Wo Spinnen ihre Nester bauen
Roman
Dieser erste Roman des großen italienischen Autors gehört zu den kulturellen Glanzleistungen der unmittelbaren Nachkriegszeit in Italien. Er machte Italo Calvino nicht nur auf Anhieb berühmt, sondern hat auch bis heute nichts von seiner Frische und...
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Produktinformationen zu „Wo Spinnen ihre Nester bauen “
Klappentext zu „Wo Spinnen ihre Nester bauen “
Dieser erste Roman des großen italienischen Autors gehört zu den kulturellen Glanzleistungen der unmittelbaren Nachkriegszeit in Italien. Er machte Italo Calvino nicht nur auf Anhieb berühmt, sondern hat auch bis heute nichts von seiner Frische und Unmittelbarkeit verloren. Krieg und die Partisanenwirklichkeit werden aus der Perspektive eines Jungen erzählt, der irgendwo in Ligurien den Krieg wie ein düsteres Märchen erlebt und von der Welt der Erwachsenen magisch angezogen wird. Aber er ist ein Außenseiter. Weil niemand ihn ernst nimmt, versucht er, durch eine Mutprobe auf sich aufmerksam zu machen, und klaut die Pistole eines deutschen Soldaten.
Lese-Probe zu „Wo Spinnen ihre Nester bauen “
Wo Spinnen ihre Nester bauen von Calvino Italo1
Um bis auf den Grund der Gasse zu dringen, müssen die Sonnenstrahlen schnurgerade die kalten Mauern hinunter, Mauern, von Bögen auseinandergestemmt, die das sattblaue Himmels- blau durchqueren.
Senkrecht fallen sie, die Sonnenstrahlen, an den Fenstern entlang, die hier und dort regellos eingebaut sind, an Basilikum- und Majoranbüscheln, die in Kochtöpfen auf den Fenstersimsen stehen, und an Unterröcken, die auf Leinen hängen, vorbei bis hinab auf das Kopfsteinpflaster mit seinen Stufen und mit der Rinne mittendurch für den Harn der Maulesel.
Es genügt ein Schrei von Pin, der, die Nase in die Luft gereckt, auf der Schwelle der Werkstatt hockt, ein Schrei als Auftakt zu einem Lied, oder auch ein erschreckter Schrei, ehe die Hand Pietromagros, des Flickschusters, ihn unverhofft am Kragen packt, um ihn zu schlagen, und schon erhebt sich von den Fenstersimsen ein Widerhall von Geschrei und Gezeter.
»Pin! Schon so früh mußt du uns einen Schreck einjagen! Sing uns lieber was vor, Pin! Pin, armer Kerl, was tut man dir an? Pin, du Trottel! Wenn dir dein Grölen doch ein für allemal im Halse steckenbliebe! Du und dein Meister, dieser Hühnerdieb! Du und deine Schwester, diese Matratze!«
... mehr
Doch schon steht Pin mitten in der Gasse, die Hände in den Taschen der Jacke, die viel zu groß für ihn ist, und sieht einem nach dem andern ins Gesicht, ohne eine Miene zu verziehen: »Weißt du was, Celestino, ich an deiner Stelle würde lieber den Rand halten, mit deinem schönen neuen Anzug da. Übrigens, der Einbruch im Stoffgeschäft bei der Neuen Mole, weiß man eigentlich noch nicht, wer das war? Na, ist ja auch egal. Ciao, Carolina, noch mal Glück gehabt damals. Ja, Glück hast du gehabt, daß dein Mann nicht unters Bett geguckt hat. Und was dich betrifft, Pascà, mir hat einer erzählt, was in deinem Dorf passiert ist. Daß Garibaldi nämlich zum erstenmal Seife dorthin gebracht hat, und deine Dorfleute haben sie aufgefressen. Seifenfresser, Pascà, gottverdammt, wißt ihr überhaupt, was Seife kostet?«
Pin hat die heisere Stimme eines frühzeitig gealterten Kindes: er beginnt jeden Satz leise und ernst, dann bricht er unvermittelt in ein Lachen voller I-Laute aus, daß es wie Pfeifen klingt, und die roten und schwarzen Sommersprossen sammeln sich um seine Augen wie ein Wespenschwarm.
Wer Pin verspotten will, zieht allemal den kürzeren: er weiß alles, was in der Gasse geschieht, und nie ist man sicher, womit er diesmal auspacken wird. Von früh bis spät schreit und grölt er unter den Fenstern, während in Pietromagros Werkstatt der Berg abgelaufener Schuhe bald den Schustertisch unter sich begraben und bis auf die Gasse hinausquellen wird.
»Pin! Trottel! Galgenvogel!« ruft eine Frau. »Wenn du mir doch meine Latschen besohlen würdest, statt uns den ganzen Tag lang in Schrecken zu halten! Einen Monat habt ihr sie jetzt schon auf eurem Haufen liegen. Aber ich werde schon noch ein Wörtchen mit deinem Meister reden, wenn sie ihn wieder rausgelassen haben!«
Pietromagro verbringt die Hälfte des Jahres im Gefängnis, weil er als Pechvogel geboren ist und weil man zu guter Letzt doch immer wieder ihn einsperrt, wenn im Umkreis etwas gestohlen worden ist. Er kehrt zurück und sieht den Berg abgelaufener Schuhe und die offene Werkstatt ohne eine Menschenseele. Er setzt sich an den Schustertisch, greift einen Schuh heraus, dreht und wendet ihn und wirft ihn wieder auf den Haufen; dann stützt er sein bärtiges Gesicht in die knochigen Hände und flucht. Pin kommt pfeifend hereinspaziert und ahnt nichts Böses: da steht plötzlich Pietromagro vor ihm, die Hände schon erhoben, die Pupillen gelb umrahmt und sein Gesicht schwarz vom Stoppelbart, der so kurz ist wie ein Hundefell. Pin schreit auf, doch Pietromagro hat ihn schon gepackt und läßt ihn nicht los; und wenn er genug davon hat, ihn zu prügeln, läßt er ihn in der Werkstatt zurück und geht in die Osteria. An so einem Tag bekommt ihn niemand mehr zu Gesicht.
