Verschwörung gegen Amerika
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Der Roman von Philip Roth beginnt mit einem kühnen Einfall: Charles Lindbergh, der berühmte Fliegerheld, Faschistenfreund und Antisemit, verbucht bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 1940 einen erdrutschartigen Sieg über Franklin D. Roosevelt. Unter den amerikanischen Juden breiten sich Furcht und Schrecken aus - auch bei der Familie Roth in Newark.
"Wer dieses Buch liest, begreift besser: nein, spürt sinnlich und anschaulich, was es heißt, dass die Geschichte, die sich im Rückblick immer als das Notwendige darstellt, bei ihrem Eintreten als das Unvorhergesehene kommt." Ulrich Raulff (Süddeutsche Zeitung)
Verschwörung gegen Amerika vonPhilip Roth
LESEPROBE
1 Juni 1940- Oktober 1940
Wählt Lindbergh oder wählt den Krieg
Angst beherrscht diese Erinnerungen,eine ständige
Angst. Natürlich hat jede Kindheitihre Schrecken, doch ich
frage mich, ob ich als Kind nichtweniger Angst gehabt hätte,
wenn Lindbergh nicht Präsidentgewesen oder ich nicht das
Kind von Juden gewesen wäre.
Als im Juni 1940 die schockierendeNachricht kam - Charles
A. Lindbergh, Amerikasinternationaler Held der Luftfahrt,
war vom Parteitag der Republikanerin Philadelphia als
Präsidentschaftskandidat nominiertworden -, war mein Vater
neununddreißig; alsVersicherungsvertreter mit Grundschulabschluss
verdiente er knapp unter fünfzigDollar die Woche;
das reichte, um die wichtigstenRechnungen pünktlich zu bezahlen,
für mehr aber auch kaum. MeineMutter - die sich zur
Lehrerin ausbilden lassen wollte,aber nicht konnte, weil es zu
teuer war, die seit ihrem Highschool-Abschluss als Sekretärin
gearbeitet und zu Hause gewohnthatte, der wir verdankten,
dass wir uns in der schlimmstenPhase der Depression nicht
wie arme Leute vorkamen, indem sieden Lohn, den mein Vater
ihr jeden Freitag ablieferte, soeffizient einteilte, wie sie
auch den Haushalt führte - warsechsunddreißig. Mein Bruder
Sandy, ein Siebtklässler miterstaunlichem Zeichentalent, war
zwölf, und ich, ein Drittklässler,der bereits eine Klasse über8
sprungen hatte - und ein angehenderBriefmarkensammler,
inspiriert wie Millionen andereKinder von Präsident Roosevelt,
dem obersten Philatelisten desLandes -, war sieben.
Wir lebten in einer Wohnung imersten Stock eines kleinen
Zweieinhalbfamilienhauses, wie dieanderen Häuser in dieser
von Bäumen gesäumten Straße einHolzbau mit einer Eingangstreppe
aus rotem Backstein, darüber einGiebeldach
und davor ein winziger, mit einerniedrigen Hecke abgezäunter
Vorgarten. Weequahicwar kurz nach dem Ersten Weltkrieg
auf Ackerflächen am unerschlossenenSüdwestrand von
Newark gebaut worden, ein halbesDutzend Straßen dort
hatte man majestätisch nachsiegreichen Marinekommandanten
im Spanisch-Amerikanischen Kriegbenannt, und das
örtliche Filmtheater hieß nach FDRs Vetter fünften Grades -
und dem sechsundzwanzigstenPräsidenten des Landes - das
Roosevelt. Unsere Straße, die Summit Avenue, lag oben auf
einem Hügel, eine für eineHafenstadt gar nicht geringe Erhebung,
knapp dreißig Meter über dem Niveauder Salzsümpfe
im Norden und Osten der Stadt und dernoch weiter östlich
vom Flughafen gelegenen Bucht, derenWasser sich um die
Öllager auf der Bayonne-Halbinselschmiegten und sich dort
mit der New York Bay vereinigten, uman der Freiheitsstatue
vorbei in den Atlantik zu strömen.Wenn wir aus unserem
Schlafzimmer hintenherausnach Westen sahen, ging der
Blick manchmal bis zur dunklenBaumlinie der Watchungs,
einer niedrigen Bergkette, an derenSaum sich riesige Anwesen
und wohlhabende, dünnbesiedelteVorstädte befanden:
der äußerste Rand der bekannten Welt- und acht Meilen von
unserem Haus entfernt. Einen Blockweiter südlich begann
die Arbeitersiedlung Hillside, in der vorwiegend Nichtjuden
wohnten. Die Grenze zu Hillside war auch die zu Union
County, einem ganz und gar anderen NewJersey.
