Wachstumsschmerz
Roman
»Wann ist denn nur alles so kompliziert geworden?«
Luise und Flo sind ein Paar und beschließen, endlich erwachsen zu werden. Sie suchen eine Wohnung, ziehen zusammen, schaffen sich ein gemeinsames Bett an und tanzen zu Manfred Krug durch ihre neuen Zimmer....
Luise und Flo sind ein Paar und beschließen, endlich erwachsen zu werden. Sie suchen eine Wohnung, ziehen zusammen, schaffen sich ein gemeinsames Bett an und tanzen zu Manfred Krug durch ihre neuen Zimmer....
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Wachstumsschmerz “
Klappentext zu „Wachstumsschmerz “
»Wann ist denn nur alles so kompliziert geworden?«Luise und Flo sind ein Paar und beschließen, endlich erwachsen zu werden. Sie suchen eine Wohnung, ziehen zusammen, schaffen sich ein gemeinsames Bett an und tanzen zu Manfred Krug durch ihre neuen Zimmer. Doch nach kurzer Zeit stehen sie im Flur nebeneinander wie zwei an der Raststätte vergessene Kinder. Luise hat das Gefühl, nur Erwachsen zu spielen. Irgendwie ist dieses Leben falsch. Als ob jemand plötzlich alles verwandelt hätte, die Regeln geändert für das Leben, ab dreißig oder so. Thirdlife Crisis: Darf man die zahllosen Möglichkeiten des Lebens einfach ignorieren und wie ungebetene Gäste vor der Tür stehen lassen? Wie kann man der Liebe vertrauen, wenn man nicht mal sich selbst vertraut? Wie konnte die Zeit nur so schnell vergehen? Und was fangen wir mit den nächsten zwei Dritteln des Lebens an?
So berührend wie lustig, ernsthaft und schlau erzählt Sarah Kuttner von der Sehnsucht und der Angst, ein eigenes, richtiges, erwachsenes Leben zu haben.
Lese-Probe zu „Wachstumsschmerz “
Wachstumsschmerz von Sarah KuttnerProlog
Ein und aus und ein und aus und ein ...
Technisch ist es nicht möglich, das Atmen zu vergessen. Blut braucht Sauerstoff, und das Zwerchfell macht irgendwas mit Unterdruck, und zack wird eingeatmet, egal ob man will oder nicht. Wobei man natürlich meistens will.
Dennoch kann ich grad nicht. Jeder Atemzug ist ein unüberwindbares Hindernis, ein Kraftakt, für den ich zu erschöpft bin. Und obwohl mein Körper im Grunde Gehorsam leistet und »ein und aus« spielt, habe ich das Gefühl, ihm dabei mehr als nötig unter die Arme greifen zu müssen, während ich deine Tasche packe.
Ich bin eine halbe Stunde um deinen Schrank herumgeschlichen, habe mich gefürchtet vor den nur noch halb gefüllten Regalen. Unvollständige Stapel mit T-Shirts, Pullovern (dick) und Pullovern (dünn) und Strickjacken (kein Platz auf der Kleiderstange dafür, zu viele Kleider von mir) und Hosen. Deine Unterwäsche ist vollständig weg. Davon kann man ja auch nie genug haben.
Kleine, viel zu flache Stapel von Kleidung. Traurig sehen sie aus, aber ordentlich! Denn hin und wieder lege ich sie ordentlich zusammen. Weil ich es ordentlich mag und weil ich den Akt mag. Deine Klamotten, die du in hilflosen Outfitwahlmomenten (wie sehr ich dich dafür liebe!) jedes Mal frustriert und unordentlich zurück in den Schrank stopfst.
... mehr
Und dann der Geruch. Ich kann doch kaum selbständig atmen, wie soll ich denn noch den Geruch deiner Wäsche ertragen? Wie durch Zauberei riecht deine Kleidung anders als meine. Vielleicht weil ganz unten in deinen Stapeln T-Shirts liegen, die wir noch nie zusammen gewaschen haben. T-Shirts, für deren Rettung du immer exotische Gründe findest. Und wenn dir die exotischen Gründe ausgehen, dann kuckst du einfach bestimmt, und ich seufze und falte alte Shirts nach ganz unten im Stapel. Und dort liegen sie jetzt und riechen so sehr nach dir, dass sowohl ich als auch mein Körper vergessen zu atmen.
