An guten Tagen fahren wir rückwärts / Ullstein eBooks (ePub)
Roman
Eines Tages kommt der Anruf: Louis wird sterben. Sein Bruder Alex zieht zu ihm. Früher hat Louis ihn immer vor der ganzen Welt beschützt, wenn die beiden sich nicht gerade prügelten, und Alex eiferte ihm nach, wo es nur ging. Louis war für ihn der Held...
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Produktinformationen zu „An guten Tagen fahren wir rückwärts / Ullstein eBooks (ePub)“
Eines Tages kommt der Anruf: Louis wird sterben. Sein Bruder Alex zieht zu ihm. Früher hat Louis ihn immer vor der ganzen Welt beschützt, wenn die beiden sich nicht gerade prügelten, und Alex eiferte ihm nach, wo es nur ging. Louis war für ihn der Held seiner Kindheit. Aber die Krankheit fordert ihren Tribut. Louis verwechselt links und rechts, vorn und hinten. Superman hat das Kämpfen schon lange verlernt. Doch Alex gibt seinen Bruder so schnell nicht auf.
Lese-Probe zu „An guten Tagen fahren wir rückwärts / Ullstein eBooks (ePub)“
An guten Tagen fahren wir rückwärts von Alex Shearer 1 Haare schneiden
Wir gingen rein, und die zwei Chinesinnen, die den Laden betrieben, nickten uns zu. Sie hatten beide zu tun und schienen auch beide nicht besonders begeistert zu sein, uns zu sehen. Aber Louis merkte das gar nicht, also nahmen wir Platz und warteten, dass wir an die Reihe kamen.
Kaum hatten wir uns gesetzt, fingen die Frauen an, ihr Arbeitstempo erheblich zu verlangsamen, als würden sie sich ein Wettrennen liefern, wer als Letzte fertig wurde. Der Preis für die Siegerin war, dass sie Louis würde bedienen müssen, und das wollten sie beide nicht. Also gingen sie mit allergrößter Sorgfalt zu Werke, schnippelten in Präzisionsarbeit, nahmen sich viel Zeit fürs Durchkämmen und für die Wahl verschieden großer Scheren und hielten den Kunden immer wieder den Spiegel hin, damit sie einen Blick auf ihren Hinterkopf werfen konnten.
Louis bestand damals praktisch nur noch aus Vollbart, strähnigen Haaren und Augenbrauen. Die Augenbrauen waren fragend gehoben oder standen, wenn Louis wie üblich wieder einmal daran herumgezwirbelt hatte, ab wie Teufelshörner. Ich glaube, er hatte sich schon ein halbes Jahr nicht rasiert oder die Haare schneiden lassen, vielleicht sogar länger, noch hatte er seinen Bart auch nur im Geringsten gestutzt. Er sah aus wie ein Wilder, einer von diesen Pennern, die einem leidtun, die man aber auch abstoßend findet.
In seinem Schnurrbart verbargen sich die Überreste diverser vergangener Mahlzeiten. Kein Wunder, dass die Chinesinnen so herumtrödelten. Ich an ihrer Stelle hätte auch getrödelt oder früher zugemacht oder einfach nein gesagt und uns die Tür gewiesen.
... mehr
Aber dafür waren sie wohl zu höflich oder zu nett oder zu schicksalsergeben, vielleicht wollten sie sich auch nur das Geschäft nicht entgehen lassen. Endlich war einer der Kunden, die gerade bedient wurden, fertig. Die größere Chinesin, die auch die ältere zu sein schien, schüttelte sich das Haar vom Kittel und winkte uns herbei.
»Du bist dran, Louis.«
Louis musterte mich mit milchigem Blick. Es war ein seltsamer Blick, in dem ein Flehen ebenso lag wie stoische Resignation. Ich fühlte mich ein halbes Leben zurückversetzt, in die Zeit, als wir noch Kinder gewesen waren. Nein, mehr als ein halbes Leben. Ein ganzes, zumindest, was ihn betraf - und mich ja vielleicht auch bald, woher wollte man das wissen?
»Louis?«
Er stand auf, nahm seine Wollmütze ab und reichte sie mir zusammen mit der blauen Kühltasche, in der er seine wichtigsten Habseligkeiten verstaute - Sachen wie seine Medikamente und seine Papiere und sein Handy, von dem er offenbar nicht mehr wusste, wie es funktionierte, sowie seine Bankkarte, an deren PIN er sich nicht erinnerte.
Er setzte sich auf den Frisierstuhl.
»Also, was machen wir?«, fragte die junge Chinesin. Sie sah Louis flüchtig an, doch eigentlich war die Frage an mich gerichtet, und das war auch allen Anwesenden klar. Aber Louis war schließlich erwachsen und hatte immer noch seinen eigenen Kopf - nun ja, beinahe jedenfalls.
