Weibersommer
Roman
Die drei Cousinen Lisa-Marie, Marie-Luise und Anne-Marie haben nicht viel gemeinsam - nur den Namen Marie, den sie von ihrer geliebten Großmutter bekommen haben. Doch als sie einen Bauernhof im Allgäu erben, machen sich die drei Frauen in einem alten...
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Produktinformationen zu „Weibersommer “
Klappentext zu „Weibersommer “
Die drei Cousinen Lisa-Marie, Marie-Luise und Anne-Marie haben nicht viel gemeinsam - nur den Namen Marie, den sie von ihrer geliebten Großmutter bekommen haben. Doch als sie einen Bauernhof im Allgäu erben, machen sich die drei Frauen in einem alten VW-Käfer auf den Weg. Enthusiastisch tauschen sie ihre Stöckelschuhe gegen Gummistiefel und merken bald: Ein Bauernhof macht noch keine drei Freundinnen. Erst ein kleines Bündel Briefe, die von einer außergewöhnlichen Liebe erzählen, zeigt den drei Maries, wie schön so eine "Familienbande" sein kann, und offenbart ein streng gehütetes Familiengeheimnis.Lese-Probe zu „Weibersommer “
Weibersommer von Heike WannerProlog: Peterstal / Masuren, vor vielen Jahren
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Liebe auf den ersten Blick?
Nein, Marie Thune glaubte nicht daran.
Erstens war sie viel zu vernünftig für solche Gefühle. Ihrer Meinung nach war diese Art von Liebe eine Erfindung von Romantikern, die ihre kitschigen Gedanken in stundenlangen nächtlichen Sitzungen mühevoll zu Papier brachten.
Zweitens war sie schon seit ihrer frühen Kindheit stark kurzsichtig. Für sie blieben fremde Gesichter so lange verschwommen, bis die dazugehörigen Menschen nahe genug vor ihr standen. Wie sollte sie sich also auf Anhieb in einen unbekannten Mann verlieben, wenn sie ihn noch nicht einmal richtig sehen konnte?
Natürlich hätte sie ihre Brille aufsetzen können, doch dazu war sie zu eitel. Dieses blöde Drahtgestell mit den dicken Gläsern verunstaltete nicht nur ihr Gesicht, sondern drückte auch schmerzhaft auf die Nasenflügel. Nein, sie lief außerhalb der Schule lieber ohne Brille durch die Welt. Die Menschen in Peterstal hatten sich längst daran gewöhnt, dass ihre Dorflehrerin sie auf der Straße nicht erkannte, und riefen ihr deshalb immer schon von weitem einen Gruß zu.
Fremde kamen so gut wie nie in den winzigen Ort. Er lag abgeschieden inmitten saftiger Wiesen zwischen den kristallklaren Seen und den dunkelgrünen Wäldern der Masurischen Seenplatte. Gut drei Dutzend Bauernhöfe schmiegten sich eng an die Dorfkirche, deren schwarzer Holzturm die umgebenden Dächer hoch überragte. Gleich nebenan strahlte das Pfarrhaus mit seinem weißen Putz, den verklinkerten Fenstern und dem üppig blühenden Vorgarten eine friedliche Gemütlichkeit aus, die sich auf das ganze Dorf und seine Bewohner zu übertragen schien. Die kriegerischen Ereignisse im Rest von Europa schienen weit entfernt und ohne Belang zu sein.
Nur abends, wenn Marie am großen Tisch in der Wohnstube die verhasste Brille auspackte und Schularbeiten korrigierte, hörte sie manchmal die lauten Stimmen aus dem Volksempfänger, die sich angesichts der neuesten Entwicklungen vor Aufregung fast überschlugen. Der Rest ihrer Familie lauschte diesen Reportagen mit sorgenvoller Miene, doch Marie hatte es sich angewöhnt, die Berichte so weit wie möglich auszublenden.
Ärgerlicherweise gelang ihr das nicht immer, auch wenn sie sich noch so intensiv auf die Korrekturen konzentrierte.
Aber das war auch schon der einzige Störfaktor in ihrem sonst so beschaulichen Leben.
Zum absoluten Glück fehlte Marie eigentlich nur noch der richtige Mann. Leider kam keiner der Männer aus Peterstal für sie in Frage. Entweder waren sie schon vergeben, hatten sich zur Wehrmacht gemeldet, oder sie waren so dumm oder hässlich, dass selbst Maries Kurzsichtigkeit sie nicht schönzeichnen konnte.