Wir waren 1940 eine glücklicheFamilie. Meine Eltern waren
kontaktfreudige, gastfreundlicheLeute und hatten einen ausgewählten
Freundeskreis aus Kollegen meinesVaters und den
Frauen, die zusammen mit meinerMutter bei der Organisation
des Eltern-Lehrer-Ausschusses an derneuen Chancellor
Avenue School mitgewirkt hatten, derSchule, die mein Bruder
und ich besuchten. Alle waren Juden.Die Männer aus
dem Viertel waren entwederselbständige Geschäftsleute - die
Inhaber des Süßwarenladens, desLebensmittelgeschäfts, des
Juweliergeschäfts, desKleidergeschäfts, des Möbelladens, der
Tankstelle oder derFeinkosthandlung, die Eigentümer kleiner
Werkstätten drüben an der Newark-Irvington-Linie, selbständige
Klempner, Elektriker, Anstreicherund Heizungsbauer
- oder Klinkenputzer wie mein Vater,die täglich von
Haus zu Haus zogen und ihre Artikelauf Provisionsbasis verkauften.
Die jüdischen Ärzte und Anwälte underfolgreichen
Kaufleute, denen die großenGeschäfte in der Innenstadt gehörten,
lebten in Einfamilienhäusern am Osthangdes Chancellor-
Avenue-Hügels, näher am Weequahic Park, einem über
hundert Hektar großenLandschaftsgarten, der mit seinen
Rasenflächen und Waldstücken, mitRuderteich, Golfplatz
und Trabrennbahn die Grenze bildetezwischen Weequahic
und den Fabriken und Hafenanlagenentlang der Route 27
und dem Viadukt der Pennsylvania Railroad östlich davon
und dem eben erst gebauten Flughafenöstlich davon und
dem äußersten Rand Amerikas östlichdavon - den Lagerhäusern
und Kais an der Newark Bay, woFracht aus der ganzen
Welt gelöscht wurde. Am westlichenEnde des Viertels, in unserem
parklosen Ende, lebte der eine oderandere Lehrer oder
Apotheker, ansonsten aber gab es nurwenige Akademiker
und ganz sicher keine der reichenUnternehmer- und Fabrikantenfamilien
in unserer unmittelbarenNachbarschaft. Die
Männer arbeiteten fünfzig, sechzig,ja siebzig oder mehr
Stunden die Woche; die Frauenarbeiteten ununterbrochen
und mit wenig Unterstützung durcharbeitssparende Geräte,
sie machten die Wäsche, bügeltenHemden, stopften Socken,
wendeten Kragen, nähten Knöpfe an,motteten Wollsachen
ein, polierten Möbel, fegten undwischten Fußböden, putzten
Fenster, schrubbten Waschbecken,Wannen, Toiletten und
Herde, staubsaugten, pflegtenKranke, gingen einkaufen, bereiteten
die Mahlzeiten zu, versorgtenVerwandte, räumten
Schränke und Schubladen auf,beaufsichtigten Anstreicher
und alle anderen, die im Haus etwasreparierten, planten religiöse
Feiern, bezahlten Rechnungen undführten die Familienbücher
und kümmerten sich bei alldemgleichzeitig um
Gesundheit, Kleidung, Sauberkeit,Ausbildung, Ernährung,
Benehmen, Geburtstage, Disziplin undMoral ihrer Kinder.
Einige wenige Frauen arbeiteten mitden Männern in ihren
Geschäften an den nahe gelegenenEinkaufsstraßen, und nach
der Schule und an Samstagen halfenauch die älteren Kinder
mit, lieferten Bestellungen aus,kümmerten sich um die Vorräte
und putzten.