Jeden zweiten Abend kommt der deutsche Matrose zu Pins Schwester. Pin pflegt in der Gasse auf ihn zu warten, wenn er den steilen Weg heraufkommt, und bittet ihn um eine Zigarette; anfangs war er freigebig und schenkte ihm auch drei, vier auf einmal. Es ist kein Kunststück, sich über den deutschen Matrosen lustig zu machen, denn er versteht nichts und sieht einen nur an mit seinem aufgedunsenen, konturenlosen Gesicht, glattrasiert bis an die Schläfen. Ist er dann weitergegangen, kann man hinter seinem Rücken getrost Fratzen schneiden, in der Gewißheit, daß er sich nicht umdreht; er sieht lächerlich aus von hinten, mit den beiden schwarzen Bändern, die von der Matrosenmütze bis zu seinem Hintern herunterhängen, der von der kurzen Jacke nicht bedeckt wird und fleischig ist wie der einer Frau, und einer mächtigen deutschen Pistole darauf.
»Zuhälter ... Zuhälter ...« sagen die Leute von den Fenstern aus zu Pin, verstohlen, denn mit solchen Leuten ist nicht zu spaßen.
»Und ihr seid die Gehörnten«, gibt Pin spöttisch zurück und pumpt sich Hals und Nase mit Rauch voll, einem Rauch, der noch zu herb und zu scharf ist für seine kindliche Kehle, den man aber in sich hineinsaugen muß, bis einem die Augen tränen und man heftig hustet, man weiß selbst nicht, warum; dann, mit der Zigarette im Mund, zur Osteria und sagen: »Gottverdammt, wer mir ein Glas spendiert, dem erzähl' ich was, wofür er mir dankbar sein wird.«
In der Osteria hocken immer dieselben, den ganzen Tag, seit Jahren, die Ellenbogen auf dem Tisch und das Kinn auf die Faust gestützt, und stieren die Fliegen auf dem Wachstuch an und den violetten Schatten auf dem Grund der Gläser.
»Was gibt's denn«, fragt Mischäl, der Franzose, »hat deine Schwester die Preise gesenkt?«
Die andern lachen und hauen mit den Fäusten auf die Theke: »Pin, diesmal hast du dir aber wirklich eine Abfuhr geholt!«
Pin steht da und sieht ihn von unten nach oben an, durch seinen struppigen Pony, der die Stirn verdeckt.
»Gottverdammt, genau das habe ich mir gedacht. Seht euch so was an, er hat nichts als meine Schwester im Kopf. Ich sag's euch, er kann an nichts andres mehr denken: er hat sich verknallt. In meine Schwester hat er sich verknallt, da gehört schon allerhand dazu ...«
Die andern brüllen vor Lachen und schlagen ihm auf die Schulter und gießen ihm ein Glas ein. Pin mag keinen Wein: er schmeckt sauer und zieht einem den Hals zusammen und treibt einen dazu, laut zu lachen, zu schreien und böse zu sein. Trotzdem trinkt er ihn, schüttet ihn gläserweise in einem einzigen Zug hinunter, so wie er den Zigarettenrauch in sich hineinsaugt, so wie er nachts voller Ekel seine Schwester mit nackten Männern im Bett belauert; und sie zu sehen ist wie eine rauhe Liebkosung unter der Haut, ein herber Geschmack, wie alle Männersachen; Zigaretten, Wein, Frauen.
»Sing uns was vor, Pin«, fordern sie ihn auf. Pin steht ernst, kerzengerade da, er singt gut, mit dieser Stimme eines heiseren Kindes. Er singt Die vier Jahreszeiten.
O süße Freiheit, schönster Preis, Wann endet meine Not? Ein Kuß auf Liebchens Lippen heiß, Und danach in den Tod.
Die Männer hören schweigend zu, den Blick gesenkt, als hörten sie einen Choral. Alle sind sie schon mal im Gefängnis gewesen: wer noch nie im Gefängnis war, ist kein Mann. Und das alte Lied der Strafgefangenen ist voll von jener Hoffnungslosigkeit, die einem abends in die Knochen kriecht, im Gefängnis, wenn die Wärter ihren Rundgang machen und mit einer Eisenstange gegen die Gitter klopfen, wenn allmählich die Streitereien und Flüche verstummen und nur eine einzige Stimme bleibt, die dieses Lied singt, wie jetzt Pin, und keiner sie schweigen heißt.
O Labsal, wenn in stiller Nacht Der Ruf des Postens klingt, Und milder Mondschein kühl und sacht In meine Zelle dringt.
