Was niemals geschah / Yngvar Stubø Bd.2
Talkmasterin wird ermordet aufgefunden. Wenig später wird die Führerin einer rechtspopulistischen Partei getötet. Bei seinen Ermittlungen kommt Kommissar Yngvar Stubo der Verdacht, dass er es mit einem biblischen Rächer zu tun hat. Zusammen mit der...
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Talkmasterin wird ermordet aufgefunden. Wenig später wird die Führerin einer rechtspopulistischen Partei getötet. Bei seinen Ermittlungen kommt Kommissar Yngvar Stubo der Verdacht, dass er es mit einem biblischen Rächer zu tun hat. Zusammen mit der Psychologin Inger Johanne Vik macht er sich an die Arbeit und bald blickt er tief in die grausamen Abgründe menschlicher Eitelkeit.
Subtile Hochspannung!
Wasniemals geschah von Anne Holt
LESEPROBE
Gleich im Osten Oslos, dort, wo die Hügel zum Bahnhof am Nitelvabflachen, waren die Autos im Laufe der Nacht eingefroren. Die Leute, die zuFuß unterwegs waren, zogen die Mützen über die Ohren und banden sich die Schalsfester um den Hals, während sie zur Bushaltestelle stapften, die einenschweinekalten Kilometer entfernt an der Hauptstraße lag. Die Häuser in derkleinen Sackgasse hatten sich vor dem Frost verschlossen und die Vorhängevorgezogen, Schneewehen versperrten die Zufahrten. Bei einer alten Villa ganzhinten am Wald hingen meterlange Eiszapfen wie bevorstehende Katastrophen anden Dachvorsprüngen über dem Eingang.
Das Haus war weiß.
Hinter der Haustür mit Bleiglas und gegossener Messingklinke, inks am Ende derungewöhnlich großen Diele, in einem von minimalistischer Kunst undüberreichverzierten Möbeln geprägten Arbeitszimmer, saß hinter einemmajestätischen Schreibtisch zwischen Kartons voller ungeöffneter Briefe eineTote. Ihr Kopf war in den Nacken gekippt, ihre Unterarme ruhten auf denArmlehnen. Ein breiter Streifen aus geronnenem Blut zog sich von der Oberlippeüber ihren entblößten Hals hinab, teilte sich bei den Brüsten und floß übereinem beeindruckend festen Bauch wieder zusammen. Auch die Nase war blutig. ImLicht der Deckenlampe schien sie auf das düstere Loch zu zeigen, das früher einMund gewesen war. Nur ein Stumpf war noch von der Zunge übrig, die offenbar mitbehutsamer Hand entfernt worden war, mit scharfem, sauberen Schnitt.
Es war warm im Zimmer, fast schon heiß.
Sigmund Berli, Kommissar bei der Kriminalpolizei, schaltete endlich seinMobiltelefon aus und schaute aus zusammengekniffenen Augen auf einDigitalthermometer, das gleich vor dem Panoramafenster nach Südosten angebrachtwar. Draußen ging es auf sechsundzwanzig Grad unter Null zu.
»Komisch, daß solche Fensterscheiben nicht platzen«, sagte er und klopftevorsichtig gegen das Glas. »Siebenundvierzig Grad Unterschied zwischen drinnenund draußen. Schon seltsam.«
Niemand schien ihm zuzuhören.
Die Tote war nackt unter dem seidenen Schlafrock mit goldenem Revers. DerGürtel lag auf dem Boden. Ein jüngerer Polizist vom Polizeidistrikt Romerikewich beim Anblick der gelben Schnur einen Schritt zurück.
»Verdammt«, sagte er und keuchte auf, ehe er sich verlegen mit der Hand überden Kopf fuhr. »Ich dachte schon, das ist eine Schlange.«
Der fehlende Körperteil der Frau lag kunstfertig in Papier verpackt vor ihr aufder Schreibunterlage. Die Spitze lugte aus dem roten Gehäuse heraus. Einefette, exotische Pflanze; bleiches Fleisch mit noch bleicherenGeschmackspapillen und blauroten Spuren von Rotwein in Furchen und Falten. Einhalbleeres Glas balancierte auf einem Papierstapel am Tischrand. Nirgendwo wareine Flasche zu sehen.
»Können wir nicht wenigstens den Busen bedecken«, sagte der Oberwachtmeisterund räusperte sich.
