Weil es sagbar ist
Über Zeugenschaft und Gerechtigkeit
Wie lässt sich von Krieg und Gewalt erzählen? Warum lässt Gewalt die Betroffenen oft verstummen? Was bedeutet das für uns, die Verschonten?
Carolin Emcke bereist seit Jahren von Krieg und Gewalt versehrte Länder. Immer wieder wird sie gebeten, die...
Carolin Emcke bereist seit Jahren von Krieg und Gewalt versehrte Länder. Immer wieder wird sie gebeten, die...
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Produktinformationen zu „Weil es sagbar ist “
Klappentext zu „Weil es sagbar ist “
Wie lässt sich von Krieg und Gewalt erzählen? Warum lässt Gewalt die Betroffenen oft verstummen? Was bedeutet das für uns, die Verschonten? Carolin Emcke bereist seit Jahren von Krieg und Gewalt versehrte Länder. Immer wieder wird sie gebeten, die schrecklichen Erlebnisse der Menschen aufzuschreiben.
Gibt es dabei Grenzen des Verstehens? Schwellen des Sagbaren? Welche Bedingungen muss eine Gesellschaft schaffen, damit die Opfer von Gewalt über das Erlittene sprechen können?
Diesen Fragen stellt sich Carolin Emcke mit ihren Essays in der Überzeugung, dass es nicht nur möglich, sondern nötig ist, vom Leid anderer zu erzählen -- für die Opfer von Gewalt ebenso wie für die Gemeinschaft, in der wir leben wollen. Sie argumentiert gegen das "Unbeschreibliche" und für das Ethos der Empathie und des Erzählens.
»Carolin Emcke (...) arbeitet mit einer gedanklichen und sprachlichen Präzision, die ihresgleichen sucht, und einem intellektuellen Mut, der bewundernswert ist.« Heribert Prantl
Der Band enthält außer dem eigens für diesen Band verfassten Essay "Weil es sagbar ist: Über Zeugenschaft und Gerechtigkeit" auch folgende schon einmal veröffentlichten Texte:
"Anatomie der Folter", erschienen in: Le Monde Diplomatique 12. August 2005
"Das Leid der Anderen", erschienen in: DIE ZEIT, 17. Dezember 2008
"Liberaler Rassismus", erschienen in: DIE ZEIT, 25. Februar 2010
"Der verdoppelte Hass der modernen Islamfeindlichkeit", erschienen in: "Deutsche Zustände - Bd.9", hrsg. von Wilhelm Heitmeyer, Berlin 2011
"Heimat - das Heimatland der Phantasie", Vortrag auf einer Tagung von Bündnis 90/Die Grünen am 22. Juni 2009
"Über das Reisen 1 - 3", drei Essays für das Nachtstudio des Bayerischen Rundfunk
Lese-Probe zu „Weil es sagbar ist “
Weil es sagbar ist - Über Zeugenschaft und Gerechtigkeit von Carolin Emcke»WEIL ES SAGBAR IST« Über Zeugenschaft und Gerechtigkeit
Einleitung
»In den schrecklichen Jahren des Justizterrors unter Jeshow habe ich siebzehn Monate mit Schlangestehen in den Gefängnissen von Leningrad verbracht. Auf irgendeine Weise ›erkannte‹ mich einmal jemand. Da erwachte die hinter mir stehende Frau mit blauen Lippen, die meinen Namen natürlich niemals gehört hatte, aus jener Erstarrung, die uns allen eigen war, und flüsterte mir ins Ohr die Frage (dort sprachen alle im Flüsterton):
›Und Sie können dies beschreiben?‹
Und ich sagte:
›Ja.‹
Da glitt etwas wie ein Lächeln über das, was einmal ihr Gesicht gewesen war.«
Anna Achmatowa, 1.April 1957, Leningrad
Wieder und wieder bitten Menschen in Not, Eingeschlossene oder Ausgeschlossene, Opfer von Krieg oder Gewalt, ein Gegenüber darum, »davon« zu erzählen.
Warum? Was geschieht in einer solchen Szene?
»Und Sie können dies beschreiben?«, es klingt unsicher, ängstlich auch (»dort sprachen wir alle im Flüsterton«), aber vor allem karg: In einem Wort nur verbirgt sich der Schrecken über eine Erfahrung, die die Fähigkeit, sie zu beschreiben, unterwandert hat: »dies«.