Aber jetzt muss geatmet werden, denn draußen schneit es, und es sind wie letzten Dezember vollkommen unerwartet minus zehn Grad, und als du gegangen bist, waren es aber noch plus neun Grad, und es konnte ja keiner wissen, dass es so schnell so kalt wird, und du brauchst doch deine dicke Jacke und die dicken Pullover und deine Schals und Handschuhe, sonst ist dir kalt, und ich wünschte, ich könnte all deinen Winterkram übereinanderziehen, damit mir nicht so kalt wäre.
1.
Du bist immer so fixiert auf das, was noch fehlt. Und jetzt schau nicht so gequält - es sieht scheiße aus.
Gisbert zu Knyphausen, »Spieglein, Spieglein«
Das Bad ist schön und hell und stinkt.
Flo steht mit hängenden Schultern neben mir und macht seinen »Keine Ahnung«-Blick, während die große Frau nicht aufhört, über Asien zu brabbeln. »Ist ja 'ne ganz andere Welt! Aber uns war Deutschland schon immer irgendwie zu nass und kalt und dunkel und festgefahren. Unsere Tochter soll mehr sehen von der Welt als das hier!«
Wow. Sehr innovativer Standpunkt. »Das hier«, was ihre Tochter nicht mehr sehen soll, ist eine eigentlich ganz okaye Drei-Zimmer-Wohnung mit Dielen und falschem Stuck und Flügeltüren und einem großen, hellen Bad, das stinkt.
So sehr, dass ich leider gar nicht das Große Ganze sehen kann. Ich bin genervt: Gibt es für Wohnungsbesichtigungen nicht, wie für die meisten Lebenssituationen auch, eine Art moralischen Regelkatalog für das Verhalten vor und während der Besichtigung durch potentielle Nachmieter? Man sollte meinen, dass zumindest die Klassiker gelten wie: ein bisschen aufräumen, keine Schlüpfer rumliegen lassen und nicht kurz vor dem vereinbarten Termin kacken gehen, ohne zu lüften.
Aber es ist ja nicht nur das Bad. Die ganze Wohnung riecht irgendwie falsch. Nach Muff und schlechtem Atem und Dinkel.
Letzteres ist vermutlich Unsinn, ich weiß gar nicht, wie Dinkel riecht oder überhaupt aussieht, aber die große, strenge Frau und ihr ungleich luschiger Anwaltsmann sehen aus wie Leute, die irre gern Sachen mit Dinkel machen. Leider ist der Eigengeruch einer Wohnung nur geringfügig nachträglich manipulierbar. Im Grunde muss man davon ausgehen, dass sie für die gesamte Mietdauer so riecht, wie vom Vormieter übergeben, es sei denn, man experimentiert dauerhaft und exzessiv mit Duftölen und Sprays, und so sind Flo und ich nicht.
Ein weiterer Dealbreaker ist, dass die Vormieter ganz offensichtlich Idioten sind. Und der Gedanke daran, die nächsten zehn Jahre deren in der gesamten Wohnung verteiltes Drecks-Karma zu atmen, macht mir schlechte Laune.
Während ich mir, nicht besonders dezent durch den Mund atmend, im Bad anhöre, warum Hongkong in jedem Fall die bessere Wahl für Lebenkindkarrieregesundheit ist, schleicht Flo lustlos durch den Rest der Wohnung. Ich kann an seinen Augen sehen, dass er keinerlei Interesse hat. Er spielt einfach Wohnungsbesichtigung, also schlendert er rum und fasst wahllos Gegenstände an, klopft an Wände und schabt mit den Füßen auf dem Holzboden rum.
»Wenn Sie also Interesse an diesem Schmuckstück haben, würde ich Sie bitten, einfach den Verwalter zu kontaktieren. Der will dann sicher Ihre ganzen Unterlagen haben. Ich drücke Ihnen die Daumen. Wie Sie sich vorstellen können, sind Sie nicht die Einzigen, die interessiert sind!«
Ich bin zu müde für Krawall, also sage ich nur »danke « und »gerne« und »echt wunderschön« und »viel Erfolg in Asien« und ziehe einen dankbar dreinblickenden Flo am Hemdsärmel aus der Wohnung.
Auf der Straße verändert sich Flos gesamte Körperspannung. Er hat glänzende Augen und ist ganz hibbelig und freut sich offensichtlich sehr: »Auf keinen Fall, oder? Wonach hat das da gerochen? Kohl? Angst? Tod?« Ich muss lächeln. Flos fast weißblonde Haare stehen vom Kopf ab vor Glück. Er tänzelt neben mir auf dem Bürgersteig, und ich befürchte, dass er, kämen wir an einer leeren Getränkedose vorbei, sie wie im Film übermütig kicken würde.
