110 - Ein Bulle bleibt dran / Ullstein eBooks (ePub)
Neues aus der Notrufzentrale | True Crime mit Emotion und Tiefgang: Ein Polizist über Verbrechen und wahre Schicksale
Mehr als 3.000 Menschen wählen in Berlin täglich die 110. Sie rufen an, weil sie bedroht werden oder überfallen worden sind; weil sie verletzt wurden oder in Gefahr schweben; weil sie den letzten Funken Hoffnung ins Leben verloren haben oder ihren...
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Produktinformationen zu „110 - Ein Bulle bleibt dran / Ullstein eBooks (ePub)“
Mehr als 3.000 Menschen wählen in Berlin täglich die 110. Sie rufen an, weil sie bedroht werden oder überfallen worden sind; weil sie verletzt wurden oder in Gefahr schweben; weil sie den letzten Funken Hoffnung ins Leben verloren haben oder ihren Ehepartner vermissen, der seit Stunden hätte zuhause sein müssen... Cid Jonas Gutenrath hat über ein Jahrzehnt Notrufe bei der Einsatzzentrale der Berliner Polizei entgegengenommen. Die Gespräche, die er dabei geführt hat, verraten viel über Menschen in Ausnahmesituationen, über das Leben in der Großstadt - und sie vermitteln einen exklusiven Insiderblick in die tägliche Arbeit der Polizei. Nach seinem Erfolgsdebüt »110 - Ein Bulle hört zu« legt Gutenrath nun einen neuen Band vor, der vierzig Notruf-Geschichten versammelt. Es sind ergreifende, komische und unglaublich spannende Storys mit oftmals überraschenden Wendepunkten - atemberaubend erzählt, eine Achterbahn der Gefühle.
Lese-Probe zu „110 - Ein Bulle bleibt dran / Ullstein eBooks (ePub)“
110 - Ein Bulle bleibt dran von Cid Jonas GutenrathProlog: Der Tag, als der Regen kam ...
Lange habe ich darüber nachgedacht, ob ich Ihnen noch einmal unter die Augen trete. Darüber, ob ich es mir zutraue und, vor allem, Ihnen zumute. Warum? Weil ich mich ein bisschen schäme. Sie werden sich fragen, weshalb, und ich will zumindest den Versuch machen, mich zu erklären.
Unglaubliches ist geschehen, in vielerlei Beziehung, seit ich in einem Anflug von Naivität und Arroganz mein erstes Manuskript über die kleinen und großen Dramen der Polizeinotrufannahme dem Ullstein Verlag zugesandt habe. Wenige Tage nachdem ich den gebündelten Blätterwust mit einem handschriftlich versehenen Anschreiben in den Briefkasten geworfen hatte, bekam ich zu Hause einen Anruf, den ich wohl nie vergessen werde. Meine älteste Tochter ging zunächst ans Telefon und übergab mir Kaugummi kauend den Hörer mit den Worten: »Papa, da will dich irgendeine Frau sprechen ...« Abgespannt und in Erwartung einer Mutter, die sich über das schlechte Benehmen eines meiner Kinder auf dem Schulhof beschweren wollte, meldete ich mich schnodderig und unhöflich mit den Worten: »Käpt'n Chaos, jo ...«
Einen Satz ähnlicher Tragweite wie den, den ich kurz darauf von der »guten Fee« am anderen Ende der Leitung zu hören bekam, hatte ich bisher erst dreimal in meinem Leben vernommen. Nämlich als ich auf dem heißen Stuhl beim Feindiagnostiker am Kurfürstendamm zweimal eröffnet bekam: »Es wird ein Mädchen «, und einmal: »Es wird ein Junge!«
»Wir interessieren uns sehr für Ihr Manuskript«, sagte sie, was verbunden mit einigen anderen Liebenswürdigkeiten so viel heißen konnte wie: »Hurra, es wird ein Buch!«
... mehr
Wer nun denkt, dass ich in meinem Inneren sofort die Kasse klingeln hörte, kennt mich nicht und hat sicher auch mein erstes Buch nicht gelesen. Nein, Leute, in meinem Inneren war viel, viel mehr Bewegung! Genau wie bei meinen Kindern dachte und denke ich immer noch, zugegeben voller Stolz: »Geh hinaus in die Welt, reiß Mauern nieder, bau Brücken, begegne, erstaune und berühre Menschen, auf dass nicht alles umsonst gewesen sein möge!« Was, nehmt ihr mir nicht ab? Scheiße, könnt ihr. Und es hat sich jetzt schon tausendfach gelohnt. Ich lerne die Menschen um mich herum, ja sogar das Land, in dem ich lebe, völlig neu kennen. Wildfremde Leute stehen mir auf einmal näher als viele, von denen ich dachte, dass ich sie gut kenne. Ich teile seitdem die Menschen in zwei Kategorien ein: in die, die mich nach Auflagen und Umsatzzahlen fragen, und die, die versuchen, mir durch die Augen in meine Seele zu blicken. Und wisst ihr was? Von der zweiten Sorte gibt es viel, viel mehr! Wow!
