Zwischenspiel
Roman
Monika Marons mit großer Klugheit und viel Witz erzählter Roman kreist um existentielle Fragen. Als Ruth am Tag von Olgas Begräbnis erwacht, verschwimmen die Buchstaben vor ihren Augen, und eine Wolke zieht rückwärts. Etwas an ihrer Wahrnehmung hat sich...
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Produktinformationen zu „Zwischenspiel “
Monika Marons mit großer Klugheit und viel Witz erzählter Roman kreist um existentielle Fragen. Als Ruth am Tag von Olgas Begräbnis erwacht, verschwimmen die Buchstaben vor ihren Augen, und eine Wolke zieht rückwärts. Etwas an ihrer Wahrnehmung hat sich verändert. Ruth verfährt sich auf dem Weg zum Friedhof und gelangt in einen Park, in dem ihr Tote und Lebende erscheinen - ein Selbstgespräch in Szenen und Bildern, in dem Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen.
Mit großer Leichtigkeit fragt dieser so tiefgründige wie humorvolle und phantastische Roman nach den Konsequenzen von Entscheidungen. Gibt es ein Leben ohne Schuld? Wäre ein anderer Weg möglich gewesen?
Mit großer Leichtigkeit fragt dieser so tiefgründige wie humorvolle und phantastische Roman nach den Konsequenzen von Entscheidungen. Gibt es ein Leben ohne Schuld? Wäre ein anderer Weg möglich gewesen?
Klappentext zu „Zwischenspiel “
Manchmal gibt es die richtige Entscheidung einfach nicht. Man hat nur die Wahl zwischen zwei falschen.Monika Marons mit großer Klugheit und viel Witz erzählter Roman kreist um existentielle Fragen. Als Ruth am Tag von Olgas Begräbnis erwacht, verschwimmen die Buchstaben vor ihren Augen, und eine Wolke zieht rückwärts. Etwas an ihrer Wahrnehmung hat sich verändert. Ruth verfährt sich auf dem Weg zum Friedhof und gelangt in einen Park, in dem ihr Tote und Lebende erscheinen - ein Selbstgespräch in Szenen und Bildern, in dem Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen.
Mit großer Leichtigkeit fragt dieser so tiefgründige wie humorvolle und phantastische Roman nach den Konsequenzen von Entscheidungen. Gibt es ein Leben ohne Schuld? Wäre ein anderer Weg möglich gewesen?
Lese-Probe zu „Zwischenspiel “
Zwischenspiel von Monika Maron... mehr
Obwohl ich mich an den Traum nicht erinnern konnte, hinterließ er in mir ein bedrückendes Gefühl, das jeden Gedanken oder auch nur einen ziellosen Blick aus dem Fenster verdunkelte, ohne dass ich einen Zusammenhang herstellen konnte zwischen Traum und Wachsein. Jeder Versuch, mich dem Traumgeschehen zu nähern und ihm wenigstens einen Erinnerungsfetzen zu entreißen, verjagte es erst recht in hoffnungslose Ferne. Nur ein dumpfes Unbehagen blieb, das irgendein unaufklärbares nächtliches Geschehen in mir hinterlassen hatte.
Vielleicht war der Traum ja nur ein Vorgriff auf den Tag gewesen, den ich zwar im Kalender schwarz eingerahmt, dem Gedanken daran aber keine konkrete Gestalt gegönnt hatte. Nur die Blumen hatte ich rechtzeitig bestellt, weiße Rosen mit einer kleinen weißen Schleife: In Liebe, Ruth.
Der Regen der Nacht dampfte über dem Straßenpflaster, und ein gelblich grauer Himmel warf sein Licht wie einen Schleier über Häuser und Bäume.