»Und die Alte! Eigentlich sollte Amnesty International dafür sorgen, dass ihre Familie vor ihr in Sicherheit gebracht wird! Die werden vermutlich gegen ihren Willen nach Asien deportiert.«
Ich pule uns zwei ein wenig zerknüllte Zigaretten aus der zerdrückten Schachtel, zünde sie an und gebe die zerknülltere an Flo weiter. Er merkt es gar nicht, so elektrisiert ist er.
Klar, richtig beschissene Wohnungsbesichtigungen fetzen. Man darf in fremde Leben schmulen ohne diesen lähmenden Wunsch, die Wohnung unbedingt haben zu wollen. Man muss sich bei den Vormietern / Maklern / Verwaltern nicht anbiedern und einen möglichst lässigen, lustigen, reifen und liquiden Eindruck hinterlassen. Außerdem werden in schlechten Wohnungen die eigenen Ansprüche und Bedürfnisse viel klarer als in tollen Wohnungen. Es schult den Blick für das, was man nicht möchte.
Aber mir geht langsam die Luft aus. Seit einem halben Jahr suchen Flo und ich eine Wohnung. Schon seit über einem Jahr tragen wir uns mit dem Gedanken zusammenzuziehen. Es ist für uns beide das erste Mal. Wir sind ziemlich spät dran, gemessen an unserem gleichaltrigen Freundeskreis. Mit Anfang dreißig planen einige von ihnen schon das zweite Kind, wir werden fast verrückt vor Angst zusammenzuwohnen. Woher nehmen all diese Menschen nur die Sicherheit? Den Mut, einen so gewichtigen Schritt so dermaßen leichtfüßig zu gehen? Unsere Füße sind bleischwer. Wir haben nie unsere Wohnungen mit unseren Partnern geteilt. Wir haben immer allein gewohnt. Und dennoch schleicht sich bei mir das Gefühl ein, dass es Zeit ist. Ich bin keine zwanzig mehr, mir ist egal, dass andere Mütter auch schöne Söhne haben, dass da plenty more fish in the sea ist, dass die Liebe ein seltsames Spiel ist, schließlich kommt und geht sie von einem zum anderen. Bei uns ist sie gekommen und geblieben. Und nun sollte ich einen Schritt weitergehen. Mich entwickeln, wachsen. Die nächste Ebene. Frauenmagazinkram eben. Da ein Kind für Flo und mich grade überhaupt nicht in Frage kommt, bleibt nicht besonders viel Entwicklungsspielraum für unsere Beziehung, außer zusammenzuziehen. Theoretisch sieht Flo das auch so. Wir sind seit dreieinhalb Jahren zusammen. Wir finden uns toll, kennen einander, lieben einander, das ganze Programm. Es gibt für uns beide niemanden, mit dem wir uns besser einen gemeinsamen Alltag vorstellen könnten. Alles spricht dafür, also haben wir uns letzten Herbst entschieden. Wir suchen uns jetzt eine Wohnung. Was soll schon schiefgehen? Wir haben exakt die gleiche Alltagsgeschwindigkeit, verbringen eh die allermeiste Zeit beieinander, und anstatt permanent Kleidung und Laptops und Bettlektüre von A nach B zu tragen und im Kühlschrank Lebensmittel verrotten zu lassen, weil man doch wieder drei Tage am Stück in der Wohnung des anderen war, wird eben durchgezogen! Ein Kleiderschrank! Ein Kühlschrank! Es gibt mehr Gründe dafür als dagegen, und wir sagen sie uns wie ein kleines Gebet immer wieder gegenseitig auf. Die Gründe dagegen allerdings benennen wir nur, um sie strategisch zu benutzen. Denn sie geben den Pro-Gründen Rückenwind. Du bist gerne alleine ab und zu? Jeder kann sein eigenes Zimmer haben! Manchmal schläfst du auch gern allein? Easy! Zwei Betten! Du hast Angst, dass das unsere Beziehung zerstört? Quatsch! Kuck dir doch die anderen an!
Und notfalls ziehen wir halt wieder auseinander.
Dass das mit ziemlicher Sicherheit eine Zerreißprobe für eine Beziehung wäre, die elchtestähnliche Ergebnisse bringen würde, verschweigen wir einander. So etwas gibt es nämlich nicht in unserem Bekanntenkreis.
Eine Beziehung, die ein einvernehmliches Auseinanderziehen überlebt hätte.
Und so haben wir, dem dringenden Bedürfnis nach Manifestierung, Erwachsensein und Alltagsromantik folgend, einfach beschlossen, dass es das ist, was wir wollen: zusammenleben.
