Wirklich wichtig sind die Schuhe
Zwischen den Welten
Das kleine blonde Mädchen auf dem lettischen Bauernhof der Großeltern, das Zuckerrüben erntet. Die energische junge Frau, die Partys feiert und mit Sicherheit weiß: Sie will nach ganz oben. Die aufstrebende Sängerin, die sich mühsam von...
Das kleine blonde Mädchen auf dem lettischen Bauernhof der Großeltern, das Zuckerrüben erntet. Die energische junge Frau, die Partys feiert und mit Sicherheit weiß: Sie will nach ganz oben. Die aufstrebende Sängerin, die sich mühsam von...
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Produktinformationen zu „Wirklich wichtig sind die Schuhe “
Klappentext zu „Wirklich wichtig sind die Schuhe “
Zwischen den WeltenDas kleine blonde Mädchen auf dem lettischen Bauernhof der Großeltern, das Zuckerrüben erntet. Die energische junge Frau, die Partys feiert und mit Sicherheit weiß: Sie will nach ganz oben. Die aufstrebende Sängerin, die sich mühsam von Oktave zu Oktave kämpft. Die liebevolle Mutter, die mit Tochter und Nanny im Kleinbus für die nächste Opernperiode aufbricht. Und die strahlende Mezzosopranistin, die an den großen Konzerthäusern dieser Welt umjubelt wird. All das ist Elina Garanca.
In ihrem ersten Buch erzählt die Star-Mezzosopranistin über ihr Leben zwischen den Welten: zwischen Ost und West, Wurzeln und Flügeln, Kind und Karriere, Begabung und Selbstdisziplin, Kunst und Leben.
Lese-Probe zu „Wirklich wichtig sind die Schuhe “
Wirklich wichtig sind die Schuhe von Elina GarancaZwischen Kuhstall und Musiksalon
Opernstar. Diva. Stimm-Malerin. Kühle Blonde aus dem hohen Norden. – Beschreibungen, die in den letzten Jahren mit meinem Namen verbunden wurden. Mein Selbstbild ist jedoch ein anderes. Die El na Garan a von der Bühne hat wenig mit der privaten El na gemein. Ich sehe mich nicht als Künstlerin im Stil der legendären Diven aus dem vergangenen Jahrhundert, die auch am Tag nach der Vorstellung ihre Rolle vom Vorabend weiterlebt. Die Bühne ist für mich etwa ganz Besonderes. In Lettland würde sich niemand trauen, mit Straßenschuhen die Bühne zu betreten. Der Schmutz der Außenwelt und der Alltag gehören nicht ins Theater. Hier taucht man in eine andere Welt ein, gönnt sich ein paar Stunden Zauber, Fantasie und starke Emotionen. Während der Vorstellung gehöre ich ganz dem Publikum. Aber wenn die Show vorbei ist, der Vorhang fällt, der Applaus verstummt ist, gehe ich in die Garderobe, streife mein Kostüm ab, ziehe mich ins Hotel oder in die Mietwohnung zurück und bin sehr oft allein. Der Erfolg schützt den Künstler nicht vor der Einsamkeit. Der Zauber hat sich verabschiedet und an diesem Punkt beginnt für mich das echte Leben – der Alltag als Mutter und Ehefrau, Tochter und Frau. Ich lebe in zwei Welten. Führe eine Art Doppelleben. Und das schon seit meiner Kindheit. In meinem Herzen bin ich ein intellektuelles Bauernmädchen. Meine lettischen Freunde, die mich fast mein Leben lang kennen, lachen oft – denn ich bin die beste melkende Sängerin. In Riga wuchs ich mit der Crème de la Crème der Intellektuellen auf. Musiker, Sänger, Schriftsteller, Maler gingen in der Wohnung meiner Eltern ein und aus. Wir lebten auf knapp 100 Quadratmeter. Ursprünglich war die Altbauwohnung im vierten Stock doppelt so