Wetter.de versprach einen trockenen Tag und Temperaturen um die zwanzig Grad. Ich suchte nach passender Kleidung, entschied mich für einen leichten dunkelgrauen Anzug und flache Schuhe. Zu Beerdigungen ging ich nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ oder wenn ich glaubte, den Toten müsse meine Abwesenheit kränken. Auch wenn ich nicht an ein Leben nach dem Tod glaubte, stellte ich mir dann vor, der oder die Gestorbene wäre auf geheimnisvolle Weise anwesend, suchte Kinder, Enkelkinder und Freunde, fände mich nicht unter ihnen und müsste nachträglich an meiner Zuneigung zweifeln. Ich hatte lange überlegt, ob ich zu Olgas Beerdigung gehen sollte, und letztlich war es dieser kleine Rest von lächerlicher Unsicherheit, der meine Entscheidung bestimmt hatte.
In der letzten Zeit hatten wir nur noch miteinander telefoniert, Olga und ich. Am Dienstag nach Ostern hatte ich sie endlich besuchen wollen, aber dann rief Olga an und sagte, sie fühle sich nicht wohl und dass wir unser Treffen lieber verschieben sollten. Und nun war Olga tot.
Ich suchte bei Google Maps die Fahrtroute zum Friedhof am östlichen Stadtrand und las noch einmal den Text der Traueranzeige; Gott sei Dank haben sie nicht geschrieben »plötzlich und unerwartet . . . «, dachte ich. Niemand stirbt unerwartet, wenn er fast neunzig ist. Zwar auch nicht erwartet, immerhin hatten wir uns für den Dienstag nach Ostern verabredet, aber Olga fühlte sich nicht wohl. Und wenn man sich mit neunzig nicht wohlfühlt, kann das schon den Tod bedeuten. Das hätte ich bedenken sollen.
Beim Frühstück las ich die Zeitung von gestern. Ich las immer die Zeitung von gestern, weil ich für gewöhnlich frühstückte, bevor ich duschte und mich ankleidete, und nicht im Bademantel aus der vierten Etage zu den Briefkästen ins Erdgeschoss fahren wollte und wieder hinauf und weil ich die neuesten Nachrichten ohnehin nicht aus der Zeitung erfuhr, sondern aus dem Radio oder dem Fernsehen und weil es darum egal war, ob ich die Zeitung von gestern oder heute las. Früher hatte ich vom Aufstehen bis zum Verlassen des Hauses anderthalb Stunden gebraucht, inzwischen waren es zweieinhalb. Wenn ich wie üblich um neun Uhr in meinem Büro im Museum sein wollte, musste ich um sechs Uhr aufstehen. Olgas Beerdigung war um elf Uhr angesetzt. Ich war trotzdem wie jeden Morgen um sechs Uhr erwacht, noch ehe der Wecker klingelte, direkt aus meinem Traum. Der Traum. Für einen kurzen Augenblick war er plötzlich zum Greifen nah, nur ein Gefühl, kein Bild, und dann wieder nichts. Vielleicht hatte ich vom Tod geträumt, dachte ich, so ein dunkles Nichts kann nur der Tod sein.
Ich überflog die Überschriften auf der Seite für Vermischtes: Vorbeatmung gestoppt, las ich und überlegte, was Vorbeatmung sein könnte, las noch einmal: Verbeamtung gestoppt, gut. Und jemand hatte sein Baby aus dem Fenster geworfen, das war kein Lesefehler. Im Feuilleton fand ich einen ausführlichen Bericht über einen spektakulären Kunstfälscherprozess, gab die Lektüre aber schon nach dem ersten Absatz auf, weil mir die Schrift vor den Augen verschwamm, als würden die Buchstaben Schatten werfen. Ich putzte die Brille, setzte mich dichter ans Fenster, es half nichts, ein mir bis dahin unbekannter Defekt meiner Augen machte das Lesen so anstrengend, dass mir davon schwindlig wurde. Vielleicht der Kreislauf, dachte ich, riss die Seite raus und hob sie auf für später. Ich war nervös. Außer Olga hatte ich seit fast zwanzig Jahren niemanden von der Familie mehr gesehen, auch Bernhard nicht, vor allem Bernhard nicht.