»Wie hättest du es denn gern, Louis? Wie kurz? Soll überall was runter? Was ist mit dem Bart? Vielleicht kürzer,
aber nicht zu kurz? Wäre das in Ordnung?«
Er schenkte mir seinen milchigen Blick und nickte.
»Kürzer, aber nicht zu kurz bitte.«
Die junge Chinesin nickte und machte sich an die Arbeit. Falls sie irgendeinen Widerwillen oder gar Ekel empfand, merkte man es ihr zumindest nicht an. Sie wusste, dass hier etwas nicht stimmte und Louis inzwischen nicht mehr alle Zacken in der Krone hatte. Aber er war nicht immer so gewesen, was die Sachlage natürlich verändert hätte. Er war ganz und gar nicht so gewesen.
Das alles schien sie zu begreifen und schnippelte und stutzte beinahe mit Respekt und Ehrfurcht vor dem alten Louis, dem Louis, der er eigentlich war, dem Louis, der er früher gewesen war. Obwohl, sehr viel anders ausgesehen hat er ehrlich gesagt nie. Adrett oder anständig frisiert hätte man ihn wohl in keiner Phase seiner Laufbahn genannt. (Wenn man das überhaupt Laufbahn nennen wollte; vielleicht wäre zufällige Flugbahn richtiger.)
Aber sie schnitt und schnitt, erst mit der Schere und dann mit dem Trimmer. Allmählich kam Louis hinter der Tarnung zum Vorschein, und dann war er plötzlich wieder da und war genau wie vor all den Jahren, als wir uns gegenseitig windelweich geprügelt hatten. Nur älter und grauer, aber ansonsten genauso. Ich überlegte, ob er eigentlich schon immer diesen traurigen, milchigen, verlorenen und flehenden Blick gehabt hatte, der zu fragen schien, was für ein verwirrendes Rätsel das Leben doch war und warum er es einfach nicht hinbekam, wo er doch eigentlich so viele Dinge konnte, und sogar gut. Aber darauf hat nie einer eine Antwort gefunden. Meiner Erfahrung nach weiß bei solchen Sachen ohnehin nie einer eine Antwort.
»Augenbraue?«
Louis sah wieder mich an und hob, als wollte er meine Meinung einholen, die Braue, die die kleine Chinesin meinte.
»Wenn Sie so nett wären«, sagte ich. »Das wäre toll.«
Toll wäre es eigentlich gar nicht. Es wären einfach nur kürzere Augenbrauen. Aber so was sagt man eben zu Leuten im Geschäft. Es kommt aus der gleichen Ecke wie Schönen Tag noch und Wie geht es Ihnen und Phantastisch und Keine Ursache und Kein Problem.
Louis lehnte sich zurück und schloss die Augen, damit es mit den Brauen losgehen konnte.
Ich fragte mich, ob sich womöglich seine Linsen zu trüben begannen und das vielleicht der Grund für diesen milchigen, beinahe sahnigen Blick war. Den Grünen Star hatte er sowieso schon. Er hatte eine Menge Krankheiten. Vielleicht hatte er nicht genügend auf sich geachtet. Er hatte fünfzehn Jahre mit Bella und sieben mit Kirstin zusammengelebt. Die war vor zehn Jahren ausgezogen, und seitdem hatte er sich ein ganzes Jahrzehnt lang vernachlässigt.
Die chinesische Friseurin nahm einen Kamm und eine Schneidemaschine und stutzte geschickt die zornigen Augenbrauen. Als sie fertig war, sah Louis gesund und normal aus. Er war kein Wilder mehr. Es fiel sogar auf, dass er beinahe gut aussah. Ich fragte mich tatsächlich, ob er etwa besser aussah als ich, und kam zu dem Schluss, dass es womöglich so war. Aber gutes Aussehen ist nicht alles, wie einem ja jeder weniger gut aussehende Mensch bestätigen kann.
Sie brauchte eine ganze Weile, bis sie alles erledigt hatte, und danach kam noch die Sache mit den zwei Spiegeln und dem Hinterkopf. Aber als sie dann wirklich fertig war, berechnete sie nichts extra, nur den üblichen Preis. Es ging ans Zahlen, und Louis schaute mich an, also nahm ich das Geld aus seinem Portemonnaie, und die kleine Chinesin schien überrascht zu sein, dass ich ihr ein Trinkgeld gab, obwohl sie sich das ja nun wirklich verdient hatte.
Wir dankten ihr und gingen, und ich reichte Louis sein Portemonnaie zurück.