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Was ist »dies«? Genauer: Was ist es an diesem »dies«, das es zu einem sprachlichen Problem macht? Was daran ist unsäglich? Warum braucht die Frau »mit den blauen Lippen« eine andere, eine Fremde? Warum kann sie ihre Erlebnisse im Gefängnis nicht selbst beschreiben - so wie sie vermutlich den Besuch der Nachbarin, den ersten Schultag ihres Kindes oder das Einholen der letzten Ernte in Worte fassen kann? Ist etwas dem Unrecht oder Leid zu eigen, das sich nicht darstellen lässt? Lähmt Gewalt wie der Blick der Medusa jene, die sie erfahren?
Bestimmte Erlebnisse scheinen nicht erst die Möglichkeit zu begrenzen, sie zu beschreiben, sondern schon das Vermögen, sie zu erfassen. Extremes Unrecht und Gewalt stellen eine Anomalie dar, sie widersprechen jeder unversehrten Welterfahrung. Sie brechen ein in das Leben von Menschen, die nicht begreifen können, was ihnen da geschieht. Das Erlebnis scheint entkoppelt von allem, was vorher geschah, es reiht sich nicht ein in die eigene Geschichte, in das Verständnis dessen, was und wer man selbst einmal war und wer die anderen waren. Und das Erlebnis scheint entkoppelt von allem, was geschehen sollte, es passt nicht zu der eigenen moralischen Erwartung, zu dem, was und wer andere sein sollten. Der zivilisatorische Bruch eines Unrechts zieht sich durch verschiedene Schichten, erschüttert zweifach: die Beziehung des Opfers zu sich selbst und seine Beziehung zur Welt. Diese normative Störung vertieft den Riss zwischen innerhalb und außerhalb der Zone der Gewalt, zwischen Betroffenen und Außenstehenden.
So werden Leid und Gewalt zu einem sprachlichen Problem: Die Erlebnisse scheinen nicht beschreibbar, weil die Betroffenen sie selbst nicht verstehen, weil sie alles zu übersteigen drohen, was vorher als Erfahrung zählte. Zu harmlos wirken die üblichen Begriffe angesichts des Schreckens, zu flach. Um die Verwüstungen zu beschreiben, müssten Worte, eines nach dem anderen, an »dies« angelegt werden, wie Pailletten an einen Stoff, bis sie alles bedecken.
Und die Erlebnisse erscheinen anderen nicht vermittelbar, weil sie die, die sie durchleiden, absondern von denen, die verschont wurden. Zu kurz scheint jede Erzählung angesichts des Schreckens, zu dünn, um die Last der ganzen Erfahrung tragen zu können.
»Und Sie können dies beschreiben?« Die Satzstellung suggeriert, die Fragende selbst habe sich schon daran versucht - und sei gescheitert. Als ob es einer speziellen Gabe bedürfte, Elend zu beschreiben. Schon als sie nur ahnt, dass eine Dichterin unter ihnen, den Opfern des Regimes, sein könnte, »erwachte« sie »aus jener Erstarrung«.
Was ist »jene Erstarrung«, aus der die Frau mit den blauen Lippen erst mit der Aussicht auf Zeugenschaft durch eine andere »erwacht«?
Verzweiflung und Schmerz legen sich wie eine Schale um die betroffene Person und schließen sie ein. So vergrößert sich der Radius der Gewalt, weitet sich aus und beschädigt. Erlittene Gewalt nistet sich ein, sie lagert sich ab, lässt »erstarren«, artikuliert sich in Gesten, Bewegungen, Wortfetzen oder im Schweigen.
Darin aber, in dem Schweigen der Opfer von extremem Unrecht und Gewalt, liegt die perfideste Kunst solcher Verbrechen: seine eigenen Spuren zu verwischen. Denn wenn sich strukturelle und physische Gewalt einschreibt in ihre Opfer, wenn sie die physische und psychische Integrität einer Person verletzt, wenn extremes Unrecht und Gewalt die erzählerische Kompetenz angreift, dann bleibt sie unbemerkt und wirkt fort.
»Da glitt etwas wie ein Lächeln über das, was einmal ihr Gesicht gewesen war«, schreibt Achmatowa und verweist so auf das Ethos der Zeugenschaft, auf die Kraft des Erzählens für eine andere.
