Zweite Person Singular
Roman
Ein großer Wurf! Sayed Kashua erzählt die kunstvoll verwobene Geschichte zweier arabischer Israelis, die sich nichts sehnlicher wünschen, als Teil des jüdischen Israels zu sein. »Ein großartiger Roman über das gegenwärtige Israel.« Neue Zürcher Zeitung
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Produktinformationen zu „Zweite Person Singular “
Ein großer Wurf! Sayed Kashua erzählt die kunstvoll verwobene Geschichte zweier arabischer Israelis, die sich nichts sehnlicher wünschen, als Teil des jüdischen Israels zu sein. »Ein großartiger Roman über das gegenwärtige Israel.« Neue Zürcher Zeitung
Klappentext zu „Zweite Person Singular “
Er ist Amir, Sozialarbeiter in Westjerusalem, und pflegt den gelähmten 19-jährigen Jonathan. Er will so sein wie sie", das ist sein sehnlichster Wunsch. Sie, das sind die jüdischen Israelis, die sich mit einer Selbstverständlichkeit in einem Land bewegen, das ihm, dem arabischen Israeli, die Zugehörigkeit so schwer macht. Er will Künstler sein, frei sein, ohne argwöhnischen Blicken ausgesetzt zu sein. So beschließt er, ein anderer zu werden. Du bist Rechtsanwalt und lebst mit Frau und Kindern in Jerusalem. Du bist erfolgreich, angesehen und willst auch so sein wie sie". Du bist getrieben von dem Verlangen, der eigenen arabischen Vergangenheit mit schnellen Autos, teurer Kleidung, Wein , Sushi zu entkommen. Doch dein Leben bricht auseinander, als du auf das Zeugnis einer vermeintlichen Affäre deiner Frau triffst. Du bist rasend eifersüchtig, und deine Fassade, die Maske deiner Identität, löst sich auf. Du verlierst die Kontrolle und hast nur noch ein Ziel: den anderen zu finden. In seinem neuen Roman Zweite Person Singular erzählt Sayed Kashua die Geschichte zweier arabischer Israelis, die mit aller Macht versuchen, ihre Fremdheit in der Mehrheitskultur, aber auch die gegenüber der in ihren Augen rückständigen arabischen Kultur, durch eine neue Identität zu überwinden. Sie suchen ihr Heil in den Versprechungen der Popkultur und des westlichen Individualismus, nach denen alles möglich scheint, doch sind damit in dem tief zerrissenen Land zum Scheitern verurteilt.
Er ist Amir, Sozialarbeiter in Westjerusalem, und pflegt den gelähmten 19-jährigen Jonathan. Er will "so sein wie sie", das ist sein sehnlichster Wunsch. Sie, das sind die jüdischen Israelis, die sich mit einer Selbstverständlichkeit in einem Land bewegen, das ihm, dem arabischen Israeli, die Zugehörigkeit so schwer macht. Er will Künstler sein, frei sein, ohne argwöhnischen Blicken ausgesetzt zu sein. So beschließt er, ein anderer zu werden. Du bist Rechtsanwalt und lebst mit Frau und Kindern in Jerusalem. Du bist erfolgreich, angesehen und willst auch "so sein wie sie". Du bist getrieben von dem Verlangen, der eigenen arabischen Vergangenheit mit schnellen Autos, teurer Kleidung, Wein , Sushi zu entkommen. Doch dein Leben bricht auseinander, als du auf das Zeugnis einer vermeintlichen Affäre deiner Frau triffst. Du bist rasend eifersüchtig, und deine Fassade, die Maske deiner Identität, löst sich auf. Du verlierst die Kontrolle und hast nur noch ein Ziel: den anderen zu finden. In seinem neuen Roman Zweite Person Singular erzählt Sayed Kashua die Geschichte zweier arabischer Israelis, die mit aller Macht versuchen, ihre Fremdheit in der Mehrheitskultur, aber auch die gegenüber der in ihren Augen rückständigen arabischen Kultur, durch eine neue Identität zu überwinden. Sie suchen ihr Heil in den Versprechungen der Popkultur und des westlichen Individualismus, nach denen alles möglich scheint, doch sind damit in dem tief zerrissenen Land zum Scheitern verurteilt.
Lese-Probe zu „Zweite Person Singular “
Zweite Person Singular von Sayed Kashua (Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler)
ERSTER TEIL
BETTWÄSCHE
Als der Rechtsanwalt die Augen öffnete, wusste er, dass er den
ganzen Tag über müde sein würde. Er erinnerte sich nicht, ob
er im Radio von Schlafwellen gehört oder ob er in der Zeitung
über sie gelesen hatte, aber er erinnerte sich genau an die
Worte des Experten, der den Schlafrhythmus mit Wellen verglichen
und betont hatte, wie wichtig es sei, am Ende einer
Schlafwelle aufzuwachen. Oft bestehe der Grund für Müdigkeit,
so hatte der Experte erklärt, nicht in zu kurzem Schlaf,
sondern darin, dass man aufwache, bevor die Schlafwelle zu
Ende sei. Der Rechtsanwalt wusste nicht, wo eine Schlafwelle
begann und wo sie endete, aber er wusste, dass er an diesem
Morgen, wie so häufig, mitten in einer Welle aufgewacht war.
Würde er jemals dieses bestimmt wunderbare Gefühl eines
Menschen genießen, der ganz selbstverständlich am Ende einer
Welle aufwachte? Er stellte sich eine Schlafwelle wie eine
Meereswelle vor und sich selbst als Wellenreiter, und einen
Moment, bevor die Welle am Ufer bricht, stürzt er mit einem
Schlag ins Wasser, und wenn er dann aufwacht, spürt er ein
Erschrecken, dessen Ursache er sich nicht erklären kann.
Nie hatte der Rechtsanwalt einen Wecker gebraucht. Er
wachte immer zur rechten Zeit auf, oder besser gesagt, vor der
Zeit. Dennoch stellte er die Weckfunktion seines Mobiltelefons
ein, wenn am nächsten Tag bereits frühmorgens wichtige
Prozesse auf ihn warteten, aber er wachte immer früh genug
auf, um die Funktion auszuschalten.
... mehr
Es ging auf halb sieben zu, und die Aufstehgeräusche seiner
Frau und seiner Kinder drangen zu seinem Bett. Genauer
gesagt, zum Bett seiner ältesten Tochter. Sie war sechs Jahre
alt und ging in die erste Klasse. Nach ihrer Geburt hatte der
Rechtsanwalt sich angewöhnt, in ihrem Zimmer zu schlafen.
Als sie ein Baby war, hatte er seinen Schlafplatz in das Zimmer
verlegt, das eigentlich ihres sein sollte, denn sie war nachts
sehr oft aufgewacht und seine Frau musste aufstehen, um sie
zu stillen, ihr die Windeln zu wechseln und sie zu beruhigen,
wenn sie weinte. Damals hatte er auf einer Matratze geschlafen,
denn die Kleine besaß nur einen Laufstall, den sie im
Schlafzimmer neben dem Ehebett aufgestellt hatten.
Seine Frau hatte nicht protestiert. Sie wusste, dass ihr
Mann ausreichend Schlaf benötigte, um vernünftig arbeiten
zu können. Im Gegensatz zu ihr, die damals ein ganzes Jahr
pausierte und sich ganz dem Haushalt und dem Kind widmen
konnte, lastete auf ihm die Herausforderung, sich als junger
Rechtsanwalt einen Platz unter den Juristen Jerusalems zu erobern.
