Zeig mir den Tod
Kriminalroman
Der Schauspieler Günther Assmann glaubt sich vor dem internationalen Durchbruch. Hinter den Kulissen hat er viel dafür getan: intrigiert, gelogen, betrogen. Als kurz vor der entscheidenden Premiere seine Kinder Marius und Rebecca verschwinden,...
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Produktinformationen zu „Zeig mir den Tod “
Der Schauspieler Günther Assmann glaubt sich vor dem internationalen Durchbruch. Hinter den Kulissen hat er viel dafür getan: intrigiert, gelogen, betrogen. Als kurz vor der entscheidenden Premiere seine Kinder Marius und Rebecca verschwinden, zerbricht die schöne Welt von Schein und Sein - und ein perfides Spiel beginnt. Der Entführer will kein Geld, sondern stellt Rätselaufgaben. Die Lösung soll Assmann auf der Bühne darbieten, sonst sterben die Kinder. Viel Zeit bleibt ihm nicht: Rebecca benötigt lebenswichtige Medikamente. Um sie zu retten, muss Kommissar Ehrlinspiel den Fall so schnell wie möglich lösen ...
Klappentext zu „Zeig mir den Tod “
Der Schauspieler Günther Assmann glaubt sich vor dem internationalen Durchbruch. Hinter den Kulissen hat er viel dafür getan: intrigiert, gelogen, betrogen. Als kurz vor der entscheidenden Premiere seine Kinder Marius und Rebecca verschwinden, zerbricht die schöne Welt von Schein und Sein - und ein perfides Spiel beginnt. Der Entführer will kein Geld, sondern stellt Rätselaufgaben. Die Lösung soll Assmann auf der Bühne darbieten, sonst sterben die Kinder. Viel Zeit bleibt ihm nicht: Rebecca benötigt lebenswichtige Medikamente. Um sie zu retten, muss Kommissar Ehrlinspiel den Fall so schnell wie möglich lösen ...
Lese-Probe zu „Zeig mir den Tod “
Zeig mir den Tod von Petra Busch Später
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Jetzt, da alles vorbei ist und ein weiterer Mensch unter der schweren Erde liegt, weiß ich, dass ich von Beginn an hätte anders handeln sollen. Vielleicht hätten die Dämonen mich aus ihren Fängen entlassen, meine Seele freigegeben und die Seelen der anderen.
Ich lehne an dem Stamm, wende das Gesicht dem Himmel zu. Blicke in die nackte Baumkrone, aus der erste zarte Blätter sprießen. Die nachtfeuchte Rinde drückt gegen meinen Rücken, und der Stoff des Hemdes klebt klamm auf meiner Haut. Ich kann nur stoßweise atmen, aber ich rieche die frisch gepflügte Erde, die Algen und das Motoröl. Ich sollte frieren. Doch ich empfinde nichts. Nicht körperlich. Nur mein Inneres ist kalt und finster.
Gestern Abend bin ich hierhergekommen. Habe alles vorbereitet und mich dann auf den Boden gesetzt, hier, neben die hohe Birke, um auf den Morgen zu warten.
Ich bin zurück an dem Ort, an dem ich angefangen habe.
Die Polizei hat ihn zerstört. Nichts ist mehr, wie es einmal war.
Ein Schwarm Vögel taucht an dem fast noch schwarzen Horizont auf, zieht grell zwitschernd über mich hinweg Richtung Osten, dem anbrechenden Licht des späten Aprils entgegen. Kleine schwarze Körper sind es, die meisten ruhig im Flug, andere tanzen auf und ab wie an Gummibändern. Ich würde so gern mitfliegen. Hinaus in die Unendlichkeit. Ein Wesen von Hunderten, den anderen gleich, ein winziges Nichts.
Unsichtbar.
Unsichtbar für die Welt und Äonen entfernt von den teuflischen Geistern mit ihren kalten Fängen. Ich schließe die Augen, Tränen quellen warm zwischen meinen Lidern hervor. Ich lache auf: »Unsichtbar.«
Unsichtbar für Mephistopheles.
Meistens haben die Dämonen mich nachts geholt. Kurz vor zwölf Uhr. Exakt zu der Zeit, als die erste Katastrophe ihren Lauf genommen hat und ich dem Tod in die Hände gespielt habe.
Damals ist mein Leben zum Überleben geworden.
Jetzt ist es zu Ende.
Die Tränen bleiben in meinen Wimpern hängen. Sie werden kühl, ich blinzle, sehe ihr Glitzern wie vergrößerte Tautropfen direkt vor meinem Blick. Die Bäume und der Fluss wirken wie groteske Figuren. Sie tanzen mir etwas vor. Den Todestanz. Ich schließe erneut die Augen.
Im Wald singt der Morgenwind, und ein Kuckuck übernimmt den Solopart. Nur drei Wochen ist es her, eine Ewigkeit, da sind die Stadt, die Felder und Wiesen noch schneebedeckt gewesen und die Herzen voll eisiger Lügen.
In einer halben Stunde wird die Sonne aufgehen.
Ich strecke die Arme zum Himmel, muss mit den Fingerspitzen die ersten Strahlen berühren, noch einmal die Wärme greifen.
Wenn ich jetzt gleich die Augen öffne, verschwinden die Bilder und Geräusche für kurze Zeit wieder: die schwarzen Baumsilhouetten am Rand des Weges, die Äste, die in dem warmen Frühlingswind wie warnende Arme zu winken scheinen, das Knirschen der Schritte und die drei Gestalten, die sich vor dem Licht abzeichnen, auf das ich zugehe, voller Hoffnung, voller Liebe.
Manchmal höre ich noch die Stimme, die mich fragt, was los sei, wenn ich wieder weinend aufgewacht bin, und ich spüre noch die Hand, die mir über die Wange streicht. Ich habe gelächelt und etwas von Verantwortung und besonderen Schützlingen erzählt. Schicksale, die mich nicht losließen. »Ich liebe dich jeden Tag mehr dafür«, war die Antwort gewesen.
Weshalb ich dennoch getan habe, was so großes Unglück gebracht und unschuldige Opfer gefordert hat, wird sich für immer dem Verständnis des Menschen entziehen, der mir der wertvollste der Welt geblieben ist. Und was ich tun werde, wenn sich jetzt gleich die Sonnenstrahlen auf die Erde ergießen und die Tautropfen zu einem glitzernden Meer verschmelzen - auch das würde dieser Mensch nie nachvollziehen können. Nicht bis ans Ende seines Lebens.