»... das, was einmal ihr Gesicht gewesen war«? Die Frau bleibt in Achmatowas Text namenlos, sie ist anfangs nur eine weitere Person in einer der Schlangen im Gefängnis, »die hinter mir stehende Frau«, sie erscheint als eine von allen, sie hat jene Erstarrung, »die uns allen zu eigen war«, sie flüstert, »dort sprachen alle im Flüsterton«, sie scheint ihrer Individualität (ihres Gesichts) beraubt, das einzige Merkmal sind die »blauen Lippen«.
Erst als sie weiß, dass ihre Erlebnisse durch eine andere in Worte gefasst werden, erhält sie ein menschliches Antlitz zurück. Erst als sie weiß, dass eine andere zu sprechen, zu erzählen in der Lage ist, erhält sie ihre Subjektivität wieder zurück. Sie weiß: diese Erlebnisse werden nicht unbeschrieben bleiben. Mindestens eine von ihnen allen wird erzählen können, was geschah, mindestens eine von ihnen wird aus den Erlebnissen der Einzelnen eine Erfahrung machen, von der andere hören können und müssen.
Als ich, vor ungefähr zwanzig Jahren, diese Zeilen von Anna Achmatowa zum ersten Mal las, damals noch Studentin der Diskurs-Ethik in Frankfurt am Main, war es dieser Zusammenhang von Gewalt und Sprachlosigkeit, der mich umtrieb. Wenn Opfer von Gewalt in ihrer Fähigkeit beschädigt würden, das erfahrene Leid zu beschreiben, wenn es keinen oder keine gab, der oder die für sie spräche, dann wäre die Sprachlosigkeit nicht nur ein hermeneutisches oder psychologisches Problem, sondern auch eines der Gerechtigkeit. Wenn Opfer von Gewalt das, was ihnen widerfahren war, nicht erzählen könnten, würden Diktatoren und Folterer obsiegen.
Wann immer ich in der Folge diesen kleinen Text von Achmatowa las, konzentrierte ich mich auf den ersten und den letzten Teil: auf die Versehrung der Frau mit den blauen Lippen und ihre Frage »Und Sie können dies beschreiben? « Und auf ihre Wandlung aus der Erstarrung, dem Flüstern, hin zu »da glitt etwas wie ein Lächeln über das, was einmal ihr Gesicht gewesen war«, dieser Hoffnung, die sich in dem Lächeln andeutet. Dieses Lächeln, das mit der Würde zu tun hat, die es allein nicht gibt, die immer nur zu zweit aufscheint - hier in jenem Moment, in dem eine für eine andere zu erzählen verspricht.
Zwischen der Leserin von damals und der von heute liegen vierzehn Jahre, die ich reisend und zuhörend als Reporterin in Kriegs- und Krisengebieten verbracht habe. Nicht nur, aber auch. Vierzehn Jahre, in denen ich vor Frauen mit blauen Lippen saß und vor erstarrten Männern, in Flüchtlingslagern oder Verstecken, in Gefängnissen oder Wellblechhütten, am Wegesrand oder auf den Ladeflächen von Traktoranhängern, eingesperrt oder ausgesperrt, vertrieben oder verloren, und versuchte zu verstehen, was ihnen widerfahren war.
Sie konnten nicht einfach nur »dies« sagen. Denn ich war nicht eine von ihnen. Ich wusste nicht, was »dies« bedeutete. Ich war eine Fremde, zugereist in diese Landschaft aus Gewalt und Zerstörung. Ich teilte ihre Erlebnisse nicht. Sie mussten mir mitteilen, was sie durchgemacht hatten. So gut es ging. Manche schwiegen, manche stockten, manche erzählten rückwärts, manche verhaspelten sich, so schnell wollten sie ihre Geschichte mitteilen, manches kam nur bruchstückhaft heraus, nicht selten gab es erzählerische Schwellen, über die sie nicht hinwegkonnten oder -wollten, viele weinten, manche nicht, ihre Erzählungen klangen oft unwahrscheinlich, auch nicht eigentlich intelligibel, aber wieder und wieder, in zahllosen Begegnungen überall auf der Welt, tauchte, in allen Sprachen, diese eine Frage auf: »Schreibst du das auf?«, flehend oft, fordernd auch, manchmal begleitet von einem nachdrücklichen Blick in mein Notizbuch, auf die schwarzen Buchstaben, die doch, bitte, ihre Erfahrung dingfest machen sollten.