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groß. Aber wie im Kommunismus üblich, wurden Wohnungen von dieser Größe einfach geteilt – aus eins mach zwei. So mussten wir uns das Vorzimmer mit den Nachbarn teilen, wir lebten im linken Teil der Wohnung und unsere Nachbarn im rechten Trakt. Durch die Teilung des Appartements wirkte unser Zuhause wie ein langer Schlauch. Über einen schmalen Korridor nach rechts gelangte man in den Musiksalon. Er war das Herzstück meines Zuhauses. Mitten im Zimmer stand ein riesiger Flügel. Hier feierten meine Eltern Anita und J nis viele Feste. In unserem kleinen Musiksalon diskutierten die intellektuellen Freunde meiner Eltern leidenschaftlich die Kompositionen von Tschaikowski oder Brahms. Hinter dem Musiksalon waren mein Zimmer und das Schlafzimmer meiner Eltern. Vom Korridor nach links gelangte man in eine Art Kabinett. Es war das kleine Reich meines Bruders, und am linken Ende der Wohnung kam erst die Küche. In Lettland ist eigentlich die Küche der Lebensmittelpunkt. Wenn etwas ganz Intimes besprochen werden sollte, zogen sich alle in die Küche zurück. Hier sind auch unsere Gäste dann oft bis in die Morgenstunden geblieben. Die Wohnung meiner Eltern lag ganz in der Nähe des Nationaltheaters. Ich musste von zu Hause nur einen kleinen Park und eine Brücke über einen kleinen Kanal überqueren, um meine Mutter zu besuchen. Jeden Tag nach der Schule, die auch nicht weit vom Theater lag, lief ich zu meiner Mutter ins Theater. Auch sie ist ein »Mezzo« wie ich und arbeitete als Gesanglehrerin am Nationaltheater. Meine Schulaufgaben erledigte ich irgendwo in der Garderobe zwischen Theater-Make-up und Kostümen. Danach hörte ich bei den Proben zu. Oft schlief ich auf einem Sessel in der Kantine erschöpft ein, bis mich meine Eltern nach den Proben oder einer Premiere nach Hause trugen und ins Bett legten. Ein Kontrapunkt dazu war die Welt meiner Großeltern. Sie waren Bauern. An den Wochenenden und in den Sommermonaten ging es ab aufs Land. Auf dem Bauernhof von Oma Nellija und Opa Albert, den Eltern meiner Mutter, gab es alle möglichen Tiere: Schweine, Kühe, Schafe, Hühner. Sie lebten in dem kleinen lettischen Dörfchen Mežarasas, 200 Kilometer von Riga entfernt. Wir reisten mit Bahn und Bus an, da hatten wir die paar Stunden Zeit zum Lesen. Die letzten paar Kilometer bewältigten wir oft mit dem Rad, sehr oft auch zu Fuß. Jeden Freitagabend fuhren wir aufs Land, auf dem Weg zu meinen Großeltern diskutierte ich gern mit meiner Familie über die Erlebnisse der vergangenen Woche. Später durfte ich auch allein zu meinen Großeltern reisen. Während ich die letzten Kilometer zu Fuß zurücklegte, habe ich den Kühen auf den Wiesen und den Nachbarn kleine Dialoge oder Lieder aus dem Theater vorgespielt, die ich in Riga gesehen hatte. Sie waren mein erstes Publikum. Auto konnten wir uns damals noch keines leisten, denn Anfang und Mitte der achtziger Jahre war das Geld sehr knapp. Und der Bauernhof bot uns alles, was wir zum Leben brauchten – Gemüse, Milchprodukte, Fleisch. Montags standen wir für die Rückreise oft um drei in der Nacht auf, damit ich rechtzeitig wieder in der Schule war. Zu den Eltern meines Vaters hatte ich weniger Kontakt. Das lag daran, dass ihr Bauernhof noch weiter entfernt lag und mein Opa Anton bei einem Autounfall schon sehr früh gestorben ist. Mein erster Weg am Freitagabend auf dem Bauernhof führte mich sofort in den Stall. Ich wollte sehen, was es Neues gab. Meine Oma sagte immer zu mir: »Geh in den Stall und schau, was alles geboren wurde.