1
Donnerstag, 21. März
Er würde keinen Fehler machen. Alles würde perfekt laufen.
Noch vier Tage. Dann war er ein berühmter Mann. Es war seine letzte Chance, und die gedachte er nicht zu verschenken. Um nichts auf der Welt.
Günther Assmann knöpfte den langen Wollmantel zu, winkte im Vorbeieilen dem Pförtner in der Glaskabine, während er sich gleichzeitig den Kaschmirschal um den Hals schlang, und trat ins Freie. Unwillkürlich schüttelte er sich, als die kalte Luft auf seine erhitzten Wangen traf. Es roch nach Schnee und Abgasen, und mit metallischem Rattern brauste eine Straßenbahn an ihm vorbei. Der Kälteeinbruch zu Anfang der Woche hielt die Stadt fest in seinem Griff, und selbst jetzt, um zehn vor zwei Uhr mittags, lag der Himmel wie in schwarzes Blei gegossen. Ein paar Schneeflocken tanzten auf die vereisten Straßen herab. Günther Assmann war das gleichgültig. Seine Vorfreude galt nicht der Sonne und den Frühlingstemperaturen, die für das Wochenende angekündigt waren und von denen seine Kollegen in jeder Probenpause redeten. Assmanns Lichtblick war der kommende Sonntagabend. »O selig der, dem er im Siegesglanze die blut'gen Lorbeern um die Schläfe windet«, rezitierte er, während er mit festem Schritt die Bertoldstraße Richtung Bahnhof hinunterging. Lorbeeren - genau die wollte er. Sie standen ihm zu. Er hatte sie verdient und viel dafür getan. Nicht nur in den letzten Wochen.
»Die blut'gen Lorbeern«, wiederholte er voller Euphorie in einem flüssigen Sprachbogen und führte dabei eine Hand in großzügiger Geste zu seiner Stirn.
Ein Passant, der ihm zwischen Bühneneingang und Tiefgarage entgegenkam, blickte ihn unter einer tief in die Stirn gezogenen Mütze hervor an und schüttelte den Kopf. Fast musste Günther lachen. Er wusste, dass er verrückt wirkte, wenn er mitten auf der Straße seinen Text sprach. Doch er liebte seine Rolle. Seine Hauptrolle. Nein, es war mehr: Er lebte sie. War sie. Und ein wenig Imagepflege, dachte er und verkniff sich noch immer ein Grinsen, konnte nicht schaden: Schauspieler galten ohnehin als durchgedreht, egoistisch und besessen. Ganz unrecht hatten die Leute mit diesem Denken nicht. Zumindest, was ein paar spezielle Kollegen betraf.
Erleichtert, dass er diese bis achtzehn Uhr nicht mehr sehen musste, beschleunigte er seine Schritte. Gute vier Stunden Pause zwischen Vormittags- und Abendprobe. Der ersten Hauptprobe! Zeit zum Duschen und Entspannen nach den schweißtreibenden Strapazen des Vormittags.
Heute Abend würde Edith im Großen Haus sitzen, in der ersten Reihe, neben dem Regisseur und seinen Assistenten. Der kleine Mann mit russischer Abstammung würde wie immer einen Apfel nach dem anderen aus der Plastiktüte neben sich ziehen, dabei laut rascheln, schmatzen, und jede Szene mindestens zweimal unterbrechen, indem er mit der verklebten Hand fuchtelte und kauend »Njet, njet« rief, ohne aber genau zu artikulieren, was ihm nicht gefiel. Das alles ging so lange, bis Edith in ihrer gesamten Eleganz aufstand und ihm aus ihren türkisfarbenen Augen einen kurzen Blick zuwarf. »Genug, Pjotr, jetzt wird geprobt«, pflegte sie zu sagen, und der Regisseur biss nickend in einen neuen Apfel und schwieg.
Ediths kritischem Blick mussten sich alle beugen, und Wortgefechte und Chaos waren vorprogrammiert. Denn die Chefdramaturgin neigte dazu, kurz vor der Premiere ganze Szenenbilder umzustellen oder sogar mit dem Tausch von Rollen zu drohen. Der Gedanke gefiel Assmann. Er liebte es, wenn die Requisiten rumpelnd über den schwarz glänzenden Holzboden geschoben wurden. Wenn Rita aus der Statistentruppe eine Zigarette nach der anderen rauchte und schimpfte; wenn der schöne Raphaèl sich den steifen Rüschenkragen vom Hals riss und zum wiederholten Mal deklamierte, derart stranguliert könne er nicht spielen. Wenn der durchgeknallte, doch geniale Regisseur Pjotr an seinen Äpfeln beinahe erstickte vor Aufregung. Vor allem aber gefiel ihm, wie Edith gelassen durch den Trubel schritt und mit nur spärlichen Handbewegungen alle zu dirigieren verstand. Edith wusste genau, wie man Ziele erreichte.
Er, Günther, wusste es auch.
Er drückte die Tür zur Tiefgarage auf. Die Schlussszene war die heikelste für ihn. Der Moment, in dem er mit einem Schlüsselbund und der Laterne in der Hand vor Gretchens Gefängnis stand. »Mich fasst ein längst entwohnter Schauer«, murmelte er und glaubte für eine Sekunde, eine kühle Hand in seinem Nacken zu spüren, während seine Schuhe die Betontreppe zum zweiten Parkdeck hinunterklapperten. Doch Edith hatte die Szene abgesegnet. »Keiner spielt sie so wie du, Günther«, hatte sie gesagt und anerkennend genickt. Er hatte auf ihre perlmuttfarben geschminkten Lippen gestarrt und »danke« gemurmelt.
Nach Edith Bergers Okay konnte nichts mehr passieren. Berger kannte alle einflussreichen Kritiker - und den Intendanten des Wiener Burgtheaters. Der hatte seinen Besuch der Premiere bereits im Herbst angekündigt. Besser konnte es nicht laufen!
Das Piepsen seines Handys riss ihn aus den Gedanken. Eine SMS. Vergiss nicht, Becci abzuholen, großer Faust. ILD, L. Er schmunzelte und eilte zu seinem Wagen. Im Schummerlicht sah er das hell verspritzte Heck. Salz. Er musste dringend in die Waschanlage, so fuhr kein Star herum! Am linken vorderen Kotflügel zog sich ein langer Kratzer durch den Lack. Er stutzte. Schüttelte den Kopf. Er sollte wirklich konzentrierter fahren, wenn er in den Proben steckte. Nicht zum ersten Mal passierte ihm ein solches Malheur.
