Was vom Leben übrig bleibt, kann alles weg
Fundstücke eines Wohnungsauflösers
»Man weiß nie, was man findet. Das ist das Spannende an dem Job ...«Seit dreißig Jahren räumt Hans-Jürgen Heinicke Wohnungen und Häuser aus. Dabei findet er Schönes und Hässliches, Anrührendes und Kurioses und manchmal auch Kostbares. Mit feinem Gespür für...
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Produktinformationen zu „Was vom Leben übrig bleibt, kann alles weg “
Klappentext zu „Was vom Leben übrig bleibt, kann alles weg “
»Man weiß nie, was man findet. Das ist das Spannende an dem Job ...«Seit dreißig Jahren räumt Hans-Jürgen Heinicke Wohnungen und Häuser aus. Dabei findet er Schönes und Hässliches, Anrührendes und Kurioses und manchmal auch Kostbares. Mit feinem Gespür für die Schicksale hinter den Dingen sammelt er Geschichten, die nur das echte Leben schreiben kann.»Auf den ersten Blick mag es nicht so scheinen, doch Wohnungsräumungen sind eine recht intime Angelegenheit. Man dringt in das Leben wildfremder Menschen ein, auch wenn es die nicht mehr gibt, zumindest nicht an diesem Ort. Wenn man mit offenen Augen durch die Zimmer geht, erfährt man sehr viel über die Menschen, die darin gelebt haben. Obwohl ich den Job schon lange mache, ist das für mich immer noch aufregend.«
Lese-Probe zu „Was vom Leben übrig bleibt, kann alles weg “
Was vom Leben übrig bleibt, kann alles weg von Hans-Jürgen HeinickeVerlassenschaften
Ich bringe es gleich auf den Punkt: Das Leben ist endlich!
Das hören die meisten nicht gern, aber so ist es nun einmal. Und für mich ist das auch gar nicht schlecht - im Prinzip.
Im Leben geht es letztlich immer ums Prinzip. Beim Sterben allerdings auch. Im Prinzip ist es nämlich ziemlich blöd, wenn jemand abtritt. Für denjenigen, den der Sensenmann holt, noch am wenigsten, er bekommt davon nichts mehr mit. Für seine Angehörigen und für alle, denen er zu Lebzeiten etwas bedeutete, aber schon.
Andererseits: Würde niemand mehr sterben müssen, nur mal rein theoretisch, die Welt wäre ein noch viel chaotischerer Ort, als sie das ohnehin schon ist. Ganz abgesehen davon, dass ich mir dann etwas anderes suchen müsste, womit ich meine Brötchen verdiene. Und nicht nur ich, vom Tod leben eine Menge Leute, die meisten nicht einmal schlecht. Sargfabrikanten, Bestattungsunternehmer, Steinmetze, Friedhofsgärtner, Leichenträger, Blumenverkäufer. Nicht zu vergessen all die Geistlichen, die den Dahingeschiedenen ihren Segen mit auf den letzten Weg geben - wohin der sie auch führen mag, das weiß ja niemand -, denn die machen das genauso wenig für lau.
Auch ich komme erst ins Spiel, nachdem jemand sein Leben bereits ausgehaucht hat, in der Regel jedenfalls. Dann nämlich, wenn eine Wohnung ihren Mieter ans Jenseits verloren hat - oder ihren Besitzer, falls der seine vier Wände selbst bewohnte. Es kann sich aber ebenso gut um ein Haus handeln oder um eine Firma. Unterm Strich läuft es auf dasselbe hinaus, bis auf den Unterschied, dass die Aufträge mal kleiner, mal größer sind. So oder so - auf jeden Fall bedeutet es Arbeit. Aber darüber würde ich mich niemals beklagen: Arbeit adelt den Menschen. Das mag nicht
... mehr
jeder so sehen - ich schon. Außerdem, irgendjemand muss den Kram schließlich erledigen.