»Es ist zu übel, daß sie hier so«
»Damit warten wir noch«, sagte Sigmund Berli und steckte das Mobiltelefon inseine Brusttasche.
Er kniete sich auf den Boden und betrachtete die Tote aus zusammengekniffenenAugen.
»Da geb ich mich nicht geschlagen«, murmelte er. »Das wird Yngvarinteressieren. Und seine Freundin natürlich auch.«
»Was?«
»Nichts. Wissen wir etwas über den Zeitpunkt?«
Berli unterdrückte ein Niesen. Die Stille im Raum rauschte in seinen Ohren,steif erhob er sich und wischte sich nicht vorhandenen Staub von der Hose. Beider Tür zur Diele stand ein uniformierter Kollege. Er hatte die Hände im Rückenverschränkt, verlagerte ruhelos immer wieder sein Gewicht von einem Fuß auf denanderen und starrte von der Leiche fort, aus dem Fenster. Eine Tanne war nochimmer weihnachtlich geschmückt. Hier und dort waren die Lichter zu ahnen, anStellen, die der Tag nicht ganz erreichte, unter Zweigen und festem Schnee.
»Weiß hier eigentlich irgendwer irgendwas?« fragte Berli gereizt. »Habt ihrnicht mal einen vorläufigen Todeszeitpunkt?«
»Gestern abend«, sagte endlich der andere. »Aber es ist zu früh«
»um das eindeutig zu sagen«, vollendete Sigmund Berli. »Gestern abend.Reichlich vage also. Wo sind«
»Die sind dienstags nie hier. Ihre Familie, meine ich. Ihr Mann und ihresechsjährige Tochter. Falls es das ist, was Sie«
Der Oberwachtmeister lächelte unsicher.
»Ja«, sagte Berli und ging halb um den Schreibtisch herum.
»Die Zunge«, sagte er dann und betrachtete das Papiergehäuse auf demSchreibtisch aus zusammengekniffenen Augen. »War sie noch am Leben, als dierausgeschnitten worden ist?«
»Weiß nicht«, sagte der Oberwachtmeister. »Ich hab hier die Unterlagen für Sie,und da die Untersuchungen jetzt beendet sind, und alle Leute auf der Wachesitzen und Sie vielleicht«
»Ja«, sagte Berli, aber der Oberwachtmeister wußte nicht so recht, wozu er daseine Zustimmung gab. »Wer hat sie gefunden, wo die Familie doch aushäusigist?«
»Der Hausgehilfe. Ein Philippino, der jeden Mittwoch um sechs Uhr morgenskommt. Er fängt hier unten an, sagt er, und arbeitet sich dann nach oben vor,um die Leute nicht unnötig früh zu wecken. Die Schlafzimmer liegen oben. Imersten Stock.«
»Ja«, wiederholte Berli gleichgültig. »Jeden Dienstag weg?«
»Das hat sie doch erzählt«, sagte der Oberwachtmeister. »In Interviews und so.Daß sie Mann und Kind jeden Dienstag aus dem Haus schickt. Und daß sie alleBriefe selbst liest. Daß es für sie eine Ehrensache ist«
»Ich kanns mir lebhaft vorstellen«, murmelte Berli und tippte mit einem Kugelschreibereinen Karton voller Briefe an. »Es ist doch einfach unmöglich, daß ein einzigerMensch das alles durchsieht.«
Wieder musterte er die Tote.
»Sic transit gloria mundi«, sagte er und schaute in ihren verstümmeltenSchlund. »Jetzt nutzt ihre Prominenz ihr ja nicht mehr viel.«
»Wir haben schon eine Menge Zeitungsausschnitte gesammelt, und alles liegtbereit«
»Ja, ja.«
Berli winkte ab. Wieder wurde es auffällig still. Kein Mensch war von derStraße her zu hören, keine Uhr tickte. Der Com- puter war ausgeschaltet. EinRadio auf einer Vitrine neben der Tür starrte ihn stumm mit einem einsamenroten Auge an. Auf dem breiten Kaminsims balancierte eine Kanadagans in steifemFlug. Der eiskalte Tag zeichnete ein farbloses Viereck auf den Teppich vor demSüdostfenster. Sigmund Berli spürte das Blut gegen seine Trommelfelle schlagen.In dem unangenehmen Gefühl, hier in einem Mausoleum zu stehen, fuhr er sich mitdem Zeigefinger über den Nasenrücken. Er wußte nicht so recht, ob er irritiertoder verlegen war. Die Frau saß noch immer mit gespreizten Beinen, bloßenBrüsten und zungenlos klaffendem Rachen in ihrem Sessel. Die Schändung schienihr nicht nur ein wichtiges Organ geraubt zu haben, sondern überhaupt jeglicheMenschlichkeit.
