Wir sind doch Schwestern
Roman
Drei Schwestern, drei Leben, drei Lieben - und das Porträt eines ganzen Jahrhunderts. Anne Gesthuysens mitreißendes Buch erzählt vom faszinierenden Leben ihrer drei Großtanten Katty, Paula und Gertrud, die zusammen 298 Jahre alt geworden sind, und entfacht ein ganzes Feuerwerk an Geschichten!
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Wir sind doch Schwestern “
Drei Schwestern, drei Leben, drei Lieben - und das Porträt eines ganzen Jahrhunderts. Anne Gesthuysens mitreißendes Buch erzählt vom faszinierenden Leben ihrer drei Großtanten Katty, Paula und Gertrud, die zusammen 298 Jahre alt geworden sind, und entfacht ein ganzes Feuerwerk an Geschichten!
Klappentext zu „Wir sind doch Schwestern “
Adele wird 100. Das Geheimnis ihres langen Lebens: "Starker Kaffee ohne alles und jeden Tag um elf Uhr einen Schnaps." Mit ihren Schwestern Katty und Martha lädt sie zum großen Fest. So unterschiedlich die drei sind, haben sie doch vieles gemeinsam: Eigensinn, Humor und Temperament, das in diesen Tagen auch mal mit den alten Damen durchgeht; schließlich lauert hier auf dem Tackenhof in jedem Winkel die Erinnerung ...
Lese-Probe zu „Wir sind doch Schwestern “
Wir sind doch Schwestern von Anne Gesthuysen Der 100. Geburtstag
Prolog
Er war dunkelgrau mit hellgrauer Maserung und sah aus wie Wolken an einem dieser undefinierten Sommertage, die man am Niederrhein so oft erlebte.
Katty beugte sich tiefer ins Innere des alten Schrankes, um den merkwürdigen Pappdeckel herauszuziehen.
»Au, verflixt!« Sie fluchte und steckte sich wütend den Finger in den Mund, saugte an der kleinen Wunde und schüttelte die Hand. Das alte Holz war porös, jetzt hatte sie einen Splitter in der Haut.
An der Rückwand war eine Vertiefung eingelassen, eine Art Geheimfach, wie man es früher in den Schränken gehabt hatte. Dieses Fach war ihr nie zuvor aufgefallen. Kein Wunder, dachte Katty, sie hatte sich diesen Schrank auch nie genau angesehen. Sie nestelte weiter an der gemaserten Oberfläche, und als die mit einem kleinen Ruck nachgab, fiel ihr ein alter Aktenordner entgegen.
Sie nahm ihn, pustete den Staub ab und öffnete den Deckel:
Im Namen des deutschen Volkes
Katty wusste sofort, was sie da in den Händen hielt. Sie taumelte rückwärts, fand mit ihrem Po das Bett, setzte sich und las.
... mehr
Die Überschrift über dem Urteil war doppelt unterstrichen und mit einem Ausrufezeichen versehen. Katty war verwundert. Sie hatte immer gedacht, der Satz »Im Namen des Volkes« gehe nahtlos über in den Nachsatz »ergeht folgendes Urteil«. Sie hatte das schriftliche Urteil nie zu Gesicht bekommen. Den Ordner hielt sie zum ersten Mal in der Hand, und in ihr stritten Neugier und schlechtes Gewissen. Neugier, weil sie sich fragte, ob darin noch Informationen verborgen waren, von denen sie nichts wusste. Und das schlechte Gewissen, weil Heinrich sie auf dem Sterbebett gebeten hatte, den Ordner und alles, was zu dieser Geschichte gehörte, zu verbrennen und zu vergessen.
Da war er nun, der Aktenordner. Katty hatte ihn nie verbrannt. Sie hatte ihn nur vergessen. Als Heinrich sie gebeten hatte, den Ordner nach seinem Tod zu entsorgen, war sie zu entsetzt von der Vorstellung gewesen, dass er bald sterben könnte, und war deshalb nicht auf die Idee gekommen, zu fragen, wo der Ordner sich denn überhaupt befinde. Hier also. Tief im Schrank. Versteckt hinter alten Tischdecken.
Katty legte den Ordner neben sich auf das Bett. Ihr Herz klopfte heftig. Sie starrte auf das graue Etwas, nahm es erneut in die Hand und klappte es wieder auf. Mit dem Daumen fuhr sie an dem Papier entlang. Das Rascheln hörte sich alt an. Es ist alt, dachte Katty, mein Gott, das ist fast fünfzig Jahre her. Ich sollte das olle Ding einfach in den Müll schmeißen. Und doch wusste sie, dass sie es nicht tun würde. Auch wenn es alte Wunden aufrisse und die Scham wieder aufflammen ließe, sie würde dem Drang nicht widerstehen können und alles lesen. Aber nicht jetzt. Später, wenn sie etwas Zeit hätte. Nächste Woche vielleicht. Denn bis dahin gab es noch einiges zu tun. Katty war dabei gewesen, ihr Zimmer auf- und sogar auszuräumen. Ihre Schwester Gertrud würde am nächsten Tag zu Besuch kommen und einige Zeit bleiben. Vielleicht für immer, darüber würde zu reden sein. Aber erst einmal würde gefeiert, denn am kommenden Sonntag hatte Gertrud Geburtstag, nicht irgendeinen: den hundertsten Geburtstag.