Als Fanny mir vor fünf oder sechs Jahren zum ersten Mal von ihrem Besuch bei Bernhard erzählte, hatte ich ohne nachzudenken gefragt: Was wolltest du denn da? Fanny zog die Augenbrauen hoch, reckte kampfbereit ihren schmalen Hals und sagte: Er ist mein Vater. Danach hatte ich meine Tochter nicht mehr nach Bernhard gefragt. Ich nahm es hin, dass für Fanny der Vater wichtiger war als sein Verrat. Es ging mich nichts an. Natürlich ging es mich etwas an, denn ich allein hatte Bernhard zu Fannys Vater werden lassen. Aber das war in einem anderen Leben passiert, an das ich mich kaum erinnern konnte. Nur Olga und Fanny hatte ich aus diesem Leben mitgenommen. Bernhards Mutter und Bernhards Tochter, aber Bernhard selbst hatte ich vergessen. Ich wusste, dass ich drei Jahre mit ihm gelebt hatte, an unsere Wohnung erinnerte ich mich genau, zwei große sonnige Zimmer in einem heruntergekommenen Haus in der Wörther Straße, ich wusste, wie Bernhard aussah, damals, und dass er Gitarre spielte; viel mehr nicht. Er lag in meinem Gedächtnis irgendwo archiviert, vergraben unter Späterem, das auch vergraben war unter noch Späterem, eine Erinnerungsleiche, farblos, geruchlos, kalt. Dass er der Vater meines einzigen Kindes war, sah ich als eine emotionsfreie Tatsache an, der ich nur für den Fall einer eines Tages vielleicht notwendigen Knochenmark- oder Organspende für meine Tochter Bedeutung zumaß. Ich hatte von Bernhard niemals Geld oder Verantwortung für Fanny verlangt, nachdem ich ihn verlassen hatte. Wenn ich mit dem Kind ohne seinen Vater leben wollte, musste ich auch allein dafür sorgen. So jedenfalls erklärte ich mir und anderen damals meinen Verzicht.
Seit einer Woche, seit ich wusste, dass ich Bernhard an Olgas Grab treffen würde, rumorte es in den Verliesen meiner verbannten Erinnerungen. Ungebeten tauchten Bilder auf, Andy mit einem Verband um den kleinen Kopf, mit dem er vom Fahrrad gegen die Kühlerhaube eines Lastwagens gestürzt war und sich dabei den Schädel aufgeschlagen hatte. Frontalhirnsyndrom, eine Schädigung des vorderen Stirnhirns. Mit blindem Blick lag er in seinem Bett, eine Nadel in dem weichen Handrücken, durch die eine Nährlösung in den kleinen Körper floss.
Andy war Bernhards Sohn, den er kurz nach dem Abitur mit einer drei Jahre älteren Kellnerin, die außerdem Gedichte schrieb, gezeugt hatte. Das Kind lebte bei seiner Mutter, an den Wochenenden brachte sie es oft zu Bernhard, der noch bei seinen Eltern wohnte. Für Olga war Andy wie ein dritter, nicht mehr erwarteter Sohn. Madeleine, so hieß die Mutter, ließ ihn immer öfter auch während der Woche bei Olga, bis sie ihn eines Tages überhaupt nicht abholte und tagelang nicht erreichbar war. Nach einer Woche rief sie an, sie sei in Westberlin, mehr könne sie nicht sagen, es tue ihr alles furchtbar leid, aber Andy sei bei Olga und Bernhard bestimmt besser aufgehoben. Andy blieb bei Olga, auch als Bernhard eine eigene Wohnung bekam. Später, als Bernhard und ich zusammenzogen, wollte Andy bei seinen Großeltern bleiben. Damals lebte Hermann noch.
