Zamonien Band 6: Das Labyrinth der Träumenden Bücher
Ein Roman aus Zamonien von Hildegunst von Mythenmetz. Aus d. Zamonischen übertr. u. illustr. v. Walter Moers. Ausgezeichnet mit dem Phantastik-Preis 2005 der Stadt Wetzlar
Über 200 Jahre ist es her, seit Buchhaim, die Stadt der Träumenden Bücher, zerstört wurde. Nun kehrt Hildegunst von Mythenmetz nach Buchhaim zurück. Und er gerät in den abenteuerlichen Sog der Stadt.
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Produktinformationen zu „Zamonien Band 6: Das Labyrinth der Träumenden Bücher “
Über 200 Jahre ist es her, seit Buchhaim, die Stadt der Träumenden Bücher, zerstört wurde. Nun kehrt Hildegunst von Mythenmetz nach Buchhaim zurück. Und er gerät in den abenteuerlichen Sog der Stadt.
Klappentext zu „Zamonien Band 6: Das Labyrinth der Träumenden Bücher “
Hildegunst von Mythenmetz kehrt zurück.Über zweihundert Jahre ist es her, seit Buchhaim, die Stadt der Träumenden Bücher, von einem verheerenden Feuersturm zerstört worden ist. Der Augenzeuge dieser Katastrophe, Hildegunst von Mythenmetz, ist inzwischen zum größten Schriftsteller Zamoniens avanciert und erholt sich auf der Lindwurmfeste von seinem monumentalen Erfolg. Er gefällt sich im täglichen Belobhudeltwerden, als ihn eine verstörende Botschaft erreicht, die seinem Dasein endlich wieder einen Sinn gibt.
Verlockt durch einen rätselhaften Brief kehrt Hildegunst von Mythenmetz nach Buchhaim zurück. Die prächtig wiederaufgebaute Stadt ist erneut zur pulsierenden Metropole der Literatur und zum Mekka des Buchhandels geworden und wird durchströmt von Buchverrückten aller Art. Dem Rätsel auf der Spur gerät Mythenmetz, kaum hat er die Stadt betreten, in ihren abenteuerlichen Sog. Er begegnet alten Freunden wie der Schreckse Inazea Anazazi, den Buchlingen Ojahnn Golgo van Fontheweg, Dölerich Hirnfidler und Gofid Letterkerl, dem Eydeeten Hachmed Ben Kibitzer, aber auch neuen Bewohnern, Phänomenen und Wundern der Stadt, wie den mysteriösen Biblionauten, den obskuren Puppetisten und der jüngsten Attraktion Buchhaims, dem "Unsichtbaren Theater". Dabei verirrt sich Mythenmetz immer tiefer im "Labyrinth der Träumenden Bücher", das geheimnisvoll und unsichtbar die Geschicke Buchhaims zu bestimmen scheint. Bis er schließlich in einen unaufhaltsamen Strudel von Ereignissen gerät, der alle Abenteuer, die er je zu bestehen hatte, in jeder Hinsicht übertrifft.
Lese-Probe zu „Zamonien Band 6: Das Labyrinth der Träumenden Bücher “
Das Labyrinth der Träumenden Bücher von Walter MoersKam der Schwarze Mann Und zündet' Buchhaim an Es brannte lichterloh Der Schwarze Mann also Dann ging dahin die Zeit Und mit ihr alles Leid Doch eh man sich versah war Buchhaim wieder da.
Sie erzählt, wie ich nach Buchhaim zurückkehrte und zum zweiten Mal hinabstieg in die Katakomben der Bücherstadt. Sie handelt von alten Freunden und neuen Feinden, von neuen Mitstreitern und alten Widersachern. Sie handelt aber vor allem, so unglaublich es klingen mag, vom Schattenkönig.
Und sie handelt von Büchern. Von Büchern der verschiedensten Art, von guten und schlechten, lebenden und toten, träumenden und wachen, wertlosen und kostbaren, harmlosen und gefährlichen. Und von solchen, bei denen man nicht ahnt, was in ihnen steckt. Bei deren Lektüre einen jederzeit eine Überraschung ereilen kann - besonders dann, wenn man am wenigsten damit rechnet.
So, wie beim Lesen dieses Buches, geneigter Leser, das du gerade in Händen hältst. Ich muss dir nämlich leider mitteilen, dass dies ein vergiftetes Buch ist. Sein Kontaktgift hat in dem Augenblick begonnen, durch deine Fingerkuppen einzudringen, als du es aufgeschlagen hast. Winzige, mikroskopisch kleine Partikel nur, für welche die Poren deiner Haut so groß wie Scheunentore sind, die ungehinderten Einlass in deinen Blutkreislauf gewähren. Und nun sind diese Todesboten bereits in deinen Arterien unterwegs, direkt zu deinem Herzen.
Horch in dich hinein! Hörst du den beschleunigten Herzschlag? Spürst du das leichte Kribbeln in deinen Fingern? Die Kälte in deinen Adern, die langsam die Arme hochsteigt? Die Beklemmung in der Brust? Die Atemnot? Nein? Noch nicht? Geduld, bald wird es beginnen. Sehr bald.
... mehr
Was dieses Gift dir antut, wenn es am Herzen angelangt ist? Ehrlich gesagt: Es wird dich töten. Dein Leben beenden, hier und jetzt. Das erbarmungslose Toxin wird deine Herzklappen lähmen und damit den Fluss deines Blutes anhalten, ein für alle Mal. Der medizinische Fachausdruck dafür ist Infarkt, aber ich finde Herzkasper lustiger. Du wirst vielleicht noch theatralisch an deine Brust greifen und einen Laut der Verblüffung von dir geben, bevor du zusammenbrichst. Mehr ist dir nicht vergönnt. Und nimm es bitte nicht persönlich: Du bist nicht etwa das sorgfältig ausgewählte Opfer eines Komplotts. Nein, dieser Giftmord erfüllt keinerlei Zweck, er ist genauso sinnlos wie dein baldiger Tod. Es gibt auch kein Motiv. Du hast einfach nur zum falschen Buch gegriffen. Schicksal, Zufall, Pech - nenn es, wie du willst - du wirst jetzt sterben, das ist alles. Finde dich damit ab!
Es sei denn ...
Ja, es gibt noch eine Chance! Wenn du meinen Anweisungen folgst, ohne zu zögern. Es handelt sich nämlich um ein sehr seltenes Kontaktgift, das nur ab einer gewissen Menge tödlich wirkt. Es kommt einzig und allein darauf an, wie lange du das Buch in Händen hältst. Alles ist so präzise berechnet, derart exakt portioniert, dass dieses Gift dich lediglich dann umbringen wird, wenn du über den nächsten Absatz hinausliest! Also: Leg das Buch augenblicklich beiseite, falls du Wert darauf legst, deine Existenz fortzusetzen! Du wirst nur noch eine Weile deinen beschleunigten Herzschlag verspüren. Kalter Schweiß wird auf deine Stirn treten, das leichte Schwächegefühl wird bald vorübergehen - und dann kannst du dein erbärmliches Dasein in all seiner Ödnis so lange weiterfristen, wie das Schicksal Stunden für dich gestapelt hat. Auf Nimmerwiedersehen!
So - nun wären wir unter uns, meine tapferen Freunde! Endlich! Denn wer jetzt noch dieses Buch in Händen hält, in dessen Adern fließt Blut von meinem Blut. Ich bin es, Hildegunst von Mythenmetz, euer treuer Freund und Wegbegleiter, ich heiße euch willkommen!
Ja, es war nur ein Bluff. Das Buch ist natürlich nicht vergiftet. Wenn ich meine Leser umbringen will, dann langweile ich sie auf sechsundzwanzigtausend Seiten mit endlosen Dialogen über doppelte Buchführung zu Tode, so wie ich es mit meinem Romanzyklus Das Nattifftoffenhaus getan habe. Das finde ich subtiler.
Aber ich musste erst einmal die Spreu vom Weizen trennen. Denn dort, wo wir hingehen, können wir keinen Ballast gebrauchen. Keine zart- besaiteten Lektürememmen, die ein Buch schon bei der bloßen Erwähnung von Gefahr zitternd beiseitelegen.
Ihr ahnt es bereits, nicht wahr, meine furchtlosen Brüder und Schwestern im Geiste? Ja, es ist wahr - nach Buchhaim soll die Reise wieder gehen. Wie bitte? Die Stadt der Träumenden Bücher ist doch abgebrannt, werft ihr ein. Nun, das ist sie in der Tat. Von einer gnadenlosen Feuersbrunst wurde sie verwüstet, vor langer Zeit, und niemandem ist das schmerzlicher bewusst als mir. Denn ich war dabei. Ich sah mit eigenen Augen, wie Homunkoloss, der Schattenkönig, sich selbst entzündete, um das größte Feuer zu entfachen, das Buchhaim je erlebt hat. Ich sah ihn als lebendige Fackel in die Katakomben hinabsteigen, um einen Flammensturm zu entfesseln, der nicht nur die Häuser an der Oberfläche verbrannte, sondern sich auch tief in die Eingeweide der Stadt fraß. Ich hörte, wie die Feuerglocken gellten. Und ich sah sie mit den Sternen tanzen, die zu Funken gewordenen Träumenden Bücher. Über zweihundert Jahre ist das her.
