Wo Licht und Schatten ist
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Nur einer scheint geeignet, den delikaten Fall schnell und diskret zu lösen: Commander Adam Dalgliesh.
WoLicht und Schatten ist von P.D. James
LESEPROBE
Commander Adam Dalgliesh fand es nicht ungewöhnlich,zu dringenden, ungelegen kommenden außerplanmäßigenBesprechungen mit nicht näher benannten Teilnehmern gerufen zu werden, hattensie doch im Endeffekt zumeist eines gemeinsam: Er konnte getrost davonausgehen, dass irgendwo eine Leiche lag, die seiner Aufmerksamkeit bedurfte. Esgab andere dringende Anrufe, andere Besprechungen, mitunter auf höchster Ebene.Als ständiger Berater des Polizeipräsidenten hatte er eine Reihe von Pflichten,die an Zahl und Bedeutung ständig zunahmen und inzwischen derart unklardefiniert waren, dass die meisten seiner Kollegen es aufgegeben hatten, denÜberblick zu behalten. Diese Besprechung jedoch, die am Samstag, dem 23. Oktoberfür zehn Uhr fünfundfünfzig, im Büro des Stellvertretenden Polizeipräsidenten Harkness im siebten Stock des Gebäudes von New Scotland Yard angesetzt war, roch förmlich nach einemMordfall, sobald er den Raum betrat.
Das lag nicht an einer gewissen ernstenAnspannung in den ihm zugewandten Gesichtern; eine verwaltungstechnischeKatastrophe innerhalb der Abteilung hätte größere Beunruhigung ausgelöst. Eslag eher daran, dass ein unnatürlicher Tod stets eine bestimmte Beklommenheit auslöste, die unbequeme Erkenntnis, dass esnoch immer Dinge gab, die sich jeder bürokratischen Kontrolle entzogen.
Nur drei Männer erwarteten ihn, undDalgliesh war überrascht, als er Alexander Conistonevom Außenministerium erkannte. Er mochte Conistone,einen der letzten Exzentriker in einer zunehmend konformistischen undpolitisierten Beamtenschaft. Conistone hatte sicheinen gewissen Ruf in Sachen Krisenmanagement erworben. Das lag zum einen anseiner Überzeugung, dass es kaum eine Situation gab, die nicht unterBerücksichtigung von Präzedenzfällen oder des bürokratischen Reglements zubewältigen war, und zum anderen daran, dass er, wenn diese Patentrezepte docheinmal versagten, einen gewagten, nahezu fahrlässigen Hang zu phantasievollenMaßnahmen an den Tag legen konnte, die jeder bürokratischen Logik nacheigentlich in einer Katastrophe hätten enden müssen, dies aber nie taten.Dalgliesh, dem kaum ein Labyrinth der Westminster-Bürokratie unbekannt war,hatte schon vor einiger Zeit den Schluss gezogen, dass diese charakterlicheDichotomie ererbt war. Ganze Generationen von Conistoneswaren Soldaten gewesen. Auf den fernen Schlachtfeldern der imperialistischenVergangenheit Großbritanniens ruhten zahllose vergessene Opfer desKrisenmanagements früherer Conistones. Und die zwiegespaltene Persönlichkeit spiegelte sich in seinemexzentrischen Aussehen wider. Im Gegensatz zu seinen Kollegen kleidete er sichmit der eleganten Nadelstreifenuniformität eines Beamten der Dreißigerjahre,während sein grobknochiges Gesicht, die fleckigen Wangen und das strohige,schwer zu bändigende Haar eher rustikal wirkten.
Er hatte den Platz neben Dalgliesh mit Blickauf eines der großen Fenster. Während der ersten zehn Minuten der Besprechungzeigte er sich ungewöhnlich wortkarg, und schaute, den Stuhl leicht gekippt,selbstzufrieden auf das Panorama aus Hochhäusern und Türmen, das von einemflüchtigen Strahl der für die Jahreszeit ungewöhnlichen Morgensonne beschienenwurde. Von den vier Männern im Raum - Conistone, AdamDalgliesh, der Stellvertretende Polizeipräsident Harknessund ein milchgesichtiger Junge vom MI5, der als Colin Reeves vorgestellt wordenwar - hatte Conistone, der über die fraglicheAngelegenheit am meisten besorgt war, bislang am wenigsten gesagt, währendReeves noch kein Wort von sich gegeben hatte, ganz darauf konzentriert, sichdas Gesagte einzuprägen, ohne sich die Blöße zu geben, Notizen machen zumüssen.