Nach Andys Unfall zog Olga zu ihm ins Krankenhaus, fütterte ihn, wusch ihn, las ihm Geschichten vor. Als er aus dem Koma erwachte, brachte sie ihm wieder das Laufen und Sprechen bei, sie massierte seine verkrampften Hände, ließ sich von der Physiotherapeutin einweisen, turnte mit ihm. Vier Monate lang half sie ihrem Enkelsohn zurück ins Leben. Als sie mit ihm wieder nach Hause kam, war sie mager und entkräftet.
Fanny war noch nicht einmal ein halbes Jahr alt, als Bernhard erklärte, Andy werde künftig bei uns leben, er werde nie wieder sein wie vor dem Unfall, seine Mutter schaffe das nicht mehr. Auf dem Wohnungsamt, wo wir eine größere Wohnung beantragten, sagte man uns, dass unverheiratete Paare keinen Anspruch auf eine gemeinsame Wohnung hätten. Beim Standesamt bekamen wir einen Termin in vier Wochen. Zwei Wochen vor der Hochzeit nahm jemand mich mit zu einer Haschischparty. Ein Typ aus Westberlin hatte Stoff für zehn Personen über die Grenze geschmuggelt und gab einen Einführungskurs in die Kunst des Haschischrauchens. Er zeigte uns, wie man die Zigarette richtig halten musste, und hatte die passende Musik mitgebracht, ich wusste nicht mehr, welche. Wir lagen nebeneinander auf Kissen und Decken und überließen uns erwartungsvoll dem Rausch. Allmählich versanken das Zimmer, die Menschen, nur die Musik schloss einen Raum um uns, und ich sah in der Ferne eine Lawine von gewaltiger Größe, ein weißes, von Schneestaub umnebeltes Monster, das lautlos auf mich zuraste, bis es mächtig und gefräßig über mir hing und mich im nächsten Augenblick verschlingen würde. Noch ehe das Licht wieder eingeschaltet und das Experiment für beendet erklärt wurde, wusste ich, dass ich gerade gesehen hatte, was ich seit Wochen fühlte und nicht einmal mir selbst einzugestehen wagte: etwas raste auf mich zu, das mich unter sich begraben würde, das ich fürchtete, wovor ich davonlaufen musste, so schnell ich konnte.
Bernhard war auf einer Dienstreise in Sachsen oder Thüringen. Ich rief am nächsten Morgen beim Standesamt an und sagte die Hochzeit ab. Aufgeschoben oder aufgehoben, fragte die Frau. Aufgehoben, sagte ich.
Als ich mit Fanny auszog, war die Narbe über Andys Stirn schon wieder von Haaren verdeckt. Aber in meiner Erinnerung hockte er schweigend im Krankenbett, um den zerbrochenen Schädel den dicken Verband, der nur Augen, Nase und Mund freiließ, ein sechsjähriger Junge, vor dem ich geflohen war.
An Olgas Grab würde ich wahrscheinlich auch Andy treffen, er war jetzt einundvierzig, sechs Jahre älter als Fanny. Zum letzten Mal hatte ich ihn bei Olgas fünfundsechzigstem Geburtstag gesehen. Er saß die ganze Zeit neben Olga mit seitlich hängendem Kopf, als könnte der die Mitte nicht finden, sprach wenig, nur wenn er noch ein Stück Kuchen verlangte, meldete er sich energisch und schien sich sonst für das Geschehen ringsum kaum zu interessieren. Aber immer, wenn ich an ihn denken musste, was selten vorkam, saß er stumm und mit weißem Mull umwickeltem Kopf in meinem Erinnerungskeller.