Katty wollte ihrer Schwester das Zimmer zur Verfügung stellen, in dem sie selbst normalerweise schlief, da es ebenerdig lag, und sie auf keinen Fall wollte, dass Gertrud jeden Abend die Treppen zu den anderen Schlafräumen hinaufklettern müsste, auch wenn sie dazu körperlich durchaus noch in der Lage gewesen wäre. Gertrud war schlank und drahtig und wenn man es nicht besser gewusst hätte, wäre sie als Achtzigjährige durchgegangen. Ungefähr so alt, wie Katty jetzt war. Und ich, fragte sie sich. Wie alt wirke ich wohl? Sie ging durch die geöffnete Tür ins angrenzende Badezimmer und blickte in den Spiegel. Ihr Haar war honigblond, sie färbte es regelmäßig. Sie hatte kaum Falten, das lag allerdings auch daran, dass sie ein bisschen zu mollig war. Aus den Siebzigerjahren hatte sie zudem ihre Lieblingsbrille behalten. Die war mit ihren quadratischen Gläsern enorm groß und wenn Katty Falten rund um Augen und Nasenwurzel gehabt hätte, wären die hinter dem dicken Horn eh nicht aufgefallen. Knapp sechzig, entschied sie und lächelte. Sie griff ihr Nageletui und holte die Pinzette heraus. Ein kleines Stückchen Holzsplitter steckte noch in ihrem Mittelfinger. Sie ritzte die Haut vorsichtig auf, um das Ende des Splitters besser greifen zu können. Dann entfernte sie den Holzspan und ging zurück ins Zimmer.
Sie putzte schon seit einer ganzen Weile alles im Schlafzimmer, was sie in den letzten Jahren vernachlässigt hatte. Dazu gehörte auch der alte Holzschrank. Den hatte sie nie benutzt und jetzt beschlossen, ihn von Grund auf zu reinigen und die Tischdecken, die darin waren, endlich auszusortieren. Man würde die wenigen, die noch brauchbar waren, zumindest reinigen müssen, sie stanken bestialisch nach Mottenkugeln. Das würde sogar eine hundertjährige Nase noch riechen, und Katty wollte ihrer großen Schwester diesmal so wenig Anlass zur Kritik wie möglich bieten. Sie wünschte sich, dass sowohl das Geburtstagsfest als auch die gemeinsamen Tage auf dem Hof harmonisch verliefen. Vielleicht würde Gertrud sich dann endlich nicht mehr dagegen wehren, bei ihr einzuziehen. Gut, dass Paula auch vor dem Fest anreiste, sie hatte schon immer einen guten Einfluss auf Gertrud gehabt. Merkwürdig, dachte Katty, ich würde nie auf die Idee kommen, Paula ebenerdig ein Zimmer zu räumen, dabei ist sie nur zwei Jahre jünger als Gertrud. Paula würde auf der ersten Etage schlafen und jeden Abend die schmale Treppe hinaufgehen müssen. Warum nicht, dachte Katty, sie kann's ja noch gut.
Paula war völlig unkompliziert. Katty liebte sie uneingeschränkt und hatte sie gerne um sich. Das Verhältnis zu Gertrud war von jeher schwieriger gewesen. Natürlich liebte sie auch die älteste Schwester, aber irgendwie gerieten sie immer aneinander. Gertrud hatte Katty erzogen, und sie tat es bis heute. Sie maßregelte ihre jüngste Schwester gelegentlich, als sei sie ein ungehorsames Kind, das sich weigert, sein Zimmer aufzuräumen. Katty blickte auf den Staubwedel in ihrer Hand und musste lachen. »Brave Katty«, sagte sie laut und wischte über den alten Schreibtisch am Fenster. Ihr Blick fiel wieder auf den Ordner. Der muss raus aus Gertruds Zimmer, beschloss sie, nahm die Akte, stapfte die Treppe hinauf in das Zimmer, in dem sie schlafen würde, und legte sie dort auf das Nachtkommödchen. Katty rümpfte die Nase. Der Aktenordner stank genauso wie alles andere im Schrank - nach Mottenkugeln. Katty zog einige der losen Blätter heraus und begann zu lesen:
»Die Klägerin behauptet, der Beklagte unterhalte intimen Umgang mit der Zeugin Franken.«
Die Zeugin Franken, das war sie, Katty Franken. Sie hatte es gehasst, so genannt zu werden. Es hatte so verharmlosend geklungen. In Wahrheit war sie doch die eigentlich Beschuldigte gewesen.
Das Urteil war gespickt mit den unglaublichsten Geschichten, vierzehn Seiten lang. Über manche konnte Katty inzwischen lachen, andere trieben ihr die Röte ins Gesicht. Sie war als liederliches schamloses Weib dargestellt, das eine Ehe auf perfide Art und Weise zerstört hatte. Dabei, so ließen die Anschuldigungen vermuten, hatte sie alles getan, um die Ehefrau, ihre einstige Schulfreundin, zu demütigen.
Was mussten sich die Richter gedacht haben, als sie diese pikanten Vorwürfe zu verhandeln hatten, zumal sie einen Mann betrafen, der im Land Nordrhein-Westfalen als christlich-demokratischer Landtagsabgeordneter Rang und Namen hatte? Katty blätterte weiter. Seitenlang nur Zeugenaussagen. Es waren bestimmt dreißig Freunde, Bekannte, Verwandte und Nachbarn angehört worden. Vier Jahre Scheidungskrieg waren in diesem Aktenordner festgehalten, für eine Ehe, die gerade einmal fünf Monate gedauert hatte.
Wie hatte es nur so weit kommen können? Katty war darüber auch nach all den Jahren noch fassungslos. Doch als sie sich zurückerinnerte, wurde ihr bewusst, dass alles mit Theodors Tod begonnen hatte.