Doch dann kam der Nachmittag Ende Mai, an dem sich Maries kleine heile Welt für immer ändern sollte.
Sie war auf dem Weg von der Schule nach Hause und ließ sich wie üblich Zeit. Langsam schlenderte sie am Pfarrhaus vorbei und sog genüsslich den Duft von frisch gemähtem Gras ein. Am Himmel zogen Mauersegler ihre Kreise. Zwar konnte Marie sie nicht sehen, weil sie viel zu hoch flogen, aber ihr aufgeregtes Kreischen war nicht zu überhören. Träumerisch bog sie auf die Dorfstraße ab. Sie liebte diese Jahreszeit, wenn der Frühling langsam dem Sommer Platz machte und alles noch frisch, saftig und grün war.
In diesem Moment quietschten Bremsen, und ein Mofafahrer in Wehrmachtsuniform kam gerade noch knapp vor ihren Füßen zum Stehen. Marie hüpfte erschreckt zur Seite.
»Ach du liebe Güte!« Der Mann sprang vom Moped und nahm seinen Helm ab. »Ist Ihnen etwas passiert?«
Marie schüttelte den Kopf und kniff die Augen zusammen, um ihr Gegenüber besser betrachten zu können.
»Wie leichtsinnig, einfach auf die Straße zu rennen! Haben Sie mich denn nicht gehört oder gesehen?« Seine tiefe Stimme hatte trotz der Aufregung einen so angenehmen Klang, dass Marie mit einem Mal eine Gänsehaut bekam.
»Nein«, antwortete sie wahrheitsgemäß und trat noch einen Schritt näher an das Motorrad. Sie musste wissen, wem diese wunderschöne Stimme gehörte.
»Nein?« Der Mofafahrer schob sich die Schutzbrille auf die Haare. Der forschende Blick seiner moosgrünen Augen traf Marie mit voller Wucht. Ihr Herz begann, schneller zu klopfen.
»Ich ... äh ... also ...«, stammelte sie und klappte ihren Mund überrascht wieder zu. Es kam nur selten vor, dass sie nichts Vernünftiges herausbrachte.
»Wohl in Gedanken woanders gewesen, was?« Das Gesicht mit den wunderschönen grünen Augen verzog sich zu einem jungenhaften Lächeln.
»Sozusagen. Ich habe den Mauerseglern beim Fliegen zugehört.« Obwohl das der Wahrheit entsprach, merkte Marie selbst, wie seltsam das klang.
Die Reaktion des Mannes fiel entsprechend belustigt aus. »Fliegen sie heute denn besonders laut?«, wollte er wissen und blickte prüfend Richtung Himmel.
»Kann schon sein«, murmelte Marie.
Er lachte. »Das müssen sie wohl, denn Sie haben ja nicht einmal meine Hupe gehört.«
»Tut mir leid.«
»Ist schon gut. Darf ich wissen, wer mir vors Mofa gelaufen ist?«
»Ich heiße Marie.«
»Marie?«, fragte er überrascht. »Was für ein schöner Zufall!«
»Warum? Heißen Sie auch Marie?« Sofort biss sich Marie auf die Lippen. So eine dumme Frage!
Er grinste. »Nein, natürlich nicht. Aber ich interessiere mich für Naturkunde, besonders für Insekten und ganz speziell für Marienkäfer.«
»Marienkäfer?«
»Ja. Hier in Masuren gibt es sehr viele Käfer. Sie lieben das Moor und die Wiesen. Das ist also ein idealer Standort für ein paar Untersuchungen.«
Verstohlen musterte Marie seine Uniform. »Eine ziemlich ungewöhnliche Beschäftigung für einen Soldaten.«
»Auch Soldaten haben mal Urlaub.«
»Bleiben Sie länger hier?«
»Leider nicht. Nur vierzehn Tage, dann muss ich zurück zu meiner Einheit nach Allenstein.«
»Das ist nicht weit von hier entfernt«, stellte Marie fest und wunderte sich, dass diese Tatsache sie froh machte.
Er nickte. »Mit dem Motorrad sind es gerade einmal zwei Stunden. Ich denke, ich werde im Sommer wohl öfter vorbeikommen. Pfarrer Simoneit ist ein alter Freund meines Vaters.«
»Aha«, murmelte Marie zerstreut. Was war bloß heute mit ihr los?