Damals war ich mir monströs vorgekommen, herzlos, gemein, niederträchtig. Den Mann mit seinem kranken Kind verlassen; einfach abhauen mit dem gemeinsamen Kind; das Schicksal hochmütig verweigern, das war nicht erlaubt. Ich konnte mich nicht erinnern, wie ich Bernhard die abgesagte Hochzeit erklärt hatte, wie ich ihm überhaupt mitgeteilt hatte, dass ich nicht zuständig sein konnte für seinen Sohn, der mehr Pflege brauchte als Fanny, ich aber Fannys Mutter war, nur Fannys Mutter, und dass ich ihn, Bernhard, nicht genug liebte, um auch die Mutter seines Sohnes zu sein. Irgendwie muss ich es ihm gesagt
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Obwohl ich mich an den Traum nicht erinnern konnte, hinterließ er in mir ein bedrückendes Gefühl, das jeden Gedanken oder auch nur einen ziellosen Blick aus dem Fenster verdunkelte, ohne dass ich einen Zusammenhang herstellen konnte zwischen Traum und Wachsein. Jeder Versuch, mich dem Traumgeschehen zu nähern und ihm wenigstens einen Erinnerungsfetzen zu entreißen, verjagte es erst recht in hoffnungslose Ferne. Nur ein dumpfes Unbehagen blieb, das irgendein unaufklärbares nächtliches Geschehen in mir hinterlassen hatte.
Vielleicht war der Traum ja nur ein Vorgriff auf den Tag gewesen, den ich zwar im Kalender schwarz eingerahmt, dem Gedanken daran aber keine konkrete Gestalt gegönnt hatte. Nur die Blumen hatte ich rechtzeitig bestellt, weiße Rosen mit einer kleinen weißen Schleife: In Liebe, Ruth.
Der Regen der Nacht dampfte über dem Straßenpflaster, und ein gelblich grauer Himmel warf sein Licht wie einen Schleier über Häuser und Bäume.
Wetter.de versprach einen trockenen Tag und Temperaturen um die zwanzig Grad. Ich suchte nach passender Kleidung, entschied mich für einen leichten dunkelgrauen Anzug und flache Schuhe. Zu Beerdigungen ging ich nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ oder wenn ich glaubte, den Toten müsse meine Abwesenheit kränken. Auch wenn ich nicht an ein Leben nach dem Tod glaubte, stellte ich mir dann vor, der oder die Gestorbene wäre auf geheimnisvolle Weise anwesend, suchte Kinder, Enkelkinder und Freunde, fände mich nicht unter ihnen und müsste nachträglich an meiner Zuneigung zweifeln. Ich hatte lange überlegt, ob ich zu Olgas Beerdigung gehen sollte, und letztlich war es dieser kleine Rest von lächerlicher Unsicherheit, der meine Entscheidung bestimmt hatte.
In der letzten Zeit hatten wir nur noch miteinander telefoniert, Olga und ich. Am Dienstag nach Ostern hatte ich sie endlich besuchen wollen, aber dann rief Olga an und sagte, sie fühle sich nicht wohl und dass wir unser Treffen lieber verschieben sollten. Und nun war Olga tot.
Ich suchte bei Google Maps die Fahrtroute zum Friedhof am östlichen Stadtrand und las noch einmal den Text der Traueranzeige; Gott sei Dank haben sie nicht geschrieben »plötzlich und unerwartet . . . «, dachte ich. Niemand stirbt unerwartet, wenn er fast neunzig ist. Zwar auch nicht erwartet, immerhin hatten wir uns für den Dienstag nach Ostern verabredet, aber Olga fühlte sich nicht wohl. Und wenn man sich mit neunzig nicht wohlfühlt, kann das schon den Tod bedeuten. Das hätte ich bedenken sollen.