9. März 1945
Gefallen auf dem Feld der Ehre
Sie sah den Brief. Und sie fand ihre Gefühle nicht. Er war tot, so stand es da. Einmal quer über dem Briefumschlag, in großen roten Buchstaben: Gefallen für Großdeutschland. In dem Umschlag befand sich seine gesammelte Feldpost, darunter Briefe, die sie selbst an ihn geschrieben hatte. Katty strich mit den Fingerkuppen über das raue Papier. Gab es Briefverkehr, von dem sie nicht gewusst hatte? Hatte er eine heimliche Liebe gehabt? Ein paar »Briefe an einen unbekannten Soldaten« befanden sich auch im Umschlag. Monatelang war in Schulen Propaganda gemacht worden, junge Mädchen sollten deutsche Soldaten aufmuntern, indem sie Briefe schrieben, immer adressiert an »einen unbekannten Soldaten«. Die Soldaten, die wenig eigene Post bekamen, wurden mit solchen Briefen von fremden Schulmädchen getröstet. Sie suchte weiter. Ein Brief von Theodors Vater fiel ihr in die Hände. Die langgliedrige Schrift mit den ausschweifenden Bogen nach oben und unten war unverkennbar. Sie verriet einen Mann, der gewohnt war, zu entscheiden, und der Befehle gab. Theodor war immer anders gewesen als sein Vater, sensibler. Die beiden hatten sich nie besonders gut verstanden. Vielleicht hätte er nicht in den Krieg ziehen müssen, dachte Katty.
Er war der einzige Sohn eines bedeutenden Mannes. Hundertacht Morgen Land mussten bewirtschaftet werden, da hätte der erwachsene Sohn sicher bleiben können. Aber er wollte weg, er war fasziniert vom Krieg und von der Kameradschaft, und er konnte nicht mehr ertragen, was im Haus geschah. Wie sein Vater herrschte und alles und jeden für sich beanspruchte. Dazu gehörte auch sie selbst, wusste Katty, und stöberte weiter in den verschmutzten Briefen. Nein, es gab keine Frau, niemanden, der ihm nähergestanden hatte als sie. Und trotzdem gelang es ihr nicht, zu weinen. Sie stellte Reflexionen an, so nüchtern konnte man das wohl bezeichnen. Sie erschrak darüber, suchte noch einmal, nach Trauer, nach Tränen, nach dem brennenden Kloß im Hals. Aber da war nichts. Sie dachte den Schmerz, doch es tat nicht weh. Nur ein erbarmungsloses Fliegen der Gedanken. Sie hatten keine Zeit, eine Beerdigung vorzubereiten. Gab es überhaupt etwas zu beerdigen? Er sei als Held gestorben, hatte der Goldfasan mitgeteilt. Der Mann machte dem Spottnamen wirklich alle Ehre. So könnte man auch im Karneval gehen, dachte sie. Heinrich liebte diesen Ausdruck für die Parteistreber. Er weigerte sich, sie ernst zu nehmen. Mit ihr hatte der Mann nicht gesprochen. Nur mit Heinrich. Sie hatte er keines Blickes gewürdigt. Aber wer war sie schon. Die Hauswirtschafterin. Mehr nicht. Dass sie den Jungen großgezogen hatte, ihn liebte wie ihr eigenes Kind - aber tat sie das überhaupt? Schließlich saß sie immer noch da und überlegte, statt zu weinen, plante, statt zu schluchzen.
Heinrich hatte dagestanden wie eine Eiche. Er war groß und überragte alle, deshalb bekam man leicht den Eindruck, er sei arrogant. Seine Augenbrauen waren gleichmäßig und dicht, der Kopf kahl, aber von makelloser Form. »Bitte?«, das war alles, was er gesagt hatte, als er den Mann in der lächerlich goldbehangenen Uniform in Empfang nahm. Heinrichs Stimme war hart und schneidend gewesen. Er war kein Freund der Partei. Von Anfang an nicht, und jetzt erst recht nicht mehr. Krieg und Elend hatten sie gebracht, Deutschland hatte Land verloren. Das war für ihn unverzeihlich. Er war Bauer durch und durch, auf ewig der Scholle verbunden. Das war sein Lieblingsspruch. Theodor hatte ihm mit elf ein Holztäfelchen geschnitzt, auf dem dieses Lebensmotto stand, es hing über der Tür zum Wohnzimmer. Heinrichs Familie lebte seit 1636 auf dem Tellemannshof in Wardt.
Am Anfang war da wohl nicht viel mehr als eine Hütte gewesen, aber im Laufe der Jahrhunderte war ein wunderschöner Gutshof entstanden und niemals hätte ein Hegmann auch nur einen Morgen Land verkauft oder aufgegeben. Heinrich Hegmann war tiefgläubiger Katholik, Anstand und Ehre waren für ihn von enormer Bedeutung. Und dieses braune Gesindel war ehrlos und unanständig. Auch Katty liebte den Hof. Es war ein erhebendes Gefühl, wenn sie die kurze Allee auf das Haupthaus zulief. Sie mochte die niederrheinischen Herrenhäuser mit den klaren Strukturen und Proportionen. Die Eingangstür war leicht erhöht, deshalb konnte man abreisenden Gästen noch lange hinterherschauen. Und man hatte von dort einen guten Blick in den gepflegten Gemüsegarten. Rechts und links vom Eingang befanden sich je zwei Fenster, in der oberen Etage vier Sprossenfenster, das war symmetrisch und schön, fand sie. Die Stallungen gingen nach hinten hinaus und waren hufeisenförmig angelegt, was ungemein praktisch war. Bei Regen konnte man alle Tiere füttern, ohne auch nur einen Tropfen abzubekommen. Katty war Heinrichs Vorfahren sehr dankbar dafür. Sie hasste es, nass zu werden. Da Heinrich Hegmann für seine Verbandstätigkeiten ständig unterwegs war, verwaltete sie längst den gesamten bäuerlichen Betrieb. Sie wies die Leute an, aber musste auch oft genug selbst die Mistgabel in die Hand nehmen. Das störte sie nicht. Sie war robust und glaubte fest daran, dass Schwielen an den Händen ein Gütezeichen waren. Heinrich sah das genauso. Und er schätzte Katty für ihre zupackende Art.