Die Wohnungssuche ist kräftezehrend. Obwohl wir beide könnten, habe ich für dieses Projekt die treibende, nicht unhysterische Rolle übernommen. Ich kümmere mich um alles. Surfe auf allen Immobilienportalen, telefoniere mit Maklern und Verwaltern, vereinbare am laufenden Band Besichtigungstermine und flirte, wenn nötig, mit Vormietern und potentiellen Entscheidungsträgern.
Die ersten Monate der Wohnungssuche haben noch irren Spaß gemacht. Der Immobilienmarkt, hauptsächlich über das Internet betrachtet, schien reichhaltig wie ein pralles Füllhorn. Die Preisklasse, in der wir suchen, liegt im oberen Mittelmaß, Einschränkungen sind lediglich unser Wunschbezirk und dass die Wohnung uns eben zu mindestens fünfundachtzig Prozent gefallen muss.
Wobei Flos fünfundachtzig Prozent in etwa da liegen, wo auf meiner Skala fünfundvierzig Prozent sind. Das Einzige, was ihm wirklich wichtig ist, ist ein Balkon. Ich halte das für überflüssig, da wir in Park-Nähe suchen und eh nie auf unseren jetzigen Balkonen sitzen. Ein Balkon ist meiner Meinung nach ein zu vernachlässigendes Prestigeobjekt, und außerdem reduziert er die Anzahl der Angebote um etwa fünfzig Prozent. Das ist ein Fakt. Dass Flo einen Balkon will aber eben auch. Sei's drum.
Nach ein paar Wochen trostloser Besichtigungen und nachlassender Flirtbereitschaft gegenüber Arschlochmaklern ist meine Hoffnung inzwischen im Parterre angekommen. Mir fällt auf, dass in dem scheinbar berstenden Füllhorn immer die gleichen schwervermittelbaren Wohnungen stecken, deren okaye Fotos oft über Erdgeschosslage, schlimm geflieste Bäder ohne Wannen, winzige Küchen und schlecht geschnittene Räume hinwegtäuschen. Gleichzeitig bin ich nicht gewillt, in einen anderen Bezirk zu ziehen oder sonstige Abstriche zu machen. Ich bin zweiunddreißig, ich möchte in den nächsten zehn Jahren nicht noch einmal umziehen, in dieser Wohnung soll zumindest ein bisschen altgeworden werden, und das geht nicht, wenn man mit dem verklärten und anspruchsarmen Auge eines Kunststudenten sucht.
Flo kommen meine hohen Ansprüche und die damit erschwerten Bedingungen für einen baldigen Wohnungsfund entgegen. Obwohl unausgesprochen, hadert er viel mehr als ich mit diesem großen Schritt. In Flo wohnt ein ewig Sechzehnjähriger, der dem Erwachsensein und den damit verbundenen Veränderungen zwar mit Interesse, aber auch mit Unbehagen gegenübersteht. Obwohl im Grunde nichts gegen das Zusammenziehen spricht, löst der Gedanke daran regelmäßig Panik in ihm aus. Auch wenn er das nicht zugibt, kann ich es in seinen Augen sehen. In unzähligen Gesprächen hat er immer wieder beteuert, dass er bereit ist, dass er sich freut, dass er will, dass der Gedanke an ein gemeinsames Heim nur ungewohnt, nicht aber angsteinflößend sei. Doch sobald eine Besichtigung ansteht, wird mein lauter, lustiger und mutiger Freund ganz seltsam starr. Die Furcht, dass es diesmal die richtige Wohnung sein könnte und somit sein gewohntes Leben ein jähes Ende nehmen könnte, lähmt ihn. Aber nachdem ich ihm immer wieder verschiedene Notausgänge angeboten habe, deren Nutzung er wiederholt ausgeschlagen hat, sehe ich es als erzieherische Maßnahme, die Suche durchzuziehen und Flos Sorgen zu ignorieren. Zumal in meinem Kopf kein Platz für seine Ängste ist, meine nehmen genug Synapsen für sich in Anspruch. Was ich brauche, ist ein Gefühl von Sicherheit, die Bestätigung, dass wir das Richtige machen. Wenn Flo mir das nicht geben kann, muss ich damit leben, aber ich werde nicht auch noch seine Ängste zu meinen hereinlassen, damit sie gemeinsam runter zum Spielen gehen können.