Assmann stieg ein und rief seine Frau an. Dass es hier unten Empfang gab, war ihm schon immer ein Rätsel gewesen. »Ich war großartig, Lene!« Er startete den Motor.
Sie seufzte. »Ohne Zweifel!«
»Wien, ich komme!«
»Und wenn wir dort sind, wirst du wieder normal, versprochen? « Er stellte sich Lenes Mund vor, neben dem sich immer verräterische Grübchen bildeten, wenn sie Kritik in nette Sätze packte. Aber sie hatte ja recht. Letzten Donnerstag hatte er schlichtweg vergessen, seine Tochter abzuholen. »Versprochen.«
»Jetzt mach dich auf. Becci wartet sicher schon!«
»Wir sind gleich zu Hause, Schatz.«
Er rangierte aus der Parklücke, schob die Codekarte in den Automaten und brauste summend zur Schule seiner Kinder.
Faust.
Er parkte vor dem langgestreckten Gebäude am Straßenrand.
Sein Durchbruch!
Assmann ging auf die Glastür des Gymnasiums zu, als eine zierliche Frau heraustrat. Ihr Haar lag schwarz und glänzend über einer roten Jacke, doch die Fältchen um Augen und Mund zeugten davon, dass die Farbe künstlich war und das Grau überdeckten. Über ihrer Schulter hing eine Aktentasche, deren Riemen sie mit einer schmalen Hand umfasste.
»Herr Assmann!« Sie strahlte.
Er lächelte betont charmant und gab ihr die Hand. Sie war trocken, fast wie die Kreide, mit der sie wahrscheinlich die letzten Stunden Zahlen und Zeichen an die Tafel geschrieben hatte. »Frau Heinemann! Ich freue mich. Wie macht sich Rebecca im Rechnen?«
»Nun ja, bei der Multiplikation von natürlichen Zahlen hat sie ...«
Er winkte ab. »Ich war eine Null in Mathematik. Aber wer braucht schon Naturwissenschaften. Allein mit der Kunst schaffen wir uns ein lebenswertes Leben. Jetzt geht's erst einmal nach Hause. Wo steckt mein Wirbelwind? «
Das Lächeln, mit dem sie ihn fixiert hatte, erstarb, und er dachte, sie nehme ihm den Spruch krumm. Er sollte rücksichtsvoller sein in seiner Euphorie.
»Aber ... Rebecca ist nicht da.«
»Nicht da? Was soll das heißen?« Also doch nicht seine Bemerkung mit der Kunst. »Ist sie schon aufgebrochen? Allein?«
»Sie war nicht in der Schule.«
»Wie bitte?« Assmann trat von einem Fuß auf den anderen. »Das kann nicht sein. Ich habe meine Kinder doch selbst zur Straßenbahn-Haltestelle gefahren.«
»Tut mir leid. Sie war wirklich nicht -«
»Und warum haben Sie meine Frau nicht verständigt? Sie wissen doch, dass -«
»Ich weiß, Herr Assmann. Aber« - mit einer Armbewegung umfasste sie die Umgebung - »sehen Sie sich diesen Tag an. Fast ein Drittel der Kinder fehlt. Haben Sie heute Morgen im Radio gehört, wie viele Autos nicht anspringen? Wie überfüllt die Wartezimmer bei den Ärzten sind?« Ihre Wangen röteten sich. »Viele Busse fallen aus. Außerdem war Rebecca gestern etwas erkältet. Sie klang heiser und hatte glasige Augen, ich dachte, dass -«
»Ich bin schließlich auch hier!« Die Lehrerin sah zu seinem Auto.
Ein Jeep Grand Cherokee Overland, schwarz glänzend, mit Chrom-Seitenleisten und -Kühlergrill, beheizbarem Lenkrad und beleuchteten Türgriffen. Drei Monate alt. Er stand im absoluten Halteverbot. Frau Heinemann, deren Vorname ihm partout nicht einfallen wollte, hob eine Augenbraue, sagte aber nichts.
Günther überlegte kurz. Vielleicht war Rebecca mit ihrem Bruder losgezogen. Die Kinder besuchten dieselbe Schule, doch die Unterrichtszeiten seines Sohnes kannte er nicht genau. »Wo ist Marius?«
Aus grauen Augen blickte sie ihn direkt an, und er meinte, Sorge darin zu erkennen. »Ich glaube ... einen Moment. « Sie verschwand durch die Glastür, und hinter der grünlichen Scheibe sah er sie durch eine Halle und an deren Ende eine Treppe hinaufeilen.
Schnee setzte sich auf seinen Mantel. Assmann klopfte ihn herunter und zog eine zerknitterte Packung Gauloises aus der Manteltasche. Seine Finger wurden rot und kalt, und sein Atem kroch in winzigen Wolken aus seinem Mund, während er den Rauch tief in seine Lungen sog.
Möglicherweise hatte Rebecca ja nur den Matheunterricht versäumt, und diese Heinemann dachte, sie sei den ganzen Tag nicht in der Schule gewesen. Wobei heute früh irgendeine Konferenz wegen der bevorstehenden Abiturprüfungen stattgefunden hatte, so dass die Kinder erst zur dritten Stunde kommen mussten. Nur deswegen hatte auch er sie chauffiert und nicht, wie üblich, Lene. Er war direkt danach ins Theater gefahren. Becci hatte sicher nur Mathe geschwänzt. Ja, so musste es sein! Hatte Lene nicht letzte Woche erst erwähnt, dass seine Tochter Mathematik nicht mochte? Dunkel hatte er etwas in Erinnerung. Dafür liebte sie Pflanzen- und Tierkunde, hatte Lene gesagt. Und Deutsch. Schon jetzt verstand sie sich fehlerfrei und wortreich auszudrücken. Er blies ein paar Rauchkringel in die Luft.
Rebecca kam eben ganz nach ihm.
Faust. Was bin ich denn, wenn es nicht möglich ist, der Menschheit Krone zu erringen, nach der sich alle Sinne dringen?, rezitierte er in Gedanken, inhalierte genussvoll, stieß den Rauch aus und beobachtete, wie die dünnen, bläulichen Fäden zwischen den Schneeflocken aufstiegen.