Inzwischen ist Buchhaim wieder aufgebaut worden. In neuer Pracht, wie man hört. Mit noch reicheren antiquarischen Schätzen ausgestattet als je zuvor. Sie sollen aus den Bereichen der Katakomben stammen, deren Erschließung das Feuer erst möglich machte. Die Stadt ist nun eine pulsierende Metropole des zamonischen Buchwesens, eine magnetisch anziehende Pilgerstätte der Literatur, Verlegerei und Druckkunst, neben der das alte Buchhaim wirken würde wie ein Winkelantiquariat neben einer Staatsbibliothek. Großbuchhaim nennen es seine Bewohner heute selbstbewusst, als sei es ein vollständig anderer Ort. Welchen Büchernarren würde es nicht locken, mit eigenen Augen zu überprüfen, wie groß und prächtig die Stadt der Träumenden Bücher tatsächlich aus der Asche wiederauferstanden ist?
Aber für mich gibt es noch einen anderen, einen erheblich triftigeren Grund als die bloße touristische oder bibliophile Neugierde. Und ihr, meine wissensdurstigen und unerschrockenen Freunde, wollt jetzt diesen Grund erfahren, nicht wahr? Mit gutem Recht, denn von nun an wollen wir wieder alles teilen, Freude und Leid, Gefahren und Geheimnisse, Abenteuer und Abendbrot - wir sind wieder eine verschworene Gemeinschaft. Ich verrate euch den Grund, aber ich gebe besser gleich zu, dass es kein besonders origineller Anlass war, der mich auf den Weg in das allergrößte Abenteuer meines Lebens schickte. Es war ein mysteriöser Brief. Ja, genau wie damals, bei meiner ersten Reise nach Buchhaim, war es ein handschriftliches Manuskript, das alles ins Rollen brachte.
Heimkehr zur Lindwurmfeste
Man darf mich getrost für größenwahnsinnig erklären, wenn ich behaupte, dass ich zu jener Zeit, als diese Geschichte begann, schon der größte Dichter Zamoniens war. Wie soll man einen Schriftsteller sonst nennen, dessen Bücher in Fässern in die Buchhandlungen gerollt werden? Der als jüngster zamonischer Künstler den Valtrosem-Orden erhalten hat? Dem man vor der Gralsunder Universität für Zamonische Dichtung ein Denkmal aus feuervergoldetem Gusseisen errichtet hat?
In jeder größeren zamonischen Stadt war eine Straße nach mir benannt. Es gab Buchhandlungen, die ausschließlich meine Werke führten - und die gesamte Sekundärliteratur dazu. Meine Anhänger hatten eingetragene Vereine gegründet, in denen sich die Mitglieder mit Namen von Gestalten aus meinen Büchern ansprachen. Einen Mythenmetz hinlegen war eine volksmündliche Umschreibung dafür, in einem künstlerischen Beruf eine einzigartige Karriere gemacht zu haben. Ich konnte keine belebte Straße entlanggehen, ohne einen Volksauflauf zu verursachen. Keinen Buchladen betreten, ohne bei den anwesenden Buchhändlerinnen Ohnmachtsanfälle auszulösen. Kein Buch schreiben, das nicht umgehend zum Klassiker erklärt wurde.
Kurzum: Ich war zu einem von Literaturpreisen und Publikumsgunst verhätschelten Popanz verkommen, dem jede Fähigkeit zur Selbstkritik und nahezu alle natürlichen künstlerischen Instinkte abhanden gekommen waren. Einer, der nur noch sich selbst zitierte und die eigenen Werke kopierte, ohne es zu bemerken. Wie eine schleichende Geisteskrankheit, die vom Patienten selber nicht erkannt wird, hatte mich der Erfolg ereilt und völlig verseucht. Ich war so sehr damit beschäftigt, mich in meinem Ruhm zu suhlen, ich nahm nicht einmal wahr, dass mich das Orm schon lange nicht mehr durchströmte.
Habe ich in dieser Zeit überhaupt etwas von Bedeutung geschrieben? Ich wüsste nicht, wann ich das hätte tun sollen. Die meiste Zeit verplemperte ich doch damit, in Buchhandlungen, Theatern oder auf Literaturseminaren mit selbstverliebtem Singsang aus meinen eigenen Werken vorzutragen, um mich danach am Applaus zu berauschen, herablassend mit Verehrern zu plaudern und stundenlang zu signieren. Was ich, oh meine treuen Freunde, damals für den Gipfel meiner Lauf bahn hielt, markierte in Wirklichkeit ihren absoluten Tiefpunkt. Schon längst konnte ich nicht mehr anonym durch eine Stadt streifen und unbehelligt für meine Arbeit recherchieren. Überall umringten mich sogleich Scharen von Verehrern, die mich um Autogramme, künstlerische Ratschläge oder meinen Segen anflehten. Selbst auf den Landstraßen folgten mir Pilgerscharen von fanatischen Lesern, die Augenzeugen sein wollten, wenn mich das Orm überkam. Dies geschah aber erst immer seltener, dann gar nicht mehr - und ich bemerkte es nicht einmal. Denn um ehrlich zu sein, zu dieser Zeit konnte ich einen Ormrausch von einem Weinsuff kaum unterscheiden.
Es war eine Flucht vor dieser ins Monströse gewachsenen Popularität, vor meinem bizarren Erfolg und meinen verrückten Verehrern, als ich mich entschloss, nach langen Jahren der ruhelosen Wanderschaft und etlichen Abenteuern für eine Weile auf die Lindwurmfeste zurückzukehren, um mich dort ein wenig auf meinen Lorbeeren auszuruhen. Ich bezog wieder das kleine Haus, welches ich von meinem Dichtpaten Danzelot von Silbendrechsler geerbt hatte. Auch darum - sehen wir der Sache ins Gesicht, meine geliebten Freunde -, der Öffentlichkeit und meinen Artgenossen auf der Feste eine Rückkehr zu meinen Wurzeln vorzutäuschen: Auf dem Zenit seiner Karriere kehrt der verlorene Sohn heim, um unter bescheidensten Verhältnissen demütig sein titanisches Werk fortzusetzen, im beengten Häuschen seines über alles geliebten Dichtpaten.
Nichts war weiter von der Wahrheit entfernt. Niemand in ganz Zamonien hatte zu dieser Zeit weniger Bodenhaftung als ich. Und niemand lebte dekadenter und zielloser in den Tag hinein, ohne sich um seine kulturelle Aufgabe und dichterische Disziplin zu scheren. Die Lindwurmfeste war schlicht der einzige Ort, der mir perfekten Schutz vor meiner Popularität bot. Immer noch waren hier außer Lindwürmern keine anderen Daseinsformen zugelassen. Nur hier konnte ich ein Künstler unter lauter Künstlern sein. Und nur unter Lindwürmern herrschte diese perfekte Etikette, die jedem seine Privatsphäre gewährleistet. Auf der Lindwurmfeste galt die Einsamkeit als kostbares Gut. Hier war jeder Einzelne so sehr mit der eigenen literarischen Arbeit beschäftigt, dass niemand bemerkte, wie sträflich ich die meine vernachlässigte.
Die einzige Sorge, abgesehen von den üblichen hypochondrischen Anwandlungen, bereitete mir mein Körpergewicht. Der geruhsame Lebenswandel, der chronische Mangel an Bewegung und die deftige Lindwurmkost hatten sich recht bald in etlichen Pfunden auf den Hüften niedergeschlagen, was mich gelegentlich deprimierte. Aber nie so sehr, dass dies nicht mit ein paar Marmeladen-Omeletts oder einer Sumpfschweinkeule aus der Welt zu schaffen war. Ich hätte vielleicht als der fetteste und einsamste Dichter der Lindwurmfeste enden können, wenn da nicht die Lektüre eines mysteriösen Briefes gewesen wäre, die mich aus dieser Lethargie riss.