Er machte keinen Hehl daraus, dass er sie den Haustöchtern, wie die jungen Auszubildenden auf dem Hof genannt wurden, vorzog. Katty hatte ihn in den ganzen Jahren, in denen sie bereits auf dem Hof war, niemals weinen sehen. Manchmal hatte sie gedacht, es sei vielleicht anatomisch unmöglich. »Vatti«, so hatte Theodor ihn immer genannt, dabei klang das A stumm, kurz und abgehackt und das T knallte wie eine Peitsche durch die Luft, insgeheim hatte sie die Bezeichnung übernommen. Offiziell blieb Heinrich natürlich »Herr Hegmann«, aber für sie und Theodor war er Vatti. Vatti also hatte riesige Tränensäcke. Zusammen mit dem Halbrund seiner Augenbrauen bildeten die tiefen Ränder einen Kreis um seine Augen, und deshalb hatte Katty manchmal gedacht, die Tränen würden in die Tränensäcke abfließen wie in einen großen Eimer.
So viel, dass sie über das Unterlid gequollen wären, um dann über die Wange zu laufen - so viel konnte ein Mann gar nicht weinen. Auch eben hatte er nicht geweint. Verärgert hatte er die Brauen zusammengezogen. Und Katty war nicht sicher gewesen, ob sich sein Unmut gegen den verstorbenen Sohn oder gegen den Mann von der NSDAP richtete. Der Funktionär war eingeschüchtert gewesen. Seine Goldknöpfe waren frisch poliert, sie funkelten geradezu. Er hatte offensichtlich Angst. Man ging nicht einfach so zu Heinrich Hegmann und überbrachte eine schlechte Nachricht. Beim ersten »Bitte« zuckte er zusammen. Man sah, wie er sich Mut zusprach.
Wie er die Schultern straffte, das Kinn nach vorne reckte. Er sog Luft durch die Nase ein, das Geräusch schien ihm Bedeutung zu verleihen. Dann holte er ein Schreiben hervor. »Sehr verehrter Herr Bauer Hegmann«, verlas er, »nach Tagen bangen Wartens erhielt ich heute durch ein Schreiben des Internationalen Roten Kreuzes die bedauerliche Nachricht, dass Ihr Sohn Theodor, unser junger Leutnant Hegmann, in Unkel für sein Vaterland auf dem Felde der Ehre gefallen ist.« Der Brief endete, wie üblich, mit »Heil Hitler«. »Mein Beileid«, hatte der Goldfasan noch gestammelt, dann war er hinausgerannt. Beinahe hatte er vergessen, den Brief dazulassen. Wahrscheinlich hatte er befürchtet, Vatti würde ihn höchstpersönlich mit seinen großen Händen in den Schwitzkasten nehmen und Wut und Enttäuschung an ihm auslassen.
Sie hatten allein im Flur gestanden, und Katty hatte nicht einen Moment das Bedürfnis verspürt, Vatti in den Arm zu nehmen oder zu trösten. Zugenickt hatte sie ihm. Eigentlich hatte sie nur kurz beide Augen mit Schwung zugemacht. Sie hatte Entschlossenheit zeigen wollen und dass sie wisse, was zu tun sei. Sie kannte sich ja aus mit dem Sterben. So viele geliebte Menschen hatte sie inzwischen zu Grabe getragen, dass sie manchmal fürchtete, es gebe so etwas wie eine Sterbe-Routine. Vielleicht musste sie deshalb nicht weinen. Vielleicht hatte sie einfach keine Tränen mehr übrig. Auch Vatti hatte schon genug Menschen beerdigt. Seine Eltern, seinen Bruder, seine erste Frau. Sie war kurz nach der Geburt des zweiten Kindes gestorben. Es wäre ein Mädchen gewesen. Aber die Kleine hatte wohl falsch herum im Bauch gelegen und der Geburtsvorgang quälend lange gedauert. Über Stunden hatte die arme Frau geschrien.
Die Nachbarn erzählten noch heute mit einem Schaudern davon. Angeblich waren die Schreie nämlich im ganzen Dorf zu hören gewesen. Na ja, dachte Katty, die Leute hier reden halt viel.
Nach dem Tod seiner Frau hatte Heinrich Hegmann Katty auf den Hof geholt, das war kurz vor Weihnachten 1934 gewesen. Sie sollte den Hausherrn und das Kind versorgen. Theodor war damals dreizehn, Katty war vierundzwanzig und fühlte sich sofort wie eine ältere Schwester für den Halbwaisen. Auch ihre Mutter war gestorben, als sie noch jung war. Sie hatte nur wenige Erinnerungen an sie, es waren ihre großen Schwestern, Gertrud und Paula, gewesen, die sie erzogen hatten, zu denen sie gelaufen war, wenn sie sich fürchtete oder wenn sie traurig war. Paula hatte für sie gesorgt und Gertrud sie Anstand und Moral gelehrt. Katty liebte die eine Schwester innig und der anderen stand sie dankbar und voller Respekt gegenüber.
Im Grunde war es Gertrud zu verdanken, dass Katty auf den Tellemannshof gekommen war. Sie hatte eine Verbindung zu Heinrich Hegmann gehabt. Die besten Familien des Niederrheins hatten ihre Töchter bei ihm unterbringen wollen, schließlich war er nicht nur ein vermögender Bauer, er war auch Abgeordneter im Preußischen Landtag gewesen, ein Zentrumspolitiker. Doch als die Nationalsozialisten an die Macht gekommen waren, hatte er die Politik an den Nagel gehängt.