»Marius war auch nicht da!« Frau Heinemann eilte aus der Tür. Sie atmete schnell, und ihre Finger waren so fest um den Riemen ihrer Tasche geschlossen, dass die Knöchel weiß hervortraten. »Keiner der Kollegen hat Ihre Kinder heute gesehen.«
Heiß und hart zog sich die Wut in Günthers Bauch zusammen. »Sie wissen, dass Rebecca ... etwas nachlässig mit ... mit ihrem Zustand umgeht. Und Sie« - er deutete mit der Zigarette auf die Lehrerin - »haben, verdammt noch mal, die Pflicht, sich darum zu kümmern. Wenn meine Tochter nicht da ist und mein Sohn auch nicht, dann ...«
»Dann ist es Ihre Aufgabe, Ihre Kinder bei uns zu entschuldigen. Zumindest Rebecca.« Sie verschränkte die Arme. »Marius ist ja volljährig.«
Günther warf die Gauloises zu Boden und trat länger als nötig mit dem Absatz darauf herum. Nicht aufregen. »Okay. Meine Kinder waren nicht da. Und jetzt?« Sein Tonfall war hart und nicht angemessen, doch die Frau provozierte ihn mit ihren ständigen Seitenblicken auf den Jeep und jetzt auf die Zigarettenkippe am Boden.
»Ich bin keine Krankenschwester und auch keine Privataufsicht. Wenn Rebecca hier ist, achte ich auf alles. Ganz diskret. So, wie Sie es mir aufgetragen haben. Damit keines der anderen Kinder ...« Sie verstummte und wartete, bis eine Gruppe lachender Jugendlicher den Hof überquert hatte. Sie mochten in Marius' Alter sein, und der Blick eines strohblonden Mädchens blieb kurz an Günther hängen. Dann hakte sie sich bei einem der Jungen unter und ging auf ihren hochhackigen Stiefeln und mit provozierendem Hüftschwung weiter.
»Obwohl«, fuhr die Lehrerin fort, und ihre Stimme ging etwas nach oben, »ich es für besser hielte, wenn wir einen offenen Umgang mit ...«
»Nein!«
Frau Heinemann holte tief Luft, bevor sie den Blick zu ihm hob. »Hören Sie, wenn Ihre Kinder heute hierher aufgebrochen und nicht angekommen sind, sollten wir die Polizei rufen.«
Er starrte sie an. Verdrängte die Gedanken, die ihm kurz und grell wie Bühnenspots durch den Kopf schossen und die er nicht aufzuhalten vermochte. Mit steifen Fingern kramte er sein Mobiltelefon aus der Hosentasche hervor. Wählte Rebeccas Nummer. Jedes Tut schien sich Minuten hinzuziehen. Nach fünf Mal empfing ihn die muntere Stimme seiner Zehnjährigen: Hier ist Rebecca. Ich bin in der Schule und habe das Handy aus, aber wenn ich wieder zu Hause bin, kann ich euch anrufen.
Auch bei Marius meldete sich nur die Mailbox.
»Sie können nicht weg sein.« Der Touchscreen seines Mobiltelefons schien plötzlich eiskalt zu sein. »Bestimmt machen sie sich ein paar schöne Stunden in einem dieser Schnellrestaurants. Rebecca ist doch ganz scharf auf Pommes und Cheeseburger.«
»Aber ...« Frau Heinemann hob die Hände.
»Marius weiß, was Rebecca braucht. Sie selbst weiß es auch. Ihr wird nichts passieren«, sagte er und fügte in Gedanken hinzu: Erst, wenn sie wieder zu Hause ist. Dann nämlich werde ich den beiden die Leviten lesen. Als hätte ich zurzeit nicht genug Aufregung.
»Rufen Sie bitte an, wenn die beiden aufgetaucht sind.«
»Natürlich.«
»Danke.« Sie schob den Riemen ihrer Tasche, der herabrutschte, auf die Schulter zurück und ging neben ihm her zu seinem Wagen. »Faust ist übrigens ein großartiges Stück. Eine echte Herausforderung. Ich freue mich so für Sie!«
Er warf ihr einen skeptischen Blick zu. Überlegte, ob sie das ironisch meinte, doch ihr offenes Lächeln sprach für die Ehrlichkeit ihrer Worte, genauso, wie ihre Sorge um seine Kinder wohl kaum gespielt war. »Ich gebe mein Bestes.« Er entriegelte die Fahrertür. »Tut mir leid, ich wollte nicht ... unfreundlich sein.«
»Ich werde da sein am Sonntag. Und bitte, rufen Sie an!«
»Jaja.« Seine Finger trommelten auf das Lenkrad, bis die Straße frei war und er sich auf die rechte Spur einfädeln konnte.
Zwanzig Minuten später trat er in die Küche. Lene stand an der Kochinsel und gab Spaghetti in einen großen Topf sprudelnden Wassers. Es duftete nach Hackfleischsoße und frischen Kräutern. Auf der Lebensmittelwaage stand eine Schüssel mit braunem, cremigem Inhalt. »Schokoladenpudding«, sagte seine Ehefrau und küsste ihn flüchtig. »Hat Becci sich gewünscht.«
»Auf den wird sie wohl verzichten müssen.« Er warf seinen Mantel über die Lehne eines Küchenstuhls und setzte sich. »Die Herrschaften treiben sich offenbar noch herum.«
»Hm?« Sie rührte die Soße um, der Schneebesen klapperte gegen den Topf. »Unsere feine Brut. Sie hat heute blaugemacht. Geschwänzt. «
Lene hielt in der Bewegung inne. »Willst du damit sagen, dass du allein gekommen bist?«
»Ja. Sie waren nicht in der Schule. Den ganzen Tag nicht.«
Sie fuhr herum. Soße spritzte auf ihre Jeans und den Marmorboden. »Sag, dass das nicht wahr ist.«
»Jetzt reg dich nicht auf.« Ihre hochgesteckten, weizenblonden Haare waren mit irgendeinem Flechtwerk befestigt. Fast wie bei Gretchen im Faust. Er schluckte. »Hast du sie angerufen? Gesucht? Hast du ...« Ihre Unterlippe zitterte.
Er sah weg, fühlte sich plötzlich schuldig. »Ihre Handys sind ausgeschaltet. Und wo hätte ich sie suchen sollen?« Er stand auf und strich ihr über den Rücken. »Es sind abenteuerlustige Kinder, Schatz. Sie kommen schon zurück.«
»Wie kannst du nur so sorglos sein!« Sie riss das Telefon aus der Ladeschale und tippte. Fixierte Günther. Wartete. Tippte erneut. Wartete wieder. »Es sind nur die Mailboxen dran«, flüsterte sie und ließ den Hörer sinken.