Es war an einem gewöhnlichen Sommermorgen, als mein Leben ins Rutschen kam. Wie an jedem anderen Tag saß ich beim übermäßig ausgedehnten Frühstück in der kleinen Küche meines geerbten Hauses und las wie üblich stundenlang in meiner Verehrerpost, trank dazu literweise süßen Sahnekakao, kaute schokoladenumhüllte Mokkabohnen und mampfte ein Dutzend frische Blätterteig-Hörnchen mit Aprikosenmarkfüllung. Ich langte immer mal wieder in einen der Postsäcke, den der mürrische Briefträger alle paar Tage anschleppte, holte irgendeinen Brief heraus, öffnete ihn und suchte darin ungeduldig nach den schmeichelhaftesten Stellen. Meistens war ich milde enttäuscht, weil ich mir diese Briefe immer noch etwas hymnischer vorstellen konnte, als sie es schon waren. So ersetzte ich während der Lektüre in Gedanken das eine oder andere »hervorragend« durch ein »epochal« oder ein »großartig« durch »unübertrefflich«, um den Brief anschließend an meine Brust zu drücken und dann seufzend ins Kaminfeuer zu werfen. Ich verbrannte die Verehrerpost nur schweren Herzens, aber die schiere Papiermasse hätte mich bald aus dem Haus gedrängt, wenn ich sie nicht regelmäßig entsorgte. So quoll den ganzen Morgen lang verbranntes Mythenmetzlob aus meinem Kaminschlot und reicherte die Luft um die Lindwurmfeste mit dem Parfüm meines Erfolges an. Anschließend verbrachte ich oft noch ein Stündchen damit, mich meinem neuen Steckenpferd, dem dilettantischen Spiel auf der Klavorgel* hinzugeben. Ich gefiel mir nämlich neuerdings darin, klassische Kompositionen von Evubeth van Goldwein, Melodanus Graf Watzogam, Odion La Vivanti oder anderen Größen der zamonischen Musik mit meinen bescheidenen Fähigkeiten nachzuklimpern. Das war aber auch schon der Höhepunkt der künstlerischen Betätigungen in meinem normalen Tagesablauf.
Manchmal entscheidet ein kurzer Augenblick, oft nur von der Länge eines Wimpernschlages, über das weitere Schicksal. In meinem Fall war es der Zeitraum, den man benötigt, um einen Satz mit sieben Silben zu lesen. Mit spitzen Fingern pflückte ich wahllos einen Umschlag aus dem prallen Postsack, während ich mit der anderen Hand ein Hörnchen in den Sahnekakao tunkte. Hach, dachte ich, auch du wirst mich nicht überraschen, kleines Brieflein! Ich weiß genau, was in dir steht! Eine fiebrige Liebeserklärung an meine Lyrik oder eine unterwürfige Verbeugung vor meinem kühnen Prosastil, wetten? Eine begeisterte Eloge auf eines meiner Theaterstücke oder ein genereller Kniefall vor dem Mythenmetzschen Gesamtwerk. Ja, ja ... Einerseits ödete mich dieser endlose Strom von Zuspruch an, andererseits war ich süchtig nach ihm geworden. Vielleicht auch, weil er mir das Orm ersetzte, das mich nun so lange schon nicht mehr heimgesucht hatte.
Es gelang mir mühelos, den Umschlag mit der linken Klaue aufzureißen, den Brief hervorzuholen und zu entfalten, während ich mit der rechten das Hörnchen im Kakao ertränkte, denn das hatte ich oft geprobt. Ich hob den Schrieb vor mein blasiert dreinschauendes Gesicht und ließ den Unterkiefer weit aufklappen. Dann warf ich das Hörnchen in meinen Rachen, ohne den Ellenbogen vom Tisch zu heben. Dies geschah in der Absicht, im selben Augenblick, in dem ich die ersten schmeichelnden Zeilen des Verehrerbriefes las, in den Genuss eines Blätterteighörnchens zu kommen. So tief war ich gesunken!
»Hier«, las ich, als das Hörnchen in meinen Schlund rutschte, »fängt die Geschichte an.«
Ich muss wohl gleichzeitig mit dem Schlucken aufgehört und überrascht nach Luft geschnappt haben. Fest steht nur, dass das Hörnchen noch nicht genügend eingeweicht war und in meiner Speiseröhre stecken blieb. Diese zog sich darauf hin spasmisch zusammen, presste die Kakaosahne aus dem Teig und pumpte sie nach oben. Meine Luftröhre wurde überflutet, und ich machte Geräusche wie ein Frosch, der unter Wasser gewürgt wird. Ich zerknüllte den Brief in der einen Klaue und schlug mit der anderen sinnlos in die Luft.
Nun konnte ich weder schlucken noch atmen, daher sprang ich ruckartig auf, in der Hoffnung, dass durch die senkrechte Haltung alles wieder ins Lot kam. Das war aber nicht so - ich gurgelte lediglich mit Sahne.
»Rargll«, röchelte ich.
Das Blut schoss mir in den Kopf, und meine Augen quollen aus den Höhlen. Ich trat hastig ans offene Fenster, in der verzweifelten Hoffnung, dort besser Luft zu bekommen. Aber es gelang mir lediglich, weitere gurgelnde Geräusche von mir zu geben, während ich mich aus dem Fenster beugte. Zwei Lindwürmer, die gerade auf der Straße vorbeiflanierten, sahen zu mir herüber.
»Harrlgrn!«, machte ich, winkte panisch und glotzte sie mit hervorquellenden und rotgeäderten Augen an. Sie hielten das wohl für einen launigen Morgengruß, denn sie grüßten zurück, indem sie mein Gurgeln imitierten.
»Harrlgrn!«, riefen sie fröhlich, während sie die Augen aufrissen und mir zuwinkten. »Ein Harrlgrn auch dir, großer Meister!«
Dann lachten sie.
Seit ich ein solches Lieblingskind des Erfolges geworden war, hatten sich meine Artgenossen angewöhnt, meine Marotten nachzuäffen, um ja nicht irgendeinen zukunftsweisenden Trend zu verpassen, den ich vielleicht gerade kreierte. Die beiden gingen gurgelnd und lachend die Straße hinab, ohne mich weiter zu beachten. Der neue Mythenmetzgruß würde sicher die Runde machen.
Die Sahne lief in dünnen Rinnsalen aus meinen Nüstern. Ich wankte vom Fenster ins Zimmer zurück, stürzte dabei über den Küchenstuhl, fiel der Länge nach hin und rappelte mich röchelnd an der Tischkante wieder hoch. Ich konnte nur noch Geräusche hervorbringen, wie man sie aus verstopften Rohrleitungen oder Trompeten vernimmt. Mein tränengetrübter Blick fiel hilfesuchend auf das uralte Ölportrait meines Dichtpaten Danzelot, der verständnislos auf mich herabglotzte. Zeitlebens hatte er mich zum Verzehr von gedünstetem Gemüse angehalten und eindringlich davor gewarnt, beim Essen zu schlingen. Jetzt war ich nur Augenblicke davon entfernt, ihm ins Jenseits zu folgen - viel zu früh, wie mir schien. Meine Augen quollen noch weiter aus den Höhlen, und eine ununterdrückbare Müdigkeit vernebelte meinen Geist. Ein seltsames, widersprüchliches Gemisch aus Panik und absoluter Gleichgültigkeit überkam mich: Ich wollte leben und sterben zugleich.
Und ausgerechnet in dieser Situation, oh meine geliebten Freunde, die eigentlich kein klares Denken mehr zuließ, traf mich eine fundamentale Erkenntnis: Mein Erfolg, meine kometenhafte Karriere, mein ganzes Leben und Streben, mein bisheriges Gesamtwerk, meine Literaturpreise und Auflagenzahlen waren weniger bedeutend als ein Frühstückshörnchen. Ein billiges Gebäck aus Blätterteig entschied über Leben und Tod. Über mein Leben und meinen Tod. Eine Backmischung aus ordinärem Mehl, Zucker, Hefe und Butter.
Und das brachte mich trotz der dramatischen Umstände zum Lachen. Ihr könnt euch ausmalen, dass dies kein fröhliches und lebensbejahendes Gelächter war, sondern nur ein kurzes verbittertes »Hah!« Aber es genügte, um die fatale Situation in meiner Speiseröhre auf glückliche Weise zu wenden.
Denn durch den Lacher hüpfte das Hörnchen den Schlund hoch. Es nahm sozusagen auf dem Weg zum Magen neuen Anlauf, glitt diesmal problemlos hinab und verschwand ordnungsgemäß in meinem Verdauungstrakt. Die Sahne floss nach, die Atemwege waren wieder fast frei, ich hustete und prustete den Rest davon aus den Nüstern - und konnte Luft holen.
»Bwaaah!«, machte ich wie ein Ertrinkender, der es gerade noch an die Oberfläche geschafft hat. Sauerstoff! Die besten Dinge im Leben gibt es umsonst! Erschöpft und erleichtert zugleich ließ ich mich auf einen Küchenstuhl fallen. Ich griff mir an die Brust. Mein Herz schlug wie eine Feuerglocke. Du meine Güte! Nur um Haaresbreite war ich einem vollkommen lächerlichen Ende entgangen! Wie radikal hätte mir dieses verdammte Hörnchen beinahe meine Biographie versaut:
»Mythenmetz erstickt an einem Hörnchen!«
»Größter Dichter Zamoniens von Blätterteigspeise dahingerafft!«
»Übergewichtiger Valtrosempreisträger tot in Sahnepfütze aufgefunden!«
»Das Schwergewicht unter den zamonischen Dichtern erlag einem federleichten Gebäck.«
Ich konnte mir die Schlagzeilen genauso leicht ausmalen wie Laptantidel Latudas hämischen Großkritiker-Nachruf im Gralsunder Stadtanzeiger. Das Hörnchen hätten sie sicher noch in meinen Grabstein gemeißelt!