Erst mit der Zeit begann ich zu ahnen, dass sie mich nicht allein darum baten, weil sie das Unrecht und Leid, das ihnen widerfahren war, bestätigt und erinnert wissen wollten, sondern auch, weil sie als die Person bestätigt und vergewissert werden wollten, die sie waren, bevor ihnen all das widerfuhr: jemand, die es wert ist, wahrgenommen zu werden, als Individuum, als menschliches Subjekt.
All die Jahre blieb mir die Geschichte von Anna Achmatowa im Gedächtnis, all die Jahre begleitete mich die Vorstellung von dem »Lächeln, auf dem, was einmal ihr Gesicht gewesen war«, und sie schien sich zu spiegeln in den Gesprächen und Begegnungen im Kosovo, in Afghanistan, Irak, Haiti oder Israel.
Aber erst heute, nach all diesen Reisen, zwanzig Jahre nach der ersten Lektüre von Anna Achmatowa, fällt mir der Teil der Geschichte auf, dem ich früher keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte: das »Ja«.
Vielleicht weil sie mir früher so selbstverständlich erschien, diese Antwort, vielleicht weil ich damals, bevor ich zu reisen begann, als Schülerin der Frankfurter Schule, mich meiner Fähigkeit so sicher wähnte, die eigene Perspektive wechseln, die existentiellen Erfahrungen eines anderen nicht nur nachvollziehen, sondern auch artikulieren zu können.
Gewiss, daran glaube ich noch immer: dass es das kategorial »Andere« nicht gibt, dass es sich einfühlen lässt in andere kulturelle, religiöse, ästhetische Lebenswelten, dass sich andere Praktiken und Überzeugungen als die eigenen verstehen lassen. Nicht nur das, sondern dass diese Empathie unverzichtbar ist, für uns alle.
Aber heute, mit dem Wissen auch um die ethische Last der Zeugenschaft, mit der Angst des erzählerischen (und damit auch moralischen) Versagens, nämlich eben »dies« nicht angemessen beschreiben zu können, erstaunt mich vor allem das selbstbewusste »Ja«.
Es mag seltsam altmodisch erscheinen, das doppelte Ansinnen dieses Essays: einerseits die Schwellen des Erzählbaren zu lokalisieren und andererseits ebendiese Schwellen als - gemeinsam - überschreitbare zu behaupten. Einerseits die Wirkungsmacht von Leid und Gewalt zu beschreiben, wie sie ihre Opfer verunsichern, verstören, versehren, wie sie die eigene Vorstellungskraft übersteigen, das Vertrauen in die Welt irritieren, die Fähigkeit, »dies zu beschreiben«. Andererseits aber die Möglichkeit des Mitteilens, des An-Vertrauens an jemand anderen, und die Aufgabe der »Re-Humanisierung durch Zeugenschaft« zu beleuchten.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main.
Was ist »dies«? Genauer: Was ist es an diesem »dies«, das es zu einem sprachlichen Problem macht? Was daran ist unsäglich? Warum braucht die Frau »mit den blauen Lippen« eine andere, eine Fremde? Warum kann sie ihre Erlebnisse im Gefängnis nicht selbst beschreiben - so wie sie vermutlich den Besuch der Nachbarin, den ersten Schultag ihres Kindes oder das Einholen der letzten Ernte in Worte fassen kann? Ist etwas dem Unrecht oder Leid zu eigen, das sich nicht darstellen lässt? Lähmt Gewalt wie der Blick der Medusa jene, die sie erfahren?
Bestimmte Erlebnisse scheinen nicht erst die Möglichkeit zu begrenzen, sie zu beschreiben, sondern schon das Vermögen, sie zu erfassen. Extremes Unrecht und Gewalt stellen eine Anomalie dar, sie widersprechen jeder unversehrten Welterfahrung. Sie brechen ein in das Leben von Menschen, die nicht begreifen können, was ihnen da geschieht. Das Erlebnis scheint entkoppelt von allem, was vorher geschah, es reiht sich nicht ein in die eigene Geschichte, in das Verständnis dessen, was und wer man selbst einmal war und wer die anderen waren. Und das Erlebnis scheint entkoppelt von allem, was geschehen sollte, es passt nicht zu der eigenen moralischen Erwartung, zu dem, was und wer andere sein sollten. Der zivilisatorische Bruch eines Unrechts zieht sich durch verschiedene Schichten, erschüttert zweifach: die Beziehung des Opfers zu sich selbst und seine Beziehung zur Welt. Diese normative Störung vertieft den Riss zwischen innerhalb und außerhalb der Zone der Gewalt, zwischen Betroffenen und Außenstehenden.