In ganz Deutschland war ich inzwischen unterwegs, und da standen sie plötzlich alle vor mir: die alte Dame, die schweigend und lächelnd einfach nur meine Hand nahm, um sie minutenlang nicht wieder loszulassen; die behinderte junge Frau, die mich stolz einlud, sie in »ihrem« Café zu besuchen, in dem sie trotz Problemen mit der Sprache und ihren Augen, aber immer mit einem Lachen, als Bedienung arbeitet; verdammt, es waren selbst kleine Jungen da, die allein mit ihrem Papa gekommen waren, weil Mama nicht mehr mitkommen konnte. Und wenn ich morgen in den Straßen Berlins verrecken sollte: Verflucht, es hat sich gelohnt!
All diese Menschen, denen ich begegnet bin, und die unfassbar vielen Leserbriefe, die ich auf meine freche Offerte (Ich werde Euch antworten!) hin bekam, haben mich veranlasst, mich wieder mit meinem Bleistift hinzusetzen und noch einmal aufzuschreiben, was mich nicht loslässt.
Aber ich muss um Nachsicht bitten. Ich fürchte, ich krieg's so positiv nicht noch mal hin. Es ist zu viel passiert.
Geht schon damit los, dass ich am Ende meines ersten Buches das Versprechen gab, weiter zuzuhören, und letztlich wortbrüchig wurde. Daran hab ich zu knacken.
Wie alle Menschen will auch ich immer ein Happy End und hoffe, ja vertraue darauf, dass uns irgendwas oder irgendwer schon helfen wird, wenn wir selber nicht mehr weiterwissen, und ich wäre so gern Bestandteil dieses Märchens. Als ich klein war, lag ich oft weinend in Embryohaltung im Bett und hörte zu, wie mein Vater meine Mutter verprügelte. Außerstande, sie zu beschützen, nahm ich mir dann jedes Mal vor, Elvis um Hilfe zu bitten. Der war groß, der war stark, hatte viel Geld und sogar einen Schwarzgurt in Karate, wie ich gehört hatte. Bei den Liedern, die er sang - »In the Ghetto« fand ich schon als Bengel klasse - , musste er ein guter Mensch sein, dachte ich und stellte mir vor, dass ich ihn nur anzurufen brauchte, und dann würde er schon kommen und helfen ...
Gut, klappte nicht, doch rund dreißig Jahre später hatte ich selber einen Schwarzgurt, konnte zwar nicht singen, war aber bereit und oft sogar imstande zu helfen, wenn man mich anrief. Sollte nun irgendjemand glauben, dass ich mich selbst für eine Art Star oder Superhelden halte, so liegt er tragisch weit daneben. Das Gegenteil ist der Fall. Normalerweise erinnert man sich gern und gut an die schönen Begebenheiten in der Vergangenheit. Nicht bei mir. In meiner ganz aktuellen Welt ist das leider völlig anders. Selbst hundert gelungene Einsätze, Gespräche oder Aktionen wiegen nicht im mindesten auch nur ein einziges Mal auf, bei dem ich, warum auch immer, gnadenlos versagt habe. Scheißegal, ob ich nun wirklich schuld war oder nicht. Keine Angst, ich heul euch jetzt nichts vor, ich komm schon klar, das hab ich gelernt. Aber trotzdem, hey, es wird alles irgendwie immer abgedrehter. Auf beiden Seiten der Front.