Mit Kram meine ich das, was üblicherweise als Haushaltsauflösung bezeichnet wird. Manche sagen auch Entrümpeln dazu. Das klingt nicht ganz so vornehm, beschreibt den Vorgang aber kaum schlechter - in manchen Fällen sogar treffender. Dabei denke ich übrigens keineswegs an zugemüllte Messie-Wohnungen. Dazu könnte ich sowieso nichts sagen, da mir solche bislang nicht untergekommen sind. Nein, ich rede vom Durchschnitt, vom Alltäglichen, von der Wohnung oder dem Haus eines gewöhnlichen Nachbarn. Wobei dieses »gewöhnlich« relativ ist und sich als viel dehnbarerer Begriff herausstellen kann, als man vielleicht vermutet. Aber das merkt man eben erst, wenn man den Job macht, den ich mache - und das sieht, was ich dabei zu sehen bekomme.
Sehen ist überhaupt ein ganz wichtiger Punkt bei meiner Arbeit. Um in einem Haufen von alltäglichen Gegenständen das Besondere und manchmal auch Wertvolle aufzuspüren, muss man richtig hingucken. Man braucht einen ganz bestimmten Blick und das richtige Gespür. So etwas vermittelt keine Schule und keine Universität, das muss man sich selbst erarbeiten. Und bis man so weit ist, hat man viele Kubikmeter Müll entsorgt.
Das ist furchtbar mühsam und manchmal auch etwas kompliziert, aber genau darin liegt für mich der Reiz. Sonst würde ich das gar nicht tun. Ich behaupte nicht, dass jeder, der in dieser Branche unterwegs ist, genauso tickt wie ich. Ich kenne ja auch gar nicht jeden. Diejenigen jedoch, die seit Jahren zu meinem Bekanntenkreis gehören, sind von ähnlichem Naturell: Wir sind alle Schatzsucher.
Meinetwegen könnte man mich auch als Trüffelschwein bezeichnen, damit hätte ich kein Problem. Wobei Trüffel heutzutage eher von speziell abgerichteten Hunden erschnüffelt werden, nicht von Schweinen, aber wer spricht schon von Trüffelhunden?
Offiziell nenne ich mich »Sachverständiger für Nachlässe«. So steht es auf meiner Visitenkarte. Irgendwie muss man sich doch nennen, sonst ist man nichts, und es stimmt ja auch - jedes Wort.
Mein Sachverstand zeichnet sich zum Beispiel dadurch aus, dass ich weiß, wohin mit dem ganzen Krempel, der sich in einem Haushalt über Jahre und Jahrzehnte angesammelt hat, der dort nun aber verschwinden muss, da sein Besitzer beziehungsweise seine Besitzerin das Zeitliche gesegnet hat.
Das sagt sich so einfach. Und das wäre es vielleicht sogar, würde man einen großen Container für Sperrmüll bestellen, alles reinschmeißen und zu einer Kippe abtransportieren lassen. Aber wer will das schon? Die Hinterbliebenen - oder irgendwelche anderen Erben - jedenfalls nicht, oder höchstens in einem von tausend Fällen. Doch selbst wenn keine Hinterbliebenen da sind und mir der Auftrag zur Räumung einer Wohnung von einem Nachlasspfleger, also von Amts wegen, erteilt wird, könnte ich ihn nicht auf diese Art und Weise erledigen. Nicht etwa, weil das der Respekt vor einem Verstorbenen und seinen Besitztümern verbieten würde, wobei das in meinen Augen noch ein echter Grund wäre. Doch die Wahrheit ist: Es geht um so etwas Profanes wie Geld.
Auch dann noch. Gerade dann.
Die Rechnung in einem solchen Fall ist ganz simpel: Eine Wohnungsräumung kostet, eine Beerdigung ebenfalls. Und auch der Nachlasspfleger muss bezahlt werden. Falls der Tote also nicht gerade ein prall gefülltes Konto hinterlassen hat oder anderen Reichtum, für den es keine Erben gibt, versucht man, diese Ausgaben wieder hereinzuholen, indem man Dinge aus dem Nachlass, die noch einen gewissen Wert haben, verkauft. Wenn dabei sogar ein Gewinn entsteht, umso besser, darüber beschwert sich niemand.
Und falls es nicht darum geht, irgendwelche Kosten auszugleichen oder kleine Gewinne einzustreichen, bin immer noch ich da - der Schatzsucher, der nicht einfach alles blind in den Müll verfrachtet, eben, weil er etwas sucht. Oder einer meiner Kollegen, den dieselbe Mission antreibt.