Zwei Jahre lang hatte der Rechtsanwalt auf einer Matratze
geschlafen, die auf einem Teppich mit Pu-der-Bär-Motiven
lag, zwischen hellblau gestrichenen, mit weißen Wolken bemalten
Wänden und umgeben von Plüschtieren. Die Kleine
schlief weiterhin im Elternschlafzimmer, dicht neben ihrer
Mutter. Nachdem die Kleine angefangen hatte, nachts durchzuschlafen,
besuchte der Rechtsanwalt ein paarmal in der
Woche seine Frau und schlief sogar bis zum Morgen im Ehebett.
Manchmal war es auch seine Frau, die zu ihm auf die
Matratze kam, er zog jedoch die erste Variante vor, denn oft
spürte er, wie die vielen Spielsachen auf Schränken und Kommoden
- Teddybären, Plüschhunde, unschuldige Puppen in
Brautkleidern - ängstlich und erstaunt die seltsame Zeremo-
nie beobachteten, die er und seine Frau unter ihren Augen
vollführten.
Als die Kleine zwei Jahre alt wurde, beschloss das Ehepaar,
sie sei nun alt genug, und tauschten den Laufstall gegen
ein Kinderbett. Die Kleine war groß für ihr Alter, selbst heute
überragte sie ihre Mitschüler um einen Kopf. Doch auch
nachdem sie das neue Bett in Form eines kindlichen Autos in
Rosa bekommen hatte, passend zu dem hellblauen Himmel
und den Wolken, die die Wände schmückten, und obwohl der
Laufstall abgebaut und in einer Ecke der Abstellkammer verstaut
worden war, schlief der Rechtsanwalt weiterhin im Zimmer
seiner Tochter und sie schlief weiterhin neben ihrer Mutter
im Ehebett. Das Leben des Rechtsanwalts verbesserte sich,
denn das Kinderbett besaß eine Gesundheitsmatratze, die den
Rücken stützte. Es war um Längen bequemer als die dünne
Matratze, die ihm bis dahin zum Schlafen gedient hatte.
Vor etwa einem Jahr hatte das Paar ein zweites Kind bekommen.
Einige Wochen nach der Geburt des kleinen Jungen waren
sie aus der gemieteten Wohnung in ein geräumiges Haus
umgezogen, das sie sich hatten bauen lassen. Das Haus besaß
zwei Stockwerke: Im oberen lagen ein großes Wohnzimmer,
eine modern eingerichtete Küche und zwei Schlafzimmer, eines
besonders groß und mit angeschlossenem Badezimmer -
dieser Raum wurde von dem Ehepaar gern als »Elterneinheit«
bezeichnet -, das zweite war für das neue Baby bestimmt, die
Wände waren hellblau gestrichen und mit Figuren aus dem
Kinderfilm Shrek bemalt. Das Zimmer des Mädchens lag im
Erdgeschoss. Es war geräumig und cremefarben gestrichen,
mit passenden Möbeln, zu denen außer dem Bett auch ein
Schreibtisch, Regale und ein großer Schrank in Weiß und Purpur
gehörten. Im Erdgeschoss befanden sich außerdem eine
Toilette, ein Badezimmer, eine kleine Abstellkammer und
das Arbeitszimmer des Rechtsanwalts. Hier stand ein antiker
Schreibtisch aus Mahagoni, den der Rechtsanwalt von einem
Mandanten geschenkt bekommen hatte, und an den Wänden
reihten sich Regale mit seiner Bibliothek.
Der Umzug in die neue Wohnung änderte nichts an den
Schlafgewohnheiten der Familie. Das Baby war noch klein,
und seine Mutter zog es vor, seine Wiege neben dem Ehebett
stehen zu haben, und alle Versuche, die Tochter davon
zu überzeugen, sie müsse in ihrem neuen Zimmer und dem
neuen Bett schlafen, schlugen fehl. Die Kleine weigerte sich,
die Nacht in dem abgelegenen unteren Stockwerk zu verbringen
und beharrte auf ihrem Platz neben der Mutter. Der
Rechtsanwalt und seine Frau verstanden die Angst des Mädchens
und schlugen ihr vor, im Zimmer ihres kleinen Bruders
zu schlafen. Das Mädchen akzeptierte, doch sie wachte fast
jede Nacht erschrocken auf und lief zum Bett ihrer Eltern. So
fand sich der Rechtsanwalt erneut im Zimmer seiner Tochter
wieder. Doch war ihm dieser Umstand ganz recht, denn die
Tatsache, dass er auf diese Art - zumindest nachts - ein Zimmer
für sich allein hatte, empfand er als große Erleichterung.
Letztlich schlief er lieber allein.
Wie jeden Tag drangen die morgendlichen Geräusche an sein
Ohr. Die schrille Stimme seiner Frau, die die Tochter ins Badezimmer
trieb, sich das Gesicht zu waschen und die Zähne
zu putzen. Sodann ließen schnelle, nervöse Schritte seiner
Frau die Decke über seinem Kopf erzittern. Warum läuft sie
so?, dachte er. Er hatte das Gefühl, als donnere sie absichtlich
mit den Füßen so laut auf den Fußboden. Bum, bum, bum.
Wie ein Soldat der Roten Armee bei einer Parade. »Woher soll
ich wissen, wo deine Haargummis sind?«, hörte er sie rufen.
»Was fragst du mich? Vielleicht lernst du endlich, auf deine
Sachen aufzupassen? Du bist kein kleines Kind mehr. Schnell.
Los. Geh hinunter, zieh dich an und sieh zu, dass du alle Bücher
und Hefte in deinem Schulranzen hast. Was soll ich tun?
Es gibt keine Haargummis. Dann gehst du heute eben ohne.
Los. Ich will jetzt kein Wort mehr hören. Ich bin in Eile.«
Der Rechtsanwalt hörte die wütenden Schritte seiner Tochter
auf der Holztreppe, wie seine Frau sich im Badezimmer die
Nase putzte und wie sie nach dem Zähneputzen ausspuckte.
Wenn sie wüsste, wie sich diese Geräusche in meinen Ohren
anhören, dachte der Rechtsanwalt, würde sie sich vermutlich
nicht so aufführen. Vielleicht ging sie irrtümlich davon aus,
dass die Decke zwischen den beiden Stockwerken ihre Geräusche
dämpfte. Hätte sie gewusst, dass man selbst im Keller
alles hörte, hätte sie ihr Verhalten vielleicht geändert. Er hörte
sie genau in dem Moment den Klodeckel zuschlagen, als das
Mädchen die Zimmertür öffnete. Sie sah so wütend aus, wie
er vermutet hatte, und sie schaute ihren Vater an, als erwarte
sie Trost von ihm.
Der Rechtsanwalt lächelte seine Tochter an, schlug die
Decke zurück, richtete sich im Bett auf und bedeutete ihr,
näher zu kommen. Das Mädchen hatte nur auf dieses Zeichen
gewartet, sie wollte wissen, auf wessen Seite er heute Morgen
stehen würde. »Ich habe die Gummis nicht verschlampt«,
sagte sie zornig und setzte sich auf seinen Schoß. »Ich habe
sie gestern neben das Waschbecken gelegt, bevor ich ins Bett
gegangen bin.«
»Ich bin sicher, dass wir sie bald finden werden«, sagte der
Rechtsanwalt und streichelte über den Kopf des Mädchens.
»Du wirst schon sehen.«
»Ich werde sie nie wieder finden. Außerdem sind sie sowieso
alt, und ich brauche neue, und zwar viele, damit ich
welche habe, wenn eines verloren geht. Ja?«
»Ja«, sagte er, »und jetzt zieh dich an, weil wir nicht zu spät
kommen wollen. In Ordnung, meine Süße?«
»Ich habe auch nichts zum Anziehen«, sagte sie zornig, als
sie den Schrank aufgemacht und hineingeschaut hatte. Wieder
lächelte der Rechtsanwalt seine Tochter an. Er wäre gern hinaufgegangen,
ins Schlafzimmer, und hätte seiner Frau guten
Morgen gewünscht, oder im Gegenteil, vielleicht wollte er,
dass sie zu seinem Bett kommen und ihn mit einem »Guten
Morgen« wecken würde. Doch weder das eine noch das andere
geschah. Dem Rechtsanwalt fiel es schwer, Gefühle vorzutäuschen.