»Ich habe ihr ein Trinkgeld gegeben«, sagte ich. »Von deinem Geld. Ich hoffe, das war in Ordnung.«
Er antwortete nicht, sondern verstaute nur sein Portemonnaie in der blauen Kühltasche.
»Wie sehen die Reste aus?«, fragte er und besah flüchtig sein Spiegelbild in einem Fenster. Die Sonne stand hoch am Himmel und verwandelte die Schaufenster in Spiegel.
»Gut«, sagte ich. »Sie hat ihre Sache gut gemacht.«
»Wo ist meine Mütze?«, fragte Louis.
Ich gab sie ihm, und er setzte sie auf.
»Ist dir da drunter denn nicht zu warm?«, fragte ich.
»Bald fällt sowieso alles aus«, sagte er.
Ich sah, dass auf seiner Mütze das Logo Piping Hot stand.
Als er sie aufsetzte, konnte ich zum ersten Mal deutlich seine Narbe erkennen. Sie war verheilt, sah aber immer noch hässlich aus. Der Gedanke war mir unangenehm - dass sie einem den Schädel aufsägten und einen Teil vom Gehirn rausholten, selbst wenn dieser Teil krank war.
»Komm, wir gehen einen Kaffee trinken«, sagte Louis. »Ich gebe dir einen aus.«
Louis hatte es immer schon draufgehabt, sich großzügig zu geben, selbst wenn er gar nichts Besonderes tat.
»Ich lasse einen Kaffee springen«, sagte er. »Oder ein Mittagessen.«
Wir liefen die Straße hinunter. Dieser Vorort von Brisbane ließ mich an Amerika denken. Alles war so weitläufig, die Gebäude eher hingestreut als aufeinandergetürmt - wie in einer Stadt im Hinterland.
»Wie wäre das hier?«
Es gab überall Cafés, aber in diesem waren draußen noch eine Menge Tische frei. Die Kellnerinnen waren jung und freundlich. Keine Chinesinnen, vielleicht eher Malaysierinnen. Aber vermutlich waren es eigentlich Australierinnen. Sie hatten nur mal als Chinesinnen und Malaysierinnen angefangen, und jetzt waren sie Australierinnen, genau wie die ehemaligen Britinnen und Irinnen und Griechinnen und Schottinnen. Für jeden war sozusagen etwas dabei.
Wir setzten uns an einen Tisch, und eine Kellnerin brachte uns die Karte.
»Können Sie einen von diesen Heizstrahlern anmachen? «, fragte Louis. »Mir ist kalt.«
»Willst du lieber drinnen sitzen?«, fragte ich ihn.
»Nein. Aber den Strahler hätte ich gern.«
»Natürlich«, sagte die Kellnerin. »Kein Problem.«
Sie öffnete ein Ventil und drückte auf einen Knopf, damit der Heizstrahler anging. Als sie wieder weg war, sagte ich zu Louis: »Wie kommt es eigentlich, dass hier nie einer ein Problem hat?« Er sah mich verwirrt an. »Jeder sagt: ›Kein Problem‹. Ich kann nicht glauben, dass die gar keine haben.«
Er antwortete nicht. Es war, als sähe er durch mich hindurch. Aber das war nichts Neues. Das hatte er immer schon gemacht, schon in unserer Kindheit.
Louis starrte auf die Karte, begriff sie aber nicht, deshalb las ich sie laut vor.
»Das nehme ich«, sagte er. Aber dann wollte er den Preis wissen, und als ich ihn nannte, hätte er es sich fast noch anders überlegt.
»Ich zahle«, verkündete ich.
»Ist schon in Ordnung«, sagte er. »Aber es ist teuer.«
»Lebenshaltungskosten, Louis«, sagte ich.
Wofür hätte er auch sonst Geld ausgeben sollen? Und wie viel Zeit hatte er überhaupt noch, welches auszugeben? Die Welt war voller Leute mit Geldproblemen, aber es gab auch welche, die überhaupt eine Geldprobleme hatten, und die machten sich trotzdem noch Sorgen - Sorgen, dass irgendetwas passieren könnte, was mit Geld nicht zu beheben war.
Manchmal glaube ich, wenn man einmal alle Dinge auflisten würde, die man mit Geld nicht regeln kann, dann wären es mehr als solche, die man damit regeln kann.
Manchmal nützt einem Geld nicht mehr als Steine in der Wüste, wenn man eigentlich ein Glas kaltes Wasser braucht.
2 Terri
Zu Terri gibt es zwei Geschichten - oder besser gesagt, es gibt eine Geschichte, diese aber in zwei Versionen mit unterschiedlichem Ausgang. Hier folgt Variante Nummer eins.