Womit ich bei einem anderen Aspekt des erwähnten Sachverstands wäre, der darin besteht, brauchbare Dinge von unbrauchbaren unterscheiden zu können. Brauchbar im Sinne von verwertbar beziehungsweise veräußerbar. Aber damit bin ich schon bei Stufe drei angelangt. Denn bevor ich etwas veräußern kann, muss ich es erst einmal entdecken und dann wiederum in Erfahrung bringen, ob sich Geld damit verdienen lässt. Und wenn ich soweit gekommen bin, bleibt immer noch zu klären, wo und wie ich etwas verkaufen oder anders loswerden kann und vor allem, zu welchen Konditionen.
Im Supermarkt oder im Kaufhaus ist alles mit einem Preis versehen. In dem Geschäft, das ich betreibe, gibt es weder Preislisten noch sonst irgendwelche allgemeingültigen Richtwerte, an denen man sich orientieren könnte. Es gibt überhaupt keine Regeln. Jedenfalls fallen mir keine ein, die unumstößlich oder verbindlich wären.
Es ist also ein weites Feld, auf dem wir uns da bewegen, und ein ziemlich wildes obendrein. Im Grunde genommen die pure Anarchie. Aber das passt sehr gut zu dem Völkchen, das sich in diesem Gewerbe tummelt: Alles Leute, die ihr Leben selbst in die Hand genommen haben, die sich weder unterordnen noch von irgendjemandem abhängig machen wollen. Auf jeden Fall keine Typen fürs Kollektiv oder für Hierarchien, wie auch immer diese geartet sein mögen.
Ich weiß das und darf das sagen, weil ich selbst so einer bin.
Manche halten uns wahrscheinlich für verschrobene Menschen, die ein bisschen aus der Zeit gefallen sind, und so falsch ist das gar nicht. Natürlich kommt es immer auf die Perspektive an, aus der man das betrachtet. Wenn beispielsweise Konsumwut als Voraussetzung für ein erfolgreiches und glückliches Leben im Hier und Jetzt gilt, dann trifft die Charakterisierung oben voll auf mich zu. Mit Shoppen als Identitätskrücke habe ich nämlich rein gar nichts am Hut. Es muss sehr lange her sein, dass ich mich in ein Kaufhaus verirrt habe - ich kann mich kaum daran erinnern ... Oder doch: Letztens wurde ich auf der Wilmersdorfer Straße - bei mir um die Ecke - von einem heftigen Regenguss überrascht und flüchtete schleunigst in den erstbesten Eingang. Er war groß, hell erleuchtet, und ein warmer Luftstrom schlug mir entgegen, also wird er wohl zu einem Kaufhaus gehört haben. Es gibt in der Gegend eine ganze Menge davon. Da ich aber im Eingang stehen blieb und keinen Schritt weiterging, als hätten meine durchnässten Schuhe augenblicklich Wurzeln geschlagen, zählt das wohl nicht. Ich kann nicht einmal sagen, was in den Regalen lag, ob es dort überhaupt welche gab.
Wahrscheinlich bin ich auch der Einzige, der nie etwas bei Ikea kauft, abgesehen von den blauen Taschen, die es an der Kasse gibt - für fünfzig Cent das Stück. Sinnigerweise tragen diese Dinger die Bezeichnung Frakta, was so viel bedeutet wie: verfrachten. Ich sollte mich vielleicht bei Herrn Kamprad bedanken, dass seine Leute diesen treffenden Namen für die Tasche gefunden haben. Denn der erklärt gleich, warum jemand wie ich einen ganzen Stapel davon besitzt - und immer wieder neue gebrauchen kann. Das soll jetzt keine Werbung für das schwedische Möbelhaus sein, aber ich kenne kein anderes Taschenmodell, das über ein Fassungsvermögen von siebzig Litern verfügt - sogar einundsiebzig, um genau zu sein - und mit dem man locker fünfundzwanzig Kilo auf einmal wegschleppen kann. Jedenfalls nicht für diesen Preis.