Als sie vorhin gemeinsam im Flur gestanden hatten, hatte Katty für einen Moment das Gefühl gehabt, sie trauerten um den gemeinsamen Sohn. Aber sie hatten sich zusammengerissen, sich unter Kontrolle gehabt. Eine Weile hatten sie so dagestanden und geschwiegen, sich einfach nur angeschaut. Oder vielleicht hatte auch nur sie ihn angeschaut, dachte sie jetzt. Sie konnte sich nicht erinnern, dass da ein bestimmter Ausdruck in Heinrichs Gesicht gewesen wäre, er hatte wahrscheinlich einfach durch sie hindurchgesehen. Dann war der Moment vorbei gewesen. Er hatte gesagt, das Leben müsse weitergehen und sie solle endlich das Nötigste einpacken. Der Hof wurde evakuiert, sie mussten fliehen.
© Piper Verlag
Die Überschrift über dem Urteil war doppelt unterstrichen und mit einem Ausrufezeichen versehen. Katty war verwundert. Sie hatte immer gedacht, der Satz »Im Namen des Volkes« gehe nahtlos über in den Nachsatz »ergeht folgendes Urteil«. Sie hatte das schriftliche Urteil nie zu Gesicht bekommen. Den Ordner hielt sie zum ersten Mal in der Hand, und in ihr stritten Neugier und schlechtes Gewissen. Neugier, weil sie sich fragte, ob darin noch Informationen verborgen waren, von denen sie nichts wusste. Und das schlechte Gewissen, weil Heinrich sie auf dem Sterbebett gebeten hatte, den Ordner und alles, was zu dieser Geschichte gehörte, zu verbrennen und zu vergessen.
Da war er nun, der Aktenordner. Katty hatte ihn nie verbrannt. Sie hatte ihn nur vergessen. Als Heinrich sie gebeten hatte, den Ordner nach seinem Tod zu entsorgen, war sie zu entsetzt von der Vorstellung gewesen, dass er bald sterben könnte, und war deshalb nicht auf die Idee gekommen, zu fragen, wo der Ordner sich denn überhaupt befinde. Hier also. Tief im Schrank. Versteckt hinter alten Tischdecken.
Katty legte den Ordner neben sich auf das Bett. Ihr Herz klopfte heftig. Sie starrte auf das graue Etwas, nahm es erneut in die Hand und klappte es wieder auf. Mit dem Daumen fuhr sie an dem Papier entlang. Das Rascheln hörte sich alt an. Es ist alt, dachte Katty, mein Gott, das ist fast fünfzig Jahre her. Ich sollte das olle Ding einfach in den Müll schmeißen. Und doch wusste sie, dass sie es nicht tun würde. Auch wenn es alte Wunden aufrisse und die Scham wieder aufflammen ließe, sie würde dem Drang nicht widerstehen können und alles lesen. Aber nicht jetzt. Später, wenn sie etwas Zeit hätte. Nächste Woche vielleicht. Denn bis dahin gab es noch einiges zu tun. Katty war dabei gewesen, ihr Zimmer auf- und sogar auszuräumen. Ihre Schwester Gertrud würde am nächsten Tag zu Besuch kommen und einige Zeit bleiben. Vielleicht für immer, darüber würde zu reden sein. Aber erst einmal würde gefeiert, denn am kommenden Sonntag hatte Gertrud Geburtstag, nicht irgendeinen: den hundertsten Geburtstag.
Katty wollte ihrer Schwester das Zimmer zur Verfügung stellen, in dem sie selbst normalerweise schlief, da es ebenerdig lag, und sie auf keinen Fall wollte, dass Gertrud jeden Abend die Treppen zu den anderen Schlafräumen hinaufklettern müsste, auch wenn sie dazu körperlich durchaus noch in der Lage gewesen wäre. Gertrud war schlank und drahtig und wenn man es nicht besser gewusst hätte, wäre sie als Achtzigjährige durchgegangen. Ungefähr so alt, wie Katty jetzt war. Und ich, fragte sie sich. Wie alt wirke ich wohl? Sie ging durch die geöffnete Tür ins angrenzende Badezimmer und blickte in den Spiegel. Ihr Haar war honigblond, sie färbte es regelmäßig. Sie hatte kaum Falten, das lag allerdings auch daran, dass sie ein bisschen zu mollig war. Aus den Siebzigerjahren hatte sie zudem ihre Lieblingsbrille behalten. Die war mit ihren quadratischen Gläsern enorm groß und wenn Katty Falten rund um Augen und Nasenwurzel gehabt hätte, wären die hinter dem dicken Horn eh nicht aufgefallen. Knapp sechzig, entschied sie und lächelte. Sie griff ihr Nageletui und holte die Pinzette heraus. Ein kleines Stückchen Holzsplitter steckte noch in ihrem Mittelfinger. Sie ritzte die Haut vorsichtig auf, um das Ende des Splitters besser greifen zu können. Dann entfernte sie den Holzspan und ging zurück ins Zimmer.
Sie putzte schon seit einer ganzen Weile alles im Schlafzimmer, was sie in den letzten Jahren vernachlässigt hatte. Dazu gehörte auch der alte Holzschrank. Den hatte sie nie benutzt und jetzt beschlossen, ihn von Grund auf zu reinigen und die Tischdecken, die darin waren, endlich auszusortieren. Man würde die wenigen, die noch brauchbar waren, zumindest reinigen müssen, sie stanken bestialisch nach Mottenkugeln. Das würde sogar eine hundertjährige Nase noch riechen, und Katty wollte ihrer großen Schwester diesmal so wenig Anlass zur Kritik wie möglich bieten. Sie wünschte sich, dass sowohl das Geburtstagsfest als auch die gemeinsamen Tage auf dem Hof harmonisch verliefen. Vielleicht würde Gertrud sich dann endlich nicht mehr dagegen wehren, bei ihr einzuziehen. Gut, dass Paula auch vor dem Fest anreiste, sie hatte schon immer einen guten Einfluss auf Gertrud gehabt. Merkwürdig, dachte Katty, ich würde nie auf die Idee kommen, Paula ebenerdig ein Zimmer zu räumen, dabei ist sie nur zwei Jahre jünger als Gertrud. Paula würde auf der ersten Etage schlafen und jeden Abend die schmale Treppe hinaufgehen müssen. Warum nicht, dachte Katty, sie kann's ja noch gut.