« Es faszinierte mich, wenn ich ein neugeborenes Kalb streicheln durfte oder wenn ich sah, wie die jungen Ferkel in einer Woche gewachsen waren. Ich liebte es als Kind, meine Hand in den Mund eines kleinen Kalbes zu stecken und zu spüren, wie es an meinen Fingern saugt. Dieses Gefühl der Wärme und Nässe fehlt mir heute manchmal, weil es für mich das absolute und pure Bauernhof- Gefühl symbolisiert. Was romantisch klingt, war für meinen Bruder J nis und mich auch harte Arbeit. Denn das Leben auf dem Bauernhof bestand für uns nicht nur aus Spielen und Kälberstreicheln. Wir wurden von unseren Großeltern als vollwertige Arbeitskräfte eingesetzt. Zeit für Blödeleien, wie andere Kinder in den Ferien, hatten wir kaum. Wenn wir uns einmal vor der Arbeit drücken wollten, war unser Geheimversteck der Dachboden. Über eine unglaublich steile Treppe im Flur des Haupthauses gelangte man hinauf. Es war ein dunkler, verstaubter Raum, nur mit einem kleinen Fenster ausgestattet. Hier gab es jede Menge zu entdecken. Mein Bruder und ich kramten in den Büchern, fanden alte Fahrräder, Fotos, Wolle für Handarbeiten meiner Großmama, Militärstiefel und Sachen meines Opas. Aber auch Mäuse hatten hier ihr Zuhause, doch das störte uns nicht. Hier tauchten wir in eine eigene Welt ein, abseits des Bauern- Alltags. Tagwache auf dem Land war um sechs Uhr. Morgens, nachdem meine Oma die Kühe gemolken hatte, musste ich diese aufs Feld treiben. Danach gab es erst Frühstück. Vormittags musste ich stundenlang Unkraut jäten oder andere Feld- und Gartenarbeiten erledigen. Vor dem Mittagessen durfte ich zur Abkühlung in den kalten Fluss springen. Hier, im kleinen Fluss in der Nähe des Bauernhofs, lernte ich auch als kleines Kind schwimmen. Nachmittags half ich meinem Großvater Albert beim Heumachen. Als ich älter war, durfte ich mit Opa Albert auch mit der Sense das Gras mähen. Mein drei Jahre älterer Bruder musste beim Holzhacken helfen und ich durfte die Holzstücke stapeln. Abends wurden die Kühe in den Stall zurückgetrieben, dann standen Melken und Jungtiere füttern gemeinsam mit Oma auf dem Programm. Nach so einem Tag hatten mein Bruder und ich meistens einen ordentlichen Hunger und es gab Abendessen. Uns blieb nicht viel Zeit für kindliche Unbekümmertheit. So habe ich gelernt, mir meine Zeit immer genau einzuteilen. Das Haus meiner Großeltern war sehr schlicht eingerichtet. Die Einrichtung war auf das Notwendigste beschränkt. In den Sommermonaten, wenn Verwandte zu Besuch kamen und im kleinen Haupthaus kein Platz mehr war, schliefen mein Bruder und ich auf dem Dachboden des Stalls, wo das Heu eingelagert war. Ich liebte den Geruch des frischen Heus und es war einer unserer liebsten Spielplätze, wo wir etwa Robin Hood spielten. Doch einmal ging so ein Abenteuer beinahe schief. Aus dem Holz der Fensterkreuze schnitzten wir echte Pfeile und schossen aufeinander … Plötzlich hörte ich ein »Au!«. Voller Stolz schrie ich: »Getroffen! Getroffen!