Pin ist noch nie in einem richtigen Gefängnis gewesen: als man ihn seinerzeit ins Erziehungsheim bringen wollte, ist er abgehauen. Hin und wieder schnappt ihn die Ortspolizei bei einem seiner Streifzüge über die Dächer des Gemüsemarktes, er aber macht das ganze Polizeirevier mit seinem Zetern und Heulen so lange verrückt, bis man ihn wieder laufenläßt. Aber in der Arrestzelle der Polizei war er für kurze Zeit eingesperrt, er weiß, wie das ist, deshalb singt er gut, mit Gefühl. Pin kann sie alle, die alten Lieder, die ihm die Männer von der Osteria beigebracht haben, Lieder, die von Bluttaten handeln, wie dasjenige, das beginnt: Kehr zurück, Caserio ... und das über Peppino, der den Leutnant ermordet. Dann, unvermittelt, während alle schwermütig sind und in den violetten Grund ihrer Gläser starren und husten und sich räuspern, dreht Pin sich mitten im Rauch der Osteria im Kreis herum und fängt lauthals an:
Und ihr Haar wollt' ich berühren, Doch da sprach sie: So ist's schlecht, Weiter unten mußt du suchen, Da ist's schöner, da ist's recht,
Dann hämmern die Männer mit den Fäusten auf die Zinkplatte, die Kellnerin bringt die Gläser in Sicherheit, und sie rufen »Juhuu! « und klatschen mit den Händen den Takt. Und die Frauen in der Osteria, alte Säuferinnen mit rotem Gesicht, wie die Bersagliera, hopsen herum und versuchen einen Tanzschritt. Und Pin, mit hochrotem Kopf und mit einer Verbissenheit, die ihm
die Zähne zusammenpreßt, brüllt sich mit dem unanständigen Lied schier die Seele aus dem Leib.
Wollt' ihr Näschen ich berühren, Da sprach sie: Du dummer Wicht! Weiter unten ist ein Garten, Tummle dich und zier dich nicht.
Und alle andern klatschen den Takt für die alte Bersagliera und grölen den Refrain:
Weiter unten ist ein Garten, Tummle dich und zier dich nicht.
An diesem Tag kam der deutsche Matrose übelgelaunt die Gasse herauf. Hamburg, seine Heimatstadt, wurde tagtäglich bombardiert, und tagtäglich wartete er auf Nachricht von seiner Frau und seinen Kindern. Er hatte ein leidenschaftliches Temperament, der Deutsche, das Temperament eines Südländers, verpflanzt in einen Menschen von der Nordsee. Er hatte sich einen ganzen Stall voller Kinder zugelegt, und jetzt, durch den Krieg in die Fremde verschlagen, suchte er seinen Überschuß an menschlicher Wärme dadurch lozuwerden, daß er sein Herz an die Prostituierten der besetzten Länder hängte.
»Nix Zigaretten«, sagt er zu Pin, der ihm entgegengelaufen ist, um ihm guten Tag zu sagen. Pin sieht ihn schief von der Seite an.
»Na, Kamerad, heute schon wieder hier? Hast wohl Heimweh, was?«
Jetzt sieht der Deutsche Pin schief an; er versteht ihn nicht.
»Du willst nicht zufällig zu meiner Schwester?« fragt Pin unschuldig.
Und der Deutsche: »Schwester nicht zu Haus?«
»Was, das weißt du nicht?« Pin macht ein so scheinheiliges Gesicht, als sei er bei den Priestern aufgezogen worden. »Weißt du nicht, daß man sie ins Krankenhaus gebracht hat, die Ärmste?
Scheußliche Krankheit, aber heute kann man so was ja kurieren, wenn man es rechtzeitig erkennt. Eine ganze Weile hatte sie's allerdings schon ... Im Krankenhaus, stell dir vor! Die Ärmste!«
Das Gesicht des Deutschen ist weiß wie Käse: er stottert und schwitzt. »Krankenhaus? Krankheit?« An einem Fenster im Hochparterre erscheint der Oberkörper eines Mädchens mit Pferdegesicht und schwarzem, krausem Haar.
»Hör nicht auf ihn, Frick, hör nicht auf dieses schamlose Balg!« schreit sie. »Das wirst du mir büßen, du Trottel, willst mich wohl ruinieren? Komm nur rauf, Frick, hör nicht auf ihn, er hat nur Spaß gemacht, der Teufel soll ihn holen!«
Pin schneidet ihr eine Grimasse. »Jetzt ist dir aber der kalte Schweiß ausgebrochen, Kamerad«, sagt er zu dem Deutschen und flitzt um die Ecke in eine Nebengasse.
Manchmal hinterläßt ein böser Scherz einen bitteren Nachgeschmack, und Pin streift einsam durch die Gassen, wo alle ihm Schimpfworte nachrufen und ihn fortjagen. Er hätte wohl Lust, sich mit einer Bande von Altersgenossen herumzutreiben, ihnen die Stelle zu zeigen, wo die Spinnen ihre Nester bauen, oder mit Rohrstöcken wilde Kämpfe auszufechten, im Graben. Doch die andern Jungen mögen Pin nicht: er, Pin, ist der Freund der Erwachsenen, er kann den Erwachsenen Dinge sagen, über die sie lachen oder wütend werden, er ist anders als sie, die nicht verstehen, wovon die Erwachsenen sprechen. Manchmal würde Pin gerne mit Gleichaltrigen zusammensein, sie fragen, ob sie ihn mitspielen lassen, wenn sie Kopf oder Zahl spielen, und ob sie ihm den unterirdischen Gang zeigen, der zum Marktplatz führt. Aber die Jungen lassen ihn abseits stehen, und schließlich verprügeln sie ihn; denn Pin hat dünne Ärmchen und ist der Schwächste von allen. Manchmal gehen sie zu Pin, um sich erklären zu lassen, was Männer und Frauen miteinander treiben; doch Pin verhöhnt sie nur und schreit die ganze Gasse entlang, und die Mütter rufen ihre Jungen zurück: »Costanzo! Giacomino! Wie oft hab' ich dir schon verboten, mit diesem ungezogenen Bengel zu spielen!«
Die Mütter haben recht: Pin erzählt nur Geschichten von Männern und Frauen im Bett und von ermordeten und eingesperrten Männern, Geschichten, die er von den Erwachsenen gehört hat, die Art von Märchen, wie sie die Erwachsenen einander erzählen und die sogar schön anzuhören wären, wenn Pin sie nicht mit Spötteleien und Andeutungen spicken würde, die keiner versteht.