Er hatte schon oft von seinen männlichen Mandanten
und auch bei Talkshows im Fernsehen gehört, dass ein
Mann auf der Suche nach häuslichem Frieden seine Frau auch
manchmal belügen, ihr etwas vormachen und sie mit Schmeicheleien
überhäufen musste, doch so etwas hatte er nicht nötig.
Bei ihm zu Hause herrschte das, was viele Ehemänner unter
Frieden verstanden. Der Rechtsanwalt konnte sich jedenfalls
nicht darüber beklagen, dass seine Frau an ihm herummäkelte.
Im Gegenteil, sie hatte den Haushalt und die Kinder gut im
Griff, und nie warf sie ihm vor, dass er zu lange im Büro blieb
und dass er ihr nicht im Haushalt half. Daran dachte er, während
er in der Küche seinen Kaffee umrührte.
Er hätte für einen Moment das Schlafzimmer betreten oder
sie hätte in die Küche kommen können, um ihn zu sehen, er
hörte sie mit dem Baby sprechen, während sie es ankleidete.
Aber der Rechtsanwalt verzichtete auf ein Zusammentreffen
mit seiner Frau, wie sie auf ein Zusammentreffen mit ihm
verzichtete. Er ging, die Kaffeetasse in der Hand, die Treppe
hinunter, betrat sein Arbeitszimmer, schloss die Tür und
zündete sich eine Zigarette an. Sein Arbeitszimmer war, entsprechend
seiner eigenen Regel, der einzige Raum im Haus,
in dem geraucht werden durfte.
SCHULE
Der Rechtsanwalt kontrollierte, ob seine Älteste auf dem
Rücksitz seines schwarzen Mercedes angeschnallt war, und
seine Frau befestigte den Kindersitz für das Baby in ihrem
blauen Golf. Außer donnerstags war es seine Frau, die die
Kinder wegbrachte, das Mädchen zur Schule, das Baby zum
Haus der Tagesmutter, das nur zwei Minuten Fahrtzeit von
ihrem Haus entfernt lag. Doch donnerstags fürchtete sie, zu
spät zur Teamkonferenz ins Büro zu kommen, und so teilten
sie sich die Aufgabe.
Die Frau des Rechtsanwalts drückte auf den Knopf der kleinen
schwarzen Fernbedienung an ihrem Schlüsselanhänger,
und das elektrische Tor öffnete sich. Sie kam zum Auto ihres
Mannes und winkte der Tochter zum Abschied zu. »Bye«,
sagte sie auch zu ihrem Mann, stieg in ihr Auto und fuhr als
Erste vom Carport. Sie drehte sich noch einmal um, winkte
und lächelte ihrem Mann dankbar zu. Der Rechtsanwalt nickte
und stieg nun selbst ins Auto. Seinem Selbstbild nach war er
ein hilfsbereiter Ehemann, der seine Frau bei ihren Aufgaben
unterstützte. Außer dass er donnerstags die Tochter zur Schule
brachte, beteiligte er sich allerdings nicht an der Versorgung
der Kinder oder der Hausarbeit, doch auch die Kleinigkeiten,
wie das Mädchen zur Schule zu fahren oder manchmal etwas
früher aus dem Büro zu kommen, empfand er als beachtliches
Opfer auf Kosten seiner Karriere. Beide wussten, dass
das Gehalt seiner Frau, die als Sozialarbeiterin angestellt war,
in keinem Verhältnis zu seinen Einnahmen stand. So etwas
erwähnte er ihr gegenüber nie, aber einmal hatte ein Freund,
ein Steuerberater und zugleich der Mann, der sich um seine
Finanzen kümmerte, ihm erklärt, dass sie über ein höheres
Familieneinkommen verfügen würden, wenn seine Frau aufhören
würde zu arbeiten.
Darüber dachte der Rechtsanwalt nach, während er seine
Tochter zur Schule fuhr. Er wusste nicht genau, was seine
Frau bei der Arbeit überhaupt tat, das heißt, er wusste, dass
sie einen Bachelor in Soziologie hatte. Als er sie das erste Mal
traf, arbeitete sie im Sozialamt im Wadi Joz in Ostjerusalem
und bereitete sich auf den Master vor. Er wusste auch, dass sie
einen weiteren Abschluss gemacht hatte, der irgendwas mit
Therapie zu tun hatte. Seinem Gefühl nach hatte er sie immer
zum Studium ermuntert, und doch wusste er weder genau,
was sie halbtags im Sozialamt im Süden der Stadt tat, noch,
wen sie in jener psychologischen Praxis behandelte, wo sie
ihre zweite Stelle hatte.
Er fuhr langsam durch die engen Straßen des Dorfs und
setzte seine Sonnenbrille auf. Manchmal entstanden an der
Kreuzung in der Dorfmitte Staus, dort versammelten sich
jeden Morgen Hunderte von Arbeitern, die darauf warteten,
von Auftraggebern abgeholt zu werden. Die jungen, kräftigen
Männer waren bereits in den frühen Morgenstunden abgeholt
worden, um halb acht waren nur die älteren, sichtlich
schwachen Arbeiter übrig. Bauunternehmer, die zu spät aufgestanden
waren, würden sich mit ihnen begnügen müssen.
Der Anblick der Arbeiter irritierte ihn jeden Morgen aufs
Neue. Was dachten die Einheimischen über ihn? Was hielten
sie von Arabern mit israelischer Staatsangehörigkeit wie ihm?
Von ihnen, von ihren teuren Autos, ihrem offenbar so aufwendigen
Lebensstil. Von ihnen, die wie er nicht in dieser
Stadt geboren, sondern erst wegen der Universität gekommen
und dann aus finanziellen Gründen geblieben waren. Die Angehörigen
freier Berufe unter den arabischen Israelis zogen es
vor, in Jerusalem zu bleiben und nicht in ihre Dörfer in Galiläa
oder im Meschulasch zurückzukehren. Im Allgemeinen waren
sie Rechtsanwälte, so wie er, Steuerberater oder Ärzte, viele
lehrten an der Universität. Nur sie konnten es sich erlauben,
in der Stadt zu bleiben, wo die Lebenshaltungskosten auch in
den arabischen Vierteln um ein Vielfaches höher waren als in
jeder Siedlung in Galiläa oder im Meschulasch.
Rechtsanwälte, Wirtschaftsprüfer, Buchhalter und Ärzte
dienten als Vermittler zwischen der ortsansässigen Bevölkerung
und den israelischen Behörden, ein paar Tausend lebten
in Jerusalem, unterschieden sich aber deutlich von den Einheimischen,
obwohl sie unter ihnen lebten. Man würde sie immer
als Fremde betrachten, etwas verdächtig, aber ungemein
lebenswichtig. Wer sonst könnte die Einheimischen von Ostjerusalem
und den umliegenden Dörfern vor Gericht vertreten,
bei der Steuerbehörde, bei den Versicherungsgesellschaften
und in den hebräischsprachigen Krankenhäusern?