Weshalb das so ist, entzieht sich meinem Verständnis und meinem Einfluss. Einzig reagieren kann, oder besser, muss ich darauf. Und das habe ich getan. Zum einen habe ich die Verantwortung und Pflicht, meinen drei Kindern zur Seite zu stehen, bis wir sie in die Erwachsenenwelt entlassen können, und zum anderen habe ich mir gesagt: »Wenn sie es dir nicht ermöglichen, gut Schach zu spielen, dann gehst du selber wieder mit aufs Feld.« So kommt es, dass ich heute mit meinen siebenundvierzig Lenzen erneut trainiere, mit der Ramme die Tür aufzuknacken, um den Frauenprügler oder was auch immer dahinter flachzumachen. Tatkräftig unterstützt von einem vierbeinigen Kollegen an meiner Seite, der in puncto Mut und Entschlossenheit weit über mir steht. Aber dazu später einmal mehr.
Genaugenommen kann ich nicht einmal sagen, ob es nun die gefühlte Zunahme an düsteren, negativen Gesprächen in der Notrufannahmezentrale war oder die Entscheidung meiner Firma, uns dort ein wirklich merkwürdiges Dienstzeitmodell aufzudrücken, was mich schließlich zum Stellungswechsel bewegte. Ein »Modell«, das subjektiv zur Folge hatte, dass jedes Engagement und sämtliche Prinzipien, für die ich jahrelang eingestanden hatte, mit Füßen getreten wurden, ganz abgesehen davon, dass meine Familie darunter litt. Wahrscheinlich war es von beidem ein wenig. Fakt ist, lieber Leser, ich bin wortbrüchig geworden, shame on me. Die Tatsache, dass so viele Menschen Interesse und Anteilnahme zeigten am vordergründig unspektakulären Schicksal eines kleinen Jungen oder einer alten Frau beispielsweise, hat mich zutiefst berührt und mir gezeigt, dass es den täglichen Spagat am Telefon wert war. Kurz bevor beim Spagat jedoch die Sehnen reißen, stellt sich ein heißes, schneidendes Gefühl ein. Wenn man dann nicht reagiert, ist man im schlimmsten Fall danach ein Krüppel, und das galt es zu vermeiden. Ganz konkret heißt das, dass ich, unter anderem aufgrund der geschilderten Personalpolitik, subjektiv der Menge an stummen Hilfeschreien auf meinem Monitor nicht mehr gerecht werden konnte und dieser Umstand für mich persönlich einer Katastrophe gleichkam. Dies in Verbindung mit einem gefühlten Anschwellen von Notrufgesprächen, die ich nicht zu drehen, positiv zu beenden oder auch nur zu begreifen vermochte, ließ mich an jenem kalten, regnerischen Morgen, als es hieß: »Nun stellen wir tatsächlich auf das neue System um«, die Entscheidung treffen: Nein!
Nun, Mut kann bedeuten, auch einmal nein zu sagen, hörte ich einst einen jungen, aber weisen Mann sagen, und dieses Nein kommt keineswegs immer einer Kapitulation gleich. So bitte ich euch, liebe Leute, auch nicht wirklich um Entschuldigung, sondern eigentlich nur um euer Verständnis dafür, dass zurzeit in Berlin nicht mehr zu hören ist, wenn man die 110 wählt: »Notruf der Polizei, Gutenrath, wie kann ich helfen?«
Viele tausend Mal habe ich diesen Satz gesagt und ihn immer ehrlich gemeint, um anschließend oft vor Konzentration die Augen zu schließen. So manche Träne ist mir auf die Computertastatur getropft, ob nun vor Lachen oder warum auch immer. Eine tiefe Verbundenheit fühle ich zu diesem Saal, in dem ich so viele Weichen gestellt und Schicksale beeinflusst habe, dass mir der Abschied schwerfiel, so herzlich er auch war.