»Sag ich doch. Sie treiben sich herum.«
»Nein. Sie treiben sich nicht herum!« Ihre Augen blitzten, und er wusste genau, dass sich hinter den Lidern bereits die Tränen sammelten, als sie einen Schritt auf ihn zutrat. »Ich rufe die Polizei. Becci ist noch nie ... sie würde niemals ... nie!«
© 2013 Knaur Taschenbuch
Jetzt, da alles vorbei ist und ein weiterer Mensch unter der schweren Erde liegt, weiß ich, dass ich von Beginn an hätte anders handeln sollen. Vielleicht hätten die Dämonen mich aus ihren Fängen entlassen, meine Seele freigegeben und die Seelen der anderen.
Ich lehne an dem Stamm, wende das Gesicht dem Himmel zu. Blicke in die nackte Baumkrone, aus der erste zarte Blätter sprießen. Die nachtfeuchte Rinde drückt gegen meinen Rücken, und der Stoff des Hemdes klebt klamm auf meiner Haut. Ich kann nur stoßweise atmen, aber ich rieche die frisch gepflügte Erde, die Algen und das Motoröl. Ich sollte frieren. Doch ich empfinde nichts. Nicht körperlich. Nur mein Inneres ist kalt und finster.
Gestern Abend bin ich hierhergekommen. Habe alles vorbereitet und mich dann auf den Boden gesetzt, hier, neben die hohe Birke, um auf den Morgen zu warten.
Ich bin zurück an dem Ort, an dem ich angefangen habe.
Die Polizei hat ihn zerstört. Nichts ist mehr, wie es einmal war.
Ein Schwarm Vögel taucht an dem fast noch schwarzen Horizont auf, zieht grell zwitschernd über mich hinweg Richtung Osten, dem anbrechenden Licht des späten Aprils entgegen. Kleine schwarze Körper sind es, die meisten ruhig im Flug, andere tanzen auf und ab wie an Gummibändern. Ich würde so gern mitfliegen. Hinaus in die Unendlichkeit. Ein Wesen von Hunderten, den anderen gleich, ein winziges Nichts.
Unsichtbar.
Unsichtbar für die Welt und Äonen entfernt von den teuflischen Geistern mit ihren kalten Fängen. Ich schließe die Augen, Tränen quellen warm zwischen meinen Lidern hervor. Ich lache auf: »Unsichtbar.«
Unsichtbar für Mephistopheles.
Meistens haben die Dämonen mich nachts geholt. Kurz vor zwölf Uhr. Exakt zu der Zeit, als die erste Katastrophe ihren Lauf genommen hat und ich dem Tod in die Hände gespielt habe.
Damals ist mein Leben zum Überleben geworden.
Jetzt ist es zu Ende.
Die Tränen bleiben in meinen Wimpern hängen. Sie werden kühl, ich blinzle, sehe ihr Glitzern wie vergrößerte Tautropfen direkt vor meinem Blick. Die Bäume und der Fluss wirken wie groteske Figuren. Sie tanzen mir etwas vor. Den Todestanz. Ich schließe erneut die Augen.
Im Wald singt der Morgenwind, und ein Kuckuck übernimmt den Solopart. Nur drei Wochen ist es her, eine Ewigkeit, da sind die Stadt, die Felder und Wiesen noch schneebedeckt gewesen und die Herzen voll eisiger Lügen.
In einer halben Stunde wird die Sonne aufgehen.
Ich strecke die Arme zum Himmel, muss mit den Fingerspitzen die ersten Strahlen berühren, noch einmal die Wärme greifen.
Wenn ich jetzt gleich die Augen öffne, verschwinden die Bilder und Geräusche für kurze Zeit wieder: die schwarzen Baumsilhouetten am Rand des Weges, die Äste, die in dem warmen Frühlingswind wie warnende Arme zu winken scheinen, das Knirschen der Schritte und die drei Gestalten, die sich vor dem Licht abzeichnen, auf das ich zugehe, voller Hoffnung, voller Liebe.
Manchmal höre ich noch die Stimme, die mich fragt, was los sei, wenn ich wieder weinend aufgewacht bin, und ich spüre noch die Hand, die mir über die Wange streicht. Ich habe gelächelt und etwas von Verantwortung und besonderen Schützlingen erzählt. Schicksale, die mich nicht losließen. »Ich liebe dich jeden Tag mehr dafür«, war die Antwort gewesen.
Weshalb ich dennoch getan habe, was so großes Unglück gebracht und unschuldige Opfer gefordert hat, wird sich für immer dem Verständnis des Menschen entziehen, der mir der wertvollste der Welt geblieben ist. Und was ich tun werde, wenn sich jetzt gleich die Sonnenstrahlen auf die Erde ergießen und die Tautropfen zu einem glitzernden Meer verschmelzen - auch das würde dieser Mensch nie nachvollziehen können. Nicht bis ans Ende seines Lebens.
1
Donnerstag, 21. März
Er würde keinen Fehler machen. Alles würde perfekt laufen.
Noch vier Tage. Dann war er ein berühmter Mann. Es war seine letzte Chance, und die gedachte er nicht zu verschenken. Um nichts auf der Welt.
Günther Assmann knöpfte den langen Wollmantel zu, winkte im Vorbeieilen dem Pförtner in der Glaskabine, während er sich gleichzeitig den Kaschmirschal um den Hals schlang, und trat ins Freie. Unwillkürlich schüttelte er sich, als die kalte Luft auf seine erhitzten Wangen traf. Es roch nach Schnee und Abgasen, und mit metallischem Rattern brauste eine Straßenbahn an ihm vorbei. Der Kälteeinbruch zu Anfang der Woche hielt die Stadt fest in seinem Griff, und selbst jetzt, um zehn vor zwei Uhr mittags, lag der Himmel wie in schwarzes Blei gegossen. Ein paar Schneeflocken tanzten auf die vereisten Straßen herab. Günther Assmann war das gleichgültig. Seine Vorfreude galt nicht der Sonne und den Frühlingstemperaturen, die für das Wochenende angekündigt waren und von denen seine Kollegen in jeder Probenpause redeten. Assmanns Lichtblick war der kommende Sonntagabend. »O selig der, dem er im Siegesglanze die blut'gen Lorbeern um die Schläfe windet«, rezitierte er, während er mit festem Schritt die Bertoldstraße Richtung Bahnhof hinunterging. Lorbeeren - genau die wollte er. Sie standen ihm zu. Er hatte sie verdient und viel dafür getan. Nicht nur in den letzten Wochen.