So werden Leid und Gewalt zu einem sprachlichen Problem: Die Erlebnisse scheinen nicht beschreibbar, weil die Betroffenen sie selbst nicht verstehen, weil sie alles zu übersteigen drohen, was vorher als Erfahrung zählte. Zu harmlos wirken die üblichen Begriffe angesichts des Schreckens, zu flach. Um die Verwüstungen zu beschreiben, müssten Worte, eines nach dem anderen, an »dies« angelegt werden, wie Pailletten an einen Stoff, bis sie alles bedecken.
Und die Erlebnisse erscheinen anderen nicht vermittelbar, weil sie die, die sie durchleiden, absondern von denen, die verschont wurden. Zu kurz scheint jede Erzählung angesichts des Schreckens, zu dünn, um die Last der ganzen Erfahrung tragen zu können.
»Und Sie können dies beschreiben?« Die Satzstellung suggeriert, die Fragende selbst habe sich schon daran versucht - und sei gescheitert. Als ob es einer speziellen Gabe bedürfte, Elend zu beschreiben. Schon als sie nur ahnt, dass eine Dichterin unter ihnen, den Opfern des Regimes, sein könnte, »erwachte« sie »aus jener Erstarrung«.
Was ist »jene Erstarrung«, aus der die Frau mit den blauen Lippen erst mit der Aussicht auf Zeugenschaft durch eine andere »erwacht«?
Verzweiflung und Schmerz legen sich wie eine Schale um die betroffene Person und schließen sie ein. So vergrößert sich der Radius der Gewalt, weitet sich aus und beschädigt. Erlittene Gewalt nistet sich ein, sie lagert sich ab, lässt »erstarren«, artikuliert sich in Gesten, Bewegungen, Wortfetzen oder im Schweigen.
Darin aber, in dem Schweigen der Opfer von extremem Unrecht und Gewalt, liegt die perfideste Kunst solcher Verbrechen: seine eigenen Spuren zu verwischen. Denn wenn sich strukturelle und physische Gewalt einschreibt in ihre Opfer, wenn sie die physische und psychische Integrität einer Person verletzt, wenn extremes Unrecht und Gewalt die erzählerische Kompetenz angreift, dann bleibt sie unbemerkt und wirkt fort.
»Da glitt etwas wie ein Lächeln über das, was einmal ihr Gesicht gewesen war«, schreibt Achmatowa und verweist so auf das Ethos der Zeugenschaft, auf die Kraft des Erzählens für eine andere.
»... das, was einmal ihr Gesicht gewesen war«? Die Frau bleibt in Achmatowas Text namenlos, sie ist anfangs nur eine weitere Person in einer der Schlangen im Gefängnis, »die hinter mir stehende Frau«, sie erscheint als eine von allen, sie hat jene Erstarrung, »die uns allen zu eigen war«, sie flüstert, »dort sprachen alle im Flüsterton«, sie scheint ihrer Individualität (ihres Gesichts) beraubt, das einzige Merkmal sind die »blauen Lippen«.
Erst als sie weiß, dass ihre Erlebnisse durch eine andere in Worte gefasst werden, erhält sie ein menschliches Antlitz zurück. Erst als sie weiß, dass eine andere zu sprechen, zu erzählen in der Lage ist, erhält sie ihre Subjektivität wieder zurück. Sie weiß: diese Erlebnisse werden nicht unbeschrieben bleiben. Mindestens eine von ihnen allen wird erzählen können, was geschah, mindestens eine von ihnen wird aus den Erlebnissen der Einzelnen eine Erfahrung machen, von der andere hören können und müssen.
Als ich, vor ungefähr zwanzig Jahren, diese Zeilen von Anna Achmatowa zum ersten Mal las, damals noch Studentin der Diskurs-Ethik in Frankfurt am Main, war es dieser Zusammenhang von Gewalt und Sprachlosigkeit, der mich umtrieb. Wenn Opfer von Gewalt in ihrer Fähigkeit beschädigt würden, das erfahrene Leid zu beschreiben, wenn es keinen oder keine gab, der oder die für sie spräche, dann wäre die Sprachlosigkeit nicht nur ein hermeneutisches oder psychologisches Problem, sondern auch eines der Gerechtigkeit. Wenn Opfer von Gewalt das, was ihnen widerfahren war, nicht erzählen könnten, würden Diktatoren und Folterer obsiegen.