»Noch schnell 'nen Kaffee irgendwo?« Flo möchte die misslungene Besichtigung noch ein bisschen feiern, seine Erleichterung zu verstecken fällt ihm schwer. So ist das bei Flo. All seine Gefühle sind sofort sichtbar. Liegen auf seinem Gesicht wie ein teurer, schimmernder Puder. Eine der seltensten und vor allem schönsten menschlichen Eigenschaften, die ich kenne. Ich kann sogar kurz meine Enttäuschung vergessen und verliebt sein.
»Ich kann nicht. Ich muss jetzt zu diesem Casting.«
»Ah, der Drecksfilm?«
»Der Drecksfilm!«
»Dann viel Glück! Du weißt, ich werde dich immer lieben! Egal, wie dreckig das Drehbuch ist, richtig?«
»Richtig.«
»Es sei denn, es handelt sich um einen Sat.1-Zweiteiler mit Veronica Ferres, dann müssen wir uns trennen. Aber das verstehst du, stimmt's?«
»Absolut.«
Ich küsse Flo auf den Mund, versuche mit wenig Erfolg, seine aufgeregten Haare zu glätten, und küsse ihn noch mal.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Und dann der Geruch. Ich kann doch kaum selbständig atmen, wie soll ich denn noch den Geruch deiner Wäsche ertragen? Wie durch Zauberei riecht deine Kleidung anders als meine. Vielleicht weil ganz unten in deinen Stapeln T-Shirts liegen, die wir noch nie zusammen gewaschen haben. T-Shirts, für deren Rettung du immer exotische Gründe findest. Und wenn dir die exotischen Gründe ausgehen, dann kuckst du einfach bestimmt, und ich seufze und falte alte Shirts nach ganz unten im Stapel. Und dort liegen sie jetzt und riechen so sehr nach dir, dass sowohl ich als auch mein Körper vergessen zu atmen.
Aber jetzt muss geatmet werden, denn draußen schneit es, und es sind wie letzten Dezember vollkommen unerwartet minus zehn Grad, und als du gegangen bist, waren es aber noch plus neun Grad, und es konnte ja keiner wissen, dass es so schnell so kalt wird, und du brauchst doch deine dicke Jacke und die dicken Pullover und deine Schals und Handschuhe, sonst ist dir kalt, und ich wünschte, ich könnte all deinen Winterkram übereinanderziehen, damit mir nicht so kalt wäre.
1.
Du bist immer so fixiert auf das, was noch fehlt. Und jetzt schau nicht so gequält - es sieht scheiße aus.
Gisbert zu Knyphausen, »Spieglein, Spieglein«
Das Bad ist schön und hell und stinkt.
Flo steht mit hängenden Schultern neben mir und macht seinen »Keine Ahnung«-Blick, während die große Frau nicht aufhört, über Asien zu brabbeln. »Ist ja 'ne ganz andere Welt! Aber uns war Deutschland schon immer irgendwie zu nass und kalt und dunkel und festgefahren. Unsere Tochter soll mehr sehen von der Welt als das hier!«
Wow. Sehr innovativer Standpunkt. »Das hier«, was ihre Tochter nicht mehr sehen soll, ist eine eigentlich ganz okaye Drei-Zimmer-Wohnung mit Dielen und falschem Stuck und Flügeltüren und einem großen, hellen Bad, das stinkt.
So sehr, dass ich leider gar nicht das Große Ganze sehen kann. Ich bin genervt: Gibt es für Wohnungsbesichtigungen nicht, wie für die meisten Lebenssituationen auch, eine Art moralischen Regelkatalog für das Verhalten vor und während der Besichtigung durch potentielle Nachmieter? Man sollte meinen, dass zumindest die Klassiker gelten wie: ein bisschen aufräumen, keine Schlüpfer rumliegen lassen und nicht kurz vor dem vereinbarten Termin kacken gehen, ohne zu lüften.
Aber es ist ja nicht nur das Bad. Die ganze Wohnung riecht irgendwie falsch. Nach Muff und schlechtem Atem und Dinkel.
Letzteres ist vermutlich Unsinn, ich weiß gar nicht, wie Dinkel riecht oder überhaupt aussieht, aber die große, strenge Frau und ihr ungleich luschiger Anwaltsmann sehen aus wie Leute, die irre gern Sachen mit Dinkel machen. Leider ist der Eigengeruch einer Wohnung nur geringfügig nachträglich manipulierbar. Im Grunde muss man davon ausgehen, dass sie für die gesamte Mietdauer so riecht, wie vom Vormieter übergeben, es sei denn, man experimentiert dauerhaft und exzessiv mit Duftölen und Sprays, und so sind Flo und ich nicht.
