Wörterbuch
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Von der Autorin des Erfolges "Geschichte vom alten Kind".
Von der Autorin des Erfolges "Geschichte vom alten Kind".
Wörterbuch von Jenny Erpenbeck
LESEPROBE
Wozu sinddenn meine Augen da, wenn sie sehen, aber nichts sehen? Wozu meine Ohren, wennsie hören, aber nichts hören? Wozu all das Fremde in meinem Kopf?
Das,Gehirnwindung für Gehirnwindung, zunichte den ken,bis vielleicht ganz am Grund ein Löffelchen voll von mir durchscheint. DieErinnerung hernehmen wie ein Messer und es gegen sie selbst richten,die Erinnerung abstechen mit der Erinnerung. Wenn das geht.
Vater undMutter. Ball. Auto. Das vielleicht die einzigen Wörter, die heil waren, als ichsie lernte. Und auch die dann verkehrt, aus mir gerissen und andersherum wiedereingesetzt, das Gegenteil von Ball wieder Ball, von Vater und Mutter Vater undMutter. Was ist ein Auto? Alle anderen Worte von vornherein mit der Hälfte Schweigenals Bleigewicht an den Füßen, so wie der Mond seine dunkle Seite mit sichherumschleppt, sogar wenn er voll ist. Aber der kreist immerhin. Für michstanden die Worte fest, aber jetzt laß ich sie los,und wenn es nicht anders geht, schneide ich den einen oder anderen Fuß liebermit ab. Ball. Ball.
GutenAbend, gut Nacht. Meine Mutter bringt mich zu Bett. Während sie singt, streichtsie mir mit einer Hand über den Kopf. Weiße, trockene Hand, die einem Kind überden Kopf streicht. Mit Rosen bedacht. Wasserfarbene Augen, deren Blick sich aufmich richtet, während mir die Augen schon zufallen. Mit Nägleinbesteckt. Nelken sind das, würde sie sagen, wenn sie sehen würde, daß ich bei dieser Zeile wieder anfange zu weinen. Nelken, nichtweinen. Aber zum Weinen ist es heute zu spät, unumkehrbar bin ich unterwegs inden Schlaf, Nelken sind es nicht, sondern spitze Näglein,mit denen mich jemand, den ich nicht kenne, am Bett festnageln wird, während ichschlafe. Schlupf unter die Deck, singt sie. Sie ziehtmir die Decke bis zum Kinn hinauf und löscht das Licht. Lauter kleine blutigeEinstiche von den Nägeln. Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt.Und wenn nicht, bleibe ich für immer ans Bett geheftet. Morgen früh, wenn Gottwill, wirst du wieder geweckt. Und die Blutstropfen versteinern. Mutter.
Ein Ballist ein Ding, das rollt, manchmal springt. Ein Vater ist ein Mann, der langeZeit größer ist als man selbst. Bevor mein Vater zur Beichte geht, rasiert ersich und zieht ein frisches Hemd an. Wer mit einem Kopf Ball spielen wollte,den würde nur die Nase stören. Bevor mein Vater zur Beichte geht, nimmt er michzu sich auf die Knie und läßt mich reiten. In dieseLandschaft sind schon viele Kinder hineingeritten, viel Rabenfutter, viele weißhäutigekreischende Reiter, die, eh sie in Galopp verfallen, immer schon abstürzen inden Sumpf. Das Hemd meines Vaters riecht frisch und ist rauh,wenn ich meinen Kopf darin vergrabe, nachdem ich mich mit ei- nem Schwung, der mich jedesmalschwindeln macht, emporgeraffthabe aus dem Sumpf. Vater.
Haus.Unser Haus die Mitte des Gartens. Rosafarbene Wände, das Rosa von der Sonnegebleicht und schon brüchig. Mit dem Fingernagel fahre ich unter den Putz undbreche ihn ab. Darunter kommt Ocker zum Vorschein. Wenn ich mit einem Steingegen diese tiefergelegene Farbe klopfe, tut sich inden abgeschlagenen Inseln eine weitere Haut auf, die ist grau. Tiefer komme ichnicht, das Grau hält sich an den Wänden des Hauses ganz fest, womöglich istdieses Grau das Haus selbst. Meine Mutter sagt: Laßdas. Ich weiß schon, ich kann auch durch die Tür ins Haus gehen.
Aus derSonne in den Schatten. Auf bloßen Sohlen vom Staub auf den kühlen Stein.Barfüßig. Hierzulande scheint beinahe immer die Sonne, sie scheint und scheint undscheint, und der Himmel rings um die Sonne ist beinahe immer ganz und gar leer.Was eigentlich frißt die Sonne?,frage ich meinen Vater. Wasser, gibt er mir zur Antwort. Und wo ist ihr Bett?Die Sonne schläft nicht, antwortet er. Wenn bei uns Nacht ist, sagt er, scheintsie auf der an deren Seite der Welt. Schönes Wetter heute. Heute und alle Tage.