»Ihr seid doch immer sauer, wenn ihr zu spät dazugeholt werdet«, sagte derOberwachtmeister schließlich. »Also haben wir alles so gelassen, wie es war,auch wenn wir, wie gesagt, mit fast allem fertig«
»Wir werden nie fertig«, sagte Berli. »Aber danke. Sehr umsichtig von euch. Vorallem, wo es um diese Dame geht. Weiß die Presse schon«
»Noch nicht. Wir haben den Philippino mitgenommen und werden ihn vernehmen, solange es irgend geht. Und wir haben uns hier so vorsichtig bewegt, wie wir nurkonnten. Spurensicherung ist ja wichtig, vor allem bei diesem Schnee und so,und da machen die Nachbarn sich sicher ihre Gedanken. Aber bisher hat wohl nochkeiner die Zeitungen alarmiert. Bestimmt sind alle viel zu sehr mit der neuenPrinzessin beschäftigt.«
Sein rasches Lächeln schlug in Ernst um:
»Aber natürlich Fiona in Fahrt höchstpersönlich ist er- mordet worden. Inihrem eigenen Haus, und dann auch noch so«
»So«, sagte Berli. »Erwürgt also?«
»Das meint der Arzt. Keine Stichwunden, kein Schuß. Spuren am Hals, das sehenSie ja«
»Mmm. Aber seht euch doch das hier an.«
Berli musterte die Zunge auf dem Schreibtisch. Der Papierbogen war wirklichraffiniert gefaltet, wie eine stumpfe Vase, mit einer Öffnung für dieZungenspitze und eleganten symmetrischen Flügeln.
»Sieht fast aus wie ein Blütenblatt«, sagte der jüngere Polizist und rümpftedie Nase. »Mit einem ekelhaften Mittelpunkt. Ziemlich«
»Auffällig«, murmelte Berli. »Der Betreffende muß das schon vorher gemachthaben. Kann mir nicht vorstellen, daß irgendwer zuerst so einen Mord durchführtund sich dann Zeit für Origami läßt.«
»Ich glaube nicht, daß hier Verdacht auf ein Sexualverbrechen vorliegt.«
»Origami«, wiederholte Sigmund Berli. »Japanische Papierfaltekunst. Aber dashier«
»Was?«
Berli beugte sich noch tiefer über das abgeschnittene Organ. DerOberwachtmeister tat es ihm nach. Die beiden Polizisten verharrten in dieserHaltung, Schädel an Schädel, mit Atemzügen, die bald denselben Rhythmusannahmen.
»Die ist nicht einfach abgeschnitten worden«, sagte Berli endlich und richtetesich wieder auf. »Die Spitze ist gespalten. Irgendwer hat sie eingeschnitten.«
Der Uniformierte an der Tür wandte sich ihnen zu, zum ersten Mal, seit SigmundBerli am Tatort eingetroffen war. Sein Gesicht war nackt, wie das einesTeenagers, mit Pickeln und einer Zunge, die wieder und wieder über die Lippenfuhr, während sein Adamsapfel über dem engen Kragen auf und ab hüpfte.
»Kann ich jetzt gehen«, fragte er kleinlaut und jämmerlich. »Kann ich jetztgehen?«
© Piper Verlag
Übersetzung: Gabriele Haefs
Gabriele Haefs, geboren 1953 in Wachtendonk, Studium der Volkskunde, Sprachwissenschaft, Keltischen Sprachen und Skandinavistik. Seit 1983 ist sie als Übersetzerin von unter anderem Jostein Gaarder, Anne Holt und Ingvar Ambjörnsen tätig. Für ihre Arbeit wurde sie mit dem Deutschen und dem Österreichischen Jugendbuchpreis, dem Akademika-Preis der Universität Oslo und dem Willy Brandt-Preis ausgezeichnet. Sie ist Ritterin 1. Klasse des Norwegischen St. Olavsordens.
- Autor: Anne Holt
- 2009, 6. Aufl., 384 Seiten, Maße: 12,3 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Gabriele Haefs
- Verlag: Piper
- ISBN-10: 3492249310
- ISBN-13: 9783492249317
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