»Die blut'gen Lorbeern«, wiederholte er voller Euphorie in einem flüssigen Sprachbogen und führte dabei eine Hand in großzügiger Geste zu seiner Stirn.
Ein Passant, der ihm zwischen Bühneneingang und Tiefgarage entgegenkam, blickte ihn unter einer tief in die Stirn gezogenen Mütze hervor an und schüttelte den Kopf. Fast musste Günther lachen. Er wusste, dass er verrückt wirkte, wenn er mitten auf der Straße seinen Text sprach. Doch er liebte seine Rolle. Seine Hauptrolle. Nein, es war mehr: Er lebte sie. War sie. Und ein wenig Imagepflege, dachte er und verkniff sich noch immer ein Grinsen, konnte nicht schaden: Schauspieler galten ohnehin als durchgedreht, egoistisch und besessen. Ganz unrecht hatten die Leute mit diesem Denken nicht. Zumindest, was ein paar spezielle Kollegen betraf.
Erleichtert, dass er diese bis achtzehn Uhr nicht mehr sehen musste, beschleunigte er seine Schritte. Gute vier Stunden Pause zwischen Vormittags- und Abendprobe. Der ersten Hauptprobe! Zeit zum Duschen und Entspannen nach den schweißtreibenden Strapazen des Vormittags.
Heute Abend würde Edith im Großen Haus sitzen, in der ersten Reihe, neben dem Regisseur und seinen Assistenten. Der kleine Mann mit russischer Abstammung würde wie immer einen Apfel nach dem anderen aus der Plastiktüte neben sich ziehen, dabei laut rascheln, schmatzen, und jede Szene mindestens zweimal unterbrechen, indem er mit der verklebten Hand fuchtelte und kauend »Njet, njet« rief, ohne aber genau zu artikulieren, was ihm nicht gefiel. Das alles ging so lange, bis Edith in ihrer gesamten Eleganz aufstand und ihm aus ihren türkisfarbenen Augen einen kurzen Blick zuwarf. »Genug, Pjotr, jetzt wird geprobt«, pflegte sie zu sagen, und der Regisseur biss nickend in einen neuen Apfel und schwieg.
Ediths kritischem Blick mussten sich alle beugen, und Wortgefechte und Chaos waren vorprogrammiert. Denn die Chefdramaturgin neigte dazu, kurz vor der Premiere ganze Szenenbilder umzustellen oder sogar mit dem Tausch von Rollen zu drohen. Der Gedanke gefiel Assmann. Er liebte es, wenn die Requisiten rumpelnd über den schwarz glänzenden Holzboden geschoben wurden. Wenn Rita aus der Statistentruppe eine Zigarette nach der anderen rauchte und schimpfte; wenn der schöne Raphaèl sich den steifen Rüschenkragen vom Hals riss und zum wiederholten Mal deklamierte, derart stranguliert könne er nicht spielen. Wenn der durchgeknallte, doch geniale Regisseur Pjotr an seinen Äpfeln beinahe erstickte vor Aufregung. Vor allem aber gefiel ihm, wie Edith gelassen durch den Trubel schritt und mit nur spärlichen Handbewegungen alle zu dirigieren verstand. Edith wusste genau, wie man Ziele erreichte.
Er, Günther, wusste es auch.
Er drückte die Tür zur Tiefgarage auf. Die Schlussszene war die heikelste für ihn. Der Moment, in dem er mit einem Schlüsselbund und der Laterne in der Hand vor Gretchens Gefängnis stand. »Mich fasst ein längst entwohnter Schauer«, murmelte er und glaubte für eine Sekunde, eine kühle Hand in seinem Nacken zu spüren, während seine Schuhe die Betontreppe zum zweiten Parkdeck hinunterklapperten. Doch Edith hatte die Szene abgesegnet. »Keiner spielt sie so wie du, Günther«, hatte sie gesagt und anerkennend genickt. Er hatte auf ihre perlmuttfarben geschminkten Lippen gestarrt und »danke« gemurmelt.
Nach Edith Bergers Okay konnte nichts mehr passieren. Berger kannte alle einflussreichen Kritiker - und den Intendanten des Wiener Burgtheaters. Der hatte seinen Besuch der Premiere bereits im Herbst angekündigt. Besser konnte es nicht laufen!
Das Piepsen seines Handys riss ihn aus den Gedanken. Eine SMS. Vergiss nicht, Becci abzuholen, großer Faust. ILD, L. Er schmunzelte und eilte zu seinem Wagen. Im Schummerlicht sah er das hell verspritzte Heck. Salz. Er musste dringend in die Waschanlage, so fuhr kein Star herum! Am linken vorderen Kotflügel zog sich ein langer Kratzer durch den Lack. Er stutzte. Schüttelte den Kopf. Er sollte wirklich konzentrierter fahren, wenn er in den Proben steckte. Nicht zum ersten Mal passierte ihm ein solches Malheur.
Assmann stieg ein und rief seine Frau an. Dass es hier unten Empfang gab, war ihm schon immer ein Rätsel gewesen. »Ich war großartig, Lene!« Er startete den Motor.
Sie seufzte. »Ohne Zweifel!«
»Wien, ich komme!«
»Und wenn wir dort sind, wirst du wieder normal, versprochen? « Er stellte sich Lenes Mund vor, neben dem sich immer verräterische Grübchen bildeten, wenn sie Kritik in nette Sätze packte. Aber sie hatte ja recht. Letzten Donnerstag hatte er schlichtweg vergessen, seine Tochter abzuholen. »Versprochen.«
»Jetzt mach dich auf. Becci wartet sicher schon!«
»Wir sind gleich zu Hause, Schatz.«
Er rangierte aus der Parklücke, schob die Codekarte in den Automaten und brauste summend zur Schule seiner Kinder.
Faust.
Er parkte vor dem langgestreckten Gebäude am Straßenrand.
Sein Durchbruch!
Assmann ging auf die Glastür des Gymnasiums zu, als eine zierliche Frau heraustrat. Ihr Haar lag schwarz und glänzend über einer roten Jacke, doch die Fältchen um Augen und Mund zeugten davon, dass die Farbe künstlich war und das Grau überdeckten. Über ihrer Schulter hing eine Aktentasche, deren Riemen sie mit einer schmalen Hand umfasste.
»Herr Assmann!« Sie strahlte.