Warumhattest du keine Milch für mich, frage ich meine Mutter. Manche Frauen habenviel Milch, andere nun einmal keine, antwortet meine Mutter. An die Brüste derAmme kann ich mich gut entsinnen. Ich habe lange aus ihnen getrunken. Längerals jedes andere Kind, das ich kenne, sagt meine Mutter. Noch in der erstenSchul- klasse setzte ich mich, wenn ich nach Hause kam, zuerst auf den Schoßder Amme und trank. Wäßrig und süß war ihre Milch,ihre Brüste rosig und voll, feste Inseln am Körper einer alternden Frau. MeineAmme, die meine ganze Kindheit, auch als ich nicht mehr aus ihr trank, wieeinen Apfel im Schoß hielt, sah aus wie eine Fee, mit grünen, schrägstehenden Augen, wie eine aus dem Märchen vertriebeneFee, schattig geworden durch die am Ansatz eingedunkelten Haare, die spätergrau wurden, und durch ihre Kleidung in den Farben des Herbstes, braun, schwarzund oliv, selbst im heißesten Sommer. Ich ergänzte das, was ich sah, durch denunsichtbaren spitzen kegelförmigen Hut, hellblau mit Schleier. Normal ist dasnicht, hatte meine Mutter einmal gesagt, als sie mir beim Trinken aus den Feenbrüsten zusah, und hatte versucht, die Amme zuentlassen. Da blieb ich drei Tage lang stumm, und am vierten Tag war die Amme wiederim Haus. Milch. Trinken.
Niemals habeich den Garten der Amme gesehen. Ich weiß nicht, ob der Schuhkarton mit denHänden ins Gras gefallen ist, oder zwischen Blumen. Das macht nichts, sagt dieAmme zu mir, als mir mein Eis aus der Hand fällt, und kauft mir ein neues. Da,wo mein heruntergefallenes Eis in der Sonne zerschmilzt, bleibt ein heller Fleckauf der Straße zurück. Marie, die Tochter der Amme, hat viel längere Finger alsich, darum fällt ihr das Eis auch nie aus der Hand. Und ihre Hände sind immer sauber,unabhängig davon, wie dreckig das ist, was sie anfaßt.Meine Hände sind immer genauso klebrig und staubig wie das, was wir spielen undessen, wie die Straßen der Stadt, auf die wir fallen, wenn wir rennen oder unsschubsen und stoßen. Als ob ihre Haut anders wäre, obgleich sie sich, wenn ichMarie, die so etwas wie meine Milchschwester ist, bei der Hand nehme, soanfühlt wie meine. Als ob sie in Wahrheit aus Wachs wäre oder aus Stein, so daß der Dreck an ihr abgleiten muß.Vater unser, der du bist im Himmel. Abends, wenn ich allein im Bett liege,krieche ich unter die Decke und falte die Hände, mit dem Radiergummi habe ichdie Haut vorher sauberradiert, damit sie so aussehenwie die Hände von Marie, durch das Beten ziehe ich jetzt den ganzen Himmel samtVater zu mir ins Dunkel. Sag guten Tag, gib die Hand, gib die Hand. ()
© btb Verlag
Jenny Erpenbeck, geboren 1967 in Berlin, debütierte 1999 mit der Novelle »Geschichte vom alten Kind«. Es folgten zahlreiche Veröffentlichungen, darunter Romane, Erzählungen und Theaterstücke. Ihr Roman »Aller Tage Abend« wurde von Lesern und Kritik gleichermaßen gefeiert und vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Joseph-Breitbach-Preis und dem Independent Foreign Fiction Prize. Für »Gehen, ging, gegangen« erhielt sie u.a. den Thomas-Mann-Preis. 2017 gewann Jenny Erpenbeck den Premio Strega Europeo und wurde mit dem Verdienstkreuz am Bande der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet.
1. Wovon handelt Ihr neuer Roman „Heimsuchung“? Wie sind Sie auf den Stoff gekommen?
„Heimsuchung“ erzählt die Geschichten von zwölf Menschen, die im Laufe des letzten Jahrhunderts mit einem Grundstück und einem Haus in der Nähe Berlins eng verbunden waren, diesen Ort bewohnt haben, Hoffnung hatten, für immer dort bleiben zu können, und irgendwann doch wieder gehen mußten – dem Verlauf der deutschen Geschichte folgend aus sehr verschiedenen Gründen. Ausgegangen bin ich beim Schreiben von dem Haus, das meine Großeltern Anfang der 50er Jahre gepachtet, später gekauft haben, und das meine Familie 50 Sommer später nach zehnjährigem Prozessieren und Warten auf die Entscheidung des Amtes wieder verlor, als dem Rückübertragungsantrag der Erben des Alteigentümers stattgegegeben wurde. Obgleich ich eigentlich in Berlin aufgewachsen bin und dort nur meine Ferien verbracht habe, wäre es immer dieser Ort gewesen, den ich als meine Heimat bezeichnet hätte.