Beim Frühstück las ich die Zeitung von gestern. Ich las immer die Zeitung von gestern, weil ich für gewöhnlich frühstückte, bevor ich duschte und mich ankleidete, und nicht im Bademantel aus der vierten Etage zu den Briefkästen ins Erdgeschoss fahren wollte und wieder hinauf und weil ich die neuesten Nachrichten ohnehin nicht aus der Zeitung erfuhr, sondern aus dem Radio oder dem Fernsehen und weil es darum egal war, ob ich die Zeitung von gestern oder heute las. Früher hatte ich vom Aufstehen bis zum Verlassen des Hauses anderthalb Stunden gebraucht, inzwischen waren es zweieinhalb. Wenn ich wie üblich um neun Uhr in meinem Büro im Museum sein wollte, musste ich um sechs Uhr aufstehen. Olgas Beerdigung war um elf Uhr angesetzt. Ich war trotzdem wie jeden Morgen um sechs Uhr erwacht, noch ehe der Wecker klingelte, direkt aus meinem Traum. Der Traum. Für einen kurzen Augenblick war er plötzlich zum Greifen nah, nur ein Gefühl, kein Bild, und dann wieder nichts. Vielleicht hatte ich vom Tod geträumt, dachte ich, so ein dunkles Nichts kann nur der Tod sein.
Ich überflog die Überschriften auf der Seite für Vermischtes: Vorbeatmung gestoppt, las ich und überlegte, was Vorbeatmung sein könnte, las noch einmal: Verbeamtung gestoppt, gut. Und jemand hatte sein Baby aus dem Fenster geworfen, das war kein Lesefehler. Im Feuilleton fand ich einen ausführlichen Bericht über einen spektakulären Kunstfälscherprozess, gab die Lektüre aber schon nach dem ersten Absatz auf, weil mir die Schrift vor den Augen verschwamm, als würden die Buchstaben Schatten werfen. Ich putzte die Brille, setzte mich dichter ans Fenster, es half nichts, ein mir bis dahin unbekannter Defekt meiner Augen machte das Lesen so anstrengend, dass mir davon schwindlig wurde. Vielleicht der Kreislauf, dachte ich, riss die Seite raus und hob sie auf für später. Ich war nervös. Außer Olga hatte ich seit fast zwanzig Jahren niemanden von der Familie mehr gesehen, auch Bernhard nicht, vor allem Bernhard nicht.
Als Fanny mir vor fünf oder sechs Jahren zum ersten Mal von ihrem Besuch bei Bernhard erzählte, hatte ich ohne nachzudenken gefragt: Was wolltest du denn da? Fanny zog die Augenbrauen hoch, reckte kampfbereit ihren schmalen Hals und sagte: Er ist mein Vater. Danach hatte ich meine Tochter nicht mehr nach Bernhard gefragt. Ich nahm es hin, dass für Fanny der Vater wichtiger war als sein Verrat. Es ging mich nichts an. Natürlich ging es mich etwas an, denn ich allein hatte Bernhard zu Fannys Vater werden lassen. Aber das war in einem anderen Leben passiert, an das ich mich kaum erinnern konnte. Nur Olga und Fanny hatte ich aus diesem Leben mitgenommen. Bernhards Mutter und Bernhards Tochter, aber Bernhard selbst hatte ich vergessen. Ich wusste, dass ich drei Jahre mit ihm gelebt hatte, an unsere Wohnung erinnerte ich mich genau, zwei große sonnige Zimmer in einem heruntergekommenen Haus in der Wörther Straße, ich wusste, wie Bernhard aussah, damals, und dass er Gitarre spielte; viel mehr nicht. Er lag in meinem Gedächtnis irgendwo archiviert, vergraben unter Späterem, das auch vergraben war unter noch Späterem, eine Erinnerungsleiche, farblos, geruchlos, kalt. Dass er der Vater meines einzigen Kindes war, sah ich als eine emotionsfreie Tatsache an, der ich nur für den Fall einer eines Tages vielleicht notwendigen Knochenmark- oder Organspende für meine Tochter Bedeutung zumaß. Ich hatte von Bernhard niemals Geld oder Verantwortung für Fanny verlangt, nachdem ich ihn verlassen hatte. Wenn ich mit dem Kind ohne seinen Vater leben wollte, musste ich auch allein dafür sorgen. So jedenfalls erklärte ich mir und anderen damals meinen Verzicht.