Wann immer ich in der Folge diesen kleinen Text von Achmatowa las, konzentrierte ich mich auf den ersten und den letzten Teil: auf die Versehrung der Frau mit den blauen Lippen und ihre Frage »Und Sie können dies beschreiben? « Und auf ihre Wandlung aus der Erstarrung, dem Flüstern, hin zu »da glitt etwas wie ein Lächeln über das, was einmal ihr Gesicht gewesen war«, dieser Hoffnung, die sich in dem Lächeln andeutet. Dieses Lächeln, das mit der Würde zu tun hat, die es allein nicht gibt, die immer nur zu zweit aufscheint - hier in jenem Moment, in dem eine für eine andere zu erzählen verspricht.
Zwischen der Leserin von damals und der von heute liegen vierzehn Jahre, die ich reisend und zuhörend als Reporterin in Kriegs- und Krisengebieten verbracht habe. Nicht nur, aber auch. Vierzehn Jahre, in denen ich vor Frauen mit blauen Lippen saß und vor erstarrten Männern, in Flüchtlingslagern oder Verstecken, in Gefängnissen oder Wellblechhütten, am Wegesrand oder auf den Ladeflächen von Traktoranhängern, eingesperrt oder ausgesperrt, vertrieben oder verloren, und versuchte zu verstehen, was ihnen widerfahren war.
Sie konnten nicht einfach nur »dies« sagen. Denn ich war nicht eine von ihnen. Ich wusste nicht, was »dies« bedeutete. Ich war eine Fremde, zugereist in diese Landschaft aus Gewalt und Zerstörung. Ich teilte ihre Erlebnisse nicht. Sie mussten mir mitteilen, was sie durchgemacht hatten. So gut es ging. Manche schwiegen, manche stockten, manche erzählten rückwärts, manche verhaspelten sich, so schnell wollten sie ihre Geschichte mitteilen, manches kam nur bruchstückhaft heraus, nicht selten gab es erzählerische Schwellen, über die sie nicht hinwegkonnten oder -wollten, viele weinten, manche nicht, ihre Erzählungen klangen oft unwahrscheinlich, auch nicht eigentlich intelligibel, aber wieder und wieder, in zahllosen Begegnungen überall auf der Welt, tauchte, in allen Sprachen, diese eine Frage auf: »Schreibst du das auf?«, flehend oft, fordernd auch, manchmal begleitet von einem nachdrücklichen Blick in mein Notizbuch, auf die schwarzen Buchstaben, die doch, bitte, ihre Erfahrung dingfest machen sollten.
Erst mit der Zeit begann ich zu ahnen, dass sie mich nicht allein darum baten, weil sie das Unrecht und Leid, das ihnen widerfahren war, bestätigt und erinnert wissen wollten, sondern auch, weil sie als die Person bestätigt und vergewissert werden wollten, die sie waren, bevor ihnen all das widerfuhr: jemand, die es wert ist, wahrgenommen zu werden, als Individuum, als menschliches Subjekt.
All die Jahre blieb mir die Geschichte von Anna Achmatowa im Gedächtnis, all die Jahre begleitete mich die Vorstellung von dem »Lächeln, auf dem, was einmal ihr Gesicht gewesen war«, und sie schien sich zu spiegeln in den Gesprächen und Begegnungen im Kosovo, in Afghanistan, Irak, Haiti oder Israel.
Aber erst heute, nach all diesen Reisen, zwanzig Jahre nach der ersten Lektüre von Anna Achmatowa, fällt mir der Teil der Geschichte auf, dem ich früher keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte: das »Ja«.
Vielleicht weil sie mir früher so selbstverständlich erschien, diese Antwort, vielleicht weil ich damals, bevor ich zu reisen begann, als Schülerin der Frankfurter Schule, mich meiner Fähigkeit so sicher wähnte, die eigene Perspektive wechseln, die existentiellen Erfahrungen eines anderen nicht nur nachvollziehen, sondern auch artikulieren zu können.
Gewiss, daran glaube ich noch immer: dass es das kategorial »Andere« nicht gibt, dass es sich einfühlen lässt in andere kulturelle, religiöse, ästhetische Lebenswelten, dass sich andere Praktiken und Überzeugungen als die eigenen verstehen lassen. Nicht nur das, sondern dass diese Empathie unverzichtbar ist, für uns alle.