»Wir werden uns bestimmt häufiger treffen.«
»Äh ... ja. Wahrscheinlich.« Sie tastete mit der Hand nach dem Motorradlenker, um sich festzuhalten, denn unter seinem Blick wurde ihr schwindelig.
»Ist Ihnen nicht gut?« Er legte seine Hand vorsichtig unter ihren Arm, um sie zu stützen.
»Doch, doch«, versicherte Marie. Als er daraufhin jedoch seine Hand von ihrem Arm nahm, fügte sie mit einem schüchternen Lächeln hinzu: »Obwohl - vielleicht ist mir doch ein wenig flau im Magen.«
Sofort ergriff er wieder ihren Ellenbogen. »Darf ich Sie nach Hause begleiten?«
Marie schlug die Augen nieder, unfähig, etwas zu sagen. Die Wärme seiner Finger brannte auf ihrer Haut. Diese Art von Feuer war völlig neu für sie - und es gefiel ihr. Erschreckt von ihren eigenen Gedanken räusperte sie sich. »Gern, Herr ...? Ich weiß immer noch nicht, mit wem ich das Vergnügen habe.«
»Mein Name ist Johann Zabel.«
»Johann«, hauchte Marie und sah zu ihm auf. Als sich ihre Augen trafen, durchzuckten Marie zwei Erkenntnisse gleichzeitig.
Erstens: Es gab sie doch, die Liebe auf den ersten Blick.
Dies hier war der beste Beweis dafür. Denn sie hatte sich
soeben unsterblich in Johann Zabel verliebt. Und zweitens: Johann schien es ähnlich zu ergehen. Aber war das nicht schrecklich unvernünftig?
Dortmund, im April 2010
1
An jedem zweiten Mittwoch im Monat trafen sich die weiblichen Nachkommen der Familie Zabel zum Kaffeeklatsch.
Seit fast vierzig Jahren schon hielten die Zwillingsschwestern Katharina und Helene, geborene Zabel, an dieser Tradition fest. Zu Anfang, in den siebziger Jahren, hatten die beiden Frauen allein am Küchentisch gesessen, Kaffee getrunken und trockenen Streuselkuchen gegessen, während ihre Töchter im benachbarten Kinderzimmer miteinander spielten.
Im Laufe der Jahre wandelte sich das Bild. Zuerst zogen die Schwestern aus der Küche an den wesentlich gemütlicheren Esstisch ins Wohnzimmer. Dann wechselten sie, der Gesundheit zuliebe, von koffeinhaltigem zu koffeinfreiem Kaffee und verfeinerten ihre Backkünste: Phantasievolle Kreationen wie Donauwelle oder Philadelphia- Torte ersetzten das langweilige Gebäck. Und schließlich brachten sie ihre inzwischen erwachsenen Töchter mit mehr oder weniger liebevollem Druck dazu, sich an den Treffen zu beteiligen. So wuchs die Runde nun auf fünf Personen: Neben Katharina und Helene würden auch Lisa-Marie, Lou und Anne in Zukunft regelmäßig am Kaffeetisch Platz nehmen. Aber die Mädchen stellten Bedingungen für ihre Teilnahme. Sie legten die Dauer des Zusammenseins auf zwei Stunden fest. Offiziell, weil sie durch ein ausgefülltes Berufs- und Privatleben leider nicht mehr Zeit erübrigen konnten. Der eigentliche Grund war jedoch, dass ihnen nach spätestens zwei Stunden der Gesprächsstoff ausging. Was hatten sich drei so unterschiedliche Frauen schon großartig zu erzählen?
Als Nächstes überzeugten sie ihre Mütter, dass die Treffen ab jetzt regelmäßig im Wechsel von der jüngeren Generation ausgerichtet werden müssten. Die Gastgeberin selbst sollte nur den Kaffeetisch und die Getränke bereitstellen. Für den Kuchen müssten die Gäste sorgen - ebenfalls im Wechsel.
»›Rotation‹ ist das Zauberwort«, erklärte die tüchtige Lou ihren weiblichen Verwandten. »Dadurch hat nicht eine von uns die ganze Arbeit.«
»Apropos Arbeit: Wir können uns nur mittwochs treffen «, verlangte Lisa-Marie, die Buchhändlerin. »Das ist der einzige Wochentag, an dem mein Laden nachmittags geschlossen ist.«
»Und wenn wir bei mir sind, muss ich vorher meine Kinder wegsperren«, sagte Anne besorgt. »Sonst haben wir keine ruhige Minute.«
»Aber Anne, das ist nun wirklich übertrieben!«, wies Helene ihre Tochter zurecht.