« Bis mein Bruder aus dem Versteck kam und ich sah, dass sein Gesicht blutüberströmt war – ich hatte ihn am Augenbrauenknochen verletzt. Wenn ich mit dem Pfeil nur ein paar Millimeter tiefer getroffen hätte, hätte er blind sein können. Ich glaube, ich muss nicht weitererzählen, was passierte, als unsere Tat aufflog. Auf dem Dachboden des Stalls fühlte ich mich so unheimlich erwachsen und unabhängig. Ganz allein im Stall schlafen zu dürfen, allein mit der Angst zurechtzukommen, das war Abenteuer pur. Auch wenn die Nächte im Sommer in Lettland nicht besonders lang dauern. Denn der Himmel färbt sich, ähnlich wie in den skandinavischen Ländern, erst nach Mitternacht pechschwarz. Höhepunkt der hellen Nächte ist der 23. Juni, wenn in Lettland mit dem Johannesfest die kürzeste Nacht gefeiert wird. In dieser Nacht wird es nicht wirklich dunkel. Überall gibt es Feuerstellen, es wird gesungen und getanzt. Die Letten springen übers Feuer, weil es nach einem alten Brauch heißt, dass man im Sommer nicht von den Mücken gebissen wird. Es wird Bier getrunken, und Oma Nellija tischte stets ihren selbst gemachten Käse auf – sie hatte den besten im ganzen Dorf. Die Häuser sind mit Blumen und Eichenkränzen geschmückt, auch Frauen und Männer tragen sie, und jene Jugendlichen, die etwas mehr als platonische Liebe füreinander empfinden, gehen in dieser Nacht auf die Suche nach »papardes zieds«, der »fernen Blume« … Weil es in unserer Familie gleich zwei Johannes gab – meinen Vater und meinen Bruder –, war in dieser Nacht an Schlaf nicht zu denken. Wenn im Juli in der Nacht plötzlich ein Gewitter aufzog, hatte ich oft unheimliche Angst. Also sprang ich durch die Heuluke hinunter in den Stall und kuschelte mich neben die Kühe. Die Tiere kannten die kleine blonde El na, und so musste ich mich nicht fürchten. Am nächsten Tag um halb sieben in der Früh fand mich dann Oma Nellija oft schlafend im Futtertrog. Meine Großeltern waren zwar einfache Bauern, aber sie liebten die Musik. Mein Großvater Albert und seine drei Brüder waren allesamt sehr talentierte Amateur-Musiker. Einer spielte Geige, der andere Akkordeon, der dritte war ein toller Bariton. Bei Familienfesten oder zu Weihnachten gab es immer Musik – wenn auch in sehr einfacher Form. Und auch meine Oma Nellija hatte ein großes Herz für Musik und Kultur, so wie eigentlich alle Letten – wir alle singen, spielen etwas oder tanzen. Sie war eine ebenso unglaublich zierliche wie zähe Frau. Neben dem eigenen Bauernhof musste sie in einer Kolchose mit 80 Kühen arbeiten. Mehr als vier bis fünf Stunden Schlaf bekam sie nie. Ich erinnere mich noch an ihre überaus zarten, aber muskulösen Arme. Vom Melken war jeder Muskel genau definiert. Und ich kann mich auch nicht erinnern, meine Großmutter jemals mit offenem Haar gesehen zu haben. Ihr Kopf war stets mit einem Tuch bedeckt. Auf dem Bauernhof wurde fast alles selbst produziert. Milch, Butter, Brot, auch die Tiere wurden selbst geschlachtet. Am Webstuhl webte Oma Nellija die Bettwäsche, die Tischdecken bestickte sie wunderschön mit Kreuzstichen. Heute noch habe ich Omas Tischdecken bei mir zu Hause in Spanien und decke jedes Jahr den Weihnachtstisch damit. Sie war es, die mir das Stricken beigebracht hat. Selbst das Brotbacken habe ich von ihr gelernt – und ich mache es heute noch. Die Spezialität von Oma Nellija war ein Süßsauer-Brot mit viel Kümmel. Meine Oma Monika, die Mutter meines Vaters, hat gern Roggenbrot gebacken. Das ist eine Höllenarbeit, denn der Teig muss bis zu zwei Stunden geknetet werden, weil der Roggen irrsinnig klebrig ist. Trotz