So bleibt Pin nichts anderes übrig, als sich in die Welt der Erwachsenen zu flüchten, der Erwachsenen, die ihm zwar immer wieder den Rücken kehren, der Erwachsenen, die für ihn ebenso wie für die andern Jungen zwar unverständlich und weit entfernt sind, die aber leichter zu verspotten sind, mit ihrer Gier nach Frauen und ihrer Angst vor den Carabinieri, bis es ihnen zuviel wird und sie ihn mit einem Klaps auf den Hinterkopf davonjagen.
Jetzt wird Pin in die blauverräucherte Osteria gehen und Schweinereien sagen, unerhörte Schimpfworte zu den Männern dort drinnen, bis sie völlig außer Rand und Band geraten und sich schlagen, rührselige Lieder wird er singen, schmachtend, bis er selber weinen muß und auch die Männer zum Weinen bringt, und Witze und Grimassen wird er erfinden, die so neu sind, daß man vor Lachen betrunken wird, und das alles nur, um den Nebel der Einsamkeit zu zerstreuen, der sich ihm an solchen Abenden schwer auf die Brust legt.
Doch in der Osteria bilden die Männer eine einzige Wand aus lauter Rücken, die sich ihm nicht öffnet; und ein neuer Mann steht in ihrer Mitte, hager und ernst. Die Männer schielen zu dem eintretenden Pin herüber, dann blinzeln sie dem Unbekannten zu und sagen ein paar Worte. Pin spürt, daß ein anderer Wind weht; Grund genug, heranzutreten, die Hände in den Hosentaschen, und zu sagen: »Verdammt noch mal, ihr hättet sehn sollen, was für ein Gesicht der Deutsche gemacht hat!«
Die Männer antworten nicht mit den üblichen Sprüchen. Sie wenden sich langsam um, einer nach dem andern. Mischäl, der Franzose, mustert ihn, als habe er ihn noch nie gesehen, und sagt dann langsam: »Du bist ein dreckiges Zuhälterschwein!«
Der Wespenschwarm auf Pins Gesicht zuckt kurz auf, dann erwidert Pin gelassen, doch mit zusammengekniffenen Augen: »Nachher erklärst du mir, was das heißen soll.«
Giraffe reckt den Hals zu ihm hinüber und sagt: »Hau ab! Mit einem, der zu den Deutschen hält, wollen wir nichts zu tun haben!«
Gian, der Fahrer, sagt: »Am Ende werdet ihr noch alle beide zu Faschistenbonzen, du und deine Schwester, bei euren Beziehungen!«
Pin versucht ein Gesicht zu machen, als wolle er sie aufziehen.
»Nachher werdet ihr mir erklären, was das alles heißen soll«, sagt er. »Mit der Partei hab' ich nie was zu tun gehabt, nicht mal mit der Balilla-Jugend, und meine Schwester geht, mit wem sie will, schließlich belästigt sie niemand.«
Mischäl kratzt sich im Gesicht. »An dem Tag, an dem alles anders wird - kapierst du? werden wir deine Schwester zwingen, kahlgeschoren und splitternackt herumzulaufen, wie ein gerupftes Huhn ... Und für dich ... für dich werden wir uns was einfallen lassen, woran du nicht im Traum denkst ...«
Pin verzieht keine Miene, aber man sieht, daß er getroffen ist, er beißt sich auf die Lippen. »An dem Tag, an dem ihr ein bißchen mehr Grips habt als heute, erklär' ich euch, was los ist. Erstens haben meine Schwester und ich überhaupt nichts miteinander zu tun, und den Zuhälter könnt ihr spielen, wenn ihr Lust dazu habt. Zweitens geht meine Schwester nicht mit Deutschen, weil sie zu den Deutschen hält, sondern weil sie international ist, wie das Rote Kreuz, und genauso, wie sie jetzt mit denen geht, wird sie nachher mit den Engländern gehen, mit den Negern und allen anderen Sakramentern, die danach kommen.« (Das alles sind Redensarten, die Pin von den Erwachsenen gehört hat, vielleicht sogar von denselben, die gerade mit ihm sprechen. Warum muß jetzt er ihnen das erklären?) »Drittens hab' ich dem Deutschen nur seine großartigen Zigaretten abgeknöpft und ihm zum Dank solche Streiche gespielt wie den von heute, aber weil ihr mir jetzt die Laune verdorben habt, erzähl' ich's euch nicht mehr.«
Der Versuch, das Thema zu wechseln, ist jedoch vergeblich. Gian, der Fahrer, sagt: »Jetzt ist nicht die Zeit für Witze! Ich war in Kroatien, und wenn da ein dämlicher Deutscher in einem Dorf Frauen hinterherstieg, fand man hinterher nicht mal seine Leiche wieder.«
Mischäl sagt: »Früher oder später lassen wir ihn in einem Gully verschwinden, deinen Deutschen!«
Der Unbekannte, der die ganze Zeit über geschwiegen und weder Zustimmung geäußert noch gelächelt hat, zupft ihn am Ärmel. »Jetzt ist nicht der Moment, davon zu sprechen. Denkt an das, was ich euch gesagt habe.«
Die andern nicken und sehen wieder Pin an. Was in aller Welt wollen sie nur von ihm?