Frakta ist für mich die beste Ikea-Erfindung überhaupt. Nichts eignet sich perfekter, um allen möglichen Kleinkram aus einer Wohnung zu räumen. Diese Tätigkeit ist kein unwesentlicher Bestandteil meines Jobs. Kleinkram findet man bergeweise - in jeder Wohnung. Selbst in einer picobello aufgeräumten, wo es im ersten Moment gar nicht danach aussieht. Da täuscht man sich leicht.
Irgendwie aus der Zeit gefallen wirken wir auf andere vermutlich auch deshalb, weil uns alte Dinge mehr bedeuten als das meiste neumodische Zeug. Das fängt bei Möbeln an, setzt sich fort bei Bildern, Lampen, Teppichen, Porzellan, Geschirr und hört auch bei Büchern nicht auf. Diese Vorliebe beruht im Wesentlichen auf zwei Gründen: einem emotionalen und einem monetären. Der emotionale hat vor allem mit Geschmack zu tun, aber genauso mit dem Wissen, wie viel handwerkliche Kunst in diesen Dingen steckt. Das eine korrespondiert mit dem anderen, bewusst oder unbewusst. So weit ist das eine relativ klare Geschichte. Anders beim Monetären: Rein privat kann ich auch Gegenständen etwas abgewinnen, für die niemand einen Cent ausgeben würde. In meinem Beruf allerdings sind mir Dinge lieber, die einen gewissen Wert besitzen und also auch einen Gewinn versprechen.
Mit dem Wert ist das allerdings so eine Sache, aber darüber hat sich schon der olle Marx den Kopf zerbrochen. Arbeitszeit, Arbeitskraft, Tauschwert ... was es da nicht alles gibt, das Einfluss auf den Wert einer Ware haben soll. Fest steht, der Wert von irgendetwas ist alles andere als eine genau messbare, gleichbleibende und verlässliche Größe. Das macht es gerade dann schwierig, wenn er sich in einer bestimmten Summe Geld ausdrücken soll. Es mag Formeln geben, mit deren Hilfe man den Wert von etwas berechnen kann - theoretisch. Mit Theorie kann ich in meinem Gewerbe nur nichts anfangen. Formel hin oder her, am Ende des Tages zählt allein, ob sich jemand für ein Stück interessiert und wie viel er bereit ist, dafür hinzublättern. Findet sich nämlich niemand, der es haben will, schrumpft sein Wert automatisch so ziemlich auf null.
Das macht unser Geschäft einerseits recht einfach, andererseits aber auch ziemlich schwierig. Denn Kunden, die mich mit einer Wohnungsauflösung beauftragen, haben nicht selten völlig andere Vorstellungen davon, was ein altes Möbelstück wert ist, ein Kronleuchter oder ein Teppich oder sonst irgendetwas, das ihnen der Verstorbene hinterlassen hat. Bei einem fünfzehn Jahre alten Auto sehen die Leute sofort ein, dass man dafür kaum noch etwas herausschlagen kann. Handelt es sich hingegen um Einrichtungsgegenstände, scheinen persönliche Erinnerungen und Gefühle, die damit verbunden sind, oft den Blick für die Realität zu trüben. Vielleicht mussten Mutter und Vater ewig sparen, um sich eine bestimmte Schrankwand leisten zu können. Oder mein Auftraggeber hat noch den Preis im Kopf, den der handgeknüpfte Perserteppich die Eltern einst kostete, vergisst dabei aber, dass seitdem dreißig oder vierzig Jahre ins Land gegangen sind.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
Mit Kram meine ich das, was üblicherweise als Haushaltsauflösung bezeichnet wird. Manche sagen auch Entrümpeln dazu. Das klingt nicht ganz so vornehm, beschreibt den Vorgang aber kaum schlechter - in manchen Fällen sogar treffender. Dabei denke ich übrigens keineswegs an zugemüllte Messie-Wohnungen. Dazu könnte ich sowieso nichts sagen, da mir solche bislang nicht untergekommen sind. Nein, ich rede vom Durchschnitt, vom Alltäglichen, von der Wohnung oder dem Haus eines gewöhnlichen Nachbarn. Wobei dieses »gewöhnlich« relativ ist und sich als viel dehnbarerer Begriff herausstellen kann, als man vielleicht vermutet. Aber das merkt man eben erst, wenn man den Job macht, den ich mache - und das sieht, was ich dabei zu sehen bekomme.