Erst als ich mir den Schweiß abwischen wollte, wurde mir bewusst, dass ich den Brief immer noch in der Hand hielt, die Krallen tief ins Papier gegraben. Verfluchter Wisch! Ins Feuer damit! Ich erhob mich, um ihn in den Kamin zu schleudern, aber dann hielt ich inne. Moment mal! Welcher Satz war es eigentlich gewesen, der mich derart aus der Fassung gebracht hatte? Vor lauter Aufregung hatte ich ihn schon wieder vergessen. Ich sah noch einmal hin:
Hier fängt die Geschichte an.
Ich musste mich wieder setzen. Ich kannte diesen Satz - und ihr kennt diesen Satz, meine treuen Freunde und Weggefährten! Und ihr wisst auch, welche Bedeutung er für mich, mein Leben und mein bisheriges Werk hatte. Wer hatte diesen Brief geschrieben? Nein, den durfte ich nicht einfach verbrennen, auch wenn er dazu beigetragen hatte, mich beinahe umzubringen. Ich las weiter.
Ich studierte den Brief von vorne bis hinten, Wort für Wort, zehn engbeschriebene Seiten lang. Was darin stand, abgesehen von diesem fesseln den Einleitungssatz? Nun, meine Freunde, das lässt sich mühelos mit zwei Worten beschreiben: fast nichts. Zumindest stand fast nichts Bedeutendes, Wichtiges oder Tiefsinniges auf diesen zehn Seiten.
Wohlgemerkt: Fast nichts.
Es war nämlich noch ein anderer kurzer Satz von Bedeutung darin - derjenige, welcher dem ganzen Sermon als Postskriptum angefügt war, ein Nachtrag aus vier Worten. Aber der hatte es derart in sich, dass er mein Leben komplett auf den Kopf stellen sollte.
Doch der Reihe nach: Der Brief handelte von einem Schriftsteller, der sich im horror vacui vor einem Blatt Papier befand, im Angesicht der Furcht vor dem leeren weißen Papier. Ein unbekannter Autor, gelähmt von Schreibangst. Was für ein Klischee! Wie viele Texte mit diesem Motiv kannte ich mittlerweile schon?! Zu viele, das stand fest. Aber ich hatte noch nie einen gelesen, der so wenig originell und uninspiriert mit dieser Grundidee umging, der so selbstmitleidig und weinerlich, deprimierend und trostlos war wie jener Brief. Auch trostlose Texte können künstlerische Größe erreichen, aber das hier war wie das Gewäsch eines eingebildeten Kranken, der zufällig im Wartezimmer neben einem saß und einen mit seinen nichtigen Wehwehchen behelligte. Die Ausführungen des Verfassers kreisten ausschließlich um ihn selbst und seine gesundheitlichen und seelischen Befindlichkeiten, um seine läppischen Nöte und albernen Ängste. Er beklagte sich über Dinge wie aufgerauhtes Zahnfleisch. Über einen Papierschnitt, den er sich zugezogen hatte. Über Schluckauf, Hornhaut und Völlegefühl, als seien dies unheilbare und tödliche Krankheiten. Er jammerte über Kritik an seinen Schriften, selbst wenn sie wohlmeinend war, über das schlechte Wetter und Migräne. Es stand kein einziger Satz von Wert darin. Lauter Allerweltszeug, das der schriftlichen Formulierung nicht bedurfte. Ich ächzte und stöhnte bei der Lektüre wie bei der Besteigung eines steilen Bergpfads an einem schwülen Hochsommertag mit einem Rucksack voller Pflastersteine. Noch nie hatte ich mich von Worten derart belastet, ja: belästigt gefühlt. Es war, als klammere sich der Autor an mein Bein, um von mir durch eine unfruchtbare, tote Steinwüste mitgeschleift zu werden. Worte wie ausgedorrte Kakteen, Sätze wie vertrocknete Tümpel. Dieser Schriftsteller hatte gar keine Schreibangst! Ganz im Gegenteil, er konnte die Tinte kaum halten, obwohl er eigentlich gar nichts zu sagen hatte. Kurz: Das war der schlechteste Text, den ich jemals gelesen hatte.
Und dann traf mich eine Erkenntnis wie der Tritt eines auskeilenden Pferdes: Das war ich selbst, der das geschrieben hatte! Ich schlug mir vor die Stirn. Natürlich, das waren mein Stil, meine Wortwahl, meine bandwurmlangen Schachtelsätze. So schrieb kein anderer als ich, seitdem ich den Gipfel des Erfolges erklommen hatte. Da, ein Satz mit siebzehn Kommata, mein interpunktives Markenzeichen! Hier, eine verfressene Mythenmetzsche Abschweifung zum Thema »Perfekte Kalbsschnitzel-Panierung«! Da, ein von Verbalinjurien gespickter Ausfall gegen Literaturkritiker im Allgemeinen und den Groß-Kritiker Laptantidel Latuda im Besonderen! Das war er, der unverwechselbare Gesang meiner Edelfeder. Erst in diesem Augenblick wurde mir bewusst, dass ich seit Jahren meine Texte nicht mehr las, nachdem ich sie einmal niedergeschrieben hatte. Ich gab sie oft schon in Druck, wenn die Tinte auf dem Papier noch feucht war, derart unangekränkelt war ich von jeglicher Selbstkritik. Und ich duldete auch schon lange kein Lektorat mehr, das darüber hinausging, gelungene Sätze zu unterstreichen und »Brillant!« oder »Unnachahmlich!« danebenzuschreiben.
Aber dennoch, das war doch niemals meine Handschrift! Und ich hatte noch nie einen Text solchen Inhalts verfasst, da war ich mir sicher. Irritiert las ich weiter. Ja, meine teuren Freunde, dieser Brief war garantiert nicht von mir, aber stilistisch hätte er durchaus von mir sein können, mit deutlicher Betonung all meiner Schwächen. Er enthielt sogar meine charakteristischen hypochondrischen Höhenflüge, in denen ich mir Krankheiten einbildete, wie nur ich sie erdenken konnte: Hirnhusten und Lungenmigräne, Leberfistel und Mittelohrzirrhose und so weiter. Beim Orm, das war schon sehr authentisch, bis hin zu den minutiösen Aufzeichnungen von Fieber-und Pulsfrequenzmessungen! Wenn das eine Parodie meines Stils sein sollte, dann musste ich zugeben, dass sie geradezu schmerzhaft gut gelungen war. Nur mit erheblicher Beklemmung gelang es mir, die Lektüre zu Ende zu bringen. Es ging in dieser lächerlichen Melange aus Größenwahn und Weinerlichkeit so weiter bis zum Schluss, wo der Text abrupt abbrach, als habe der Verfasser einfach die Lust verloren. Tatsächlich beendete auch ich in der letzten Zeit immer öfter in dieser saloppen Manier meine Texte.
Ächzend blickte ich vom Blatt auf. Als Leser fühlte ich mich betrogen und eines Gutteils meiner Lebenszeit beraubt. Als Parodierter vollkommen durchschaut und gedemütigt. Die Lektüre hatte vielleicht eine Viertelstunde gedauert, aber es hatte sich angefühlt wie eine Woche. Schrieb ich tatsächlich solch ein grauenhaftes, völlig ormloses Zeug? Und als ich endlich die Unterschrift unter dem Brief las, war mir zumute wie jemandem, der nach Jahren der Gefangenschaft zum ersten Mal wieder in den Spiegel sieht und sein vom Alter deformiertes Gesicht erblickt. Dort stand:
Sogar meine Unterschrift war perfekt gefälscht. Ich musste mehrmals hinsehen, um mich davon zu überzeugen, wie gut sie im Detail kopiert war. Bis in den letzten Schnörkel hinein.
Ich erschrak. Hatte ich den Brief vielleicht doch geschrieben, mit verstellter Handschrift, aber korrektem Autogramm, und an mich selbst geschickt - in geistiger Umnachtung? Hatte sich mein dichterisches Ich von mir gelöst und selbständig gemacht? War ich ein Opfer der Schizophrenie geworden, einer Psychose, ausgelöst von übermäßiger Kreativität? Welche Nebenwirkungen das Orm haben konnte, war noch nicht erforscht. Perla La Gadeon, den das Orm so oft heimgesucht hatte wie keinen anderen, war im Delirium verstorben. Auch Dölerich Hirnfidler wurde vom Irrsinn dahingerafft, lallend verendete er in seinem Elfenbeinturm. Eiderich Fischnertz soll sich angeblich mit einem Pferd unterhalten haben, kurz bevor er geistig umnachtet starb.