Aber heute, mit dem Wissen auch um die ethische Last der Zeugenschaft, mit der Angst des erzählerischen (und damit auch moralischen) Versagens, nämlich eben »dies« nicht angemessen beschreiben zu können, erstaunt mich vor allem das selbstbewusste »Ja«.
Es mag seltsam altmodisch erscheinen, das doppelte Ansinnen dieses Essays: einerseits die Schwellen des Erzählbaren zu lokalisieren und andererseits ebendiese Schwellen als - gemeinsam - überschreitbare zu behaupten. Einerseits die Wirkungsmacht von Leid und Gewalt zu beschreiben, wie sie ihre Opfer verunsichern, verstören, versehren, wie sie die eigene Vorstellungskraft übersteigen, das Vertrauen in die Welt irritieren, die Fähigkeit, »dies zu beschreiben«. Andererseits aber die Möglichkeit des Mitteilens, des An-Vertrauens an jemand anderen, und die Aufgabe der »Re-Humanisierung durch Zeugenschaft« zu beleuchten.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main.
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Autoren-Porträt von Carolin Emcke
Carolin Emcke, geboren 1967, studierte Philosophie in London, Frankfurt/Main und Harvard. Sie promovierte über den Begriff »kollektiver Identitäten«.Von 1998 bis 2013 bereiste Carolin Emcke weltweit Krisenregionen und berichtete darüber. 2003/2004 war sie als Visiting Lecturer für Politische Theorie an der Yale University.Sie ist freie Publizistin und engagiert sich immer wieder mit künstlerischen Projekten und Interventionen, u.a. die Thementage »Krieg erzählen« am Haus der Kulturen der Welt. Seit über zehn Jahren organisiert und moderiert Carolin Emcke die monatliche Diskussionsreihe »Streitraum« an der Schaubühne Berlin. Für ihr Schaffen wurde sie mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Theodor-Wolff-Preis, dem Otto-Brenner-Preis für kritischen Journalismus, dem Lessing-Preis des Freistaates Sachsen und dem Merck-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. 2016 erhielt sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Bei S. Fischer erschienen 'Von den Kriegen. Briefe an Freunde', 'Stumme Gewalt. Nachdenken über die RAF', 'Wie wir begehren', 'Weil es sagbar ist: Über Zeugenschaft und Gerechtigkeit' sowie 'Gegen den Hass'.»Emckes Texte halten die Frage lebendig, ob es gleichgültig ist, wenn Menschen übertönt werden und verstummen, während andere beredt ihre Macht ausüben.«Elisabeth von Thadden, Die Zeit»Gut also, dass mit dem Friedenspreis [...] eine Autorin ausgezeichnet wird, die erfolgreich an der moralischen Aufladung der politischen Auseinandersetzung des öffentlichen Geredes arbeitet.«Jens Bisky, Süddeutsche ZeitungLiteraturpreise:»Das Politische Buch« der Friedrich-Ebert-Stiftung (2005)Förderpreis des Ernst-Bloch-Preises (2006)Theodor-Wolff-Preis in der Kategorie Essay für den Beitrag »Stumme Gewalt«, erschienen im »ZEITmagazin« vom 06.09.2007 (2008)Otto Brenner Preis für kritischen Journalismus 2010Deutscher Reporterpreis 2010 für die beste ReportageJournalistin des Jahres 2010 (ausgezeichnet vom 'medium magazin')Journalistenpreis für Kinderrechte
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der Ulrich-Wickert-Stiftung 2012Johann-Heinrich-Merck-Preis der Deutschen Akademie für Dichtung und Sprache (2014)Lessing-Preis des Freistaats Sachsen (2015)Preis der Lichtenberg Poetik-Dozentur (2015)Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (2016)
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Bibliographische Angaben
- Autor: Carolin Emcke
- 2013, 1. Auflage, 224 Seiten, Maße: 13,3 x 21,1 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: S. Fischer Verlag GmbH
- ISBN-10: 3100170199
- ISBN-13: 9783100170194
- Erscheinungsdatum: 07.10.2013
Rezension zu „Weil es sagbar ist “
ein scharfsinniges und eindrucksvolles Plädoyer für die Kraft des Erzählens Frieder Wolfsberger Gehirn & Geist 20140404
Pressezitat
ein scharfsinniges und eindrucksvolles Plädoyer für die Kraft des Erzählens Frieder Wolfsberger Gehirn & Geist 20140404
Kommentar zu "Weil es sagbar ist"
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