Paula war völlig unkompliziert. Katty liebte sie uneingeschränkt und hatte sie gerne um sich. Das Verhältnis zu Gertrud war von jeher schwieriger gewesen. Natürlich liebte sie auch die älteste Schwester, aber irgendwie gerieten sie immer aneinander. Gertrud hatte Katty erzogen, und sie tat es bis heute. Sie maßregelte ihre jüngste Schwester gelegentlich, als sei sie ein ungehorsames Kind, das sich weigert, sein Zimmer aufzuräumen. Katty blickte auf den Staubwedel in ihrer Hand und musste lachen. »Brave Katty«, sagte sie laut und wischte über den alten Schreibtisch am Fenster. Ihr Blick fiel wieder auf den Ordner. Der muss raus aus Gertruds Zimmer, beschloss sie, nahm die Akte, stapfte die Treppe hinauf in das Zimmer, in dem sie schlafen würde, und legte sie dort auf das Nachtkommödchen. Katty rümpfte die Nase. Der Aktenordner stank genauso wie alles andere im Schrank - nach Mottenkugeln. Katty zog einige der losen Blätter heraus und begann zu lesen:
»Die Klägerin behauptet, der Beklagte unterhalte intimen Umgang mit der Zeugin Franken.«
Die Zeugin Franken, das war sie, Katty Franken. Sie hatte es gehasst, so genannt zu werden. Es hatte so verharmlosend geklungen. In Wahrheit war sie doch die eigentlich Beschuldigte gewesen.
Das Urteil war gespickt mit den unglaublichsten Geschichten, vierzehn Seiten lang. Über manche konnte Katty inzwischen lachen, andere trieben ihr die Röte ins Gesicht. Sie war als liederliches schamloses Weib dargestellt, das eine Ehe auf perfide Art und Weise zerstört hatte. Dabei, so ließen die Anschuldigungen vermuten, hatte sie alles getan, um die Ehefrau, ihre einstige Schulfreundin, zu demütigen.
Was mussten sich die Richter gedacht haben, als sie diese pikanten Vorwürfe zu verhandeln hatten, zumal sie einen Mann betrafen, der im Land Nordrhein-Westfalen als christlich-demokratischer Landtagsabgeordneter Rang und Namen hatte? Katty blätterte weiter. Seitenlang nur Zeugenaussagen. Es waren bestimmt dreißig Freunde, Bekannte, Verwandte und Nachbarn angehört worden. Vier Jahre Scheidungskrieg waren in diesem Aktenordner festgehalten, für eine Ehe, die gerade einmal fünf Monate gedauert hatte.
Wie hatte es nur so weit kommen können? Katty war darüber auch nach all den Jahren noch fassungslos. Doch als sie sich zurückerinnerte, wurde ihr bewusst, dass alles mit Theodors Tod begonnen hatte.
9. März 1945
Gefallen auf dem Feld der Ehre
Sie sah den Brief. Und sie fand ihre Gefühle nicht. Er war tot, so stand es da. Einmal quer über dem Briefumschlag, in großen roten Buchstaben: Gefallen für Großdeutschland. In dem Umschlag befand sich seine gesammelte Feldpost, darunter Briefe, die sie selbst an ihn geschrieben hatte. Katty strich mit den Fingerkuppen über das raue Papier. Gab es Briefverkehr, von dem sie nicht gewusst hatte? Hatte er eine heimliche Liebe gehabt? Ein paar »Briefe an einen unbekannten Soldaten« befanden sich auch im Umschlag. Monatelang war in Schulen Propaganda gemacht worden, junge Mädchen sollten deutsche Soldaten aufmuntern, indem sie Briefe schrieben, immer adressiert an »einen unbekannten Soldaten«. Die Soldaten, die wenig eigene Post bekamen, wurden mit solchen Briefen von fremden Schulmädchen getröstet. Sie suchte weiter. Ein Brief von Theodors Vater fiel ihr in die Hände. Die langgliedrige Schrift mit den ausschweifenden Bogen nach oben und unten war unverkennbar. Sie verriet einen Mann, der gewohnt war, zu entscheiden, und der Befehle gab. Theodor war immer anders gewesen als sein Vater, sensibler. Die beiden hatten sich nie besonders gut verstanden. Vielleicht hätte er nicht in den Krieg ziehen müssen, dachte Katty.
Er war der einzige Sohn eines bedeutenden Mannes. Hundertacht Morgen Land mussten bewirtschaftet werden, da hätte der erwachsene Sohn sicher bleiben können. Aber er wollte weg, er war fasziniert vom Krieg und von der Kameradschaft, und er konnte nicht mehr ertragen, was im Haus geschah. Wie sein Vater herrschte und alles und jeden für sich beanspruchte. Dazu gehörte auch sie selbst, wusste Katty, und stöberte weiter in den verschmutzten Briefen. Nein, es gab keine Frau, niemanden, der ihm nähergestanden hatte als sie. Und trotzdem gelang es ihr nicht, zu weinen. Sie stellte Reflexionen an, so nüchtern konnte man das wohl bezeichnen. Sie erschrak darüber, suchte noch einmal, nach Trauer, nach Tränen, nach dem brennenden Kloß im Hals. Aber da war nichts. Sie dachte den Schmerz, doch es tat nicht weh. Nur ein erbarmungsloses Fliegen der Gedanken. Sie hatten keine Zeit, eine Beerdigung vorzubereiten. Gab es überhaupt etwas zu beerdigen? Er sei als Held gestorben, hatte der Goldfasan mitgeteilt. Der Mann machte dem Spottnamen wirklich alle Ehre. So könnte man auch im Karneval gehen, dachte sie. Heinrich liebte diesen Ausdruck für die Parteistreber. Er weigerte sich, sie ernst zu nehmen. Mit ihr hatte der Mann nicht gesprochen. Nur mit Heinrich. Sie hatte er keines Blickes gewürdigt. Aber wer war sie schon. Die Hauswirtschafterin. Mehr nicht. Dass sie den Jungen großgezogen hatte, ihn liebte wie ihr eigenes Kind - aber tat sie das überhaupt? Schließlich saß sie immer noch da und überlegte, statt zu weinen, plante, statt zu schluchzen.