Jetzt erwachte Conistonezum Leben und fasste zusammen: »Mord wäre uns am lästigsten, Selbstmord unterden gegebenen Umständen kaum weniger unangenehm. Mit einem Unfalltod könntenwir vermutlich leben. Bei dem Opfer wird sich Medienrummel kaum vermeidenlassen, aber das bekämen wir schon in den Griff, vorausgesetzt, es war keinMord.
Das Problem ist, wir haben wenig Zeit. Ein genauesDatum steht zwar noch nicht fest, aber der Premierminister möchte dieses strenggeheime internationale Treffen Anfang Januar dort abhalten. Ein guterZeitpunkt. Das Parlament ist in den Ferien, kurz nach Weihnachten passiertohnehin nicht viel, keiner rechnet damit, dass irgendwas geschieht. DerPremierminister hat sich offenbar Combe Island in denKopf gesetzt. Also, Adam, Sie übernehmen den Fall? Schön.«
Ehe Dalgliesh antworten konnte, schaltetesich Harkness ein. »Wenn die Sache stattfindet, ist diehöchste Sicherheitsstufe angesagt.«
Dalgliesh dachte: Und selbst wenn du waswüsstest, was ich nicht glaube, du würdest mir nie und nimmer verraten, wer andieser streng geheimen Konferenz teilnehmen wird oder warum. Sicherheitsmaßnahmenwurden stets einem möglichst kleinen Personenkreis anvertraut. Er konnte zwarVermutungen anstellen, aber eigentlich interessierte ihn die Angelegenheitnicht besonders. Andererseits sollte er einen verdächtigen Todesfall untersuchen, und es gab da ein paar Dinge,die er wissen musste.
Bevor Colin Reeves begriffen hatte, dass dassein Stichwort gewesen war, fuhr Conistone fort: »Daslässt sich selbstverständlich regeln. Wir rechnen nicht mit Problemen. Voreinigen Jahren - das war vor Ihrer Zeit, Harkness -hatten wir schon mal eine ähnliche Situation. Ein Spitzenpolitiker meinte, erbräuchte ein wenig Erholung vom Personenschutz und buchte zwei Wochen auf Combe. Er hielt die Ruhe und Einsamkeit gerade zwei Tageaus, dann wurde ihm klar, dass sein Leben ohne Akten sinnlos war. Ich hätteeigentlich gedacht, der Aufenthalt auf Combe solltegenau die gegenteilige Erkenntnis vermitteln, aber bei ihm hat esoffensichtlich nicht gewirkt. Nein, ich glaube nicht, dass wir uns wegenunserer Freunde südlich der Themse Sorgen machen müssen.«
Gut zu wissen, denn mischten dieSicherheitsdienste mit, wurde es immer kompliziert. Dalgliesh fand, dass es demGeheimdienst, als er seine geheimnisumwobene Aurazugunsten der von der Bevölkerung vehement eingeforderten größeren Transparenzaufgab, ähnlich ergangen war wie der Monarchie. Er hatte etwas von seinemNimbus nahezu kirchlicher Autorität verloren, der all jene umgibt, diepraktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit tätig sind. Der heutige Geheimdienstchef war namentlich bekannt und wurdein den Zeitungen mit Foto abgebildet, seine Vorgängerin hatte sogar eineAutobiographie geschrieben, und das geradezu ins Auge stechende Gebäude derZentrale am Südufer der Themse, ein seltsam orientalisch anmutendes Monumentder Moderne, schien eher dazu gedacht, Neugier zu wecken als nicht aufzufallen.Auf den Nimbus zu verzichten hatte seine Nachteile: Nun wurde nämlich dieOrganisation wie jede andere Behörde betrachtet, in der die gleichen fehlbarenNormalsterblichen arbeiteten und der gleiche Pfusch an der Tagesordnung war.Aber Dalgliesh rechnete nicht damit, dass der Geheimdienst ihm Steine in denWeg legte. Die Tatsache, dass der MI5 nur mit der mittleren Ebene vertretenwar, ließ darauf schließen, dass ein einzelner Todesfall auf einer kleinenInsel ihnen im Augenblick nicht gerade Kopfzerbrechen bereitete.