Die Stimmen der Vergangenheit kreisen nun wie Geister im Nebel durch meinen Kopf, wenn ich nachts in der dunklen Küche sitze, weil ich nicht schlafen kann. Dann nehme ich mir meist ein Bier und fange an zu rechnen und aufzuwiegen - zwei Greise gegen ein Kind, ein Auge gegen eine Hand, eine verbrannte Familie gegen einen geretteten Säugling ... - und komme doch immer zum selben unbefriedigenden Ergebnis, bevor der Schlaf mich dann irgendwann gnädig übermannt. Mein Leben ist jetzt gefährlicher geworden und trotzdem irgendwie einfacher. Nicht zuletzt weil ich einen neuen Freund gefunden habe, der mir bedingungslos vertraut und jede einzelne Stunde des Tages, die der liebe Gott werden lässt, in meiner Nähe ist. Ein gutes, beruhigendes Gefühl. Letzte Woche sollten wir auf Anforderung des Landeskriminalamtes als Vorhut gemeinsam in eine Wohnung hinein, in der ein Bösewicht mit einer Pistole vermutet wurde. Selbst dabei fühlte ich mich sicherer und vor allem besser als zuletzt beim Betreten der Einsatzleitzentrale. Meine Frau trägt tapfer und liebevoll diese meine Entscheidung, ja hat sie sogar forciert. Ein weiterer Grund mehr, warum ich diese mutige Frau liebe und verehre. Apropos meine Frau: Sie hat mit mir geschimpft, als ich ihr erzählt habe, welchen Tenor mein zweites Buch haben wird. »Du kannst den Leuten diesen ganzen Scheiß nicht zumuten, außerdem will das niemand lesen und schon gar nicht kaufen«, hat sie gesagt, und: »Wenn man ein Buch zuklappt, will man sich gut fühlen und nicht beschissen!«
Recht wird sie haben, meine Wikingerin, wie immer. Und trotzdem, so ganz beipflichten mag ich ihr nicht. Ihr habt so viel Mitgefühl und positive Resonanz gezeigt nach der Veröffentlichung meines ersten Buches, das ja schließlich auch nicht immer nur lustig war, dass ich glaube, ja fast sicher bin, dass ihr mehr verdient habt und auch aushalten könnt als einen schöngefärbten Groschenroman. Weil ich aber selbstverständlich machen muss, was meine Frau sagt, und weil ich mir meiner Verantwortung bewusst bin, werde ich versuchen, Lichtblicke mit einzubauen und auch ein versöhnliches Ende zu finden. Wird nicht einfach. Aber wie sagte gestern meine große und schon unfassbar erwachsene Tochter, zwar in einem ganz anderen Zusammenhang, aber mit klarem, festem Blick zu mir: »Papa, was einfach ist, das ist nichts wert!«
So lade ich euch also ein zu einer finalen Reise durch die Notrufe meiner Erinnerung und hoffe, dass wir sie gemeinsam schadlos überstehen. Nehmt euch eine Decke oder etwas Warmes zu trinken und seht zu, dass ihr nicht ganz alleine seid. Legt euch die Katze auf den Schoß oder holt den Hund herein. Am besten wäre es, wenn ein lieber Mensch in eurer Nähe ist, mit dem ihr euch austauschen könnt. Denn das hilft ...
Bon voyage!
Copyright © Ullstein Verlag.
Wer nun denkt, dass ich in meinem Inneren sofort die Kasse klingeln hörte, kennt mich nicht und hat sicher auch mein erstes Buch nicht gelesen. Nein, Leute, in meinem Inneren war viel, viel mehr Bewegung! Genau wie bei meinen Kindern dachte und denke ich immer noch, zugegeben voller Stolz: »Geh hinaus in die Welt, reiß Mauern nieder, bau Brücken, begegne, erstaune und berühre Menschen, auf dass nicht alles umsonst gewesen sein möge!« Was, nehmt ihr mir nicht ab? Scheiße, könnt ihr. Und es hat sich jetzt schon tausendfach gelohnt. Ich lerne die Menschen um mich herum, ja sogar das Land, in dem ich lebe, völlig neu kennen. Wildfremde Leute stehen mir auf einmal näher als viele, von denen ich dachte, dass ich sie gut kenne. Ich teile seitdem die Menschen in zwei Kategorien ein: in die, die mich nach Auflagen und Umsatzzahlen fragen, und die, die versuchen, mir durch die Augen in meine Seele zu blicken. Und wisst ihr was? Von der zweiten Sorte gibt es viel, viel mehr! Wow!