Nicht dass es in Ostjerusalem an Ärzten gemangelt hätte, an
Richtern und Steuersachverständigen, aber die meisten israelischen
Behörden erkannten ihre Diplome nicht an. Eine akademische
Ausbildung an der Universität auf der Westbank
oder irgendwo in der arabischen Welt reichte nicht aus, man
brauchte offizielle Diplome, für die eine Reihe von Fortbildungen
und Prüfungen nötig waren, die in der Regel auf Hebräisch
abgehalten wurden. Einige Bewohner Jerusalems bemühten
sich zwar, den beschwerlichen Zulassungsprozess der Israelis
zu durchlaufen, aber der Rechtsanwalt wusste, dass die meisten
Menschen es vorzogen, von einem Anwalt mit israelischer
Staatsbürgerschaft vertreten zu werden. Sie glaubten, nahm
der Rechtsanwalt wenigstens an, so einer kenne die Juden und
ihre Art zu denken besser. Ohne Beziehungen, koschere oder
nichtkoschere, wäre er doch nicht so weit gekommen. In den
Augen der arabischen Einheimischen waren die Araber mit israelischer
Staatsangehörigkeit nichts anderes als halbe Juden.
Der Rechtsanwalt stellte sein großes Auto auf dem Parkplatz
der jüdisch-arabischen Schule ab, zu deren Gründung
Araber wie er, eigentlich seine Freunde, beigetragen hatten.
Sie wollten ihre Kinder nicht in eine der arabischen Schulen
Ostjerusalems schicken, öffentliche Anstalten, die für ihre pädagogischen
Verhältnisse berüchtigt waren. Die arabischen
Zuwanderer, zu denen sich der Rechtsanwalt zählte, wollten,
dass ihre Kinder nach dem gleichen Lehrplan unterrichtet
wurden, nach dem sie selbst gelernt hatten, das heißt nach
einem Lehrplan des israelischen Kultusministeriums, und
dass ihre Abiturzeugnisse an israelischen Universitäten und
im Ausland anerkannt würden. Das galt nicht für den Lehrplan
der Erziehungsbehörde von Ostjerusalem, der bis vor Kurzem
noch dem jordanischen entsprach.
Es war ihnen klar, dass es ihnen trotz ihres Einflusses nicht
gelingen würde, ohne gesellschaftlichen Anspruch eine neue
Schule für ihre Kinder zu gründen. Den Anspruch fanden sie
mit der Hilfe eines Professors für Pädagogik, der aus Galiläa
stammte und ein pädagogisches Konzept der Zweisprachigkeit
entwickelt hatte. Er gründete eine Einrichtung unter dem
Motto: »Juden und Araber lernen zusammen in Jerusalem«,
und das machte es leicht, an Gelder von europäischen und
amerikanischen Philanthropen, die etwas für den Frieden im
Nahen Osten tun wollten, zu kommen.
Die Direktion der Schule und der Elternbeirat waren bemüht,
neben den jüdischen Kindern nur die Kinder der Immigranten
im eigenen Land aufzunehmen. Sie argumentier-
ten, dass die gemeinsame Erziehung nur für jene Araber gelten
sollte, die israelische Staatsbürger waren, nicht aber für die
Bewohner Ostjerusalems, das zu einem untrennbaren Teil der
okkupierten Westbank zählte. Sie sagten, das sei gegen ihre
politische Überzeugung, denn Ostjerusalem müsse von der
israelischen Besatzung befreit und zur Hauptstadt Palästinas
werden. Eine Beteiligung der Kinder an ihrem pädagogischen
Konzept widerspreche ihrer politischen Auffassung, nach der
Israel sich aus der Westbank und Gaza zurückziehen müsse.
Gegenüber der Stadtverwaltung von Jerusalem konnten sie
jedoch diese Argumente nicht vorbringen, und schon gar nicht
beim Kultusministerium. Dort sah man Jerusalem als eine
vereinte Stadt, als ewige Hauptstadt der Juden. Solche Argumente
dennoch anzubringen, würde die Existenz der Schule
gefährden. Deshalb, und weil die Zugewanderten nicht genügend
Kinder hatten, um ausreichend arabische Kinder in die
gemischten Klassen zu schicken - dreißig Kinder pro Klasse,
die Hälfte Juden und die Hälfte Araber -, zwangen das Kultusministerium
und die Stadtverwaltung die Schule dazu, auch
einige einheimische Kinder anzunehmen.
Wie leicht man doch die Autos der Juden von denen der
Araber unterscheiden kann, dachte der Rechtsanwalt, als er
seine Tochter an der Hand vom Parkplatz zum Schultor führte.
Die Autos der Juden waren bescheidener, sparsamer und
stammten vorwiegend aus Japan oder Korea. Die Autos der
meisten Araber, oft deutsche Fabrikate, waren teurer, hatten
stärkere Motoren, waren besser ausgestattet, glänzten ein
bisschen mehr, und es gab unter ihnen eine beeindruckende
Zahl von Geländewagen. Nicht dass die Eltern der jüdischen
Schüler weniger verdienten als die Eltern der arabischen, der
Rechtsanwalt hätte schwören können, dass das Gegenteil zutraf.
Aber im Gegensatz zu den arabischen Eltern gab es unter
den Juden keine Konkurrenz, keiner hatte das Gefühl, er müsse
irgendjemandem den eigenen Erfolg demonstrieren, vor
allem nicht dadurch, dass er jedes Jahr ein größeres Auto fuhr.
Der Rechtsanwalt hätte gerne auf seinen Mercedes verzichtet
und sich mit einem sparsameren und billigeren Auto
zufriedengegeben, etwa mit einem schicken Mazda, aber das
konnte er sich nicht erlauben. Auch in der schwierigen Zeit
nach dem Kauf des Hauses hatte er gewusst, wenn er sein
Auto nicht gegen eines austauschte, das besser war als jenes,
das sein Konkurrent gekauft hatte, hätte das einen Abstieg
bedeutet. Er musste alles tun, um im Bewusstsein der Leute
als der arabische Jurist Nummer eins in der Stadt zu gelten.
Und ein schicker schwarzer Mercedes gehörte einfach dazu.
Würde sein Konkurrent einen neuen BMW mit einem 5-Liter-
Motor kaufen, wäre es seine Pflicht, einen Mercedes mit
einem 7-Liter-Motor zu kaufen. Würde sein Konkurrent eine
Einparkhilfeeinbauen,müssteerein DVD-GerätfürdieKopfstützen
der Vordersitze anschaffen. Dem Rechtsanwalt fiel es
nicht schwer, die monatlichen Raten für das Auto aufzubringen,
aber wenn er auf den Mercedes verzichtet hätte, wäre der
Druck geringer, und er hätte es sich leisten können, bei der
Übernahme von Fällen etwas wählerischer zu sein. Doch das
war ausgeschlossen.
KING GEORGE
Vor fünf Jahren war der Rechtsanwalt mit seinem Büro aus der
Zalach-ad-Din-Straße im Zentrum des Ostteils der Stadt in
die King-George-Straße umgezogen, ins Zentrum der Weststadt.
Doch abgesehen von einigen Ausnahmen waren seine
Mandanten Bewohner Ostjerusalems und der Westbank,
deshalb wäre es vernünftiger gewesen, das dortige Büro zu
behalten, doch er hatte das Gefühl, dass die Ostjerusalemer
einen Rechtsanwalt mit einem Büro in einem jüdischen Bezirk
höher achten würden. Trotz der Warnungen seiner Kollegen
hatte der Rechtsanwalt beschlossen, seinem Bauchgefühl zu
folgen, und bald festgestellt, dass es richtig gewesen war. Nach
einem Jahr hatte der Rechtsanwalt nicht nur die Zahl seiner
Mandanten verdoppelt, sondern auch die Höhe seiner Einnahmen.