Er lächelte betont charmant und gab ihr die Hand. Sie war trocken, fast wie die Kreide, mit der sie wahrscheinlich die letzten Stunden Zahlen und Zeichen an die Tafel geschrieben hatte. »Frau Heinemann! Ich freue mich. Wie macht sich Rebecca im Rechnen?«
»Nun ja, bei der Multiplikation von natürlichen Zahlen hat sie ...«
Er winkte ab. »Ich war eine Null in Mathematik. Aber wer braucht schon Naturwissenschaften. Allein mit der Kunst schaffen wir uns ein lebenswertes Leben. Jetzt geht's erst einmal nach Hause. Wo steckt mein Wirbelwind? «
Das Lächeln, mit dem sie ihn fixiert hatte, erstarb, und er dachte, sie nehme ihm den Spruch krumm. Er sollte rücksichtsvoller sein in seiner Euphorie.
»Aber ... Rebecca ist nicht da.«
»Nicht da? Was soll das heißen?« Also doch nicht seine Bemerkung mit der Kunst. »Ist sie schon aufgebrochen? Allein?«
»Sie war nicht in der Schule.«
»Wie bitte?« Assmann trat von einem Fuß auf den anderen. »Das kann nicht sein. Ich habe meine Kinder doch selbst zur Straßenbahn-Haltestelle gefahren.«
»Tut mir leid. Sie war wirklich nicht -«
»Und warum haben Sie meine Frau nicht verständigt? Sie wissen doch, dass -«
»Ich weiß, Herr Assmann. Aber« - mit einer Armbewegung umfasste sie die Umgebung - »sehen Sie sich diesen Tag an. Fast ein Drittel der Kinder fehlt. Haben Sie heute Morgen im Radio gehört, wie viele Autos nicht anspringen? Wie überfüllt die Wartezimmer bei den Ärzten sind?« Ihre Wangen röteten sich. »Viele Busse fallen aus. Außerdem war Rebecca gestern etwas erkältet. Sie klang heiser und hatte glasige Augen, ich dachte, dass -«
»Ich bin schließlich auch hier!« Die Lehrerin sah zu seinem Auto.
Ein Jeep Grand Cherokee Overland, schwarz glänzend, mit Chrom-Seitenleisten und -Kühlergrill, beheizbarem Lenkrad und beleuchteten Türgriffen. Drei Monate alt. Er stand im absoluten Halteverbot. Frau Heinemann, deren Vorname ihm partout nicht einfallen wollte, hob eine Augenbraue, sagte aber nichts.
Günther überlegte kurz. Vielleicht war Rebecca mit ihrem Bruder losgezogen. Die Kinder besuchten dieselbe Schule, doch die Unterrichtszeiten seines Sohnes kannte er nicht genau. »Wo ist Marius?«
Aus grauen Augen blickte sie ihn direkt an, und er meinte, Sorge darin zu erkennen. »Ich glaube ... einen Moment. « Sie verschwand durch die Glastür, und hinter der grünlichen Scheibe sah er sie durch eine Halle und an deren Ende eine Treppe hinaufeilen.
Schnee setzte sich auf seinen Mantel. Assmann klopfte ihn herunter und zog eine zerknitterte Packung Gauloises aus der Manteltasche. Seine Finger wurden rot und kalt, und sein Atem kroch in winzigen Wolken aus seinem Mund, während er den Rauch tief in seine Lungen sog.
Möglicherweise hatte Rebecca ja nur den Matheunterricht versäumt, und diese Heinemann dachte, sie sei den ganzen Tag nicht in der Schule gewesen. Wobei heute früh irgendeine Konferenz wegen der bevorstehenden Abiturprüfungen stattgefunden hatte, so dass die Kinder erst zur dritten Stunde kommen mussten. Nur deswegen hatte auch er sie chauffiert und nicht, wie üblich, Lene. Er war direkt danach ins Theater gefahren. Becci hatte sicher nur Mathe geschwänzt. Ja, so musste es sein! Hatte Lene nicht letzte Woche erst erwähnt, dass seine Tochter Mathematik nicht mochte? Dunkel hatte er etwas in Erinnerung. Dafür liebte sie Pflanzen- und Tierkunde, hatte Lene gesagt. Und Deutsch. Schon jetzt verstand sie sich fehlerfrei und wortreich auszudrücken. Er blies ein paar Rauchkringel in die Luft.
Rebecca kam eben ganz nach ihm.
Faust. Was bin ich denn, wenn es nicht möglich ist, der Menschheit Krone zu erringen, nach der sich alle Sinne dringen?, rezitierte er in Gedanken, inhalierte genussvoll, stieß den Rauch aus und beobachtete, wie die dünnen, bläulichen Fäden zwischen den Schneeflocken aufstiegen.
»Marius war auch nicht da!« Frau Heinemann eilte aus der Tür. Sie atmete schnell, und ihre Finger waren so fest um den Riemen ihrer Tasche geschlossen, dass die Knöchel weiß hervortraten. »Keiner der Kollegen hat Ihre Kinder heute gesehen.«
Heiß und hart zog sich die Wut in Günthers Bauch zusammen. »Sie wissen, dass Rebecca ... etwas nachlässig mit ... mit ihrem Zustand umgeht. Und Sie« - er deutete mit der Zigarette auf die Lehrerin - »haben, verdammt noch mal, die Pflicht, sich darum zu kümmern. Wenn meine Tochter nicht da ist und mein Sohn auch nicht, dann ...«
»Dann ist es Ihre Aufgabe, Ihre Kinder bei uns zu entschuldigen. Zumindest Rebecca.« Sie verschränkte die Arme. »Marius ist ja volljährig.«
Günther warf die Gauloises zu Boden und trat länger als nötig mit dem Absatz darauf herum. Nicht aufregen. »Okay. Meine Kinder waren nicht da. Und jetzt?« Sein Tonfall war hart und nicht angemessen, doch die Frau provozierte ihn mit ihren ständigen Seitenblicken auf den Jeep und jetzt auf die Zigarettenkippe am Boden.
»Ich bin keine Krankenschwester und auch keine Privataufsicht. Wenn Rebecca hier ist, achte ich auf alles. Ganz diskret. So, wie Sie es mir aufgetragen haben. Damit keines der anderen Kinder ...« Sie verstummte und wartete, bis eine Gruppe lachender Jugendlicher den Hof überquert hatte. Sie mochten in Marius' Alter sein, und der Blick eines strohblonden Mädchens blieb kurz an Günther hängen. Dann hakte sie sich bei einem der Jungen unter und ging auf ihren hochhackigen Stiefeln und mit provozierendem Hüftschwung weiter.