Heinrich hatte dagestanden wie eine Eiche. Er war groß und überragte alle, deshalb bekam man leicht den Eindruck, er sei arrogant. Seine Augenbrauen waren gleichmäßig und dicht, der Kopf kahl, aber von makelloser Form. »Bitte?«, das war alles, was er gesagt hatte, als er den Mann in der lächerlich goldbehangenen Uniform in Empfang nahm. Heinrichs Stimme war hart und schneidend gewesen. Er war kein Freund der Partei. Von Anfang an nicht, und jetzt erst recht nicht mehr. Krieg und Elend hatten sie gebracht, Deutschland hatte Land verloren. Das war für ihn unverzeihlich. Er war Bauer durch und durch, auf ewig der Scholle verbunden. Das war sein Lieblingsspruch. Theodor hatte ihm mit elf ein Holztäfelchen geschnitzt, auf dem dieses Lebensmotto stand, es hing über der Tür zum Wohnzimmer. Heinrichs Familie lebte seit 1636 auf dem Tellemannshof in Wardt.
Am Anfang war da wohl nicht viel mehr als eine Hütte gewesen, aber im Laufe der Jahrhunderte war ein wunderschöner Gutshof entstanden und niemals hätte ein Hegmann auch nur einen Morgen Land verkauft oder aufgegeben. Heinrich Hegmann war tiefgläubiger Katholik, Anstand und Ehre waren für ihn von enormer Bedeutung. Und dieses braune Gesindel war ehrlos und unanständig. Auch Katty liebte den Hof. Es war ein erhebendes Gefühl, wenn sie die kurze Allee auf das Haupthaus zulief. Sie mochte die niederrheinischen Herrenhäuser mit den klaren Strukturen und Proportionen. Die Eingangstür war leicht erhöht, deshalb konnte man abreisenden Gästen noch lange hinterherschauen. Und man hatte von dort einen guten Blick in den gepflegten Gemüsegarten. Rechts und links vom Eingang befanden sich je zwei Fenster, in der oberen Etage vier Sprossenfenster, das war symmetrisch und schön, fand sie. Die Stallungen gingen nach hinten hinaus und waren hufeisenförmig angelegt, was ungemein praktisch war. Bei Regen konnte man alle Tiere füttern, ohne auch nur einen Tropfen abzubekommen. Katty war Heinrichs Vorfahren sehr dankbar dafür. Sie hasste es, nass zu werden. Da Heinrich Hegmann für seine Verbandstätigkeiten ständig unterwegs war, verwaltete sie längst den gesamten bäuerlichen Betrieb. Sie wies die Leute an, aber musste auch oft genug selbst die Mistgabel in die Hand nehmen. Das störte sie nicht. Sie war robust und glaubte fest daran, dass Schwielen an den Händen ein Gütezeichen waren. Heinrich sah das genauso. Und er schätzte Katty für ihre zupackende Art.
Er machte keinen Hehl daraus, dass er sie den Haustöchtern, wie die jungen Auszubildenden auf dem Hof genannt wurden, vorzog. Katty hatte ihn in den ganzen Jahren, in denen sie bereits auf dem Hof war, niemals weinen sehen. Manchmal hatte sie gedacht, es sei vielleicht anatomisch unmöglich. »Vatti«, so hatte Theodor ihn immer genannt, dabei klang das A stumm, kurz und abgehackt und das T knallte wie eine Peitsche durch die Luft, insgeheim hatte sie die Bezeichnung übernommen. Offiziell blieb Heinrich natürlich »Herr Hegmann«, aber für sie und Theodor war er Vatti. Vatti also hatte riesige Tränensäcke. Zusammen mit dem Halbrund seiner Augenbrauen bildeten die tiefen Ränder einen Kreis um seine Augen, und deshalb hatte Katty manchmal gedacht, die Tränen würden in die Tränensäcke abfließen wie in einen großen Eimer.
So viel, dass sie über das Unterlid gequollen wären, um dann über die Wange zu laufen - so viel konnte ein Mann gar nicht weinen. Auch eben hatte er nicht geweint. Verärgert hatte er die Brauen zusammengezogen. Und Katty war nicht sicher gewesen, ob sich sein Unmut gegen den verstorbenen Sohn oder gegen den Mann von der NSDAP richtete. Der Funktionär war eingeschüchtert gewesen. Seine Goldknöpfe waren frisch poliert, sie funkelten geradezu. Er hatte offensichtlich Angst. Man ging nicht einfach so zu Heinrich Hegmann und überbrachte eine schlechte Nachricht. Beim ersten »Bitte« zuckte er zusammen. Man sah, wie er sich Mut zusprach.