Ein weiterer Dealbreaker ist, dass die Vormieter ganz offensichtlich Idioten sind. Und der Gedanke daran, die nächsten zehn Jahre deren in der gesamten Wohnung verteiltes Drecks-Karma zu atmen, macht mir schlechte Laune.
Während ich mir, nicht besonders dezent durch den Mund atmend, im Bad anhöre, warum Hongkong in jedem Fall die bessere Wahl für Lebenkindkarrieregesundheit ist, schleicht Flo lustlos durch den Rest der Wohnung. Ich kann an seinen Augen sehen, dass er keinerlei Interesse hat. Er spielt einfach Wohnungsbesichtigung, also schlendert er rum und fasst wahllos Gegenstände an, klopft an Wände und schabt mit den Füßen auf dem Holzboden rum.
»Wenn Sie also Interesse an diesem Schmuckstück haben, würde ich Sie bitten, einfach den Verwalter zu kontaktieren. Der will dann sicher Ihre ganzen Unterlagen haben. Ich drücke Ihnen die Daumen. Wie Sie sich vorstellen können, sind Sie nicht die Einzigen, die interessiert sind!«
Ich bin zu müde für Krawall, also sage ich nur »danke « und »gerne« und »echt wunderschön« und »viel Erfolg in Asien« und ziehe einen dankbar dreinblickenden Flo am Hemdsärmel aus der Wohnung.
Auf der Straße verändert sich Flos gesamte Körperspannung. Er hat glänzende Augen und ist ganz hibbelig und freut sich offensichtlich sehr: »Auf keinen Fall, oder? Wonach hat das da gerochen? Kohl? Angst? Tod?« Ich muss lächeln. Flos fast weißblonde Haare stehen vom Kopf ab vor Glück. Er tänzelt neben mir auf dem Bürgersteig, und ich befürchte, dass er, kämen wir an einer leeren Getränkedose vorbei, sie wie im Film übermütig kicken würde.
»Und die Alte! Eigentlich sollte Amnesty International dafür sorgen, dass ihre Familie vor ihr in Sicherheit gebracht wird! Die werden vermutlich gegen ihren Willen nach Asien deportiert.«
Ich pule uns zwei ein wenig zerknüllte Zigaretten aus der zerdrückten Schachtel, zünde sie an und gebe die zerknülltere an Flo weiter. Er merkt es gar nicht, so elektrisiert ist er.
Klar, richtig beschissene Wohnungsbesichtigungen fetzen. Man darf in fremde Leben schmulen ohne diesen lähmenden Wunsch, die Wohnung unbedingt haben zu wollen. Man muss sich bei den Vormietern / Maklern / Verwaltern nicht anbiedern und einen möglichst lässigen, lustigen, reifen und liquiden Eindruck hinterlassen. Außerdem werden in schlechten Wohnungen die eigenen Ansprüche und Bedürfnisse viel klarer als in tollen Wohnungen. Es schult den Blick für das, was man nicht möchte.
Aber mir geht langsam die Luft aus. Seit einem halben Jahr suchen Flo und ich eine Wohnung. Schon seit über einem Jahr tragen wir uns mit dem Gedanken zusammenzuziehen. Es ist für uns beide das erste Mal. Wir sind ziemlich spät dran, gemessen an unserem gleichaltrigen Freundeskreis. Mit Anfang dreißig planen einige von ihnen schon das zweite Kind, wir werden fast verrückt vor Angst zusammenzuwohnen. Woher nehmen all diese Menschen nur die Sicherheit? Den Mut, einen so gewichtigen Schritt so dermaßen leichtfüßig zu gehen? Unsere Füße sind bleischwer. Wir haben nie unsere Wohnungen mit unseren Partnern geteilt. Wir haben immer allein gewohnt. Und dennoch schleicht sich bei mir das Gefühl ein, dass es Zeit ist. Ich bin keine zwanzig mehr, mir ist egal, dass andere Mütter auch schöne Söhne haben, dass da plenty more fish in the sea ist, dass die Liebe ein seltsames Spiel ist, schließlich kommt und geht sie von einem zum anderen. Bei uns ist sie gekommen und geblieben. Und nun sollte ich einen Schritt weitergehen. Mich entwickeln, wachsen. Die nächste Ebene. Frauenmagazinkram eben. Da ein Kind für Flo und mich grade überhaupt nicht in Frage kommt, bleibt nicht besonders viel Entwicklungsspielraum für unsere Beziehung, außer zusammenzuziehen. Theoretisch sieht Flo das auch