War das der Tribut, den ich meinem Ruhm zu zollen hatte? Und hatte ich nicht schon in meiner Jugend Symptome der Persönlichkeitsspaltung gezeigt? Ich hatte damals einen ganzen Band von Briefen An mich selbst verfasst. Aber ich war nie so weit gegangen, diese Schreiben auch tatsächlich an mich zu versenden. Herrje, meine hypochondrischen Phantasien gingen wieder mit mir durch! Ich musste mich unbedingt beruhigen. Um mich abzulenken, warf ich noch einen letzten Blick auf den Brief. Da erst sah ich das Postscriptum, welches in mikroskopisch kleiner Schrift auf den unteren Rand gesetzt war. Es lautete:
P S. Der Schattenkönig ist zurückgekehrt.
Ich starrte die Zeile an wie ein Gespenst, das mir gerade erschienen war.
P S. Der Schattenkönig ist zurückgekehrt.
Kalter Schweiß trat mir auf die Stirn, und der Brief in meiner Hand begann zu zittern. Vier Worte, zweiunddreißig winzige Zeichen auf Papier genügten, mich derart aus der Fassung zu bringen:
Der Schattenkönig ist zurückgekehrt.
War das ein gemeiner Scherz? Welcher grausame Witzbold hatte dann diesen Wisch geschickt? Einer meiner zahllosen Neider? Ein missgünstiger Kollege? Ein Kritiker? Einer der vielen verschmähten Verleger, die mich mit ihren Angeboten überhäuften? Ein verrückter Verehrer? Mit bebender Klaue langte ich nach dem Umschlag, um den Absender zu lesen. Ich nahm die zerrissene Papierhülle hoch, drehte sie um und buchstabierte wie ein Schulkind:
Da fing ich an zu schluchzen, und erst meine Tränen verschafften mir die Beruhigung, die mein aufgewühlter Geist so dringend benötigte.
© der Originalausgabe by Albrecht Knaus Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Was dieses Gift dir antut, wenn es am Herzen angelangt ist? Ehrlich gesagt: Es wird dich töten. Dein Leben beenden, hier und jetzt. Das erbarmungslose Toxin wird deine Herzklappen lähmen und damit den Fluss deines Blutes anhalten, ein für alle Mal. Der medizinische Fachausdruck dafür ist Infarkt, aber ich finde Herzkasper lustiger. Du wirst vielleicht noch theatralisch an deine Brust greifen und einen Laut der Verblüffung von dir geben, bevor du zusammenbrichst. Mehr ist dir nicht vergönnt. Und nimm es bitte nicht persönlich: Du bist nicht etwa das sorgfältig ausgewählte Opfer eines Komplotts. Nein, dieser Giftmord erfüllt keinerlei Zweck, er ist genauso sinnlos wie dein baldiger Tod. Es gibt auch kein Motiv. Du hast einfach nur zum falschen Buch gegriffen. Schicksal, Zufall, Pech - nenn es, wie du willst - du wirst jetzt sterben, das ist alles. Finde dich damit ab!
Es sei denn ...
Ja, es gibt noch eine Chance! Wenn du meinen Anweisungen folgst, ohne zu zögern. Es handelt sich nämlich um ein sehr seltenes Kontaktgift, das nur ab einer gewissen Menge tödlich wirkt. Es kommt einzig und allein darauf an, wie lange du das Buch in Händen hältst. Alles ist so präzise berechnet, derart exakt portioniert, dass dieses Gift dich lediglich dann umbringen wird, wenn du über den nächsten Absatz hinausliest! Also: Leg das Buch augenblicklich beiseite, falls du Wert darauf legst, deine Existenz fortzusetzen! Du wirst nur noch eine Weile deinen beschleunigten Herzschlag verspüren. Kalter Schweiß wird auf deine Stirn treten, das leichte Schwächegefühl wird bald vorübergehen - und dann kannst du dein erbärmliches Dasein in all seiner Ödnis so lange weiterfristen, wie das Schicksal Stunden für dich gestapelt hat. Auf Nimmerwiedersehen!
So - nun wären wir unter uns, meine tapferen Freunde! Endlich! Denn wer jetzt noch dieses Buch in Händen hält, in dessen Adern fließt Blut von meinem Blut. Ich bin es, Hildegunst von Mythenmetz, euer treuer Freund und Wegbegleiter, ich heiße euch willkommen!
Ja, es war nur ein Bluff. Das Buch ist natürlich nicht vergiftet. Wenn ich meine Leser umbringen will, dann langweile ich sie auf sechsundzwanzigtausend Seiten mit endlosen Dialogen über doppelte Buchführung zu Tode, so wie ich es mit meinem Romanzyklus Das Nattifftoffenhaus getan habe. Das finde ich subtiler.
Aber ich musste erst einmal die Spreu vom Weizen trennen. Denn dort, wo wir hingehen, können wir keinen Ballast gebrauchen. Keine zart- besaiteten Lektürememmen, die ein Buch schon bei der bloßen Erwähnung von Gefahr zitternd beiseitelegen.
Ihr ahnt es bereits, nicht wahr, meine furchtlosen Brüder und Schwestern im Geiste? Ja, es ist wahr - nach Buchhaim soll die Reise wieder gehen. Wie bitte? Die Stadt der Träumenden Bücher ist doch abgebrannt, werft ihr ein. Nun, das ist sie in der Tat. Von einer gnadenlosen Feuersbrunst wurde sie verwüstet, vor langer Zeit, und niemandem ist das schmerzlicher bewusst als mir. Denn ich war dabei. Ich sah mit eigenen Augen, wie Homunkoloss, der Schattenkönig, sich selbst entzündete, um das größte Feuer zu entfachen, das Buchhaim je erlebt hat. Ich sah ihn als lebendige Fackel in die Katakomben hinabsteigen, um einen Flammensturm zu entfesseln, der nicht nur die Häuser an der Oberfläche verbrannte, sondern sich auch tief in die Eingeweide der Stadt fraß. Ich hörte, wie die Feuerglocken gellten. Und ich sah sie mit den Sternen tanzen, die zu Funken gewordenen Träumenden Bücher. Über zweihundert Jahre ist das her.
Inzwischen ist Buchhaim wieder aufgebaut worden. In neuer Pracht, wie man hört. Mit noch reicheren antiquarischen Schätzen ausgestattet als je zuvor. Sie sollen aus den Bereichen der Katakomben stammen, deren Erschließung das Feuer erst möglich machte. Die Stadt ist nun eine pulsierende Metropole des zamonischen Buchwesens, eine magnetisch anziehende Pilgerstätte der Literatur, Verlegerei und Druckkunst, neben der das alte Buchhaim wirken würde wie ein Winkelantiquariat neben einer Staatsbibliothek. Großbuchhaim nennen es seine Bewohner heute selbstbewusst, als sei es ein vollständig anderer Ort. Welchen Büchernarren würde es nicht locken, mit eigenen Augen zu überprüfen, wie groß und prächtig die Stadt der Träumenden Bücher tatsächlich aus der Asche wiederauferstanden ist?
Aber für mich gibt es noch einen anderen, einen erheblich triftigeren Grund als die bloße touristische oder bibliophile Neugierde. Und ihr, meine wissensdurstigen und unerschrockenen Freunde, wollt jetzt diesen Grund erfahren, nicht wahr? Mit gutem Recht, denn von nun an wollen wir wieder alles teilen, Freude und Leid, Gefahren und Geheimnisse, Abenteuer und Abendbrot - wir sind wieder eine verschworene Gemeinschaft. Ich verrate euch den Grund, aber ich gebe besser gleich zu, dass es kein besonders origineller Anlass war, der mich auf den Weg in das allergrößte Abenteuer meines Lebens schickte. Es war ein mysteriöser Brief. Ja, genau wie damals, bei meiner ersten Reise nach Buchhaim, war es ein handschriftliches Manuskript, das alles ins Rollen brachte.
Heimkehr zur Lindwurmfeste
Man darf mich getrost für größenwahnsinnig erklären, wenn ich behaupte, dass ich zu jener Zeit, als diese Geschichte begann, schon der größte Dichter Zamoniens war. Wie soll man einen Schriftsteller sonst nennen, dessen Bücher in Fässern in die Buchhandlungen gerollt werden? Der als jüngster zamonischer Künstler den Valtrosem-Orden erhalten hat? Dem man vor der Gralsunder Universität für Zamonische Dichtung ein Denkmal aus feuervergoldetem Gusseisen errichtet hat?