Nicht lange nach seinem Umzug in den Westteil der Stadt
wurde offensichtlich, dass der Rechtsanwalt außer der Sekretärin
und wechselnden studentischen Praktikanten einen
fest angestellten Juristen benötigte, um die vielen Fälle zu
erledigen. Ein Jahr nach seinem Umzug in die King-George-
Straße bot er diese Stelle Tarek an, der bei ihm sein Praktikum
absolviert hatte. Der Rechtsanwalt mochte Tarek, der ihn an
sich selbst zu Beginn seiner Karriere erinnerte. Er wusste, dass
er sich auf ihn verlassen konnte. Er hatte Tarek davon überzeugt,
in Jerusalem zu bleiben und nicht in sein Heimatdorf
in Galiläa zurückzukehren, um dort eine Kanzlei zu eröffnen.
»Wozu willst du zurück? Nur damit dein Vater auf das
Schild an deiner Bürotür stolz sein kann?«, hatte er damals zu
Tarek gesagt. »Willst du dich in deinem Dorf mit kleinen Autodiebstählen
herumschlagen oder lieber hierbleiben und dich
richtigen Aufgaben stellen?« Um Tarek, der dreiundzwanzig
Jahre alt war, als er sein Praktikum beendet und sein Examen
an der juristischen Fakultät mit Auszeichnung bestanden hatte,
zu veranschaulichen, was richtige Aufgaben waren, schickte
er ihn an das höchste Gericht von Jerusalem, um einen Einspruch
einzureichen. Als Tarek mit einem Gefühl des Triumphs
und einer einstweiligen Verfügung zurückkam, stimmte
er dem Vorschlag des Rechtsanwalts zu und blieb gegen ein
monatliches Gehalt und einen zehnprozentigen Honoraranteil
an den Fällen, die er bearbeiten würde, in dessen Kanzlei.
Samach Manzur, die Sekretärin des Büros, hatte der Rechtsanwalt
vor acht Jahren gefunden, am ersten Tag seiner Zeit als
selbstständiger Rechtsanwalt in Ostjerusalem. Anfangs hatte
sie nur halbtags gearbeitet, nach einem Jahr dann als Vollzeitkraft.
Samach, dreißig Jahre alt, hatte ihr Jurastudium an
der Universität von Amman abgeschlossen und suchte damals
eine Rechtsanwaltskanzlei, in der sie Hebräisch und die israelischen
Methoden erlernen konnte, in der Hoffnung, eines
Tages die israelische Zulassungsgenehmigung als Rechtsanwältin
zu bekommen. Sie war gemeinsam mit ihrem Verlobten
im Büro des Rechtsanwalts erschienen. Der Rechtsanwalt
wusste, dass ihm die Tochter eines hochrangigen Funktionärs
der Fatah gegenübersaß, und beschloss, sie einzustellen, obwohl
sie kein Wort hebräisch sprach.
© Weltbild
Es ging auf halb sieben zu, und die Aufstehgeräusche seiner
Frau und seiner Kinder drangen zu seinem Bett. Genauer
gesagt, zum Bett seiner ältesten Tochter. Sie war sechs Jahre
alt und ging in die erste Klasse. Nach ihrer Geburt hatte der
Rechtsanwalt sich angewöhnt, in ihrem Zimmer zu schlafen.
Als sie ein Baby war, hatte er seinen Schlafplatz in das Zimmer
verlegt, das eigentlich ihres sein sollte, denn sie war nachts
sehr oft aufgewacht und seine Frau musste aufstehen, um sie
zu stillen, ihr die Windeln zu wechseln und sie zu beruhigen,
wenn sie weinte. Damals hatte er auf einer Matratze geschlafen,
denn die Kleine besaß nur einen Laufstall, den sie im
Schlafzimmer neben dem Ehebett aufgestellt hatten.
Seine Frau hatte nicht protestiert. Sie wusste, dass ihr
Mann ausreichend Schlaf benötigte, um vernünftig arbeiten
zu können. Im Gegensatz zu ihr, die damals ein ganzes Jahr
pausierte und sich ganz dem Haushalt und dem Kind widmen
konnte, lastete auf ihm die Herausforderung, sich als junger
Rechtsanwalt einen Platz unter den Juristen Jerusalems zu erobern.
Zwei Jahre lang hatte der Rechtsanwalt auf einer Matratze
geschlafen, die auf einem Teppich mit Pu-der-Bär-Motiven
lag, zwischen hellblau gestrichenen, mit weißen Wolken bemalten
Wänden und umgeben von Plüschtieren. Die Kleine
schlief weiterhin im Elternschlafzimmer, dicht neben ihrer
Mutter. Nachdem die Kleine angefangen hatte, nachts durchzuschlafen,
besuchte der Rechtsanwalt ein paarmal in der
Woche seine Frau und schlief sogar bis zum Morgen im Ehebett.
Manchmal war es auch seine Frau, die zu ihm auf die
Matratze kam, er zog jedoch die erste Variante vor, denn oft
spürte er, wie die vielen Spielsachen auf Schränken und Kommoden
- Teddybären, Plüschhunde, unschuldige Puppen in
Brautkleidern - ängstlich und erstaunt die seltsame Zeremo-
nie beobachteten, die er und seine Frau unter ihren Augen
vollführten.
Als die Kleine zwei Jahre alt wurde, beschloss das Ehepaar,
sie sei nun alt genug, und tauschten den Laufstall gegen
ein Kinderbett. Die Kleine war groß für ihr Alter, selbst heute
überragte sie ihre Mitschüler um einen Kopf. Doch auch
nachdem sie das neue Bett in Form eines kindlichen Autos in
Rosa bekommen hatte, passend zu dem hellblauen Himmel
und den Wolken, die die Wände schmückten, und obwohl der
Laufstall abgebaut und in einer Ecke der Abstellkammer verstaut
worden war, schlief der Rechtsanwalt weiterhin im Zimmer
seiner Tochter und sie schlief weiterhin neben ihrer Mutter
im Ehebett. Das Leben des Rechtsanwalts verbesserte sich,
denn das Kinderbett besaß eine Gesundheitsmatratze, die den
Rücken stützte. Es war um Längen bequemer als die dünne
Matratze, die ihm bis dahin zum Schlafen gedient hatte.
Vor etwa einem Jahr hatte das Paar ein zweites Kind bekommen.
Einige Wochen nach der Geburt des kleinen Jungen waren
sie aus der gemieteten Wohnung in ein geräumiges Haus
umgezogen, das sie sich hatten bauen lassen. Das Haus besaß
zwei Stockwerke: Im oberen lagen ein großes Wohnzimmer,
eine modern eingerichtete Küche und zwei Schlafzimmer, eines
besonders groß und mit angeschlossenem Badezimmer -
dieser Raum wurde von dem Ehepaar gern als »Elterneinheit«
bezeichnet -, das zweite war für das neue Baby bestimmt, die
Wände waren hellblau gestrichen und mit Figuren aus dem
Kinderfilm Shrek bemalt. Das Zimmer des Mädchens lag im
Erdgeschoss. Es war geräumig und cremefarben gestrichen,
mit passenden Möbeln, zu denen außer dem Bett auch ein
Schreibtisch, Regale und ein großer Schrank in Weiß und Purpur
gehörten. Im Erdgeschoss befanden sich außerdem eine
Toilette, ein Badezimmer, eine kleine Abstellkammer und
das Arbeitszimmer des Rechtsanwalts. Hier stand ein antiker
Schreibtisch aus Mahagoni, den der Rechtsanwalt von einem
Mandanten geschenkt bekommen hatte, und an den Wänden
reihten sich Regale mit seiner Bibliothek.