2. Wie lange haben Sie an „Heimsuchung“ geschrieben? Wie hat sich die Recherchearbeit und der Prozeß des Schreibens im einzelnen gestaltet?
Häuser besichtigt, die der Architekt gebaut hat, habe die Bücher meiner Großmutter wieder gelesen und natürlich auch sehr viele Telefonate geführt, mit Geologen, Historikern, Abrißfirmen usw. Mir war es wichtig, von der historischen Wahrheit als Maß auszugehen, dann aber, auch durch Erfindung, den trockenen Fakten die Inhalte - sozusagen einem Skelett den Körper - wiederzugeben. Und letztendlich ist ja schon die Auswahl, ob aus der eigenen Erinnerung heraus oder aus einer Fülle von „fremdem“ Material, immer eine Frage der Entscheidung, also von vornherein mehr als nur nacherzählte Wirklichkeit. Das Material ordnet sich nur, wenn man weiß, was der Kern einer Geschichte sein soll.
3. Bei allem Kommen und Gehen der verschiedenen Figuren taucht doch immer wieder der Gärtner im Verlauf der Handlung auf. Er kümmert sich mit viel Hingabe um die Pflege des Grundstücks am See und spricht dabei kein einziges Wort. Wie würden Sie seine Funktion im Gesamtkonzept des Romans beschreiben?
Der Gärtner war für mich so etwas wie personifizierte Natur, so etwas wie die Verlängerung der Eiszeit, die im Prolog beschrieben wird, in die Welt der Menschen hinein. Eine mythische Figur. Von außen gesehen, dient er den verschiedensten Herren, für die er den Garten in Ordnung hält, aber dennoch ist er ganz offensichtlich kein Diener, sondern erscheint durch die vielen Handgriffe, die ihn über die Jahre mit diesem Garten verbinden, eher im Gegenteil als dessen wahrer Herr. Durch die Beständigkeit seiner Arbeit kommt eine Ruhe in das Buch, die innerhalb der einzelnen Geschichten nicht da ist, durch den Gärtner haben die Geschichten Abstand voneinander, er ermöglicht Pausen, die für mich, und wahrscheinlich auch für den Leser, mindestens ebenso notwendig sind wie das, was ausgesprochen wird.
4. Sie verwenden eine sehr präzise und dichte Sprache. Wie läuft das beim Schreiben konkret ab? Schreiben Sie unbekümmert drauf los und streichen dann den unnötigen Ballast weg?
Ich versuche, soviel wie möglich schon im Kopf zu streichen, bevor ich überhaupt etwas hinschreibe. Später überlese ich die schon geschriebenen Abschnitte immer wieder und streiche noch einmal etliches. Mich persönlich langweilen ausufernde Beschreibungen von Szenen beim Schreiben, und wenn ich mich beim Schreiben selbst langweile, verläßt mich die Konzentration und der innere Ton, den ich zum Schreiben brauche, dann wird alles flach und beliebig. Viele Fragen stelle ich ja nur, um sie unbeantwortet zu lassen.
5. Sie verleihen jedem Kapitel, jedem Menschenschicksal in „Heimsuchung“ einen eigenen Erzählstil bzw. -ton. Können Sie Ihre Vorgehensweise genauer erläutern?
Ich bin bei meinen Recherchen auf sehr unterschiedliches Material gestoßen, gerade auch sprachlich sehr unterschiedliches Material. Es gab Rätsel, von Dorfchronisten zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufgezeichnet, es gab Briefe eines jüdischen Mädchens, Versteigerungslisten, es gab Witze, an die sich Nachbarn erinnerten, Gerüchte, Legenden und sehr viele Prozeßakten. All diese Dinge wollte ich in ihrer Eigenart erhalten. Die Sprache ist ja immer mehr als nur Transportmittel für einen Inhalt, sie spricht mindestens ebensosehr für sich selbst.
Außerdem war es mir wichtig zu zeigen, wie befangen jede der Figuren in meinem Buch in ihrem eigenen Leben, in der jeweiligen Biographie ist, und wie selten es gelingt, aus diesen Mikrokosmen auszubrechen und einen ungetrübten Blick auf ein anderes Leben zu werfen. Die Geschichten kommentieren sich, so hoffe ich jedenfalls, durch die Anordnung gegenseitig, und so gelingt es vielleicht zumindest dem Leser, einen Blick auf mehrere Wahrheiten zugleich zu werfen. Ich glaube, erst wenn die Trennung der einzelnen Schicksale deutlich genug ist, kann der Ort und die Hoffnung, die mit ihm verbunden ist, und auch die Vergänglichkeit als das allen Gemeinsame deutlich erscheinen.
- Autor: Jenny Erpenbeck
- 2007, 109 Seiten, Maße: 11,9 x 18,9 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: BTB
- ISBN-10: 3442734614
- ISBN-13: 9783442734610
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