wird, ist wahrscheinlich die größte Ironie an der ganzen Geschichte.
Übersetzung: Christine Strüh
© Fischerverlage
Doch die hinter verschlossenen Türen angedeuteten Vorwürfe waren für die Polizei nutzlos, ihr einziger Hinweis war ein hübsches Bild. So blieb Jenny-May Butlers Verschwinden ein unlösbares Rätsel. Ich fragte mich, wo sie jetzt wohl sein mochte. Wie um alles in der Welt konnte sich ein Mensch einfach in Luft auflösen, ohne die geringste Spur zu hinterlassen, ohne dass irgendwer irgendwas
darüber wusste? Nachts starrte ich aus meinem Schlafzimmerfenster zu ihrem Haus hinüber, wo immer Licht brannte. Anscheinend schlief auch Mrs. Butler nicht besonders gut, denn ich sah sie oft auf der Sofakante sitzen, als kauerte sie in den Startlöchern und wartete darauf, endlich einen Startschuss zu hören. Sie wartete auf Neuigkeiten. Manchmal winkte ich ihr zu, und sie winkte traurig zurück. Durch den Tränenschleier konnte sie mich wahrscheinlich kaum erkennen.
Genau wie Mrs. Butler war auch ich unglücklich darüber, dass wir keine Antworten auf all unsere Fragen hatten. Seit Jenny-May weg war, konnte ich sie viel besser leiden, und auch das erschien mir bemerkenswert. Ich vermisste sie, ich vermisste die Vorstellung von Jenny-May Butler und überlegte, ob sie wohl irgendwo in der Nähe war, andere Kinder mit Steinen bewarf und dabei laut und gehässig lachte. Aber wir fanden sie nicht, und ich hörte sie auch nicht lachen. Nach ihrem Verschwinden fi ng ich an, nach allem Möglichen zu suchen. Wenn eine meiner Lieblingssocken fehlte, stellte ich das ganze Haus auf den Kopf, suchte und suchte, während meine besorgten Eltern mich ratlos beobachteten. Meistens endete es damit, dass sie mir beim Suchen halfen.
Es beunruhigte mich, wenn ich Sachen verlor und nicht finden konnte, und wenn dann doch einmal etwas wieder auftauchte, war es meist nur eine einzelne poplige Socke, was ich ebenfalls irritierend fand. Dann stellte ich mir wieder vor, wie Jenny-May Butler irgendwo mit Steinen warf, gehässig lachte und dabei meine Lieblingssocken anhatte.Ich wollte nie etwas Neues für meine verschwundenen Sachen haben. Schon mit zehn Jahren war ich überzeugt, dass man etwas Verlorenes nicht ersetzen kann. Ich beharrte darauf, dass es wiedergefunden werden musste. Vermutlich machte ich mir noch mehr Gedanken über Jenny-May Butler und die einzelnen Socken als Mrs. Butler. Aber wir waren beide nachts wach und grübelten. Vielleicht ist mir alles deshalb passiert. Vielleicht habe ich, weil ich so viele Jahre damit verbracht habe, in meinem Leben das Oberste zuunterst zu kehren und krampfhaft nach allem Möglichen zu suchen, irgendwann vergessen, mich um mich selbst zu kümmern, mich zu fragen, wer und wo ich eigentlich war. Vierundzwanzig Jahre nach Jenny-May Butlers Verschwinden verschwand ich ebenfalls. Hier ist meine Geschichte. ZWEI
In meinem Leben hat das Schicksal eine Menge Ironie bewiesen, und dass ich verschwunden bin, ist nur einer von vielen absurden und aberwitzigen Vorfällen. Ich würde gern darüber lachen, wenn ich nicht meinen Sinn für Humor verloren hätte, als ich selbst verloren gegangen bin.
Zuerst einmal bin ich einen Meter fünfundachtzig groß. Schon als Kind habe ich fast immer alle um mich herum überragt. Im Einkaufszentrum konnte ich nicht unauffällig in der Menge untertauchen wie andere Kids, beim Versteckspielen wurde ich immer als Erste gefunden. In der Disco forderte mich keiner zum Tanzen auf, und ich war vermutlich der einzige weibliche Teenager, der nicht den dringenden Wunsch verspürte, endlich hochhackige Schuhe tragen zu dürfen. Jenny-May Butler nannte mich gern eine blöde Bohnenstange und zwang mich regelmäßig jeden Dienstag um zehn, vor aller Augen ein Buch für sie aus der obersten Reihe der Schulbibliothek zu angeln. Glaubt mir, ich weiß, wovon ich spreche. Ich war diejenige, die man meilenweit sehen konnte, ich war diejenige, die auf dem Tanzparkett ungelenk rumhampelte, ich war diejenige, hinter der im Kino niemand sitzen wollte, ich war die, die im Jeansgeschäft nach Hosen mit Überlänge fragen musste. Kurz gesagt, ich falle auf wie ein bunter Hund, und jeder, der an mir vorbeigeht, bemerkt mich und erinnert sich später an mich. Lassen wir die vereinzelten Socken und ausnahmsweise auch Jenny-May Butler beiseite – die Krönung all dieser unerklärlichen Vorkommnisse war eindeutig,dass ausgerechnet ich, das schwarze Schaf in einer durchgängig weißen Herde, plötzlich unsichtbar war. Das Rätsel, das ich mir selbst aufgab, übertraf alle anderen bei weitem.