so. Wir sind seit dreieinhalb Jahren zusammen. Wir finden uns toll, kennen einander, lieben einander, das ganze Programm. Es gibt für uns beide niemanden, mit dem wir uns besser einen gemeinsamen Alltag vorstellen könnten. Alles spricht dafür, also haben wir uns letzten Herbst entschieden. Wir suchen uns jetzt eine Wohnung. Was soll schon schiefgehen? Wir haben exakt die gleiche Alltagsgeschwindigkeit, verbringen eh die allermeiste Zeit beieinander, und anstatt permanent Kleidung und Laptops und Bettlektüre von A nach B zu tragen und im Kühlschrank Lebensmittel verrotten zu lassen, weil man doch wieder drei Tage am Stück in der Wohnung des anderen war, wird eben durchgezogen! Ein Kleiderschrank! Ein Kühlschrank! Es gibt mehr Gründe dafür als dagegen, und wir sagen sie uns wie ein kleines Gebet immer wieder gegenseitig auf. Die Gründe dagegen allerdings benennen wir nur, um sie strategisch zu benutzen. Denn sie geben den Pro-Gründen Rückenwind. Du bist gerne alleine ab und zu? Jeder kann sein eigenes Zimmer haben! Manchmal schläfst du auch gern allein? Easy! Zwei Betten! Du hast Angst, dass das unsere Beziehung zerstört? Quatsch! Kuck dir doch die anderen an!
Und notfalls ziehen wir halt wieder auseinander.
Dass das mit ziemlicher Sicherheit eine Zerreißprobe für eine Beziehung wäre, die elchtestähnliche Ergebnisse bringen würde, verschweigen wir einander. So etwas gibt es nämlich nicht in unserem Bekanntenkreis.
Eine Beziehung, die ein einvernehmliches Auseinanderziehen überlebt hätte.
Und so haben wir, dem dringenden Bedürfnis nach Manifestierung, Erwachsensein und Alltagsromantik folgend, einfach beschlossen, dass es das ist, was wir wollen: zusammenleben.
Die Wohnungssuche ist kräftezehrend. Obwohl wir beide könnten, habe ich für dieses Projekt die treibende, nicht unhysterische Rolle übernommen. Ich kümmere mich um alles. Surfe auf allen Immobilienportalen, telefoniere mit Maklern und Verwaltern, vereinbare am laufenden Band Besichtigungstermine und flirte, wenn nötig, mit Vormietern und potentiellen Entscheidungsträgern.
Die ersten Monate der Wohnungssuche haben noch irren Spaß gemacht. Der Immobilienmarkt, hauptsächlich über das Internet betrachtet, schien reichhaltig wie ein pralles Füllhorn. Die Preisklasse, in der wir suchen, liegt im oberen Mittelmaß, Einschränkungen sind lediglich unser Wunschbezirk und dass die Wohnung uns eben zu mindestens fünfundachtzig Prozent gefallen muss.
Wobei Flos fünfundachtzig Prozent in etwa da liegen, wo auf meiner Skala fünfundvierzig Prozent sind. Das Einzige, was ihm wirklich wichtig ist, ist ein Balkon. Ich halte das für überflüssig, da wir in Park-Nähe suchen und eh nie auf unseren jetzigen Balkonen sitzen. Ein Balkon ist meiner Meinung nach ein zu vernachlässigendes Prestigeobjekt, und außerdem reduziert er die Anzahl der Angebote um etwa fünfzig Prozent. Das ist ein Fakt. Dass Flo einen Balkon will aber eben auch. Sei's drum.
Nach ein paar Wochen trostloser Besichtigungen und nachlassender Flirtbereitschaft gegenüber Arschlochmaklern ist meine Hoffnung inzwischen im Parterre angekommen. Mir fällt auf, dass in dem scheinbar berstenden Füllhorn immer die gleichen schwervermittelbaren Wohnungen stecken, deren okaye Fotos oft über Erdgeschosslage, schlimm geflieste Bäder ohne Wannen, winzige Küchen und schlecht geschnittene Räume hinwegtäuschen. Gleichzeitig bin ich nicht gewillt, in einen anderen Bezirk zu ziehen oder sonstige Abstriche zu machen. Ich bin zweiunddreißig, ich möchte in den nächsten zehn Jahren nicht noch einmal umziehen, in dieser Wohnung soll zumindest ein bisschen altgeworden werden, und das geht nicht, wenn man mit dem verklärten und anspruchsarmen Auge eines Kunststudenten sucht.