»Sag mal«, fragt Mischäl, »hast du gesehen, was für eine Pistole der Matrose hat?«
»Ein Mordstrumm von Pistole hat der«, erwidert Pin.
»Ausgezeichnet«, fährt Mischäl fort, »diese Pistole wirst du uns besorgen.«
»Wie soll ich das denn machen?« fragt Pin.
»Deine Sache.«
»Aber wie soll ich das denn machen, wo er sie immer am Hintern kleben hat? Holt sie euch doch selbst.«
»Also: schließlich läßt er auch mal die Hosen runter, oder? Dann schnallt er auch die Pistole ab, worauf du dich verlassen kannst. Du gehst hin und nimmst sie. Deine Sache, wie du das fertigbringst.«
»Wenn ich will.«
»Hör zu«, mischt sich Giraffe ein, »wir sind nicht hier, um Witze zu reißen. Wenn du zu uns gehören willst, weißt du jetzt, was du zu tun hast, sonst ...«
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Doch schon steht Pin mitten in der Gasse, die Hände in den Taschen der Jacke, die viel zu groß für ihn ist, und sieht einem nach dem andern ins Gesicht, ohne eine Miene zu verziehen: »Weißt du was, Celestino, ich an deiner Stelle würde lieber den Rand halten, mit deinem schönen neuen Anzug da. Übrigens, der Einbruch im Stoffgeschäft bei der Neuen Mole, weiß man eigentlich noch nicht, wer das war? Na, ist ja auch egal. Ciao, Carolina, noch mal Glück gehabt damals. Ja, Glück hast du gehabt, daß dein Mann nicht unters Bett geguckt hat. Und was dich betrifft, Pascà, mir hat einer erzählt, was in deinem Dorf passiert ist. Daß Garibaldi nämlich zum erstenmal Seife dorthin gebracht hat, und deine Dorfleute haben sie aufgefressen. Seifenfresser, Pascà, gottverdammt, wißt ihr überhaupt, was Seife kostet?«
Pin hat die heisere Stimme eines frühzeitig gealterten Kindes: er beginnt jeden Satz leise und ernst, dann bricht er unvermittelt in ein Lachen voller I-Laute aus, daß es wie Pfeifen klingt, und die roten und schwarzen Sommersprossen sammeln sich um seine Augen wie ein Wespenschwarm.
Wer Pin verspotten will, zieht allemal den kürzeren: er weiß alles, was in der Gasse geschieht, und nie ist man sicher, womit er diesmal auspacken wird. Von früh bis spät schreit und grölt er unter den Fenstern, während in Pietromagros Werkstatt der Berg abgelaufener Schuhe bald den Schustertisch unter sich begraben und bis auf die Gasse hinausquellen wird.
»Pin! Trottel! Galgenvogel!« ruft eine Frau. »Wenn du mir doch meine Latschen besohlen würdest, statt uns den ganzen Tag lang in Schrecken zu halten! Einen Monat habt ihr sie jetzt schon auf eurem Haufen liegen. Aber ich werde schon noch ein Wörtchen mit deinem Meister reden, wenn sie ihn wieder rausgelassen haben!«
Pietromagro verbringt die Hälfte des Jahres im Gefängnis, weil er als Pechvogel geboren ist und weil man zu guter Letzt doch immer wieder ihn einsperrt, wenn im Umkreis etwas gestohlen worden ist. Er kehrt zurück und sieht den Berg abgelaufener Schuhe und die offene Werkstatt ohne eine Menschenseele. Er setzt sich an den Schustertisch, greift einen Schuh heraus, dreht und wendet ihn und wirft ihn wieder auf den Haufen; dann stützt er sein bärtiges Gesicht in die knochigen Hände und flucht. Pin kommt pfeifend hereinspaziert und ahnt nichts Böses: da steht plötzlich Pietromagro vor ihm, die Hände schon erhoben, die Pupillen gelb umrahmt und sein Gesicht schwarz vom Stoppelbart, der so kurz ist wie ein Hundefell. Pin schreit auf, doch Pietromagro hat ihn schon gepackt und läßt ihn nicht los; und wenn er genug davon hat, ihn zu prügeln, läßt er ihn in der Werkstatt zurück und geht in die Osteria. An so einem Tag bekommt ihn niemand mehr zu Gesicht.
Jeden zweiten Abend kommt der deutsche Matrose zu Pins Schwester. Pin pflegt in der Gasse auf ihn zu warten, wenn er den steilen Weg heraufkommt, und bittet ihn um eine Zigarette; anfangs war er freigebig und schenkte ihm auch drei, vier auf einmal. Es ist kein Kunststück, sich über den deutschen Matrosen lustig zu machen, denn er versteht nichts und sieht einen nur an mit seinem aufgedunsenen, konturenlosen Gesicht, glattrasiert bis an die Schläfen. Ist er dann weitergegangen, kann man hinter seinem Rücken getrost Fratzen schneiden, in der Gewißheit, daß er sich nicht umdreht; er sieht lächerlich aus von hinten, mit den beiden schwarzen Bändern, die von der Matrosenmütze bis zu seinem Hintern herunterhängen, der von der kurzen Jacke nicht bedeckt wird und fleischig ist wie der einer Frau, und einer mächtigen deutschen Pistole darauf.
»Zuhälter ... Zuhälter ...« sagen die Leute von den Fenstern aus zu Pin, verstohlen, denn mit solchen Leuten ist nicht zu spaßen.