In ganz Deutschland war ich inzwischen unterwegs, und da standen sie plötzlich alle vor mir: die alte Dame, die schweigend und lächelnd einfach nur meine Hand nahm, um sie minutenlang nicht wieder loszulassen; die behinderte junge Frau, die mich stolz einlud, sie in »ihrem« Café zu besuchen, in dem sie trotz Problemen mit der Sprache und ihren Augen, aber immer mit einem Lachen, als Bedienung arbeitet; verdammt, es waren selbst kleine Jungen da, die allein mit ihrem Papa gekommen waren, weil Mama nicht mehr mitkommen konnte. Und wenn ich morgen in den Straßen Berlins verrecken sollte: Verflucht, es hat sich gelohnt!
All diese Menschen, denen ich begegnet bin, und die unfassbar vielen Leserbriefe, die ich auf meine freche Offerte (Ich werde Euch antworten!) hin bekam, haben mich veranlasst, mich wieder mit meinem Bleistift hinzusetzen und noch einmal aufzuschreiben, was mich nicht loslässt.
Aber ich muss um Nachsicht bitten. Ich fürchte, ich krieg's so positiv nicht noch mal hin. Es ist zu viel passiert.
Geht schon damit los, dass ich am Ende meines ersten Buches das Versprechen gab, weiter zuzuhören, und letztlich wortbrüchig wurde. Daran hab ich zu knacken.
Wie alle Menschen will auch ich immer ein Happy End und hoffe, ja vertraue darauf, dass uns irgendwas oder irgendwer schon helfen wird, wenn wir selber nicht mehr weiterwissen, und ich wäre so gern Bestandteil dieses Märchens. Als ich klein war, lag ich oft weinend in Embryohaltung im Bett und hörte zu, wie mein Vater meine Mutter verprügelte. Außerstande, sie zu beschützen, nahm ich mir dann jedes Mal vor, Elvis um Hilfe zu bitten. Der war groß, der war stark, hatte viel Geld und sogar einen Schwarzgurt in Karate, wie ich gehört hatte. Bei den Liedern, die er sang - »In the Ghetto« fand ich schon als Bengel klasse - , musste er ein guter Mensch sein, dachte ich und stellte mir vor, dass ich ihn nur anzurufen brauchte, und dann würde er schon kommen und helfen ...
Gut, klappte nicht, doch rund dreißig Jahre später hatte ich selber einen Schwarzgurt, konnte zwar nicht singen, war aber bereit und oft sogar imstande zu helfen, wenn man mich anrief. Sollte nun irgendjemand glauben, dass ich mich selbst für eine Art Star oder Superhelden halte, so liegt er tragisch weit daneben. Das Gegenteil ist der Fall. Normalerweise erinnert man sich gern und gut an die schönen Begebenheiten in der Vergangenheit. Nicht bei mir. In meiner ganz aktuellen Welt ist das leider völlig anders. Selbst hundert gelungene Einsätze, Gespräche oder Aktionen wiegen nicht im mindesten auch nur ein einziges Mal auf, bei dem ich, warum auch immer, gnadenlos versagt habe. Scheißegal, ob ich nun wirklich schuld war oder nicht. Keine Angst, ich heul euch jetzt nichts vor, ich komm schon klar, das hab ich gelernt. Aber trotzdem, hey, es wird alles irgendwie immer abgedrehter. Auf beiden Seiten der Front.