Wie er die Schultern straffte, das Kinn nach vorne reckte. Er sog Luft durch die Nase ein, das Geräusch schien ihm Bedeutung zu verleihen. Dann holte er ein Schreiben hervor. »Sehr verehrter Herr Bauer Hegmann«, verlas er, »nach Tagen bangen Wartens erhielt ich heute durch ein Schreiben des Internationalen Roten Kreuzes die bedauerliche Nachricht, dass Ihr Sohn Theodor, unser junger Leutnant Hegmann, in Unkel für sein Vaterland auf dem Felde der Ehre gefallen ist.« Der Brief endete, wie üblich, mit »Heil Hitler«. »Mein Beileid«, hatte der Goldfasan noch gestammelt, dann war er hinausgerannt. Beinahe hatte er vergessen, den Brief dazulassen. Wahrscheinlich hatte er befürchtet, Vatti würde ihn höchstpersönlich mit seinen großen Händen in den Schwitzkasten nehmen und Wut und Enttäuschung an ihm auslassen.
Sie hatten allein im Flur gestanden, und Katty hatte nicht einen Moment das Bedürfnis verspürt, Vatti in den Arm zu nehmen oder zu trösten. Zugenickt hatte sie ihm. Eigentlich hatte sie nur kurz beide Augen mit Schwung zugemacht. Sie hatte Entschlossenheit zeigen wollen und dass sie wisse, was zu tun sei. Sie kannte sich ja aus mit dem Sterben. So viele geliebte Menschen hatte sie inzwischen zu Grabe getragen, dass sie manchmal fürchtete, es gebe so etwas wie eine Sterbe-Routine. Vielleicht musste sie deshalb nicht weinen. Vielleicht hatte sie einfach keine Tränen mehr übrig. Auch Vatti hatte schon genug Menschen beerdigt. Seine Eltern, seinen Bruder, seine erste Frau. Sie war kurz nach der Geburt des zweiten Kindes gestorben. Es wäre ein Mädchen gewesen. Aber die Kleine hatte wohl falsch herum im Bauch gelegen und der Geburtsvorgang quälend lange gedauert. Über Stunden hatte die arme Frau geschrien.
Die Nachbarn erzählten noch heute mit einem Schaudern davon. Angeblich waren die Schreie nämlich im ganzen Dorf zu hören gewesen. Na ja, dachte Katty, die Leute hier reden halt viel.
Nach dem Tod seiner Frau hatte Heinrich Hegmann Katty auf den Hof geholt, das war kurz vor Weihnachten 1934 gewesen. Sie sollte den Hausherrn und das Kind versorgen. Theodor war damals dreizehn, Katty war vierundzwanzig und fühlte sich sofort wie eine ältere Schwester für den Halbwaisen. Auch ihre Mutter war gestorben, als sie noch jung war. Sie hatte nur wenige Erinnerungen an sie, es waren ihre großen Schwestern, Gertrud und Paula, gewesen, die sie erzogen hatten, zu denen sie gelaufen war, wenn sie sich fürchtete oder wenn sie traurig war. Paula hatte für sie gesorgt und Gertrud sie Anstand und Moral gelehrt. Katty liebte die eine Schwester innig und der anderen stand sie dankbar und voller Respekt gegenüber.
Im Grunde war es Gertrud zu verdanken, dass Katty auf den Tellemannshof gekommen war. Sie hatte eine Verbindung zu Heinrich Hegmann gehabt. Die besten Familien des Niederrheins hatten ihre Töchter bei ihm unterbringen wollen, schließlich war er nicht nur ein vermögender Bauer, er war auch Abgeordneter im Preußischen Landtag gewesen, ein Zentrumspolitiker. Doch als die Nationalsozialisten an die Macht gekommen waren, hatte er die Politik an den Nagel gehängt.
Als sie vorhin gemeinsam im Flur gestanden hatten, hatte Katty für einen Moment das Gefühl gehabt, sie trauerten um den gemeinsamen Sohn. Aber sie hatten sich zusammengerissen, sich unter Kontrolle gehabt. Eine Weile hatten sie so dagestanden und geschwiegen, sich einfach nur angeschaut. Oder vielleicht hatte auch nur sie ihn angeschaut, dachte sie jetzt. Sie konnte sich nicht erinnern, dass da ein bestimmter Ausdruck in Heinrichs Gesicht gewesen wäre, er hatte wahrscheinlich einfach durch sie hindurchgesehen. Dann war der Moment vorbei gewesen. Er hatte gesagt, das Leben müsse weitergehen und sie solle endlich das Nötigste einpacken. Der Hof wurde evakuiert, sie mussten fliehen.
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Autoren-Porträt von Anne Gesthuysen
Gesthuysen, AnneAnne Gesthuysen, ist 1969 am unteren Niederrhein in dem kleinen Dorf Veen geboren und aufgewachsen. Nach dem Abitur ging sie in die Großstadt. Doch vieles ist dem Landei bis heute fremd geblieben. Sie kann Ochse und Stier selbstverständlich unterscheiden, aber der Unterschied zwischen S-Bahn und Straßenbahn ist ihr nach wie vor ein Rätsel. Anne Gesthuysen hat Journalistik und Romanistik studiert. Seit 1987 arbeitet sie als Reporterin und Autorin von Dokumentationen für diverse Fernsehsender. Zwischendurch machte sie einen Abstecher zum französischen Radio. 15 Jahre lang stand sie vor der Kamera, die längste Zeit für das ARD-Morgenmagazin, das sie seit 2004 moderierte. Ende 2014 gab sie diese Nachtschichten auf, um sich tagsüber an den Schreibtisch zu setzen und sich dem Schreiben zu widmen. Sie lebt mit ihrem Mann Frank Plasberg und dem gemeinsamen Kind in Köln.
Bibliographische Angaben
- Autor: Anne Gesthuysen
- 2014, 33. Aufl., 416 Seiten, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Piper
- ISBN-10: 3492304311
- ISBN-13: 9783492304313
- Erscheinungsdatum: 10.03.2014
Rezension zu „Wir sind doch Schwestern “
»Gesthuysens Roman vereint bewundernswerte, amüsante Lebensgeschichten mit dem Weltgeschehen einer anderen Generation.« www.myself.de 20140801
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