Der Umzug in die neue Wohnung änderte nichts an den
Schlafgewohnheiten der Familie. Das Baby war noch klein,
und seine Mutter zog es vor, seine Wiege neben dem Ehebett
stehen zu haben, und alle Versuche, die Tochter davon
zu überzeugen, sie müsse in ihrem neuen Zimmer und dem
neuen Bett schlafen, schlugen fehl. Die Kleine weigerte sich,
die Nacht in dem abgelegenen unteren Stockwerk zu verbringen
und beharrte auf ihrem Platz neben der Mutter. Der
Rechtsanwalt und seine Frau verstanden die Angst des Mädchens
und schlugen ihr vor, im Zimmer ihres kleinen Bruders
zu schlafen. Das Mädchen akzeptierte, doch sie wachte fast
jede Nacht erschrocken auf und lief zum Bett ihrer Eltern. So
fand sich der Rechtsanwalt erneut im Zimmer seiner Tochter
wieder. Doch war ihm dieser Umstand ganz recht, denn die
Tatsache, dass er auf diese Art - zumindest nachts - ein Zimmer
für sich allein hatte, empfand er als große Erleichterung.
Letztlich schlief er lieber allein.
Wie jeden Tag drangen die morgendlichen Geräusche an sein
Ohr. Die schrille Stimme seiner Frau, die die Tochter ins Badezimmer
trieb, sich das Gesicht zu waschen und die Zähne
zu putzen. Sodann ließen schnelle, nervöse Schritte seiner
Frau die Decke über seinem Kopf erzittern. Warum läuft sie
so?, dachte er. Er hatte das Gefühl, als donnere sie absichtlich
mit den Füßen so laut auf den Fußboden. Bum, bum, bum.
Wie ein Soldat der Roten Armee bei einer Parade. »Woher soll
ich wissen, wo deine Haargummis sind?«, hörte er sie rufen.
»Was fragst du mich? Vielleicht lernst du endlich, auf deine
Sachen aufzupassen? Du bist kein kleines Kind mehr. Schnell.
Los. Geh hinunter, zieh dich an und sieh zu, dass du alle Bücher
und Hefte in deinem Schulranzen hast. Was soll ich tun?
Es gibt keine Haargummis. Dann gehst du heute eben ohne.
Los. Ich will jetzt kein Wort mehr hören. Ich bin in Eile.«
Der Rechtsanwalt hörte die wütenden Schritte seiner Tochter
auf der Holztreppe, wie seine Frau sich im Badezimmer die
Nase putzte und wie sie nach dem Zähneputzen ausspuckte.
Wenn sie wüsste, wie sich diese Geräusche in meinen Ohren
anhören, dachte der Rechtsanwalt, würde sie sich vermutlich
nicht so aufführen. Vielleicht ging sie irrtümlich davon aus,
dass die Decke zwischen den beiden Stockwerken ihre Geräusche
dämpfte. Hätte sie gewusst, dass man selbst im Keller
alles hörte, hätte sie ihr Verhalten vielleicht geändert. Er hörte
sie genau in dem Moment den Klodeckel zuschlagen, als das
Mädchen die Zimmertür öffnete. Sie sah so wütend aus, wie
er vermutet hatte, und sie schaute ihren Vater an, als erwarte
sie Trost von ihm.
Der Rechtsanwalt lächelte seine Tochter an, schlug die
Decke zurück, richtete sich im Bett auf und bedeutete ihr,
näher zu kommen. Das Mädchen hatte nur auf dieses Zeichen
gewartet, sie wollte wissen, auf wessen Seite er heute Morgen
stehen würde. »Ich habe die Gummis nicht verschlampt«,
sagte sie zornig und setzte sich auf seinen Schoß. »Ich habe
sie gestern neben das Waschbecken gelegt, bevor ich ins Bett
gegangen bin.«
»Ich bin sicher, dass wir sie bald finden werden«, sagte der
Rechtsanwalt und streichelte über den Kopf des Mädchens.
»Du wirst schon sehen.«
»Ich werde sie nie wieder finden. Außerdem sind sie sowieso
alt, und ich brauche neue, und zwar viele, damit ich
welche habe, wenn eines verloren geht. Ja?«
»Ja«, sagte er, »und jetzt zieh dich an, weil wir nicht zu spät
kommen wollen. In Ordnung, meine Süße?«
»Ich habe auch nichts zum Anziehen«, sagte sie zornig, als
sie den Schrank aufgemacht und hineingeschaut hatte. Wieder
lächelte der Rechtsanwalt seine Tochter an. Er wäre gern hinaufgegangen,
ins Schlafzimmer, und hätte seiner Frau guten
Morgen gewünscht, oder im Gegenteil, vielleicht wollte er,
dass sie zu seinem Bett kommen und ihn mit einem »Guten
Morgen« wecken würde. Doch weder das eine noch das andere
geschah. Dem Rechtsanwalt fiel es schwer, Gefühle vorzutäuschen.
Er hatte schon oft von seinen männlichen Mandanten
und auch bei Talkshows im Fernsehen gehört, dass ein
Mann auf der Suche nach häuslichem Frieden seine Frau auch
manchmal belügen, ihr etwas vormachen und sie mit Schmeicheleien
überhäufen musste, doch so etwas hatte er nicht nötig.
Bei ihm zu Hause herrschte das, was viele Ehemänner unter
Frieden verstanden. Der Rechtsanwalt konnte sich jedenfalls
nicht darüber beklagen, dass seine Frau an ihm herummäkelte.
Im Gegenteil, sie hatte den Haushalt und die Kinder gut im
Griff, und nie warf sie ihm vor, dass er zu lange im Büro blieb
und dass er ihr nicht im Haushalt half. Daran dachte er, während
er in der Küche seinen Kaffee umrührte.
Er hätte für einen Moment das Schlafzimmer betreten oder
sie hätte in die Küche kommen können, um ihn zu sehen, er
hörte sie mit dem Baby sprechen, während sie es ankleidete.
Aber der Rechtsanwalt verzichtete auf ein Zusammentreffen
mit seiner Frau, wie sie auf ein Zusammentreffen mit ihm
verzichtete. Er ging, die Kaffeetasse in der Hand, die Treppe
hinunter, betrat sein Arbeitszimmer, schloss die Tür und
zündete sich eine Zigarette an. Sein Arbeitszimmer war, entsprechend
seiner eigenen Regel, der einzige Raum im Haus,
in dem geraucht werden durfte.
SCHULE
Der Rechtsanwalt kontrollierte, ob seine Älteste auf dem
Rücksitz seines schwarzen Mercedes angeschnallt war, und
seine Frau befestigte den Kindersitz für das Baby in ihrem
blauen Golf. Außer donnerstags war es seine Frau, die die
Kinder wegbrachte, das Mädchen zur Schule, das Baby zum
Haus der Tagesmutter, das nur zwei Minuten Fahrtzeit von
ihrem Haus entfernt lag. Doch donnerstags fürchtete sie, zu
spät zur Teamkonferenz ins Büro zu kommen, und so teilten
sie sich die Aufgabe.
Die Frau des Rechtsanwalts drückte auf den Knopf der kleinen
schwarzen Fernbedienung an ihrem Schlüsselanhänger,
und das elektrische Tor öffnete sich. Sie kam zum Auto ihres
Mannes und winkte der Tochter zum Abschied zu. »Bye«,
sagte sie auch zu ihrem Mann, stieg in ihr Auto und fuhr als
Erste vom Carport. Sie drehte sich noch einmal um, winkte
und lächelte ihrem Mann dankbar zu. Der Rechtsanwalt nickte
und stieg nun selbst ins Auto. Seinem Selbstbild nach war er
ein hilfsbereiter Ehemann, der seine Frau bei ihren Aufgaben
unterstützte. Außer dass er donnerstags die Tochter zur Schule
brachte, beteiligte er sich allerdings nicht an der Versorgung
der Kinder oder der Hausarbeit, doch auch die Kleinigkeiten,
wie das Mädchen zur Schule zu fahren oder manchmal etwas
früher aus dem Büro zu kommen, empfand er als beachtliches
Opfer auf Kosten seiner Karriere. Beide wussten, dass
das Gehalt seiner Frau, die als Sozialarbeiterin angestellt war,
in keinem Verhältnis zu seinen Einnahmen stand. So etwas
erwähnte er ihr gegenüber nie, aber einmal hatte ein Freund,
ein Steuerberater und zugleich der Mann, der sich um seine
Finanzen kümmerte, ihm erklärt, dass sie über ein höheres
Familieneinkommen verfügen würden, wenn seine Frau aufhören
würde zu arbeiten.