»Und ihr seid die Gehörnten«, gibt Pin spöttisch zurück und pumpt sich Hals und Nase mit Rauch voll, einem Rauch, der noch zu herb und zu scharf ist für seine kindliche Kehle, den man aber in sich hineinsaugen muß, bis einem die Augen tränen und man heftig hustet, man weiß selbst nicht, warum; dann, mit der Zigarette im Mund, zur Osteria und sagen: »Gottverdammt, wer mir ein Glas spendiert, dem erzähl' ich was, wofür er mir dankbar sein wird.«
In der Osteria hocken immer dieselben, den ganzen Tag, seit Jahren, die Ellenbogen auf dem Tisch und das Kinn auf die Faust gestützt, und stieren die Fliegen auf dem Wachstuch an und den violetten Schatten auf dem Grund der Gläser.
»Was gibt's denn«, fragt Mischäl, der Franzose, »hat deine Schwester die Preise gesenkt?«
Die andern lachen und hauen mit den Fäusten auf die Theke: »Pin, diesmal hast du dir aber wirklich eine Abfuhr geholt!«
Pin steht da und sieht ihn von unten nach oben an, durch seinen struppigen Pony, der die Stirn verdeckt.
»Gottverdammt, genau das habe ich mir gedacht. Seht euch so was an, er hat nichts als meine Schwester im Kopf. Ich sag's euch, er kann an nichts andres mehr denken: er hat sich verknallt. In meine Schwester hat er sich verknallt, da gehört schon allerhand dazu ...«
Die andern brüllen vor Lachen und schlagen ihm auf die Schulter und gießen ihm ein Glas ein. Pin mag keinen Wein: er schmeckt sauer und zieht einem den Hals zusammen und treibt einen dazu, laut zu lachen, zu schreien und böse zu sein. Trotzdem trinkt er ihn, schüttet ihn gläserweise in einem einzigen Zug hinunter, so wie er den Zigarettenrauch in sich hineinsaugt, so wie er nachts voller Ekel seine Schwester mit nackten Männern im Bett belauert; und sie zu sehen ist wie eine rauhe Liebkosung unter der Haut, ein herber Geschmack, wie alle Männersachen; Zigaretten, Wein, Frauen.
»Sing uns was vor, Pin«, fordern sie ihn auf. Pin steht ernst, kerzengerade da, er singt gut, mit dieser Stimme eines heiseren Kindes. Er singt Die vier Jahreszeiten.
O süße Freiheit, schönster Preis, Wann endet meine Not? Ein Kuß auf Liebchens Lippen heiß, Und danach in den Tod.
Die Männer hören schweigend zu, den Blick gesenkt, als hörten sie einen Choral. Alle sind sie schon mal im Gefängnis gewesen: wer noch nie im Gefängnis war, ist kein Mann. Und das alte Lied der Strafgefangenen ist voll von jener Hoffnungslosigkeit, die einem abends in die Knochen kriecht, im Gefängnis, wenn die Wärter ihren Rundgang machen und mit einer Eisenstange gegen die Gitter klopfen, wenn allmählich die Streitereien und Flüche verstummen und nur eine einzige Stimme bleibt, die dieses Lied singt, wie jetzt Pin, und keiner sie schweigen heißt.
O Labsal, wenn in stiller Nacht Der Ruf des Postens klingt, Und milder Mondschein kühl und sacht In meine Zelle dringt.
Pin ist noch nie in einem richtigen Gefängnis gewesen: als man ihn seinerzeit ins Erziehungsheim bringen wollte, ist er abgehauen. Hin und wieder schnappt ihn die Ortspolizei bei einem seiner Streifzüge über die Dächer des Gemüsemarktes, er aber macht das ganze Polizeirevier mit seinem Zetern und Heulen so lange verrückt, bis man ihn wieder laufenläßt. Aber in der Arrestzelle der Polizei war er für kurze Zeit eingesperrt, er weiß, wie das ist, deshalb singt er gut, mit Gefühl. Pin kann sie alle, die alten Lieder, die ihm die Männer von der Osteria beigebracht haben, Lieder, die von Bluttaten handeln, wie dasjenige, das beginnt: Kehr zurück, Caserio ... und das über Peppino, der den Leutnant ermordet. Dann, unvermittelt, während alle schwermütig sind und in den violetten Grund ihrer Gläser starren und husten und sich räuspern, dreht Pin sich mitten im Rauch der Osteria im Kreis herum und fängt lauthals an:
Und ihr Haar wollt' ich berühren, Doch da sprach sie: So ist's schlecht, Weiter unten mußt du suchen, Da ist's schöner, da ist's recht,
Dann hämmern die Männer mit den Fäusten auf die Zinkplatte, die Kellnerin bringt die Gläser in Sicherheit, und sie rufen »Juhuu! « und klatschen mit den Händen den Takt. Und die Frauen in der Osteria, alte Säuferinnen mit rotem Gesicht, wie die Bersagliera, hopsen herum und versuchen einen Tanzschritt. Und Pin, mit hochrotem Kopf und mit einer Verbissenheit, die ihm
die Zähne zusammenpreßt, brüllt sich mit dem unanständigen Lied schier die Seele aus dem Leib.
Wollt' ihr Näschen ich berühren, Da sprach sie: Du dummer Wicht! Weiter unten ist ein Garten, Tummle dich und zier dich nicht.
Und alle andern klatschen den Takt für die alte Bersagliera und grölen den Refrain:
Weiter unten ist ein Garten, Tummle dich und zier dich nicht.