Sehen ist überhaupt ein ganz wichtiger Punkt bei meiner Arbeit. Um in einem Haufen von alltäglichen Gegenständen das Besondere und manchmal auch Wertvolle aufzuspüren, muss man richtig hingucken. Man braucht einen ganz bestimmten Blick und das richtige Gespür. So etwas vermittelt keine Schule und keine Universität, das muss man sich selbst erarbeiten. Und bis man so weit ist, hat man viele Kubikmeter Müll entsorgt.
Das ist furchtbar mühsam und manchmal auch etwas kompliziert, aber genau darin liegt für mich der Reiz. Sonst würde ich das gar nicht tun. Ich behaupte nicht, dass jeder, der in dieser Branche unterwegs ist, genauso tickt wie ich. Ich kenne ja auch gar nicht jeden. Diejenigen jedoch, die seit Jahren zu meinem Bekanntenkreis gehören, sind von ähnlichem Naturell: Wir sind alle Schatzsucher.
Meinetwegen könnte man mich auch als Trüffelschwein bezeichnen, damit hätte ich kein Problem. Wobei Trüffel heutzutage eher von speziell abgerichteten Hunden erschnüffelt werden, nicht von Schweinen, aber wer spricht schon von Trüffelhunden?
Offiziell nenne ich mich »Sachverständiger für Nachlässe«. So steht es auf meiner Visitenkarte. Irgendwie muss man sich doch nennen, sonst ist man nichts, und es stimmt ja auch - jedes Wort.
Mein Sachverstand zeichnet sich zum Beispiel dadurch aus, dass ich weiß, wohin mit dem ganzen Krempel, der sich in einem Haushalt über Jahre und Jahrzehnte angesammelt hat, der dort nun aber verschwinden muss, da sein Besitzer beziehungsweise seine Besitzerin das Zeitliche gesegnet hat.
Das sagt sich so einfach. Und das wäre es vielleicht sogar, würde man einen großen Container für Sperrmüll bestellen, alles reinschmeißen und zu einer Kippe abtransportieren lassen. Aber wer will das schon? Die Hinterbliebenen - oder irgendwelche anderen Erben - jedenfalls nicht, oder höchstens in einem von tausend Fällen. Doch selbst wenn keine Hinterbliebenen da sind und mir der Auftrag zur Räumung einer Wohnung von einem Nachlasspfleger, also von Amts wegen, erteilt wird, könnte ich ihn nicht auf diese Art und Weise erledigen. Nicht etwa, weil das der Respekt vor einem Verstorbenen und seinen Besitztümern verbieten würde, wobei das in meinen Augen noch ein echter Grund wäre. Doch die Wahrheit ist: Es geht um so etwas Profanes wie Geld.
Auch dann noch. Gerade dann.
Die Rechnung in einem solchen Fall ist ganz simpel: Eine Wohnungsräumung kostet, eine Beerdigung ebenfalls. Und auch der Nachlasspfleger muss bezahlt werden. Falls der Tote also nicht gerade ein prall gefülltes Konto hinterlassen hat oder anderen Reichtum, für den es keine Erben gibt, versucht man, diese Ausgaben wieder hereinzuholen, indem man Dinge aus dem Nachlass, die noch einen gewissen Wert haben, verkauft. Wenn dabei sogar ein Gewinn entsteht, umso besser, darüber beschwert sich niemand.
Und falls es nicht darum geht, irgendwelche Kosten auszugleichen oder kleine Gewinne einzustreichen, bin immer noch ich da - der Schatzsucher, der nicht einfach alles blind in den Müll verfrachtet, eben, weil er etwas sucht. Oder einer meiner Kollegen, den dieselbe Mission antreibt.