»O nein, bestimmt nicht!«
»Meine Enkelkinder sind doch so lieb!«
»Zu dir vielleicht ...«
»Können wir bitte auf das eigentliche Problem zurückkommen? «, fragte Lou, die immer sehr schnell ungeduldig wurde.
»Die Kinder sind mein eigentliches Problem.«
© ullstein Verlag
Liebe auf den ersten Blick?
Nein, Marie Thune glaubte nicht daran.
Erstens war sie viel zu vernünftig für solche Gefühle. Ihrer Meinung nach war diese Art von Liebe eine Erfindung von Romantikern, die ihre kitschigen Gedanken in stundenlangen nächtlichen Sitzungen mühevoll zu Papier brachten.
Zweitens war sie schon seit ihrer frühen Kindheit stark kurzsichtig. Für sie blieben fremde Gesichter so lange verschwommen, bis die dazugehörigen Menschen nahe genug vor ihr standen. Wie sollte sie sich also auf Anhieb in einen unbekannten Mann verlieben, wenn sie ihn noch nicht einmal richtig sehen konnte?
Natürlich hätte sie ihre Brille aufsetzen können, doch dazu war sie zu eitel. Dieses blöde Drahtgestell mit den dicken Gläsern verunstaltete nicht nur ihr Gesicht, sondern drückte auch schmerzhaft auf die Nasenflügel. Nein, sie lief außerhalb der Schule lieber ohne Brille durch die Welt. Die Menschen in Peterstal hatten sich längst daran gewöhnt, dass ihre Dorflehrerin sie auf der Straße nicht erkannte, und riefen ihr deshalb immer schon von weitem einen Gruß zu.
Fremde kamen so gut wie nie in den winzigen Ort. Er lag abgeschieden inmitten saftiger Wiesen zwischen den kristallklaren Seen und den dunkelgrünen Wäldern der Masurischen Seenplatte. Gut drei Dutzend Bauernhöfe schmiegten sich eng an die Dorfkirche, deren schwarzer Holzturm die umgebenden Dächer hoch überragte. Gleich nebenan strahlte das Pfarrhaus mit seinem weißen Putz, den verklinkerten Fenstern und dem üppig blühenden Vorgarten eine friedliche Gemütlichkeit aus, die sich auf das ganze Dorf und seine Bewohner zu übertragen schien. Die kriegerischen Ereignisse im Rest von Europa schienen weit entfernt und ohne Belang zu sein.
Nur abends, wenn Marie am großen Tisch in der Wohnstube die verhasste Brille auspackte und Schularbeiten korrigierte, hörte sie manchmal die lauten Stimmen aus dem Volksempfänger, die sich angesichts der neuesten Entwicklungen vor Aufregung fast überschlugen. Der Rest ihrer Familie lauschte diesen Reportagen mit sorgenvoller Miene, doch Marie hatte es sich angewöhnt, die Berichte so weit wie möglich auszublenden.
Ärgerlicherweise gelang ihr das nicht immer, auch wenn sie sich noch so intensiv auf die Korrekturen konzentrierte.
Aber das war auch schon der einzige Störfaktor in ihrem sonst so beschaulichen Leben.
Zum absoluten Glück fehlte Marie eigentlich nur noch der richtige Mann. Leider kam keiner der Männer aus Peterstal für sie in Frage. Entweder waren sie schon vergeben, hatten sich zur Wehrmacht gemeldet, oder sie waren so dumm oder hässlich, dass selbst Maries Kurzsichtigkeit sie nicht schönzeichnen konnte.
Doch dann kam der Nachmittag Ende Mai, an dem sich Maries kleine heile Welt für immer ändern sollte.
Sie war auf dem Weg von der Schule nach Hause und ließ sich wie üblich Zeit. Langsam schlenderte sie am Pfarrhaus vorbei und sog genüsslich den Duft von frisch gemähtem Gras ein. Am Himmel zogen Mauersegler ihre Kreise. Zwar konnte Marie sie nicht sehen, weil sie viel zu hoch flogen, aber ihr aufgeregtes Kreischen war nicht zu überhören. Träumerisch bog sie auf die Dorfstraße ab. Sie liebte diese Jahreszeit, wenn der Frühling langsam dem Sommer Platz machte und alles noch frisch, saftig und grün war.