Seit einer Woche, seit ich wusste, dass ich Bernhard an Olgas Grab treffen würde, rumorte es in den Verliesen meiner verbannten Erinnerungen. Ungebeten tauchten Bilder auf, Andy mit einem Verband um den kleinen Kopf, mit dem er vom Fahrrad gegen die Kühlerhaube eines Lastwagens gestürzt war und sich dabei den Schädel aufgeschlagen hatte. Frontalhirnsyndrom, eine Schädigung des vorderen Stirnhirns. Mit blindem Blick lag er in seinem Bett, eine Nadel in dem weichen Handrücken, durch die eine Nährlösung in den kleinen Körper floss.
Andy war Bernhards Sohn, den er kurz nach dem Abitur mit einer drei Jahre älteren Kellnerin, die außerdem Gedichte schrieb, gezeugt hatte. Das Kind lebte bei seiner Mutter, an den Wochenenden brachte sie es oft zu Bernhard, der noch bei seinen Eltern wohnte. Für Olga war Andy wie ein dritter, nicht mehr erwarteter Sohn. Madeleine, so hieß die Mutter, ließ ihn immer öfter auch während der Woche bei Olga, bis sie ihn eines Tages überhaupt nicht abholte und tagelang nicht erreichbar war. Nach einer Woche rief sie an, sie sei in Westberlin, mehr könne sie nicht sagen, es tue ihr alles furchtbar leid, aber Andy sei bei Olga und Bernhard bestimmt besser aufgehoben. Andy blieb bei Olga, auch als Bernhard eine eigene Wohnung bekam. Später, als Bernhard und ich zusammenzogen, wollte Andy bei seinen Großeltern bleiben. Damals lebte Hermann noch.
Nach Andys Unfall zog Olga zu ihm ins Krankenhaus, fütterte ihn, wusch ihn, las ihm Geschichten vor. Als er aus dem Koma erwachte, brachte sie ihm wieder das Laufen und Sprechen bei, sie massierte seine verkrampften Hände, ließ sich von der Physiotherapeutin einweisen, turnte mit ihm. Vier Monate lang half sie ihrem Enkelsohn zurück ins Leben. Als sie mit ihm wieder nach Hause kam, war sie mager und entkräftet.
Fanny war noch nicht einmal ein halbes Jahr alt, als Bernhard erklärte, Andy werde künftig bei uns leben, er werde nie wieder sein wie vor dem Unfall, seine Mutter schaffe das nicht mehr. Auf dem Wohnungsamt, wo wir eine größere Wohnung beantragten, sagte man uns, dass unverheiratete Paare keinen Anspruch auf eine gemeinsame Wohnung hätten. Beim Standesamt bekamen wir einen Termin in vier Wochen. Zwei Wochen vor der Hochzeit nahm jemand mich mit zu einer Haschischparty. Ein Typ aus Westberlin hatte Stoff für zehn Personen über die Grenze geschmuggelt und gab einen Einführungskurs in die Kunst des Haschischrauchens. Er zeigte uns, wie man die Zigarette richtig halten musste, und hatte die passende Musik mitgebracht, ich wusste nicht mehr, welche. Wir lagen nebeneinander auf Kissen und Decken und überließen uns erwartungsvoll dem Rausch. Allmählich versanken das Zimmer, die Menschen, nur die Musik schloss einen Raum um uns, und ich sah in der Ferne eine Lawine von gewaltiger Größe, ein weißes, von Schneestaub umnebeltes Monster, das lautlos auf mich zuraste, bis es mächtig und gefräßig über mir hing und mich im nächsten Augenblick verschlingen würde. Noch ehe das Licht wieder eingeschaltet und das Experiment für beendet erklärt wurde, wusste ich, dass ich gerade gesehen hatte, was ich seit Wochen fühlte und nicht einmal mir selbst einzugestehen wagte: etwas raste auf mich zu, das mich unter sich begraben würde, das ich fürchtete, wovor ich davonlaufen musste, so schnell ich konnte.