Die zweite große Ironie meines Lebens besteht darin, dass ich beruflich nach vermissten Personen suchte. Nach dem Schulabschluss wurde ich Polizistin und arbeitete am liebsten an Fällen, in denen jemand vermisst wurde. Aber da es dafür keine eigene Abteilung gab, spielte mir der Zufall nur gelegentlich etwas nach meinem Geschmack in die Hände. Wisst ihr, die Situation mit Jenny-May Butler brachte in mir echt etwas in Bewegung. Ich wollte Antworten, Lösungen, und ich wollte sie alle selbst finden. Vermutlich mutierte meine Sucherei dabei zu einer Art Besessenheit, und ich war so damit beschäftigt, in der Außenwelt nach Hinweisen zu forschen, dass ich nicht ein einziges Mal überlegte, was eigentlich in meinem eigenen Kopf vor sich ging. Bei der Polizei fanden wir manchmal Leute in einem Zustand wieder, den ich für den Rest meines Lebens und noch weit ins nächste hinein nicht vergessen werde, und es gab auch Menschen, die einfach nicht gefunden werden wollten. Doch viel zu oft fanden wir Vermisste gar nicht, keine Spur. Solche Fälle machten mich wahnsinnig, so sehr, dass ich oft einfach auf eigene Faust weitersuchte. Ich ermittelte in Fällen, die längst abgeschlossen waren, ich blieb mit den Familien in Kontakt, nachdem die offizielle Suche längst abgeblasen war. Bis man mir irgendwann mitteilte, ich solle gefälligst mit diesen Sperenzchen aufhören. Es gab dringendere Fälle, bei denen meine Arbeitskraft gebraucht wurde. Nach einer ganzen Serie von solchen und ähnlichen Ermahnungen wurde mir klar, dass es für mich schlicht nicht möglich war, mich einem neuen Fall zuzuwenden, bevor ich den vorhergehenden hundertprozentig gelöst hatte.
Man warf mir vor, ich würde den Leuten falsche Hoffnungen machen, und meine ständige Sucherei hindere die Familien daran, sich damit abzufinden, dass die gesuchte Person einfach verschwunden war und man nie etwas Genaues über ihren Verbleib in Erfahrung bringen würde. Aber ich konnte einfach keinen Schlussstrich ziehen, denn für mich galt als Schlussstrich nur, wenn ich die vermisste Person wiederfand. Ich akzeptierte keine Zwischenlösung. Deshalb schmiss ich meinen Job bei der Polizei eines Tages hin, machte mich selbständig und das Suchen zu meinem Beruf. Ihr würdet nicht glauben, wie vielen Menschen das genauso am Herzen lag wie mir. Allerdings fragten sich meine Klienten oft, aus welchem Grund ich eigentlich suchte. Sie selbst hatten ja eine Beziehung zu den Vermissten, sie liebten sie und wollten sie wiederhaben. Wenn es mir also nicht ums Geld ging – und darum ging es mir ganz offensichtlich nicht –, worin bestand dann meine Motivation? Vermutlich ging es mir um meinen Seelenfrieden. Das Suchen half mir, abends einzuschlafen.
Aber wie kann jemand wie ich, mit meinen körperlichen Eigenschaften und meiner inneren Einstellung, verloren gehen? Dabei fällt mir ein, dass ich euch noch gar nicht meinen Namen gesagt habe. Ich heiße Sandy Shortt. »Short« wie »klein«. Ja, es darf gelacht werden. Wenn es mir nicht das Herz brechen würde, würde ich auch darüber lachen. Meine Eltern haben mich Sandy genannt, weil ich mit dichten sandfarbenen Haaren auf die Welt gekommen bin. Leider konnten sie nicht wissen, dass meine Haare pechschwarz werden würden und dass meine niedlichen feisten Beinchen bald nicht mehr strampeln, sondern viel zu schnell wachsen und viel zu lang werden würden. Also nochmal: Mein Name ist Sandy Shortt. Sandhell und klein sollte ich sein, so definiert mich mein Name für alle Zeiten, aber leider trifft das genaue Gegenteil auf mich zu. Dieser Widerspruch bringt die Leute fast immer zum Lachen, wenn ich mich vorstelle, aber ich hoffe, ihr könnt mir verzeihen, wenn ich selbst unter diesen Umständen keine Miene verziehe. Wisst ihr, es ist nicht lustig, verschwunden zu sein, aber ich habe gemerkt, dass es auch nicht viel anders ist als vorher – ich mache eigentlich genau dasselbe wie immer.