der harten Arbeit, dem wenigen Schlaf, wusste Großmama Nellija immer, was im Theater oder in der Oper in Riga passierte, wer was gesungen hat, welcher Sänger oder Schauspieler gerade populär war. Sie war eine Bäuerin, aber sie war unheimlich weise. Man konnte mit ihr über Kultur, Politik oder einfach über Herzensangelegenheiten sprechen. So pendelte ich zwischen Bauernhof und Musiksalon. In Riga mussten mein Bruder und ich ein Musikinstrument lernen. Klavier, hatten meine Eltern für uns entschieden. Keiner von uns mochte es, und mein Bruder stieg später auf Klarinette um. Als ich von meiner Mutter zur ersten Klavierstunde gebracht wurde und vor der Tastatur saß, begann ich zu weinen. Trotzdem spielte ich letztendlich zwölf Jahre Klavier. Es war eine Qual für mich. Ich träumte von einer Flöte, einer Klarinette oder einem Saxofon. Aber ich konnte mich gegen meine Eltern offenbar nicht durchsetzen. Jetzt bin ich ihnen unglaublich dankbar, dass sie es nicht aufgegeben haben, denn heute kann ich alle meine Partien und Lieder allein einstudieren. Mein Bruder ist kein Musiker geworden, sondern Medienkünstler, und als solcher lebt er zwar in Lettland, ist aber dauernd in der Welt unterwegs. Und auch er profitiert bei seiner Arbeit von der musikalischen Ausbildung. Ich finde es äußerst wichtig, dass sich Eltern die Mühe machen und Kindern den Zugang zur Musik ermöglichen. Dazu benötigt man keine eigene Geige und kein eigenes Klavier, es reicht schon, wenn die Kinder in einem Chor singen können, eine Trommel in die Hand gedrückt bekommen oder eine Kinderoper besuchen dürfen. Es geht darum, dass die Kinder lernen, ihre Ohren zu spitzen, und dass sie bei Prokofjews »Peter und der Wolf« oder Humperdincks »Hänsel und Gretel« ein Orchester live erleben. Opernbesuche sollten genauso ein Fixpunkt in der Erziehung sein wie der obligatorische Besuch im »Disneyland«. Die Welt des Theaters und der Bühne faszinierte mich von der ersten Minute an. In diesen Zauber hatte ich mich verliebt. Meine Mutter erzählte mir, dass ich zwei Jahre alt war, als ich zum ersten Mal den Wunsch äußerte, Sängerin zu werden. Damals musste ich meine Mutter stets zu ihren Gesangstunden begleiten. Ich trug als kleines Mädchen einen Pagenkopf, saß ganz ruhig in einer Ecke und hörte 40 Minuten zu, wie meine Mutter Vokalisen übte. Ihre Lehrerin fragte mich einmal: »Na, kleine Lina, was möchtest du machen, wenn du groß bist?« Und ich antwortete: »Ich werde Sängerin, wie Mama.« Das waren meine ersten Zukunftspläne. Mit fünf oder sechs Jahren allerdings träumte ich davon, Schauspielerin zu werden. Nach der Schule kam ich ins Theater. Meine Mutter arbeitete gerade an einem Musiktheaterstück von Mark Twain, »Der Prinz und der Bettelknabe«. Sie studierte mit der Schauspielerin zuerst den Gesang ein. Dann verschwand die Mimin in der Garderobe. Zurück auf der Bühne, hatte sich die Schauspielerin in eine Prinzessin verwandelt, die ein wunderschönes Kleid, mit weißen Perlen bestickt, trug. Ihren Kopf schmückten eine Perücke mit weißen Locken sowie ein Diadem mit Perlen und Steinen. Ich war so perplex von der Verkleidung und dachte: Das will ich auch. Anfangs war ich überzeugt, Schauspieler sterben sogar für ihren Beruf. Ich war beeindruckt von dieser Leidenschaft. In der ehemaligen Sowjetunion hatten wir nur zwei oder drei