Weshalb das so ist, entzieht sich meinem Verständnis und meinem Einfluss. Einzig reagieren kann, oder besser, muss ich darauf. Und das habe ich getan. Zum einen habe ich die Verantwortung und Pflicht, meinen drei Kindern zur Seite zu stehen, bis wir sie in die Erwachsenenwelt entlassen können, und zum anderen habe ich mir gesagt: »Wenn sie es dir nicht ermöglichen, gut Schach zu spielen, dann gehst du selber wieder mit aufs Feld.« So kommt es, dass ich heute mit meinen siebenundvierzig Lenzen erneut trainiere, mit der Ramme die Tür aufzuknacken, um den Frauenprügler oder was auch immer dahinter flachzumachen. Tatkräftig unterstützt von einem vierbeinigen Kollegen an meiner Seite, der in puncto Mut und Entschlossenheit weit über mir steht. Aber dazu später einmal mehr.
Genaugenommen kann ich nicht einmal sagen, ob es nun die gefühlte Zunahme an düsteren, negativen Gesprächen in der Notrufannahmezentrale war oder die Entscheidung meiner Firma, uns dort ein wirklich merkwürdiges Dienstzeitmodell aufzudrücken, was mich schließlich zum Stellungswechsel bewegte. Ein »Modell«, das subjektiv zur Folge hatte, dass jedes Engagement und sämtliche Prinzipien, für die ich jahrelang eingestanden hatte, mit Füßen getreten wurden, ganz abgesehen davon, dass meine Familie darunter litt. Wahrscheinlich war es von beidem ein wenig. Fakt ist, lieber Leser, ich bin wortbrüchig geworden, shame on me. Die Tatsache, dass so viele Menschen Interesse und Anteilnahme zeigten am vordergründig unspektakulären Schicksal eines kleinen Jungen oder einer alten Frau beispielsweise, hat mich zutiefst berührt und mir gezeigt, dass es den täglichen Spagat am Telefon wert war. Kurz bevor beim Spagat jedoch die Sehnen reißen, stellt sich ein heißes, schneidendes Gefühl ein. Wenn man dann nicht reagiert, ist man im schlimmsten Fall danach ein Krüppel, und das galt es zu vermeiden. Ganz konkret heißt das, dass ich, unter anderem aufgrund der geschilderten Personalpolitik, subjektiv der Menge an stummen Hilfeschreien auf meinem Monitor nicht mehr gerecht werden konnte und dieser Umstand für mich persönlich einer Katastrophe gleichkam. Dies in Verbindung mit einem gefühlten Anschwellen von Notrufgesprächen, die ich nicht zu drehen, positiv zu beenden oder auch nur zu begreifen vermochte, ließ mich an jenem kalten, regnerischen Morgen, als es hieß: »Nun stellen wir tatsächlich auf das neue System um«, die Entscheidung treffen: Nein!
Nun, Mut kann bedeuten, auch einmal nein zu sagen, hörte ich einst einen jungen, aber weisen Mann sagen, und dieses Nein kommt keineswegs immer einer Kapitulation gleich. So bitte ich euch, liebe Leute, auch nicht wirklich um Entschuldigung, sondern eigentlich nur um euer Verständnis dafür, dass zurzeit in Berlin nicht mehr zu hören ist, wenn man die 110 wählt: »Notruf der Polizei, Gutenrath, wie kann ich helfen?«
Viele tausend Mal habe ich diesen Satz gesagt und ihn immer ehrlich gemeint, um anschließend oft vor Konzentration die Augen zu schließen. So manche Träne ist mir auf die Computertastatur getropft, ob nun vor Lachen oder warum auch immer. Eine tiefe Verbundenheit fühle ich zu diesem Saal, in dem ich so viele Weichen gestellt und Schicksale beeinflusst habe, dass mir der Abschied schwerfiel, so herzlich er auch war.