Flo kommen meine hohen Ansprüche und die damit erschwerten Bedingungen für einen baldigen Wohnungsfund entgegen. Obwohl unausgesprochen, hadert er viel mehr als ich mit diesem großen Schritt. In Flo wohnt ein ewig Sechzehnjähriger, der dem Erwachsensein und den damit verbundenen Veränderungen zwar mit Interesse, aber auch mit Unbehagen gegenübersteht. Obwohl im Grunde nichts gegen das Zusammenziehen spricht, löst der Gedanke daran regelmäßig Panik in ihm aus. Auch wenn er das nicht zugibt, kann ich es in seinen Augen sehen. In unzähligen Gesprächen hat er immer wieder beteuert, dass er bereit ist, dass er sich freut, dass er will, dass der Gedanke an ein gemeinsames Heim nur ungewohnt, nicht aber angsteinflößend sei. Doch sobald eine Besichtigung ansteht, wird mein lauter, lustiger und mutiger Freund ganz seltsam starr. Die Furcht, dass es diesmal die richtige Wohnung sein könnte und somit sein gewohntes Leben ein jähes Ende nehmen könnte, lähmt ihn. Aber nachdem ich ihm immer wieder verschiedene Notausgänge angeboten habe, deren Nutzung er wiederholt ausgeschlagen hat, sehe ich es als erzieherische Maßnahme, die Suche durchzuziehen und Flos Sorgen zu ignorieren. Zumal in meinem Kopf kein Platz für seine Ängste ist, meine nehmen genug Synapsen für sich in Anspruch. Was ich brauche, ist ein Gefühl von Sicherheit, die Bestätigung, dass wir das Richtige machen. Wenn Flo mir das nicht geben kann, muss ich damit leben, aber ich werde nicht auch noch seine Ängste zu meinen hereinlassen, damit sie gemeinsam runter zum Spielen gehen können.
»Noch schnell 'nen Kaffee irgendwo?« Flo möchte die misslungene Besichtigung noch ein bisschen feiern, seine Erleichterung zu verstecken fällt ihm schwer. So ist das bei Flo. All seine Gefühle sind sofort sichtbar. Liegen auf seinem Gesicht wie ein teurer, schimmernder Puder. Eine der seltensten und vor allem schönsten menschlichen Eigenschaften, die ich kenne. Ich kann sogar kurz meine Enttäuschung vergessen und verliebt sein.
»Ich kann nicht. Ich muss jetzt zu diesem Casting.«
»Ah, der Drecksfilm?«
»Der Drecksfilm!«
»Dann viel Glück! Du weißt, ich werde dich immer lieben! Egal, wie dreckig das Drehbuch ist, richtig?«
»Richtig.«
»Es sei denn, es handelt sich um einen Sat.1-Zweiteiler mit Veronica Ferres, dann müssen wir uns trennen. Aber das verstehst du, stimmt's?«
»Absolut.«
Ich küsse Flo auf den Mund, versuche mit wenig Erfolg, seine aufgeregten Haare zu glätten, und küsse ihn noch mal.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Sarah Kuttner
Sarah Kuttner wurde 1979 in Berlin geboren und arbeitet als Moderatorin. Sie wurde mit ihren Sendungen »Sarah Kuttner - Die Show« (VIVA) und »Kuttner.« (MTV) bekannt und arbeitete mehrfach für die ARD. Bei zdf.neo hat sie das Großstadtmagazin »Bambule« und die Talkshow »Kuttner plus Zwei« moderiert. Seit 2016 produziert und moderiert sie die monatliche Veranstaltungsreihe »Kuttners schöne Nerdnacht« und seit 2017 moderiert sie gemeinsam mit Stefan Niggemeier den Podcast »Das kleine Fernsehballett« auf Deezer. Ihre Kolumnen für die Süddeutsche Zeitung und den Musikexpress wurden im Fischer Taschenbuch Verlag veröffentlicht. Ihr erster Roman »Mängelexemplar« erschien 2009 und stand wochenlang auf der Bestsellerliste. Danach erschienen die Romane »Wachstumsschmerz« (2011), »180 Grad Meer« (2015) und »Kurt« (2019). Sarah Kuttner lebt in Berlin.
Bibliographische Angaben
- Autor: Sarah Kuttner
- 2013, 1. Auflage, 288 Seiten, Maße: 9 x 14,4 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596512913
- ISBN-13: 9783596512911
- Erscheinungsdatum: 26.09.2013
Pressezitat
Nach ihrem Debütroman 'Mängelexemplar' verhandelt Sarah Kuttner ebenso charmant holprig den Problemfall Erwachsensein. Glamour
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