In jeder größeren zamonischen Stadt war eine Straße nach mir benannt. Es gab Buchhandlungen, die ausschließlich meine Werke führten - und die gesamte Sekundärliteratur dazu. Meine Anhänger hatten eingetragene Vereine gegründet, in denen sich die Mitglieder mit Namen von Gestalten aus meinen Büchern ansprachen. Einen Mythenmetz hinlegen war eine volksmündliche Umschreibung dafür, in einem künstlerischen Beruf eine einzigartige Karriere gemacht zu haben. Ich konnte keine belebte Straße entlanggehen, ohne einen Volksauflauf zu verursachen. Keinen Buchladen betreten, ohne bei den anwesenden Buchhändlerinnen Ohnmachtsanfälle auszulösen. Kein Buch schreiben, das nicht umgehend zum Klassiker erklärt wurde.
Kurzum: Ich war zu einem von Literaturpreisen und Publikumsgunst verhätschelten Popanz verkommen, dem jede Fähigkeit zur Selbstkritik und nahezu alle natürlichen künstlerischen Instinkte abhanden gekommen waren. Einer, der nur noch sich selbst zitierte und die eigenen Werke kopierte, ohne es zu bemerken. Wie eine schleichende Geisteskrankheit, die vom Patienten selber nicht erkannt wird, hatte mich der Erfolg ereilt und völlig verseucht. Ich war so sehr damit beschäftigt, mich in meinem Ruhm zu suhlen, ich nahm nicht einmal wahr, dass mich das Orm schon lange nicht mehr durchströmte.
Habe ich in dieser Zeit überhaupt etwas von Bedeutung geschrieben? Ich wüsste nicht, wann ich das hätte tun sollen. Die meiste Zeit verplemperte ich doch damit, in Buchhandlungen, Theatern oder auf Literaturseminaren mit selbstverliebtem Singsang aus meinen eigenen Werken vorzutragen, um mich danach am Applaus zu berauschen, herablassend mit Verehrern zu plaudern und stundenlang zu signieren. Was ich, oh meine treuen Freunde, damals für den Gipfel meiner Lauf bahn hielt, markierte in Wirklichkeit ihren absoluten Tiefpunkt. Schon längst konnte ich nicht mehr anonym durch eine Stadt streifen und unbehelligt für meine Arbeit recherchieren. Überall umringten mich sogleich Scharen von Verehrern, die mich um Autogramme, künstlerische Ratschläge oder meinen Segen anflehten. Selbst auf den Landstraßen folgten mir Pilgerscharen von fanatischen Lesern, die Augenzeugen sein wollten, wenn mich das Orm überkam. Dies geschah aber erst immer seltener, dann gar nicht mehr - und ich bemerkte es nicht einmal. Denn um ehrlich zu sein, zu dieser Zeit konnte ich einen Ormrausch von einem Weinsuff kaum unterscheiden.
Es war eine Flucht vor dieser ins Monströse gewachsenen Popularität, vor meinem bizarren Erfolg und meinen verrückten Verehrern, als ich mich entschloss, nach langen Jahren der ruhelosen Wanderschaft und etlichen Abenteuern für eine Weile auf die Lindwurmfeste zurückzukehren, um mich dort ein wenig auf meinen Lorbeeren auszuruhen. Ich bezog wieder das kleine Haus, welches ich von meinem Dichtpaten Danzelot von Silbendrechsler geerbt hatte. Auch darum - sehen wir der Sache ins Gesicht, meine geliebten Freunde -, der Öffentlichkeit und meinen Artgenossen auf der Feste eine Rückkehr zu meinen Wurzeln vorzutäuschen: Auf dem Zenit seiner Karriere kehrt der verlorene Sohn heim, um unter bescheidensten Verhältnissen demütig sein titanisches Werk fortzusetzen, im beengten Häuschen seines über alles geliebten Dichtpaten.
Nichts war weiter von der Wahrheit entfernt. Niemand in ganz Zamonien hatte zu dieser Zeit weniger Bodenhaftung als ich. Und niemand lebte dekadenter und zielloser in den Tag hinein, ohne sich um seine kulturelle Aufgabe und dichterische Disziplin zu scheren. Die Lindwurmfeste war schlicht der einzige Ort, der mir perfekten Schutz vor meiner Popularität bot. Immer noch waren hier außer Lindwürmern keine anderen Daseinsformen zugelassen. Nur hier konnte ich ein Künstler unter lauter Künstlern sein. Und nur unter Lindwürmern herrschte diese perfekte Etikette, die jedem seine Privatsphäre gewährleistet. Auf der Lindwurmfeste galt die Einsamkeit als kostbares Gut. Hier war jeder Einzelne so sehr mit der eigenen literarischen Arbeit beschäftigt, dass niemand bemerkte, wie sträflich ich die meine vernachlässigte.
Die einzige Sorge, abgesehen von den üblichen hypochondrischen Anwandlungen, bereitete mir mein Körpergewicht. Der geruhsame Lebenswandel, der chronische Mangel an Bewegung und die deftige Lindwurmkost hatten sich recht bald in etlichen Pfunden auf den Hüften niedergeschlagen, was mich gelegentlich deprimierte. Aber nie so sehr, dass dies nicht mit ein paar Marmeladen-Omeletts oder einer Sumpfschweinkeule aus der Welt zu schaffen war. Ich hätte vielleicht als der fetteste und einsamste Dichter der Lindwurmfeste enden können, wenn da nicht die Lektüre eines mysteriösen Briefes gewesen wäre, die mich aus dieser Lethargie riss.
Es war an einem gewöhnlichen Sommermorgen, als mein Leben ins Rutschen kam. Wie an jedem anderen Tag saß ich beim übermäßig ausgedehnten Frühstück in der kleinen Küche meines geerbten Hauses und las wie üblich stundenlang in meiner Verehrerpost, trank dazu literweise süßen Sahnekakao, kaute schokoladenumhüllte Mokkabohnen und mampfte ein Dutzend frische Blätterteig-Hörnchen mit Aprikosenmarkfüllung. Ich langte immer mal wieder in einen der Postsäcke, den der mürrische Briefträger alle paar Tage anschleppte, holte irgendeinen Brief heraus, öffnete ihn und suchte darin ungeduldig nach den schmeichelhaftesten Stellen. Meistens war ich milde enttäuscht, weil ich mir diese Briefe immer noch etwas hymnischer vorstellen konnte, als sie es schon waren. So ersetzte ich während der Lektüre in Gedanken das eine oder andere »hervorragend« durch ein »epochal« oder ein »großartig« durch »unübertrefflich«, um den Brief anschließend an meine Brust zu drücken und dann seufzend ins Kaminfeuer zu werfen. Ich verbrannte die Verehrerpost nur schweren Herzens, aber die schiere Papiermasse hätte mich bald aus dem Haus gedrängt, wenn ich sie nicht regelmäßig entsorgte. So quoll den ganzen Morgen lang verbranntes Mythenmetzlob aus meinem Kaminschlot und reicherte die Luft um die Lindwurmfeste mit dem Parfüm meines Erfolges an. Anschließend verbrachte ich oft noch ein Stündchen damit, mich meinem neuen Steckenpferd, dem dilettantischen Spiel auf der Klavorgel* hinzugeben. Ich gefiel mir nämlich neuerdings darin, klassische Kompositionen von Evubeth van Goldwein, Melodanus Graf Watzogam, Odion La Vivanti oder anderen Größen der zamonischen Musik mit meinen bescheidenen Fähigkeiten nachzuklimpern. Das war aber auch schon der Höhepunkt der künstlerischen Betätigungen in meinem normalen Tagesablauf.
Manchmal entscheidet ein kurzer Augenblick, oft nur von der Länge eines Wimpernschlages, über das weitere Schicksal. In meinem Fall war es der Zeitraum, den man benötigt, um einen Satz mit sieben Silben zu lesen. Mit spitzen Fingern pflückte ich wahllos einen Umschlag aus dem prallen Postsack, während ich mit der anderen Hand ein Hörnchen in den Sahnekakao tunkte. Hach, dachte ich, auch du wirst mich nicht überraschen, kleines Brieflein! Ich weiß genau, was in dir steht! Eine fiebrige Liebeserklärung an meine Lyrik oder eine unterwürfige Verbeugung vor meinem kühnen Prosastil, wetten? Eine begeisterte Eloge auf eines meiner Theaterstücke oder ein genereller Kniefall vor dem Mythenmetzschen Gesamtwerk. Ja, ja ... Einerseits ödete mich dieser endlose Strom von Zuspruch an, andererseits war ich süchtig nach ihm geworden. Vielleicht auch, weil er mir das Orm ersetzte, das mich nun so lange schon nicht mehr heimgesucht hatte.