TV-Sender. Und meistens liefen Kriegsfilme: Panzer, Bomben und jede Menge Tote. Ich war damals noch so naiv, dass ich tatsächlich dachte, die Schauspieler lieben ihre Profession so, dass sie sich dafür vor der TV-Kamera oder auf der Bühne opfern und sich vergiften, erschlagen oder erschießen lassen. Irgendwann klärten mich meine Eltern auf, dass alles nur Show ist. Und plötzlich entdeckte ich, dass dieselben Schauspieler, die ich auf der Bühne sterben gesehen hatte, zwei Monate später einen Liebhaber spielten. Als mir das bewusst wurde, stand für mich fest: Ich will auf die Bühne und Schauspielerin werden. Mein Doppelleben zwischen Bauernhof und Theaterwelt machte mich in der Schule zur Außenseiterin. Durch die Künstler-Freunde meiner Eltern war ich es gewohnt, schon als Kind intellektuell anspruchsvollen Gesprächen zu folgen. Dieses Getratsche der Mädchen über Kleider, Puppen und ihre Lieblingsfarbe Rosa interessierte mich einfach nicht. Mehr noch, es langweilte mich. Ich fand keinen Anschluss. Auch bei den Burschen nicht. Durch die ständige Arbeit auf dem Bauernhof hatte ich viel Kraft, war ich nicht so zierlich wie meine Schulkolleginnen. Die kräftige El na jagte den gleichaltrigen Buben Angst ein. Keiner hat sich getraut, mich am Zopf zu ziehen, sie fürchteten wohl, dass sie von mir eine übergezogen bekommen. Ich war ein ziemlich wildes Mädchen. Bei meinen ersten Auftritten in der Schule, wo ich mit meiner Klassenkameradin ein Duett aus dem Mark-Twain-Stück sang, bekam ich stets nur die Bubenrolle zum Singen. Da musste ich den Mädchen mit den hohen Sopranstimmen den Vortritt lassen. Also bin ich als Mezzo schon seit dem Alter von acht bis zehn Jahren an Bubenpartien gewöhnt. Als ich elf war, starb meine Oma Nellija, bei der ich auf dem Bauernhof eine wunderschöne und sehr einprägsame Kindheit erleben durfte. Sie hinterließ meiner Mutter ein kleines Erbe, womit sich Mama einen kleinen Lebenstraum erfüllen konnte. Ende der achtziger Jahre kaufte sie sich ein kleines Sommerhaus mit zwei Hektar Land, ungefähr 100 Kilometer von Riga entfernt. Die kleine Land wirtschaft stellte sich als Glücksfall heraus. In den Jahren des Zusammenbruchs der Sowjetunion waren Lebensmittel in Lettland oft sehr knapp. Für Geburtstage haben wir schon Monate vorher eine Dose Erbsen oder Kaffee aufgespart. Selbst so einfache Haushaltsartikel wie Toilettenpapier waren Mangelware. Ich erinnere mich noch, wie sich mein Vater einmal im Geschäft um Toilettenpapier anstellen musste. Familien wurden bevorzugt, für jedes Kind gab es ein paar Rollen mehr. Also standen mein Bruder und ich mit meinem Vater in der Reihe, dann das Ganze noch einmal mit meiner Mutter. Und am Ende haben sich die Nachbarn mich »ausgeliehen« – ich bekam eine Mütze und einen Schal um den Hals, damit ich »anders « ausschaue. Und so gingen wir stolz mit so viel Klopapierrollen nach Hause, dass wir für ein halbes Jahr »versorgt« waren. Vor allem Zucker war eine echte Rarität und so beschloss meine Mutter, auf unserem neuen Landsitz Zuckerrüben anzubauen. Ende Oktober, ein Jahr nach dem Hauskauf, rückten wir zur ersten Zuckerrübenernte aus. Die ganze Familie war im Einsatz und ich erinnere mich noch heute, wie bitterkalt es war. Der erste Schnee war schon gefallen und ich hockte mit meinen Eltern auf dem Feld und holte die Zuckerrüben aus der harten Erde. Zuerst musste man die Rübe mit einem Spaten aus der Erde stechen und dann mit einem Messer Kopf und Blätter abschneiden. Natürlich jammerte ich: »Mama, mir ist viel zu kalt. Ich möchte ins Haus.