»Obwohl«, fuhr die Lehrerin fort, und ihre Stimme ging etwas nach oben, »ich es für besser hielte, wenn wir einen offenen Umgang mit ...«
»Nein!«
Frau Heinemann holte tief Luft, bevor sie den Blick zu ihm hob. »Hören Sie, wenn Ihre Kinder heute hierher aufgebrochen und nicht angekommen sind, sollten wir die Polizei rufen.«
Er starrte sie an. Verdrängte die Gedanken, die ihm kurz und grell wie Bühnenspots durch den Kopf schossen und die er nicht aufzuhalten vermochte. Mit steifen Fingern kramte er sein Mobiltelefon aus der Hosentasche hervor. Wählte Rebeccas Nummer. Jedes Tut schien sich Minuten hinzuziehen. Nach fünf Mal empfing ihn die muntere Stimme seiner Zehnjährigen: Hier ist Rebecca. Ich bin in der Schule und habe das Handy aus, aber wenn ich wieder zu Hause bin, kann ich euch anrufen.
Auch bei Marius meldete sich nur die Mailbox.
»Sie können nicht weg sein.« Der Touchscreen seines Mobiltelefons schien plötzlich eiskalt zu sein. »Bestimmt machen sie sich ein paar schöne Stunden in einem dieser Schnellrestaurants. Rebecca ist doch ganz scharf auf Pommes und Cheeseburger.«
»Aber ...« Frau Heinemann hob die Hände.
»Marius weiß, was Rebecca braucht. Sie selbst weiß es auch. Ihr wird nichts passieren«, sagte er und fügte in Gedanken hinzu: Erst, wenn sie wieder zu Hause ist. Dann nämlich werde ich den beiden die Leviten lesen. Als hätte ich zurzeit nicht genug Aufregung.
»Rufen Sie bitte an, wenn die beiden aufgetaucht sind.«
»Natürlich.«
»Danke.« Sie schob den Riemen ihrer Tasche, der herabrutschte, auf die Schulter zurück und ging neben ihm her zu seinem Wagen. »Faust ist übrigens ein großartiges Stück. Eine echte Herausforderung. Ich freue mich so für Sie!«
Er warf ihr einen skeptischen Blick zu. Überlegte, ob sie das ironisch meinte, doch ihr offenes Lächeln sprach für die Ehrlichkeit ihrer Worte, genauso, wie ihre Sorge um seine Kinder wohl kaum gespielt war. »Ich gebe mein Bestes.« Er entriegelte die Fahrertür. »Tut mir leid, ich wollte nicht ... unfreundlich sein.«
»Ich werde da sein am Sonntag. Und bitte, rufen Sie an!«
»Jaja.« Seine Finger trommelten auf das Lenkrad, bis die Straße frei war und er sich auf die rechte Spur einfädeln konnte.
Zwanzig Minuten später trat er in die Küche. Lene stand an der Kochinsel und gab Spaghetti in einen großen Topf sprudelnden Wassers. Es duftete nach Hackfleischsoße und frischen Kräutern. Auf der Lebensmittelwaage stand eine Schüssel mit braunem, cremigem Inhalt. »Schokoladenpudding«, sagte seine Ehefrau und küsste ihn flüchtig. »Hat Becci sich gewünscht.«
»Auf den wird sie wohl verzichten müssen.« Er warf seinen Mantel über die Lehne eines Küchenstuhls und setzte sich. »Die Herrschaften treiben sich offenbar noch herum.«
»Hm?« Sie rührte die Soße um, der Schneebesen klapperte gegen den Topf. »Unsere feine Brut. Sie hat heute blaugemacht. Geschwänzt. «
Lene hielt in der Bewegung inne. »Willst du damit sagen, dass du allein gekommen bist?«
»Ja. Sie waren nicht in der Schule. Den ganzen Tag nicht.«
Sie fuhr herum. Soße spritzte auf ihre Jeans und den Marmorboden. »Sag, dass das nicht wahr ist.«
»Jetzt reg dich nicht auf.« Ihre hochgesteckten, weizenblonden Haare waren mit irgendeinem Flechtwerk befestigt. Fast wie bei Gretchen im Faust. Er schluckte. »Hast du sie angerufen? Gesucht? Hast du ...« Ihre Unterlippe zitterte.
Er sah weg, fühlte sich plötzlich schuldig. »Ihre Handys sind ausgeschaltet. Und wo hätte ich sie suchen sollen?« Er stand auf und strich ihr über den Rücken. »Es sind abenteuerlustige Kinder, Schatz. Sie kommen schon zurück.«
»Wie kannst du nur so sorglos sein!« Sie riss das Telefon aus der Ladeschale und tippte. Fixierte Günther. Wartete. Tippte erneut. Wartete wieder. »Es sind nur die Mailboxen dran«, flüsterte sie und ließ den Hörer sinken.
»Sag ich doch. Sie treiben sich herum.«
»Nein. Sie treiben sich nicht herum!« Ihre Augen blitzten, und er wusste genau, dass sich hinter den Lidern bereits die Tränen sammelten, als sie einen Schritt auf ihn zutrat. »Ich rufe die Polizei. Becci ist noch nie ... sie würde niemals ... nie!«
© 2013 Knaur Taschenbuch
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Autoren-Porträt von Petra Busch
Petra Busch, geboren 1967 in Meersburg, ist freie Schriftstellerin sowie Texterin für internationale Kunden aus Wissenschaft, Technik und Kultur. Sie studierte Mathematik, Informatik, Literaturgeschichte und Musikwissenschaften und promovierte in Mediävistik. Für ihren Kriminalroman »Schweig still, mein Kind« erhielt sie den renommierten Friedrich-Glauser-Preis für das beste Debüt des Jahres 2010. Sie lebt im Nordschwarzwald.Mehr zur Autorin unter www.petra-busch.de.
Bibliographische Angaben
- Autor: Petra Busch
- 2013, 2. Aufl., 432 Seiten, Maße: 12,5 x 18,8 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 342651124X
- ISBN-13: 9783426511244
- Erscheinungsdatum: 22.02.2013
Rezension zu „Zeig mir den Tod “
"Psychokrimi, der nicht mehr aus dem Kopf geht." Superillu 20130620
Pressezitat
"Psychokrimi, der nicht mehr aus dem Kopf geht." Superillu 20130620
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