Womit ich bei einem anderen Aspekt des erwähnten Sachverstands wäre, der darin besteht, brauchbare Dinge von unbrauchbaren unterscheiden zu können. Brauchbar im Sinne von verwertbar beziehungsweise veräußerbar. Aber damit bin ich schon bei Stufe drei angelangt. Denn bevor ich etwas veräußern kann, muss ich es erst einmal entdecken und dann wiederum in Erfahrung bringen, ob sich Geld damit verdienen lässt. Und wenn ich soweit gekommen bin, bleibt immer noch zu klären, wo und wie ich etwas verkaufen oder anders loswerden kann und vor allem, zu welchen Konditionen.
Im Supermarkt oder im Kaufhaus ist alles mit einem Preis versehen. In dem Geschäft, das ich betreibe, gibt es weder Preislisten noch sonst irgendwelche allgemeingültigen Richtwerte, an denen man sich orientieren könnte. Es gibt überhaupt keine Regeln. Jedenfalls fallen mir keine ein, die unumstößlich oder verbindlich wären.
Es ist also ein weites Feld, auf dem wir uns da bewegen, und ein ziemlich wildes obendrein. Im Grunde genommen die pure Anarchie. Aber das passt sehr gut zu dem Völkchen, das sich in diesem Gewerbe tummelt: Alles Leute, die ihr Leben selbst in die Hand genommen haben, die sich weder unterordnen noch von irgendjemandem abhängig machen wollen. Auf jeden Fall keine Typen fürs Kollektiv oder für Hierarchien, wie auch immer diese geartet sein mögen.
Ich weiß das und darf das sagen, weil ich selbst so einer bin.
Manche halten uns wahrscheinlich für verschrobene Menschen, die ein bisschen aus der Zeit gefallen sind, und so falsch ist das gar nicht. Natürlich kommt es immer auf die Perspektive an, aus der man das betrachtet. Wenn beispielsweise Konsumwut als Voraussetzung für ein erfolgreiches und glückliches Leben im Hier und Jetzt gilt, dann trifft die Charakterisierung oben voll auf mich zu. Mit Shoppen als Identitätskrücke habe ich nämlich rein gar nichts am Hut. Es muss sehr lange her sein, dass ich mich in ein Kaufhaus verirrt habe - ich kann mich kaum daran erinnern ... Oder doch: Letztens wurde ich auf der Wilmersdorfer Straße - bei mir um die Ecke - von einem heftigen Regenguss überrascht und flüchtete schleunigst in den erstbesten Eingang. Er war groß, hell erleuchtet, und ein warmer Luftstrom schlug mir entgegen, also wird er wohl zu einem Kaufhaus gehört haben. Es gibt in der Gegend eine ganze Menge davon. Da ich aber im Eingang stehen blieb und keinen Schritt weiterging, als hätten meine durchnässten Schuhe augenblicklich Wurzeln geschlagen, zählt das wohl nicht. Ich kann nicht einmal sagen, was in den Regalen lag, ob es dort überhaupt welche gab.
Wahrscheinlich bin ich auch der Einzige, der nie etwas bei Ikea kauft, abgesehen von den blauen Taschen, die es an der Kasse gibt - für fünfzig Cent das Stück. Sinnigerweise tragen diese Dinger die Bezeichnung Frakta, was so viel bedeutet wie: verfrachten. Ich sollte mich vielleicht bei Herrn Kamprad bedanken, dass seine Leute diesen treffenden Namen für die Tasche gefunden haben. Denn der erklärt gleich, warum jemand wie ich einen ganzen Stapel davon besitzt - und immer wieder neue gebrauchen kann. Das soll jetzt keine Werbung für das schwedische Möbelhaus sein, aber ich kenne kein anderes Taschenmodell, das über ein Fassungsvermögen von siebzig Litern verfügt - sogar einundsiebzig, um genau zu sein - und mit dem man locker fünfundzwanzig Kilo auf einmal wegschleppen kann. Jedenfalls nicht für diesen Preis.
Frakta ist für mich die beste Ikea-Erfindung überhaupt. Nichts eignet sich perfekter, um allen möglichen Kleinkram aus einer Wohnung zu räumen. Diese Tätigkeit ist kein unwesentlicher Bestandteil meines Jobs. Kleinkram findet man bergeweise - in jeder Wohnung. Selbst in einer picobello aufgeräumten, wo es im ersten Moment gar nicht danach aussieht. Da täuscht man sich leicht.