« Aber Mama blieb hart: »Wir müssen ernten, sonst war unsere ganze Arbeit umsonst.« Wir ernteten sechs Säcke Zucker, die jeweils 50 Kilo wogen, also 300 Kilo Zucker. Zucker war damals das perfekte Geschenk. Zum Geburtstag, zu Weihnachten oder nach einer Premiere gab es von meinen Eltern einen Kilo Zucker. Und alle waren überglücklich. Diese Überlebensnot von damals gibt mir heute eine gewisse Gelassenheit, über kleine Probleme zerbreche ich mir nicht den Kopf. Unsere Generation hat gelernt: Arbeite und du wirst belohnt. Ich scheue keine manuelle Arbeit; als ich zum Beispiel in Frankfurt lebte, habe ich alle meine Ikea-Möbel selbst zusammengebaut – das Bett, den Kleiderschrank, sogar die Lampen habe ich selbst montiert. Es gab Tage am Monatsende, an denen wir nicht viele Lebensmittel zum Kochen im Kühlschrank hatten. Doch die Not macht erfinderisch, so habe ich gelernt, aus wenigen, einfachen Zutaten wie Kartoffeln, Zwiebeln, Öl köstliche Gerichte zu zaubern. Die Zubereitung geht bei mir ruckzuck, innerhalb einer halben Stunde stehen alle Gerichte auf dem Tisch. Ich bin auf so vielen Empfängen, Diners, Cocktail-Abenden, dass zu Hause alles im Handumdrehen fertig sein muss. Ich finde es einfach unfair, dass man vier Stunden ins Kochen investiert und nach 20 Minuten ist die ganze Mühe, die du in die Zubereitung gesteckt hast, aufgegessen. Eine Ausnahme ist natürlich Weihnachten. Für das Festtagsmenü stehe ich zwei Tage selbst hinter dem Herd, backe mein eigenes Brot, Speckröllchen und Kekse. In Lettland will es der Weihnachtsbrauch, dass am Heiligen Abend mindestens neun Gerichte aufgetischt werden. Diese Tradition erfülle ich jedes Jahr. Die Familie um mich, der Geruch von braunen Erbsen mit Speck und Zwiebeln, panierte Schweinkoteletts oder »Rosols« (ein spezieller lettischer Salat mit fein geschnittenem Gemüse, Ei und Fleisch und Mayonnaise), dazu kommt der Duft von echten Wachskerzen und dem Tannenreisig vom Weihnachtsbaum – das ist für mich das perfekte Weihnachtsfest.
© Ecowin Verlag
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Autoren-Porträt von Elina Garanca
Zwischen den Welten Das kleine blonde Mädchen auf dem lettischen Bauernhof der Großeltern, das Zuckerrüben erntet. Die energische junge Frau, die Partys feiert und mit Sicherheit weiß: Sie will nach ganz oben. Die aufstrebende Sängerin, die sich mühsam von Oktave zu Oktave kämpft. Die liebevolle Mutter, die mit Tochter und Nanny im Kleinbus für die nächste Opernperiode aufbricht. Und die strahlende Mezzosopranistin, die an den großen Konzerthäusern dieser Welt umjubelt wird. All das ist El?na Garan?a. In ihrem ersten Buch erzählt die Star-Mezzosopranistin über ihr Leben zwischen den Welten: zwischen Ost und West, Wurzeln und Flügeln, Kind und Karriere, Begabung und Selbstdisziplin, Kunst und Leben.
Bibliographische Angaben
- Autor: Elina Garanca
- 2013, 2. Aufl., 200 Seiten, mit Abbildungen, Maße: 15 x 21,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: ecoWing
- ISBN-10: 3711000452
- ISBN-13: 9783711000453
- Erscheinungsdatum: 09.11.2013
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