Arbeit kennzeichnete undcharakterisierte für mich unsere
Nachbarn weitaus deutlicher alsReligion. Niemand in der
Nachbarschaft trug einen Bart oderKleidung im antiquierten
Stil der Alten Welt, niemand trugeine Kippa, weder im Freien
noch in den Häusern, durch die ichregelmäßig mit meinen
Kindheitsfreunden zog. DieErwachsenen hielten sich nicht
mehr nach außen erkennbar an diefrommen Vorschriften,
falls sie sich überhaupt nochernsthaft daran hielten, und abgesehen
von älteren Geschäftsinhabern wiedem Schneider
oder dem koscheren Metzger - und denkränklichen oder
klapprigen Großeltern, die der Notgehorchend bei ihren erwachsenen
Nachkommen wohnten - sprach fastniemand bei
uns mit Akzent. 1940 sprachenjüdische Eltern und ihre Kinder
im südwestlichen Winkel der größtenStadt von New Jersey
miteinander in einem amerikanischenEnglisch, das eher
der Sprache in Altoonaoder Binghamton glich als den Dialekten,
die auf der anderen Seite des Hudsonvon unseren
jüdischen Brüdern und Schwestern inden fünf Bezirken gesprochen
wurden. Hebräische Schrift war aufdem Schaufenster
des Metzgers und über den Portalender kleinen Synagogen
in unserem Viertel zu sehen, imÜbrigen jedoch sah man
nirgendwo (es sei denn auf demFriedhof) das Alphabet des
Gebetbuchs, sondern nur dievertrauten Buchstaben der Landessprache,
die von praktisch jedermann für alleerdenklichen
Zwecke, erhabene und niedrige,unausgesetzt verwendet
wurde. Am Zeitungsstand vor demSüßwarenladen an der
Ecke wurde die RacingForm zehnmal so viel verkauft wie der
Forvertz, die jiddische Tageszeitung.
Israel existierte noch nicht, sechsMillionen europäische Juden
hatten noch nicht aufgehört zuexistieren, und was das
ferne Palästina (unter britischemMandat, seit die siegreichen
Alliierten 1918 die letztenentlegenen Provinzen des ehemaligen
Osmanischen Reiches aufgelösthatten) mit uns zu tun
haben sollte, war mir ein Rätsel.Wenn alle paar Monate ein
Fremder, der einen Bart trug undniemals ohne Hut gesehen
wurde, nach Einbruch der Dunkelheitbei uns vorsprach und
in gebrochenem Englisch um eineSpende für ein nationales
Heimatland der Juden in Palästinabat, begriff ich, der ich
kein ahnungsloses Kind war, nie sorecht, was er da eigentlich
vor unserer Haustür zu suchen hatte.Meine Eltern gaben
dann mir oder Sandy ein paar Münzen,die wir in seine Sammelbüchse
werfen sollten, ein Geschenk, wiemir immer
schien, das allein ausFreundlichkeit gegeben wurde, um nicht
die Gefühle eines alten Mannes zuverletzen, dem es zeit sei12
nes Lebens offenbar nicht in den Kopfwollte, dass wir bereits
seit drei Generationen einHeimatland besaßen. Jeden Morgen
in der Schule schwor ich unseremHeimatland die Treue.
Auf Schulversammlungen sang ich mitmeinen Klassenkameraden
von seinen Herrlichkeiten. Eifrigbeging ich seine nationalen
Feiertage, ohne groß darübernachzudenken, was das
Feuerwerk zum 4. Juli oder derTruthahn zu Thanksgiving
oder die Baseball-Veranstaltungen amDecoration Day eigentlich
mit mir zu tun hatten. UnserHeimatland war Amerika.
Dann nominierten die RepublikanerLindbergh, und alles
wurde anders.
Ein knappes Jahrzehnt lang wurdeLindbergh in unserem
Viertel genauso sehr als Heldverehrt wie überall anders. Die
Landung nach seinemdreiunddreißigeinhalbstündigen Nonstop-
Alleinflug mit dem winzigenEindecker Spirit of St. Louis
von Long Island nach Paris fandzufällig an jenem Tag im
Frühling 1927 statt, an dem meineMutter feststellte, dass sie
mit meinem älteren Bruder schwangerwar. Daraus ergab
sich, dass der junge Flieger, dessenWagemut Amerika und die
Welt begeistert hatte und dessenLeistung für die Zukunft unvorstellbare
Fortschritte in der Luftfahrtverhieß, einen besonderen
Platz in der Galerie derFamilienanekdoten einnahm,
die die erste zusammenhängendeMythologie eines
Kindes zu bilden pflegen.
© Rowohlt Verlag
- Autor: Philip Roth
- 2007, 5. Aufl., 544 Seiten, Maße: 11,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Werner Schmitz
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499240874
- ISBN-13: 9783499240874
- Erscheinungsdatum: 01.03.2007