An diesem Tag kam der deutsche Matrose übelgelaunt die Gasse herauf. Hamburg, seine Heimatstadt, wurde tagtäglich bombardiert, und tagtäglich wartete er auf Nachricht von seiner Frau und seinen Kindern. Er hatte ein leidenschaftliches Temperament, der Deutsche, das Temperament eines Südländers, verpflanzt in einen Menschen von der Nordsee. Er hatte sich einen ganzen Stall voller Kinder zugelegt, und jetzt, durch den Krieg in die Fremde verschlagen, suchte er seinen Überschuß an menschlicher Wärme dadurch lozuwerden, daß er sein Herz an die Prostituierten der besetzten Länder hängte.
»Nix Zigaretten«, sagt er zu Pin, der ihm entgegengelaufen ist, um ihm guten Tag zu sagen. Pin sieht ihn schief von der Seite an.
»Na, Kamerad, heute schon wieder hier? Hast wohl Heimweh, was?«
Jetzt sieht der Deutsche Pin schief an; er versteht ihn nicht.
»Du willst nicht zufällig zu meiner Schwester?« fragt Pin unschuldig.
Und der Deutsche: »Schwester nicht zu Haus?«
»Was, das weißt du nicht?« Pin macht ein so scheinheiliges Gesicht, als sei er bei den Priestern aufgezogen worden. »Weißt du nicht, daß man sie ins Krankenhaus gebracht hat, die Ärmste?
Scheußliche Krankheit, aber heute kann man so was ja kurieren, wenn man es rechtzeitig erkennt. Eine ganze Weile hatte sie's allerdings schon ... Im Krankenhaus, stell dir vor! Die Ärmste!«
Das Gesicht des Deutschen ist weiß wie Käse: er stottert und schwitzt. »Krankenhaus? Krankheit?« An einem Fenster im Hochparterre erscheint der Oberkörper eines Mädchens mit Pferdegesicht und schwarzem, krausem Haar.
»Hör nicht auf ihn, Frick, hör nicht auf dieses schamlose Balg!« schreit sie. »Das wirst du mir büßen, du Trottel, willst mich wohl ruinieren? Komm nur rauf, Frick, hör nicht auf ihn, er hat nur Spaß gemacht, der Teufel soll ihn holen!«
Pin schneidet ihr eine Grimasse. »Jetzt ist dir aber der kalte Schweiß ausgebrochen, Kamerad«, sagt er zu dem Deutschen und flitzt um die Ecke in eine Nebengasse.
Manchmal hinterläßt ein böser Scherz einen bitteren Nachgeschmack, und Pin streift einsam durch die Gassen, wo alle ihm Schimpfworte nachrufen und ihn fortjagen. Er hätte wohl Lust, sich mit einer Bande von Altersgenossen herumzutreiben, ihnen die Stelle zu zeigen, wo die Spinnen ihre Nester bauen, oder mit Rohrstöcken wilde Kämpfe auszufechten, im Graben. Doch die andern Jungen mögen Pin nicht: er, Pin, ist der Freund der Erwachsenen, er kann den Erwachsenen Dinge sagen, über die sie lachen oder wütend werden, er ist anders als sie, die nicht verstehen, wovon die Erwachsenen sprechen. Manchmal würde Pin gerne mit Gleichaltrigen zusammensein, sie fragen, ob sie ihn mitspielen lassen, wenn sie Kopf oder Zahl spielen, und ob sie ihm den unterirdischen Gang zeigen, der zum Marktplatz führt. Aber die Jungen lassen ihn abseits stehen, und schließlich verprügeln sie ihn; denn Pin hat dünne Ärmchen und ist der Schwächste von allen. Manchmal gehen sie zu Pin, um sich erklären zu lassen, was Männer und Frauen miteinander treiben; doch Pin verhöhnt sie nur und schreit die ganze Gasse entlang, und die Mütter rufen ihre Jungen zurück: »Costanzo! Giacomino! Wie oft hab' ich dir schon verboten, mit diesem ungezogenen Bengel zu spielen!«
Die Mütter haben recht: Pin erzählt nur Geschichten von Männern und Frauen im Bett und von ermordeten und eingesperrten Männern, Geschichten, die er von den Erwachsenen gehört hat, die Art von Märchen, wie sie die Erwachsenen einander erzählen und die sogar schön anzuhören wären, wenn Pin sie nicht mit Spötteleien und Andeutungen spicken würde, die keiner versteht.
So bleibt Pin nichts anderes übrig, als sich in die Welt der Erwachsenen zu flüchten, der Erwachsenen, die ihm zwar immer wieder den Rücken kehren, der Erwachsenen, die für ihn ebenso wie für die andern Jungen zwar unverständlich und weit entfernt sind, die aber leichter zu verspotten sind, mit ihrer Gier nach Frauen und ihrer Angst vor den Carabinieri, bis es ihnen zuviel wird und sie ihn mit einem Klaps auf den Hinterkopf davonjagen.
Jetzt wird Pin in die blauverräucherte Osteria gehen und Schweinereien sagen, unerhörte Schimpfworte zu den Männern dort drinnen, bis sie völlig außer Rand und Band geraten und sich schlagen, rührselige Lieder wird er singen, schmachtend, bis er selber weinen muß und auch die Männer zum Weinen bringt, und Witze und Grimassen wird er erfinden, die so neu sind, daß man vor Lachen betrunken wird, und das alles nur, um den Nebel der Einsamkeit zu zerstreuen, der sich ihm an solchen Abenden schwer auf die Brust legt.