Die Stimmen der Vergangenheit kreisen nun wie Geister im Nebel durch meinen Kopf, wenn ich nachts in der dunklen Küche sitze, weil ich nicht schlafen kann. Dann nehme ich mir meist ein Bier und fange an zu rechnen und aufzuwiegen - zwei Greise gegen ein Kind, ein Auge gegen eine Hand, eine verbrannte Familie gegen einen geretteten Säugling ... - und komme doch immer zum selben unbefriedigenden Ergebnis, bevor der Schlaf mich dann irgendwann gnädig übermannt. Mein Leben ist jetzt gefährlicher geworden und trotzdem irgendwie einfacher. Nicht zuletzt weil ich einen neuen Freund gefunden habe, der mir bedingungslos vertraut und jede einzelne Stunde des Tages, die der liebe Gott werden lässt, in meiner Nähe ist. Ein gutes, beruhigendes Gefühl. Letzte Woche sollten wir auf Anforderung des Landeskriminalamtes als Vorhut gemeinsam in eine Wohnung hinein, in der ein Bösewicht mit einer Pistole vermutet wurde. Selbst dabei fühlte ich mich sicherer und vor allem besser als zuletzt beim Betreten der Einsatzleitzentrale. Meine Frau trägt tapfer und liebevoll diese meine Entscheidung, ja hat sie sogar forciert. Ein weiterer Grund mehr, warum ich diese mutige Frau liebe und verehre. Apropos meine Frau: Sie hat mit mir geschimpft, als ich ihr erzählt habe, welchen Tenor mein zweites Buch haben wird. »Du kannst den Leuten diesen ganzen Scheiß nicht zumuten, außerdem will das niemand lesen und schon gar nicht kaufen«, hat sie gesagt, und: »Wenn man ein Buch zuklappt, will man sich gut fühlen und nicht beschissen!«
Recht wird sie haben, meine Wikingerin, wie immer. Und trotzdem, so ganz beipflichten mag ich ihr nicht. Ihr habt so viel Mitgefühl und positive Resonanz gezeigt nach der Veröffentlichung meines ersten Buches, das ja schließlich auch nicht immer nur lustig war, dass ich glaube, ja fast sicher bin, dass ihr mehr verdient habt und auch aushalten könnt als einen schöngefärbten Groschenroman. Weil ich aber selbstverständlich machen muss, was meine Frau sagt, und weil ich mir meiner Verantwortung bewusst bin, werde ich versuchen, Lichtblicke mit einzubauen und auch ein versöhnliches Ende zu finden. Wird nicht einfach. Aber wie sagte gestern meine große und schon unfassbar erwachsene Tochter, zwar in einem ganz anderen Zusammenhang, aber mit klarem, festem Blick zu mir: »Papa, was einfach ist, das ist nichts wert!«
So lade ich euch also ein zu einer finalen Reise durch die Notrufe meiner Erinnerung und hoffe, dass wir sie gemeinsam schadlos überstehen. Nehmt euch eine Decke oder etwas Warmes zu trinken und seht zu, dass ihr nicht ganz alleine seid. Legt euch die Katze auf den Schoß oder holt den Hund herein. Am besten wäre es, wenn ein lieber Mensch in eurer Nähe ist, mit dem ihr euch austauschen könnt. Denn das hilft ...
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Autoren-Porträt von Cid Jonas Gutenrath
Cid Jonas Gutenrath, geboren 1966, war Heimkind, Türsteher, Marine-Taucher, Bundesgrenzschützer, Streifenpolizist und Zivilfahnder, bevor er ein Jahrzehnt lang Notrufe in der Berliner Einsatzzentrale entgegennahm. Er lebt mit seiner Frau und seinen drei Kindern vor den Toren Berlins.
Bibliographische Angaben
- Autor: Cid Jonas Gutenrath
- 2013, 1. Auflage, 304 Seiten, Deutsch
- Verlag: Ullstein Taschenbuchvlg.
- ISBN-10: 3843704732
- ISBN-13: 9783843704731
- Erscheinungsdatum: 11.10.2013
Abhängig von Bildschirmgröße und eingestellter Schriftgröße kann die Seitenzahl auf Ihrem Lesegerät variieren.
eBook Informationen
- Dateiformat: ePub
- Größe: 2.44 MB
- Ohne Kopierschutz
Family Sharing
eBooks und Audiobooks (Hörbuch-Downloads) mit der Familie teilen und gemeinsam genießen. Mehr Infos hier.
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