Irgendwie aus der Zeit gefallen wirken wir auf andere vermutlich auch deshalb, weil uns alte Dinge mehr bedeuten als das meiste neumodische Zeug. Das fängt bei Möbeln an, setzt sich fort bei Bildern, Lampen, Teppichen, Porzellan, Geschirr und hört auch bei Büchern nicht auf. Diese Vorliebe beruht im Wesentlichen auf zwei Gründen: einem emotionalen und einem monetären. Der emotionale hat vor allem mit Geschmack zu tun, aber genauso mit dem Wissen, wie viel handwerkliche Kunst in diesen Dingen steckt. Das eine korrespondiert mit dem anderen, bewusst oder unbewusst. So weit ist das eine relativ klare Geschichte. Anders beim Monetären: Rein privat kann ich auch Gegenständen etwas abgewinnen, für die niemand einen Cent ausgeben würde. In meinem Beruf allerdings sind mir Dinge lieber, die einen gewissen Wert besitzen und also auch einen Gewinn versprechen.
Mit dem Wert ist das allerdings so eine Sache, aber darüber hat sich schon der olle Marx den Kopf zerbrochen. Arbeitszeit, Arbeitskraft, Tauschwert ... was es da nicht alles gibt, das Einfluss auf den Wert einer Ware haben soll. Fest steht, der Wert von irgendetwas ist alles andere als eine genau messbare, gleichbleibende und verlässliche Größe. Das macht es gerade dann schwierig, wenn er sich in einer bestimmten Summe Geld ausdrücken soll. Es mag Formeln geben, mit deren Hilfe man den Wert von etwas berechnen kann - theoretisch. Mit Theorie kann ich in meinem Gewerbe nur nichts anfangen. Formel hin oder her, am Ende des Tages zählt allein, ob sich jemand für ein Stück interessiert und wie viel er bereit ist, dafür hinzublättern. Findet sich nämlich niemand, der es haben will, schrumpft sein Wert automatisch so ziemlich auf null.
Das macht unser Geschäft einerseits recht einfach, andererseits aber auch ziemlich schwierig. Denn Kunden, die mich mit einer Wohnungsauflösung beauftragen, haben nicht selten völlig andere Vorstellungen davon, was ein altes Möbelstück wert ist, ein Kronleuchter oder ein Teppich oder sonst irgendetwas, das ihnen der Verstorbene hinterlassen hat. Bei einem fünfzehn Jahre alten Auto sehen die Leute sofort ein, dass man dafür kaum noch etwas herausschlagen kann. Handelt es sich hingegen um Einrichtungsgegenstände, scheinen persönliche Erinnerungen und Gefühle, die damit verbunden sind, oft den Blick für die Realität zu trüben. Vielleicht mussten Mutter und Vater ewig sparen, um sich eine bestimmte Schrankwand leisten zu können. Oder mein Auftraggeber hat noch den Preis im Kopf, den der handgeknüpfte Perserteppich die Eltern einst kostete, vergisst dabei aber, dass seitdem dreißig oder vierzig Jahre ins Land gegangen sind.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
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Autoren-Porträt von Hans-Jürgen Heinicke, Fred Sellin
Heinicke, Hans-Jürgen1951 in Görlitz geboren, lernte Hans-Jürgen Heinicke zunächst Betriebsschlosser, später holte er das Abitur per Abendschule nach, arbeitete als Requisiteur bei der DEFA und begann noch in der DDR, alte Möbel und Antiquitäten zu sammeln. Sein Buch entsteht in Zusammenarbeit mit Fred Sellin, geboren 1964 in Wittenberg, der als freier Autor in Hamburg lebt. Fred Sellin hat u.a. Biographien über Heinz Rühmann und Ben Becker veröffentlicht.Sellin, Fred
Fred Sellin arbeitete als Reporter bei verschiedenen Tages- und Wochenzeitungen. Heute lebt er als Journalist und Buchautor in Hamburg.
Bibliographische Angaben
- Autoren: Hans-Jürgen Heinicke , Fred Sellin
- 2012, 256 Seiten, Maße: 12,6 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596195209
- ISBN-13: 9783596195206
- Erscheinungsdatum: 26.09.2012
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