Doch in der Osteria bilden die Männer eine einzige Wand aus lauter Rücken, die sich ihm nicht öffnet; und ein neuer Mann steht in ihrer Mitte, hager und ernst. Die Männer schielen zu dem eintretenden Pin herüber, dann blinzeln sie dem Unbekannten zu und sagen ein paar Worte. Pin spürt, daß ein anderer Wind weht; Grund genug, heranzutreten, die Hände in den Hosentaschen, und zu sagen: »Verdammt noch mal, ihr hättet sehn sollen, was für ein Gesicht der Deutsche gemacht hat!«
Die Männer antworten nicht mit den üblichen Sprüchen. Sie wenden sich langsam um, einer nach dem andern. Mischäl, der Franzose, mustert ihn, als habe er ihn noch nie gesehen, und sagt dann langsam: »Du bist ein dreckiges Zuhälterschwein!«
Der Wespenschwarm auf Pins Gesicht zuckt kurz auf, dann erwidert Pin gelassen, doch mit zusammengekniffenen Augen: »Nachher erklärst du mir, was das heißen soll.«
Giraffe reckt den Hals zu ihm hinüber und sagt: »Hau ab! Mit einem, der zu den Deutschen hält, wollen wir nichts zu tun haben!«
Gian, der Fahrer, sagt: »Am Ende werdet ihr noch alle beide zu Faschistenbonzen, du und deine Schwester, bei euren Beziehungen!«
Pin versucht ein Gesicht zu machen, als wolle er sie aufziehen.
»Nachher werdet ihr mir erklären, was das alles heißen soll«, sagt er. »Mit der Partei hab' ich nie was zu tun gehabt, nicht mal mit der Balilla-Jugend, und meine Schwester geht, mit wem sie will, schließlich belästigt sie niemand.«
Mischäl kratzt sich im Gesicht. »An dem Tag, an dem alles anders wird - kapierst du? werden wir deine Schwester zwingen, kahlgeschoren und splitternackt herumzulaufen, wie ein gerupftes Huhn ... Und für dich ... für dich werden wir uns was einfallen lassen, woran du nicht im Traum denkst ...«
Pin verzieht keine Miene, aber man sieht, daß er getroffen ist, er beißt sich auf die Lippen. »An dem Tag, an dem ihr ein bißchen mehr Grips habt als heute, erklär' ich euch, was los ist. Erstens haben meine Schwester und ich überhaupt nichts miteinander zu tun, und den Zuhälter könnt ihr spielen, wenn ihr Lust dazu habt. Zweitens geht meine Schwester nicht mit Deutschen, weil sie zu den Deutschen hält, sondern weil sie international ist, wie das Rote Kreuz, und genauso, wie sie jetzt mit denen geht, wird sie nachher mit den Engländern gehen, mit den Negern und allen anderen Sakramentern, die danach kommen.« (Das alles sind Redensarten, die Pin von den Erwachsenen gehört hat, vielleicht sogar von denselben, die gerade mit ihm sprechen. Warum muß jetzt er ihnen das erklären?) »Drittens hab' ich dem Deutschen nur seine großartigen Zigaretten abgeknöpft und ihm zum Dank solche Streiche gespielt wie den von heute, aber weil ihr mir jetzt die Laune verdorben habt, erzähl' ich's euch nicht mehr.«
Der Versuch, das Thema zu wechseln, ist jedoch vergeblich. Gian, der Fahrer, sagt: »Jetzt ist nicht die Zeit für Witze! Ich war in Kroatien, und wenn da ein dämlicher Deutscher in einem Dorf Frauen hinterherstieg, fand man hinterher nicht mal seine Leiche wieder.«
Mischäl sagt: »Früher oder später lassen wir ihn in einem Gully verschwinden, deinen Deutschen!«
Der Unbekannte, der die ganze Zeit über geschwiegen und weder Zustimmung geäußert noch gelächelt hat, zupft ihn am Ärmel. »Jetzt ist nicht der Moment, davon zu sprechen. Denkt an das, was ich euch gesagt habe.«
Die andern nicken und sehen wieder Pin an. Was in aller Welt wollen sie nur von ihm?
»Sag mal«, fragt Mischäl, »hast du gesehen, was für eine Pistole der Matrose hat?«
»Ein Mordstrumm von Pistole hat der«, erwidert Pin.
»Ausgezeichnet«, fährt Mischäl fort, »diese Pistole wirst du uns besorgen.«
»Wie soll ich das denn machen?« fragt Pin.
»Deine Sache.«
»Aber wie soll ich das denn machen, wo er sie immer am Hintern kleben hat? Holt sie euch doch selbst.«
»Also: schließlich läßt er auch mal die Hosen runter, oder? Dann schnallt er auch die Pistole ab, worauf du dich verlassen kannst. Du gehst hin und nimmst sie. Deine Sache, wie du das fertigbringst.«
»Wenn ich will.«
»Hör zu«, mischt sich Giraffe ein, »wir sind nicht hier, um Witze zu reißen. Wenn du zu uns gehören willst, weißt du jetzt, was du zu tun hast, sonst ...«
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Italo Calvino
Italo Calvino, am 15. Oktober 1923 in Santiago de las Vegas auf Kuba geboren, wuchs in San Remo auf. Er arbeitete mehrere Jahre als Lektor des Verlages Einaudi und als Redakteur bei verschiedenen Zeitschriften. Sein Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet und in alle Weltsprachen übersetzt. Italo Calvino starb am 19. September 1985 in Siena. Seine Romane, Erzählungen und Essays sind im Carl Hanser Verlag und im Fischer Taschenbuch erschienen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Italo Calvino
- 2012, 1. Auflage, 208 Seiten, Maße: 12,4 x 18,9 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Thomas Kolberger
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596905087
- ISBN-13: 9783596905089
- Erscheinungsdatum: 10.12.2012
Kommentar zu "Wo Spinnen ihre Nester bauen"
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