Darüber dachte der Rechtsanwalt nach, während er seine
Tochter zur Schule fuhr. Er wusste nicht genau, was seine
Frau bei der Arbeit überhaupt tat, das heißt, er wusste, dass
sie einen Bachelor in Soziologie hatte. Als er sie das erste Mal
traf, arbeitete sie im Sozialamt im Wadi Joz in Ostjerusalem
und bereitete sich auf den Master vor. Er wusste auch, dass sie
einen weiteren Abschluss gemacht hatte, der irgendwas mit
Therapie zu tun hatte. Seinem Gefühl nach hatte er sie immer
zum Studium ermuntert, und doch wusste er weder genau,
was sie halbtags im Sozialamt im Süden der Stadt tat, noch,
wen sie in jener psychologischen Praxis behandelte, wo sie
ihre zweite Stelle hatte.
Er fuhr langsam durch die engen Straßen des Dorfs und
setzte seine Sonnenbrille auf. Manchmal entstanden an der
Kreuzung in der Dorfmitte Staus, dort versammelten sich
jeden Morgen Hunderte von Arbeitern, die darauf warteten,
von Auftraggebern abgeholt zu werden. Die jungen, kräftigen
Männer waren bereits in den frühen Morgenstunden abgeholt
worden, um halb acht waren nur die älteren, sichtlich
schwachen Arbeiter übrig. Bauunternehmer, die zu spät aufgestanden
waren, würden sich mit ihnen begnügen müssen.
Der Anblick der Arbeiter irritierte ihn jeden Morgen aufs
Neue. Was dachten die Einheimischen über ihn? Was hielten
sie von Arabern mit israelischer Staatsangehörigkeit wie ihm?
Von ihnen, von ihren teuren Autos, ihrem offenbar so aufwendigen
Lebensstil. Von ihnen, die wie er nicht in dieser
Stadt geboren, sondern erst wegen der Universität gekommen
und dann aus finanziellen Gründen geblieben waren. Die Angehörigen
freier Berufe unter den arabischen Israelis zogen es
vor, in Jerusalem zu bleiben und nicht in ihre Dörfer in Galiläa
oder im Meschulasch zurückzukehren. Im Allgemeinen waren
sie Rechtsanwälte, so wie er, Steuerberater oder Ärzte, viele
lehrten an der Universität. Nur sie konnten es sich erlauben,
in der Stadt zu bleiben, wo die Lebenshaltungskosten auch in
den arabischen Vierteln um ein Vielfaches höher waren als in
jeder Siedlung in Galiläa oder im Meschulasch.
Rechtsanwälte, Wirtschaftsprüfer, Buchhalter und Ärzte
dienten als Vermittler zwischen der ortsansässigen Bevölkerung
und den israelischen Behörden, ein paar Tausend lebten
in Jerusalem, unterschieden sich aber deutlich von den Einheimischen,
obwohl sie unter ihnen lebten. Man würde sie immer
als Fremde betrachten, etwas verdächtig, aber ungemein
lebenswichtig. Wer sonst könnte die Einheimischen von Ostjerusalem
und den umliegenden Dörfern vor Gericht vertreten,
bei der Steuerbehörde, bei den Versicherungsgesellschaften
und in den hebräischsprachigen Krankenhäusern?
Nicht dass es in Ostjerusalem an Ärzten gemangelt hätte, an
Richtern und Steuersachverständigen, aber die meisten israelischen
Behörden erkannten ihre Diplome nicht an. Eine akademische
Ausbildung an der Universität auf der Westbank
oder irgendwo in der arabischen Welt reichte nicht aus, man
brauchte offizielle Diplome, für die eine Reihe von Fortbildungen
und Prüfungen nötig waren, die in der Regel auf Hebräisch
abgehalten wurden. Einige Bewohner Jerusalems bemühten
sich zwar, den beschwerlichen Zulassungsprozess der Israelis
zu durchlaufen, aber der Rechtsanwalt wusste, dass die meisten
Menschen es vorzogen, von einem Anwalt mit israelischer
Staatsbürgerschaft vertreten zu werden. Sie glaubten, nahm
der Rechtsanwalt wenigstens an, so einer kenne die Juden und
ihre Art zu denken besser. Ohne Beziehungen, koschere oder
nichtkoschere, wäre er doch nicht so weit gekommen. In den
Augen der arabischen Einheimischen waren die Araber mit israelischer
Staatsangehörigkeit nichts anderes als halbe Juden.
Der Rechtsanwalt stellte sein großes Auto auf dem Parkplatz
der jüdisch-arabischen Schule ab, zu deren Gründung
Araber wie er, eigentlich seine Freunde, beigetragen hatten.
Sie wollten ihre Kinder nicht in eine der arabischen Schulen
Ostjerusalems schicken, öffentliche Anstalten, die für ihre pädagogischen
Verhältnisse berüchtigt waren. Die arabischen
Zuwanderer, zu denen sich der Rechtsanwalt zählte, wollten,
dass ihre Kinder nach dem gleichen Lehrplan unterrichtet
wurden, nach dem sie selbst gelernt hatten, das heißt nach
einem Lehrplan des israelischen Kultusministeriums, und
dass ihre Abiturzeugnisse an israelischen Universitäten und
im Ausland anerkannt würden. Das galt nicht für den Lehrplan
der Erziehungsbehörde von Ostjerusalem, der bis vor Kurzem
noch dem jordanischen entsprach.
Es war ihnen klar, dass es ihnen trotz ihres Einflusses nicht
gelingen würde, ohne gesellschaftlichen Anspruch eine neue
Schule für ihre Kinder zu gründen. Den Anspruch fanden sie
mit der Hilfe eines Professors für Pädagogik, der aus Galiläa
stammte und ein pädagogisches Konzept der Zweisprachigkeit
entwickelt hatte. Er gründete eine Einrichtung unter dem
Motto: »Juden und Araber lernen zusammen in Jerusalem«,
und das machte es leicht, an Gelder von europäischen und
amerikanischen Philanthropen, die etwas für den Frieden im
Nahen Osten tun wollten, zu kommen.
Die Direktion der Schule und der Elternbeirat waren bemüht,
neben den jüdischen Kindern nur die Kinder der Immigranten
im eigenen Land aufzunehmen. Sie argumentier-
ten, dass die gemeinsame Erziehung nur für jene Araber gelten
sollte, die israelische Staatsbürger waren, nicht aber für die
Bewohner Ostjerusalems, das zu einem untrennbaren Teil der
okkupierten Westbank zählte. Sie sagten, das sei gegen ihre
politische Überzeugung, denn Ostjerusalem müsse von der
israelischen Besatzung befreit und zur Hauptstadt Palästinas
werden. Eine Beteiligung der Kinder an ihrem pädagogischen
Konzept widerspreche ihrer politischen Auffassung, nach der
Israel sich aus der Westbank und Gaza zurückziehen müsse.