Bernhard war auf einer Dienstreise in Sachsen oder Thüringen. Ich rief am nächsten Morgen beim Standesamt an und sagte die Hochzeit ab. Aufgeschoben oder aufgehoben, fragte die Frau. Aufgehoben, sagte ich.
Als ich mit Fanny auszog, war die Narbe über Andys Stirn schon wieder von Haaren verdeckt. Aber in meiner Erinnerung hockte er schweigend im Krankenbett, um den zerbrochenen Schädel den dicken Verband, der nur Augen, Nase und Mund freiließ, ein sechsjähriger Junge, vor dem ich geflohen war.
An Olgas Grab würde ich wahrscheinlich auch Andy treffen, er war jetzt einundvierzig, sechs Jahre älter als Fanny. Zum letzten Mal hatte ich ihn bei Olgas fünfundsechzigstem Geburtstag gesehen. Er saß die ganze Zeit neben Olga mit seitlich hängendem Kopf, als könnte der die Mitte nicht finden, sprach wenig, nur wenn er noch ein Stück Kuchen verlangte, meldete er sich energisch und schien sich sonst für das Geschehen ringsum kaum zu interessieren. Aber immer, wenn ich an ihn denken musste, was selten vorkam, saß er stumm und mit weißem Mull umwickeltem Kopf in meinem Erinnerungskeller.
Damals war ich mir monströs vorgekommen, herzlos, gemein, niederträchtig. Den Mann mit seinem kranken Kind verlassen; einfach abhauen mit dem gemeinsamen Kind; das Schicksal hochmütig verweigern, das war nicht erlaubt. Ich konnte mich nicht erinnern, wie ich Bernhard die abgesagte Hochzeit erklärt hatte, wie ich ihm überhaupt mitgeteilt hatte, dass ich nicht zuständig sein konnte für seinen Sohn, der mehr Pflege brauchte als Fanny, ich aber Fannys Mutter war, nur Fannys Mutter, und dass ich ihn, Bernhard, nicht genug liebte, um auch die Mutter seines Sohnes zu sein. Irgendwie muss ich es ihm gesagt
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Monika Maron
Maron, MonikaMonika Maron ist 1941 in Berlin geboren, wuchs in der DDR auf, übersiedelte 1988 in die Bundesrepublik und lebt seit 1993 wieder in Berlin. Sie veröffentlichte zahlreiche Romane, darunter »Flugasche«, »Animal triste«, »Endmoränen«, »Ach Glück« und »Zwischenspiel«, außerdem mehrere Essaybände, darunter »Krähengekrächz«, und die Reportage »Bitterfelder Bogen«. Zuletzt erschienen die Romane »Munin oder Chaos im Kopf« (2018) und »Artur Lanz« (2020). Sie wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Kleist-Preis, der Carl-Zuckmayer-Medaille, dem Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg, dem Deutschen Nationalpreis und dem Lessing-Preis des Freistaats Sachsen.
Literaturpreise:
unter vielen anderen:
Kleist-Preis 1992
Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg 2003
Ida-Dehmel-Literaturpreis 2017
Bibliographische Angaben
- Autor: Monika Maron
- 2013, 2. Aufl., 192 Seiten, Maße: 13,3 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: S. Fischer Verlag GmbH
- ISBN-10: 3100488210
- ISBN-13: 9783100488213
- Erscheinungsdatum: 23.10.2013
Rezension zu „Zwischenspiel “
hat alle Elemente des romantischen Taumels und des Fantastischen, befreit [Maron] aber zum Glück nicht von ihrer gewohnt erfrischenden Schärfe des Gedankens und der Formulierung. Iris Radisch Die Zeit 20131031
Kommentar zu "Zwischenspiel"
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