Ich suche. Nur suche ich jetzt nach einer Möglichkeit, gefunden zu werden. Eines hab ich allerdings gelernt, und das ist durchaus erwähnenswert: Auf einmal sehne ich mich nach Hause zurück. Und das ist vollkommen neu. Was für ein miserables Timing. Dass mir das ausgerechnet jetzt klar wird, ist wahrscheinlich die größte Ironie an der ganzen Geschichte.
Übersetzung: Christine Strüh
© Fischerverlage
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Autoren-Porträt von Cecelia Ahern
Autoren-Porträt von Cecilia Ahern Cecelia Ahern wurde am 30.09.1981 in Dublin geboren – als Tochter des späteren irischen Ministerpräsidenten Bertie Ahern. Als sie ihren ersten Roman „P.S Ich liebe Dich“ veröffentlichte, war sie erst 21 Jahre alt. Mit der anrührenden Geschichte von einer Liebe über den Tod hinaus landete sie auf Anhieb einen Bestseller, bekam den „Passionate Pen Honor“ für den besten Roman des Jahres und wurde als beste Nachwuchsautorin für den „British Book Award“ nominiert. Geschrieben hatte sie schon vorher, aber noch nie etwas veröffentlicht.
Nach dem Studium der Medienkommunikation und journalistischer Arbeit widmete sie sich ganz der Schriftstellerei und verfasste Liebesromane, die durch Melancholie, Humor und Magie faszinieren. Dass die Geschichten nicht in einem Traumland spielen, zeigt Aherns zweiter Roman „Für immer vielleicht“. Die Liebenden werden immer wieder getrennt, bleiben aber über viele Jahre in Kontakt durch Briefe, E-Mails, Chatnachrichten oder SMS. Sie können einfach nicht voneinander lassen.
Eher magisch entwickelt sich das Geschehen im dritten Roman „Zwischen Himmel und Liebe“. Tante und Neffe leben in einem verschlafenen irischen Dorf und führen ein freudloses, von Strenge regiertes Leben, überschattet von der Vergangenheit. Dann tritt Ivan auf den Plan, ist aber eigentlich unsichtbar und nicht von dieser Welt. Ihm gelingt es, die Verkrustungen aufzubrechen, mit der Vergangenheit zu versöhnen und den Weg für einen Neuanfang zu bereiten.
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Diese Idee des Umkehrens hat die Autorin auch in ihrem bisher letzten Roman „Vermiss mein nicht“ thematisiert. Ihre Heldin Sandy widmet ihr ganzes Leben der Suche nach Vermissten und glaubt, dabei auch die eigene Zufriedenheit zu finden. Aber irgendwann merkt sie, dass sie auf dem falschen Weg ist…
Cecilia Ahern scheint jedenfalls auf dem richtigen Weg zu sein, denn alle ihre bisher erschienenen Romane stehen Wochen und mitunter Monate lang auf den Bestsellerlisten. Sie schreibt bereits an ihrem fünften Buch, verfasste nebenbei ein Drehbuch und arbeitet in den USA an einer Pilotsendung für ABC TV Network. In einem Interview äußerte sie: „…ich bin also immer beschäftigt, schreibe und schreibe!“ Ihren Lesern kann es nur recht sein.
Cecilia Ahern scheint jedenfalls auf dem richtigen Weg zu sein, denn alle ihre bisher erschienenen Romane stehen Wochen und mitunter Monate lang auf den Bestsellerlisten. Sie schreibt bereits an ihrem fünften Buch, verfasste nebenbei ein Drehbuch und arbeitet in den USA an einer Pilotsendung für ABC TV Network. In einem Interview äußerte sie: „…ich bin also immer beschäftigt, schreibe und schreibe!“ Ihren Lesern kann es nur recht sein.
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Bibliographische Angaben
- Autor: Cecelia Ahern
- 2008, 9. Aufl., 428 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Christine Strüh
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596167353
- ISBN-13: 9783596167357
- Erscheinungsdatum: 08.07.2008
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