Es gelang mir mühelos, den Umschlag mit der linken Klaue aufzureißen, den Brief hervorzuholen und zu entfalten, während ich mit der rechten das Hörnchen im Kakao ertränkte, denn das hatte ich oft geprobt. Ich hob den Schrieb vor mein blasiert dreinschauendes Gesicht und ließ den Unterkiefer weit aufklappen. Dann warf ich das Hörnchen in meinen Rachen, ohne den Ellenbogen vom Tisch zu heben. Dies geschah in der Absicht, im selben Augenblick, in dem ich die ersten schmeichelnden Zeilen des Verehrerbriefes las, in den Genuss eines Blätterteighörnchens zu kommen. So tief war ich gesunken!
»Hier«, las ich, als das Hörnchen in meinen Schlund rutschte, »fängt die Geschichte an.«
Ich muss wohl gleichzeitig mit dem Schlucken aufgehört und überrascht nach Luft geschnappt haben. Fest steht nur, dass das Hörnchen noch nicht genügend eingeweicht war und in meiner Speiseröhre stecken blieb. Diese zog sich darauf hin spasmisch zusammen, presste die Kakaosahne aus dem Teig und pumpte sie nach oben. Meine Luftröhre wurde überflutet, und ich machte Geräusche wie ein Frosch, der unter Wasser gewürgt wird. Ich zerknüllte den Brief in der einen Klaue und schlug mit der anderen sinnlos in die Luft.
Nun konnte ich weder schlucken noch atmen, daher sprang ich ruckartig auf, in der Hoffnung, dass durch die senkrechte Haltung alles wieder ins Lot kam. Das war aber nicht so - ich gurgelte lediglich mit Sahne.
»Rargll«, röchelte ich.
Das Blut schoss mir in den Kopf, und meine Augen quollen aus den Höhlen. Ich trat hastig ans offene Fenster, in der verzweifelten Hoffnung, dort besser Luft zu bekommen. Aber es gelang mir lediglich, weitere gurgelnde Geräusche von mir zu geben, während ich mich aus dem Fenster beugte. Zwei Lindwürmer, die gerade auf der Straße vorbeiflanierten, sahen zu mir herüber.
»Harrlgrn!«, machte ich, winkte panisch und glotzte sie mit hervorquellenden und rotgeäderten Augen an. Sie hielten das wohl für einen launigen Morgengruß, denn sie grüßten zurück, indem sie mein Gurgeln imitierten.
»Harrlgrn!«, riefen sie fröhlich, während sie die Augen aufrissen und mir zuwinkten. »Ein Harrlgrn auch dir, großer Meister!«
Dann lachten sie.
Seit ich ein solches Lieblingskind des Erfolges geworden war, hatten sich meine Artgenossen angewöhnt, meine Marotten nachzuäffen, um ja nicht irgendeinen zukunftsweisenden Trend zu verpassen, den ich vielleicht gerade kreierte. Die beiden gingen gurgelnd und lachend die Straße hinab, ohne mich weiter zu beachten. Der neue Mythenmetzgruß würde sicher die Runde machen.
Die Sahne lief in dünnen Rinnsalen aus meinen Nüstern. Ich wankte vom Fenster ins Zimmer zurück, stürzte dabei über den Küchenstuhl, fiel der Länge nach hin und rappelte mich röchelnd an der Tischkante wieder hoch. Ich konnte nur noch Geräusche hervorbringen, wie man sie aus verstopften Rohrleitungen oder Trompeten vernimmt. Mein tränengetrübter Blick fiel hilfesuchend auf das uralte Ölportrait meines Dichtpaten Danzelot, der verständnislos auf mich herabglotzte. Zeitlebens hatte er mich zum Verzehr von gedünstetem Gemüse angehalten und eindringlich davor gewarnt, beim Essen zu schlingen. Jetzt war ich nur Augenblicke davon entfernt, ihm ins Jenseits zu folgen - viel zu früh, wie mir schien. Meine Augen quollen noch weiter aus den Höhlen, und eine ununterdrückbare Müdigkeit vernebelte meinen Geist. Ein seltsames, widersprüchliches Gemisch aus Panik und absoluter Gleichgültigkeit überkam mich: Ich wollte leben und sterben zugleich.
Und ausgerechnet in dieser Situation, oh meine geliebten Freunde, die eigentlich kein klares Denken mehr zuließ, traf mich eine fundamentale Erkenntnis: Mein Erfolg, meine kometenhafte Karriere, mein ganzes Leben und Streben, mein bisheriges Gesamtwerk, meine Literaturpreise und Auflagenzahlen waren weniger bedeutend als ein Frühstückshörnchen. Ein billiges Gebäck aus Blätterteig entschied über Leben und Tod. Über mein Leben und meinen Tod. Eine Backmischung aus ordinärem Mehl, Zucker, Hefe und Butter.
Und das brachte mich trotz der dramatischen Umstände zum Lachen. Ihr könnt euch ausmalen, dass dies kein fröhliches und lebensbejahendes Gelächter war, sondern nur ein kurzes verbittertes »Hah!« Aber es genügte, um die fatale Situation in meiner Speiseröhre auf glückliche Weise zu wenden.
Denn durch den Lacher hüpfte das Hörnchen den Schlund hoch. Es nahm sozusagen auf dem Weg zum Magen neuen Anlauf, glitt diesmal problemlos hinab und verschwand ordnungsgemäß in meinem Verdauungstrakt. Die Sahne floss nach, die Atemwege waren wieder fast frei, ich hustete und prustete den Rest davon aus den Nüstern - und konnte Luft holen.
»Bwaaah!«, machte ich wie ein Ertrinkender, der es gerade noch an die Oberfläche geschafft hat. Sauerstoff! Die besten Dinge im Leben gibt es umsonst! Erschöpft und erleichtert zugleich ließ ich mich auf einen Küchenstuhl fallen. Ich griff mir an die Brust. Mein Herz schlug wie eine Feuerglocke. Du meine Güte! Nur um Haaresbreite war ich einem vollkommen lächerlichen Ende entgangen! Wie radikal hätte mir dieses verdammte Hörnchen beinahe meine Biographie versaut:
»Mythenmetz erstickt an einem Hörnchen!«
»Größter Dichter Zamoniens von Blätterteigspeise dahingerafft!«
»Übergewichtiger Valtrosempreisträger tot in Sahnepfütze aufgefunden!«
»Das Schwergewicht unter den zamonischen Dichtern erlag einem federleichten Gebäck.«
Ich konnte mir die Schlagzeilen genauso leicht ausmalen wie Laptantidel Latudas hämischen Großkritiker-Nachruf im Gralsunder Stadtanzeiger. Das Hörnchen hätten sie sicher noch in meinen Grabstein gemeißelt!
Erst als ich mir den Schweiß abwischen wollte, wurde mir bewusst, dass ich den Brief immer noch in der Hand hielt, die Krallen tief ins Papier gegraben. Verfluchter Wisch! Ins Feuer damit! Ich erhob mich, um ihn in den Kamin zu schleudern, aber dann hielt ich inne. Moment mal! Welcher Satz war es eigentlich gewesen, der mich derart aus der Fassung gebracht hatte? Vor lauter Aufregung hatte ich ihn schon wieder vergessen. Ich sah noch einmal hin:
Hier fängt die Geschichte an.
Ich musste mich wieder setzen. Ich kannte diesen Satz - und ihr kennt diesen Satz, meine treuen Freunde und Weggefährten! Und ihr wisst auch, welche Bedeutung er für mich, mein Leben und mein bisheriges Werk hatte. Wer hatte diesen Brief geschrieben? Nein, den durfte ich nicht einfach verbrennen, auch wenn er dazu beigetragen hatte, mich beinahe umzubringen. Ich las weiter.
Ich studierte den Brief von vorne bis hinten, Wort für Wort, zehn engbeschriebene Seiten lang. Was darin stand, abgesehen von diesem fesseln den Einleitungssatz? Nun, meine Freunde, das lässt sich mühelos mit zwei Worten beschreiben: fast nichts. Zumindest stand fast nichts Bedeutendes, Wichtiges oder Tiefsinniges auf diesen zehn Seiten.
Wohlgemerkt: Fast nichts.
Es war nämlich noch ein anderer kurzer Satz von Bedeutung darin - derjenige, welcher dem ganzen Sermon als Postskriptum angefügt war, ein Nachtrag aus vier Worten. Aber der hatte es derart in sich, dass er mein Leben komplett auf den Kopf stellen sollte.