Dalgliesh meldete sich zu Wort: »Ohneangemessenes Briefing kann ich nicht anfangen. Bisher habe ich nur erfahren,wer gestorben ist, wo und allem Anschein nach wie. Erzählen Sie mir mehr vonder Insel. Wo genau liegt sie?« HarknessStimmung war mal wieder auf dem Tiefpunkt, und es gelang ihm nur unzureichendseine schlechte Laune mit Wichtigtuerei und einem Hang zur Geschwätzigkeit zuüberdecken. Stirnrunzelnd rückte er die großeLandkarte so zurecht, dass sie bündig mit der Tischkante abschloss, schob siedann zu Dalgliesh hinüber und deutete mit dem Zeigefinger darauf. »Da liegtsie. Combe Island. Vor der Küste von Cornwall, etwazwanzig Meilen südwestlich von Lundy Island und rundzwölf Meilen vor der Festlandküste, genauer gesagt vor Pentworthy.Die nächste größere Stadt ist Newquay.« Er blickte zu Conistonehinüber. »Vielleicht machen Sie besser weiter. Ist schließlich eher Ihr Babyals unseres.« Conistonewandte sich direkt an Dalgliesh. »Ich gebe Ihnen einen kurzen historischenAbriss. Es könnte sich als Nachteil erweisen, wenn Sie über die Geschichte von Combe nicht im Bilde sind, denn sie erklärt einiges. DieInsel war vierhundert Jahre lang im Besitz der Familie Holcombe,die sie im sechzehnten Jahrhundert erwarb. Kein Mensch weiß, wie genau.Wahrscheinlich ist irgendein Holcombe mit ein paarbewaffneten Gefolgsleuten hinübergerudert, hat die Familienfahne gehisst unddie Insel in Besitz genommen. Es kann nicht viel Widerstand gegeben haben. DerBesitzanspruch wurde später von Heinrich dem Achten bestätigt, nachdem erendlich die Piraten aus dem Mittelmeer losgeworden war, die die Insel alsStützpunkt für Überfälle auf die Küsten von Devon und Cornwall nutzten, umSklaven zu jagen. Danach geriet Combe mehr oderweniger in Vergessenheit, bis die Familie im achtzehnten Jahrhundert anfi ng, sich wieder für sie zu interessieren, und siegelegentlich aufsuchte, um Vögel zu beobachten oder zu picknicken. Dannbeschloss ein gewisser Gerald Holcombe, der Ende desachtzehnten Jahrhunderts geboren wurde, die Insel zum Feriensitz der Familie zumachen. Er ließ die Cottages erneuern und baute 1912 ein Haus und zusätzlicheUnterkünfte für das Personal. In dieser berauschenden Zeit kurz vor dem ErstenWeltkrieg verbrachte die Familie jeden Sommer dort. Doch der Krieg ändertealles. Die beiden ältesten Söhne fielen, der eine in Frankreich, der andere aufGallipoli. Die Holcombesgehören zu der Art von Familien, die in Kriegen sterben und nicht von ihnenprofitieren. Damit blieb nur noch Henry übrig, der jüngste Sohn, der dieSchwindsucht hatte und deshalb kriegsuntauglich war. Offenbar fühlte er, dassihm nach dem Tod seiner Brüder alles unverdient zufiel und war nicht sonderlichauf sein Erbe erpicht.
Das Geld stammte nicht aus Grundbesitz,sondern aus Profi t bringenden Investitionen, und diese Quellen waren gegenEnde der Zwanzigerjahre mehr oder weniger versiegt. Daher beschloss er 1930,mit dem, was noch übrig war, eine Stiftung zu gründen. Er suchte sich ein paarreiche Gleichgesinnte und trat Insel und Immobilien ab. Ihm schwebte vor, dass Combe für Männer in leitender Position, die eine Pause vonihrem strapaziösen Beruf brauchten, ein Ort der Ruhe und Abgeschiedenheitwerden sollte.«
© Droemer KnaurVerlag
Übersetzung: Ulrike Waselund Klaus Timmermann
Phyllis Dorothy James, seit 1991 Baroness James of Holland Park, wurde 1920 in Oxford geboren und verstarb im November 2014 ebendort. Da ihr Mann unheilbar krank aus dem Weltkrieg zurückkehrte, musste sie für sich und die beiden Töchter selbst sorgen. Erst nach langen Jahren in der Krankenhausverwaltung und in der Kriminalabteilung des Innenministeriums konnte sie sich ab 1962 ganz der Schriftstellerei widmen. P. D. James, weltweit als Queen of Crime gerühmt, wurde mit Auszeichnungen und Preisen überhäuft; ihr Commander Adam Dalgliesh, der die meisten Fälle löst, ist in die Literaturgeschichte eingegangen.
- Autor: P. D. James
- 2007, 2. Aufl., 461 Seiten, Maße: 12,3 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Ulrike Wasel, Klaus Timmermann
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426635038
- ISBN-13: 9783426635032
- Erscheinungsdatum: 30.03.2007
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