In diesem Moment quietschten Bremsen, und ein Mofafahrer in Wehrmachtsuniform kam gerade noch knapp vor ihren Füßen zum Stehen. Marie hüpfte erschreckt zur Seite.
»Ach du liebe Güte!« Der Mann sprang vom Moped und nahm seinen Helm ab. »Ist Ihnen etwas passiert?«
Marie schüttelte den Kopf und kniff die Augen zusammen, um ihr Gegenüber besser betrachten zu können.
»Wie leichtsinnig, einfach auf die Straße zu rennen! Haben Sie mich denn nicht gehört oder gesehen?« Seine tiefe Stimme hatte trotz der Aufregung einen so angenehmen Klang, dass Marie mit einem Mal eine Gänsehaut bekam.
»Nein«, antwortete sie wahrheitsgemäß und trat noch einen Schritt näher an das Motorrad. Sie musste wissen, wem diese wunderschöne Stimme gehörte.
»Nein?« Der Mofafahrer schob sich die Schutzbrille auf die Haare. Der forschende Blick seiner moosgrünen Augen traf Marie mit voller Wucht. Ihr Herz begann, schneller zu klopfen.
»Ich ... äh ... also ...«, stammelte sie und klappte ihren Mund überrascht wieder zu. Es kam nur selten vor, dass sie nichts Vernünftiges herausbrachte.
»Wohl in Gedanken woanders gewesen, was?« Das Gesicht mit den wunderschönen grünen Augen verzog sich zu einem jungenhaften Lächeln.
»Sozusagen. Ich habe den Mauerseglern beim Fliegen zugehört.« Obwohl das der Wahrheit entsprach, merkte Marie selbst, wie seltsam das klang.
Die Reaktion des Mannes fiel entsprechend belustigt aus. »Fliegen sie heute denn besonders laut?«, wollte er wissen und blickte prüfend Richtung Himmel.
»Kann schon sein«, murmelte Marie.
Er lachte. »Das müssen sie wohl, denn Sie haben ja nicht einmal meine Hupe gehört.«
»Tut mir leid.«
»Ist schon gut. Darf ich wissen, wer mir vors Mofa gelaufen ist?«
»Ich heiße Marie.«
»Marie?«, fragte er überrascht. »Was für ein schöner Zufall!«
»Warum? Heißen Sie auch Marie?« Sofort biss sich Marie auf die Lippen. So eine dumme Frage!
Er grinste. »Nein, natürlich nicht. Aber ich interessiere mich für Naturkunde, besonders für Insekten und ganz speziell für Marienkäfer.«
»Marienkäfer?«
»Ja. Hier in Masuren gibt es sehr viele Käfer. Sie lieben das Moor und die Wiesen. Das ist also ein idealer Standort für ein paar Untersuchungen.«
Verstohlen musterte Marie seine Uniform. »Eine ziemlich ungewöhnliche Beschäftigung für einen Soldaten.«
»Auch Soldaten haben mal Urlaub.«
»Bleiben Sie länger hier?«
»Leider nicht. Nur vierzehn Tage, dann muss ich zurück zu meiner Einheit nach Allenstein.«
»Das ist nicht weit von hier entfernt«, stellte Marie fest und wunderte sich, dass diese Tatsache sie froh machte.
Er nickte. »Mit dem Motorrad sind es gerade einmal zwei Stunden. Ich denke, ich werde im Sommer wohl öfter vorbeikommen. Pfarrer Simoneit ist ein alter Freund meines Vaters.«
»Aha«, murmelte Marie zerstreut. Was war bloß heute mit ihr los?
»Wir werden uns bestimmt häufiger treffen.«
»Äh ... ja. Wahrscheinlich.« Sie tastete mit der Hand nach dem Motorradlenker, um sich festzuhalten, denn unter seinem Blick wurde ihr schwindelig.
»Ist Ihnen nicht gut?« Er legte seine Hand vorsichtig unter ihren Arm, um sie zu stützen.
»Doch, doch«, versicherte Marie. Als er daraufhin jedoch seine Hand von ihrem Arm nahm, fügte sie mit einem schüchternen Lächeln hinzu: »Obwohl - vielleicht ist mir doch ein wenig flau im Magen.«
Sofort ergriff er wieder ihren Ellenbogen. »Darf ich Sie nach Hause begleiten?«
Marie schlug die Augen nieder, unfähig, etwas zu sagen. Die Wärme seiner Finger brannte auf ihrer Haut. Diese Art von Feuer war völlig neu für sie - und es gefiel ihr. Erschreckt von ihren eigenen Gedanken räusperte sie sich. »Gern, Herr ...? Ich weiß immer noch nicht, mit wem ich das Vergnügen habe.«
»Mein Name ist Johann Zabel.«
»Johann«, hauchte Marie und sah zu ihm auf. Als sich ihre Augen trafen, durchzuckten Marie zwei Erkenntnisse gleichzeitig.