Doch der Reihe nach: Der Brief handelte von einem Schriftsteller, der sich im horror vacui vor einem Blatt Papier befand, im Angesicht der Furcht vor dem leeren weißen Papier. Ein unbekannter Autor, gelähmt von Schreibangst. Was für ein Klischee! Wie viele Texte mit diesem Motiv kannte ich mittlerweile schon?! Zu viele, das stand fest. Aber ich hatte noch nie einen gelesen, der so wenig originell und uninspiriert mit dieser Grundidee umging, der so selbstmitleidig und weinerlich, deprimierend und trostlos war wie jener Brief. Auch trostlose Texte können künstlerische Größe erreichen, aber das hier war wie das Gewäsch eines eingebildeten Kranken, der zufällig im Wartezimmer neben einem saß und einen mit seinen nichtigen Wehwehchen behelligte. Die Ausführungen des Verfassers kreisten ausschließlich um ihn selbst und seine gesundheitlichen und seelischen Befindlichkeiten, um seine läppischen Nöte und albernen Ängste. Er beklagte sich über Dinge wie aufgerauhtes Zahnfleisch. Über einen Papierschnitt, den er sich zugezogen hatte. Über Schluckauf, Hornhaut und Völlegefühl, als seien dies unheilbare und tödliche Krankheiten. Er jammerte über Kritik an seinen Schriften, selbst wenn sie wohlmeinend war, über das schlechte Wetter und Migräne. Es stand kein einziger Satz von Wert darin. Lauter Allerweltszeug, das der schriftlichen Formulierung nicht bedurfte. Ich ächzte und stöhnte bei der Lektüre wie bei der Besteigung eines steilen Bergpfads an einem schwülen Hochsommertag mit einem Rucksack voller Pflastersteine. Noch nie hatte ich mich von Worten derart belastet, ja: belästigt gefühlt. Es war, als klammere sich der Autor an mein Bein, um von mir durch eine unfruchtbare, tote Steinwüste mitgeschleift zu werden. Worte wie ausgedorrte Kakteen, Sätze wie vertrocknete Tümpel. Dieser Schriftsteller hatte gar keine Schreibangst! Ganz im Gegenteil, er konnte die Tinte kaum halten, obwohl er eigentlich gar nichts zu sagen hatte. Kurz: Das war der schlechteste Text, den ich jemals gelesen hatte.
Und dann traf mich eine Erkenntnis wie der Tritt eines auskeilenden Pferdes: Das war ich selbst, der das geschrieben hatte! Ich schlug mir vor die Stirn. Natürlich, das waren mein Stil, meine Wortwahl, meine bandwurmlangen Schachtelsätze. So schrieb kein anderer als ich, seitdem ich den Gipfel des Erfolges erklommen hatte. Da, ein Satz mit siebzehn Kommata, mein interpunktives Markenzeichen! Hier, eine verfressene Mythenmetzsche Abschweifung zum Thema »Perfekte Kalbsschnitzel-Panierung«! Da, ein von Verbalinjurien gespickter Ausfall gegen Literaturkritiker im Allgemeinen und den Groß-Kritiker Laptantidel Latuda im Besonderen! Das war er, der unverwechselbare Gesang meiner Edelfeder. Erst in diesem Augenblick wurde mir bewusst, dass ich seit Jahren meine Texte nicht mehr las, nachdem ich sie einmal niedergeschrieben hatte. Ich gab sie oft schon in Druck, wenn die Tinte auf dem Papier noch feucht war, derart unangekränkelt war ich von jeglicher Selbstkritik. Und ich duldete auch schon lange kein Lektorat mehr, das darüber hinausging, gelungene Sätze zu unterstreichen und »Brillant!« oder »Unnachahmlich!« danebenzuschreiben.
Aber dennoch, das war doch niemals meine Handschrift! Und ich hatte noch nie einen Text solchen Inhalts verfasst, da war ich mir sicher. Irritiert las ich weiter. Ja, meine teuren Freunde, dieser Brief war garantiert nicht von mir, aber stilistisch hätte er durchaus von mir sein können, mit deutlicher Betonung all meiner Schwächen. Er enthielt sogar meine charakteristischen hypochondrischen Höhenflüge, in denen ich mir Krankheiten einbildete, wie nur ich sie erdenken konnte: Hirnhusten und Lungenmigräne, Leberfistel und Mittelohrzirrhose und so weiter. Beim Orm, das war schon sehr authentisch, bis hin zu den minutiösen Aufzeichnungen von Fieber-und Pulsfrequenzmessungen! Wenn das eine Parodie meines Stils sein sollte, dann musste ich zugeben, dass sie geradezu schmerzhaft gut gelungen war. Nur mit erheblicher Beklemmung gelang es mir, die Lektüre zu Ende zu bringen. Es ging in dieser lächerlichen Melange aus Größenwahn und Weinerlichkeit so weiter bis zum Schluss, wo der Text abrupt abbrach, als habe der Verfasser einfach die Lust verloren. Tatsächlich beendete auch ich in der letzten Zeit immer öfter in dieser saloppen Manier meine Texte.
Ächzend blickte ich vom Blatt auf. Als Leser fühlte ich mich betrogen und eines Gutteils meiner Lebenszeit beraubt. Als Parodierter vollkommen durchschaut und gedemütigt. Die Lektüre hatte vielleicht eine Viertelstunde gedauert, aber es hatte sich angefühlt wie eine Woche. Schrieb ich tatsächlich solch ein grauenhaftes, völlig ormloses Zeug? Und als ich endlich die Unterschrift unter dem Brief las, war mir zumute wie jemandem, der nach Jahren der Gefangenschaft zum ersten Mal wieder in den Spiegel sieht und sein vom Alter deformiertes Gesicht erblickt. Dort stand:
Sogar meine Unterschrift war perfekt gefälscht. Ich musste mehrmals hinsehen, um mich davon zu überzeugen, wie gut sie im Detail kopiert war. Bis in den letzten Schnörkel hinein.
Ich erschrak. Hatte ich den Brief vielleicht doch geschrieben, mit verstellter Handschrift, aber korrektem Autogramm, und an mich selbst geschickt - in geistiger Umnachtung? Hatte sich mein dichterisches Ich von mir gelöst und selbständig gemacht? War ich ein Opfer der Schizophrenie geworden, einer Psychose, ausgelöst von übermäßiger Kreativität? Welche Nebenwirkungen das Orm haben konnte, war noch nicht erforscht. Perla La Gadeon, den das Orm so oft heimgesucht hatte wie keinen anderen, war im Delirium verstorben. Auch Dölerich Hirnfidler wurde vom Irrsinn dahingerafft, lallend verendete er in seinem Elfenbeinturm. Eiderich Fischnertz soll sich angeblich mit einem Pferd unterhalten haben, kurz bevor er geistig umnachtet starb.
War das der Tribut, den ich meinem Ruhm zu zollen hatte? Und hatte ich nicht schon in meiner Jugend Symptome der Persönlichkeitsspaltung gezeigt? Ich hatte damals einen ganzen Band von Briefen An mich selbst verfasst. Aber ich war nie so weit gegangen, diese Schreiben auch tatsächlich an mich zu versenden. Herrje, meine hypochondrischen Phantasien gingen wieder mit mir durch! Ich musste mich unbedingt beruhigen. Um mich abzulenken, warf ich noch einen letzten Blick auf den Brief. Da erst sah ich das Postscriptum, welches in mikroskopisch kleiner Schrift auf den unteren Rand gesetzt war. Es lautete:
P S. Der Schattenkönig ist zurückgekehrt.
Ich starrte die Zeile an wie ein Gespenst, das mir gerade erschienen war.
P S. Der Schattenkönig ist zurückgekehrt.
Kalter Schweiß trat mir auf die Stirn, und der Brief in meiner Hand begann zu zittern. Vier Worte, zweiunddreißig winzige Zeichen auf Papier genügten, mich derart aus der Fassung zu bringen:
Der Schattenkönig ist zurückgekehrt.
War das ein gemeiner Scherz? Welcher grausame Witzbold hatte dann diesen Wisch geschickt? Einer meiner zahllosen Neider? Ein missgünstiger Kollege? Ein Kritiker? Einer der vielen verschmähten Verleger, die mich mit ihren Angeboten überhäuften? Ein verrückter Verehrer? Mit bebender Klaue langte ich nach dem Umschlag, um den Absender zu lesen. Ich nahm die zerrissene Papierhülle hoch, drehte sie um und buchstabierte wie ein Schulkind:
Da fing ich an zu schluchzen, und erst meine Tränen verschafften mir die Beruhigung, die mein aufgewühlter Geist so dringend benötigte.
© der Originalausgabe by Albrecht Knaus Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
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Autoren-Porträt von Walter Moers
Walter Moers, Jahrgang 1957, Comiczeichner und Drehbuchautor, lebt in Hamburg. Fotografieren läßt er sich nicht mehr, denn seit er seinen Comic-»Adolf« in die Welt setzte, ist er persona non grata für die rechte Szene. Und in Kirchenkreisen gilt er seit seinem »Kleinen Arschloch« als Abgesandter der Hölle. Walter Moers ist zusammen mit Professor Doktor Nachtigaller Begründer der Zamonischen Nachtschule, einer Akademie, die ausschließlich im Internet existiert und von jedermann besucht werden kann.
Bibliographische Angaben
- Autor: Walter Moers
- 2013, 432 Seiten, 100 Abbildungen, Maße: 13,5 x 20,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Walter Moers
- Verlag: BTB
- ISBN-10: 3442746175
- ISBN-13: 9783442746170
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