Gegenüber der Stadtverwaltung von Jerusalem konnten sie
jedoch diese Argumente nicht vorbringen, und schon gar nicht
beim Kultusministerium. Dort sah man Jerusalem als eine
vereinte Stadt, als ewige Hauptstadt der Juden. Solche Argumente
dennoch anzubringen, würde die Existenz der Schule
gefährden. Deshalb, und weil die Zugewanderten nicht genügend
Kinder hatten, um ausreichend arabische Kinder in die
gemischten Klassen zu schicken - dreißig Kinder pro Klasse,
die Hälfte Juden und die Hälfte Araber -, zwangen das Kultusministerium
und die Stadtverwaltung die Schule dazu, auch
einige einheimische Kinder anzunehmen.
Wie leicht man doch die Autos der Juden von denen der
Araber unterscheiden kann, dachte der Rechtsanwalt, als er
seine Tochter an der Hand vom Parkplatz zum Schultor führte.
Die Autos der Juden waren bescheidener, sparsamer und
stammten vorwiegend aus Japan oder Korea. Die Autos der
meisten Araber, oft deutsche Fabrikate, waren teurer, hatten
stärkere Motoren, waren besser ausgestattet, glänzten ein
bisschen mehr, und es gab unter ihnen eine beeindruckende
Zahl von Geländewagen. Nicht dass die Eltern der jüdischen
Schüler weniger verdienten als die Eltern der arabischen, der
Rechtsanwalt hätte schwören können, dass das Gegenteil zutraf.
Aber im Gegensatz zu den arabischen Eltern gab es unter
den Juden keine Konkurrenz, keiner hatte das Gefühl, er müsse
irgendjemandem den eigenen Erfolg demonstrieren, vor
allem nicht dadurch, dass er jedes Jahr ein größeres Auto fuhr.
Der Rechtsanwalt hätte gerne auf seinen Mercedes verzichtet
und sich mit einem sparsameren und billigeren Auto
zufriedengegeben, etwa mit einem schicken Mazda, aber das
konnte er sich nicht erlauben. Auch in der schwierigen Zeit
nach dem Kauf des Hauses hatte er gewusst, wenn er sein
Auto nicht gegen eines austauschte, das besser war als jenes,
das sein Konkurrent gekauft hatte, hätte das einen Abstieg
bedeutet. Er musste alles tun, um im Bewusstsein der Leute
als der arabische Jurist Nummer eins in der Stadt zu gelten.
Und ein schicker schwarzer Mercedes gehörte einfach dazu.
Würde sein Konkurrent einen neuen BMW mit einem 5-Liter-
Motor kaufen, wäre es seine Pflicht, einen Mercedes mit
einem 7-Liter-Motor zu kaufen. Würde sein Konkurrent eine
Einparkhilfeeinbauen,müssteerein DVD-GerätfürdieKopfstützen
der Vordersitze anschaffen. Dem Rechtsanwalt fiel es
nicht schwer, die monatlichen Raten für das Auto aufzubringen,
aber wenn er auf den Mercedes verzichtet hätte, wäre der
Druck geringer, und er hätte es sich leisten können, bei der
Übernahme von Fällen etwas wählerischer zu sein. Doch das
war ausgeschlossen.
KING GEORGE
Vor fünf Jahren war der Rechtsanwalt mit seinem Büro aus der
Zalach-ad-Din-Straße im Zentrum des Ostteils der Stadt in
die King-George-Straße umgezogen, ins Zentrum der Weststadt.
Doch abgesehen von einigen Ausnahmen waren seine
Mandanten Bewohner Ostjerusalems und der Westbank,
deshalb wäre es vernünftiger gewesen, das dortige Büro zu
behalten, doch er hatte das Gefühl, dass die Ostjerusalemer
einen Rechtsanwalt mit einem Büro in einem jüdischen Bezirk
höher achten würden. Trotz der Warnungen seiner Kollegen
hatte der Rechtsanwalt beschlossen, seinem Bauchgefühl zu
folgen, und bald festgestellt, dass es richtig gewesen war. Nach
einem Jahr hatte der Rechtsanwalt nicht nur die Zahl seiner
Mandanten verdoppelt, sondern auch die Höhe seiner Einnahmen.
Nicht lange nach seinem Umzug in den Westteil der Stadt
wurde offensichtlich, dass der Rechtsanwalt außer der Sekretärin
und wechselnden studentischen Praktikanten einen
fest angestellten Juristen benötigte, um die vielen Fälle zu
erledigen. Ein Jahr nach seinem Umzug in die King-George-
Straße bot er diese Stelle Tarek an, der bei ihm sein Praktikum
absolviert hatte. Der Rechtsanwalt mochte Tarek, der ihn an
sich selbst zu Beginn seiner Karriere erinnerte. Er wusste, dass
er sich auf ihn verlassen konnte. Er hatte Tarek davon überzeugt,
in Jerusalem zu bleiben und nicht in sein Heimatdorf
in Galiläa zurückzukehren, um dort eine Kanzlei zu eröffnen.
»Wozu willst du zurück? Nur damit dein Vater auf das
Schild an deiner Bürotür stolz sein kann?«, hatte er damals zu
Tarek gesagt. »Willst du dich in deinem Dorf mit kleinen Autodiebstählen
herumschlagen oder lieber hierbleiben und dich
richtigen Aufgaben stellen?« Um Tarek, der dreiundzwanzig
Jahre alt war, als er sein Praktikum beendet und sein Examen
an der juristischen Fakultät mit Auszeichnung bestanden hatte,
zu veranschaulichen, was richtige Aufgaben waren, schickte
er ihn an das höchste Gericht von Jerusalem, um einen Einspruch
einzureichen. Als Tarek mit einem Gefühl des Triumphs
und einer einstweiligen Verfügung zurückkam, stimmte
er dem Vorschlag des Rechtsanwalts zu und blieb gegen ein
monatliches Gehalt und einen zehnprozentigen Honoraranteil
an den Fällen, die er bearbeiten würde, in dessen Kanzlei.
Samach Manzur, die Sekretärin des Büros, hatte der Rechtsanwalt
vor acht Jahren gefunden, am ersten Tag seiner Zeit als
selbstständiger Rechtsanwalt in Ostjerusalem. Anfangs hatte
sie nur halbtags gearbeitet, nach einem Jahr dann als Vollzeitkraft.
Samach, dreißig Jahre alt, hatte ihr Jurastudium an
der Universität von Amman abgeschlossen und suchte damals
eine Rechtsanwaltskanzlei, in der sie Hebräisch und die israelischen
Methoden erlernen konnte, in der Hoffnung, eines
Tages die israelische Zulassungsgenehmigung als Rechtsanwältin
zu bekommen. Sie war gemeinsam mit ihrem Verlobten
im Büro des Rechtsanwalts erschienen. Der Rechtsanwalt
wusste, dass ihm die Tochter eines hochrangigen Funktionärs
der Fatah gegenübersaß, und beschloss, sie einzustellen, obwohl
sie kein Wort hebräisch sprach.
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Autoren-Porträt von Sayed Kashua
Sayed Kashua wurde 1975 geboren und lebt im palästinensischen Teil des Dorfes Beit Safafa bei Jerusalem. Er ist Filmkritiker und Kolumnist der in Tel Aviv erscheinenden Wochenzeitung Ha'Ir. Sayed Kashua ist verheiratet und hat eine Tochter und einen Sohn. Zweite Person Singular ist sein dritter Roman. Seit 2006 schreibt er regelmäßig in der Wochenzeitung Haaretz. Er ist zudem Autor der erfolgreichen israelischen Sitcom Avoda Aravit (arabische Arbeit).
Bibliographische Angaben
- Autor: Sayed Kashua
- 2011, 2, 400 Seiten, Maße: 14,3 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Pressler, Mirjam
- Verlag: BERLIN VERLAG
- ISBN-10: 3827010136
- ISBN-13: 9783827010131
Rezension zu „Zweite Person Singular “
"Der Palästinenser Sayed Kashua gehört zu den besten Schriftstellern Israels"
Kommentar zu "Zweite Person Singular"
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