Erstens: Es gab sie doch, die Liebe auf den ersten Blick.
Dies hier war der beste Beweis dafür. Denn sie hatte sich
soeben unsterblich in Johann Zabel verliebt. Und zweitens: Johann schien es ähnlich zu ergehen. Aber war das nicht schrecklich unvernünftig?
Dortmund, im April 2010
1
An jedem zweiten Mittwoch im Monat trafen sich die weiblichen Nachkommen der Familie Zabel zum Kaffeeklatsch.
Seit fast vierzig Jahren schon hielten die Zwillingsschwestern Katharina und Helene, geborene Zabel, an dieser Tradition fest. Zu Anfang, in den siebziger Jahren, hatten die beiden Frauen allein am Küchentisch gesessen, Kaffee getrunken und trockenen Streuselkuchen gegessen, während ihre Töchter im benachbarten Kinderzimmer miteinander spielten.
Im Laufe der Jahre wandelte sich das Bild. Zuerst zogen die Schwestern aus der Küche an den wesentlich gemütlicheren Esstisch ins Wohnzimmer. Dann wechselten sie, der Gesundheit zuliebe, von koffeinhaltigem zu koffeinfreiem Kaffee und verfeinerten ihre Backkünste: Phantasievolle Kreationen wie Donauwelle oder Philadelphia- Torte ersetzten das langweilige Gebäck. Und schließlich brachten sie ihre inzwischen erwachsenen Töchter mit mehr oder weniger liebevollem Druck dazu, sich an den Treffen zu beteiligen. So wuchs die Runde nun auf fünf Personen: Neben Katharina und Helene würden auch Lisa-Marie, Lou und Anne in Zukunft regelmäßig am Kaffeetisch Platz nehmen. Aber die Mädchen stellten Bedingungen für ihre Teilnahme. Sie legten die Dauer des Zusammenseins auf zwei Stunden fest. Offiziell, weil sie durch ein ausgefülltes Berufs- und Privatleben leider nicht mehr Zeit erübrigen konnten. Der eigentliche Grund war jedoch, dass ihnen nach spätestens zwei Stunden der Gesprächsstoff ausging. Was hatten sich drei so unterschiedliche Frauen schon großartig zu erzählen?
Als Nächstes überzeugten sie ihre Mütter, dass die Treffen ab jetzt regelmäßig im Wechsel von der jüngeren Generation ausgerichtet werden müssten. Die Gastgeberin selbst sollte nur den Kaffeetisch und die Getränke bereitstellen. Für den Kuchen müssten die Gäste sorgen - ebenfalls im Wechsel.
»›Rotation‹ ist das Zauberwort«, erklärte die tüchtige Lou ihren weiblichen Verwandten. »Dadurch hat nicht eine von uns die ganze Arbeit.«
»Apropos Arbeit: Wir können uns nur mittwochs treffen «, verlangte Lisa-Marie, die Buchhändlerin. »Das ist der einzige Wochentag, an dem mein Laden nachmittags geschlossen ist.«
»Und wenn wir bei mir sind, muss ich vorher meine Kinder wegsperren«, sagte Anne besorgt. »Sonst haben wir keine ruhige Minute.«
»Aber Anne, das ist nun wirklich übertrieben!«, wies Helene ihre Tochter zurecht.
»O nein, bestimmt nicht!«
»Meine Enkelkinder sind doch so lieb!«
»Zu dir vielleicht ...«
»Können wir bitte auf das eigentliche Problem zurückkommen? «, fragte Lou, die immer sehr schnell ungeduldig wurde.
»Die Kinder sind mein eigentliches Problem.«
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Autoren-Porträt von Heike Wanner
Heike Wanner arbeitet als Angestellte bei einer Fluggesellschaft und lebt in der Nähe von Wiesbaden. Sie ist verheiratet und hat einen Sohn.
Bibliographische Angaben
- Autor: Heike Wanner
- 2013, 7. Aufl., 352 Seiten, Maße: 12 x 18,9 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 354828471X
- ISBN-13: 9783548284712
- Erscheinungsdatum: 13.02.2013
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