Das erste Mal hörte ich von Terri, als Louis mich eines Morgens anrief. Wenn er anrief, dann immer morgens. Das heißt, bei mir war es morgens und bei ihm spätabends. Er war gerade von einem besonders miesen Job zurückgekehrt, mit dem er den Tag verbracht hatte. Louis hatte einiges auf dem Kasten und einen Bachelor und einen Master und ein Ingenieursdiplom, aber trotzdem übernahm er nur schlecht bezahlte Aushilfsarbeiten, denn wie der Biff Loman in Arthur Millers Stück Tod eines Handlungsreisenden kriegte er irgendwie »sein Leben nicht in den Griff«.
Er hat mir mal erzählt, er arbeite nicht in seinem erlernten Beruf, weil ihm da die »Politik« nicht gefalle. Das Problem dabei ist meiner Ansicht nach, dass es überall irgendeine Politik gibt. Man könnte den dreckigsten, am geringsten geachteten und schlechtestbezahlten Job machen, und trotzdem gäbe es da noch irgendwelche Politik. Es gibt immer noch einen Boss und immer noch Kollegen. Man kann der Politik ebenso wenig entgehen wie anderen Leuten. Machbar wäre es vielleicht schon, aber nicht einfach. Man müsste Einsiedler sein.
Aber so wie viele Menschen, die mit der Welt, wie sie nun mal ist, nicht zurechtkommen, musste Louis immer alles perfekt machen. Kein Bummeln, kein Trödeln, keine Schummelei. Noch der dämlichste Job musste akkurat erledigt werden, und ständig beklagte er sich über die miesen Chefs und irgendwelche Kollegen, denen alles schnurz war. Selbst dann, wenn er für den Mindestlohn als Maschinist oder in irgendeiner Fabrik am Fließband arbeitete. Louis schien immer zu wissen, was zu tun war, um eine Firma am Laufen zu halten, nur für sich selbst kriegte er es irgendwie nicht hin. Zweimal hatte er versucht, seinen eigenen Laden aufzuziehen, aber beide Male hatte er dabei nur Geld in den Sand gesetzt. Obwohl er so gut qualifiziert und ausgebildet war, war er aus irgendeinem Grund der Ansicht, körperliche Arbeit sei wertvoller als geistige. Vielleicht hielt er sie für unverfälschter, authentischer. Ironischerweise hatten unsere Eltern sich für uns beide gerade gewünscht, dass wir eine höhere Bildung bekamen und der Schinderei in einer Fabrik und der körperlichen Arbeit entkommen konnten.
Jedenfalls, er rief an, und ich ging dran. Es hatte eine Zeit gegeben, wo solche Anrufe eine Seltenheit gewesen waren, nur an Weihnachten und zum Geburtstag oder in Notfällen. Aber dann waren die Kosten für Ferngespräche gesunken, und wir sprachen oft miteinander, vielleicht einmal pro Woche oder alle vierzehn Tage.
»Hey!«, rief er.
»Hi, Louis«, sagte ich ein wenig unwillig, weil ich bei was auch immer gestört wurde, es aber zu verbergen versuchte. Man kann ja keinem einen Vorwurf machen, weil er zur unpassenden Zeit anruft. Wenn man ihn selbst anruft, ist es wahrscheinlich genauso unpassend. »Wie geht's?«
»Du glaubst ja nicht, was passiert ist«, sagte er. Und dann schwieg er wie üblich, so als wollte er, dass ich es selbst herauskriegte und ihm die Sache aus der Nase zog.
Übersetzung: Armin Gontermann
© Copyright by Ullstein Verlag
Aber dafür waren sie wohl zu höflich oder zu nett oder zu schicksalsergeben, vielleicht wollten sie sich auch nur das Geschäft nicht entgehen lassen. Endlich war einer der Kunden, die gerade bedient wurden, fertig. Die größere Chinesin, die auch die ältere zu sein schien, schüttelte sich das Haar vom Kittel und winkte uns herbei.
»Du bist dran, Louis.«
Louis musterte mich mit milchigem Blick. Es war ein seltsamer Blick, in dem ein Flehen ebenso lag wie stoische Resignation. Ich fühlte mich ein halbes Leben zurückversetzt, in die Zeit, als wir noch Kinder gewesen waren. Nein, mehr als ein halbes Leben. Ein ganzes, zumindest, was ihn betraf - und mich ja vielleicht auch bald, woher wollte man das wissen?
»Louis?«
Er stand auf, nahm seine Wollmütze ab und reichte sie mir zusammen mit der blauen Kühltasche, in der er seine wichtigsten Habseligkeiten verstaute - Sachen wie seine Medikamente und seine Papiere und sein Handy, von dem er offenbar nicht mehr wusste, wie es funktionierte, sowie seine Bankkarte, an deren PIN er sich nicht erinnerte.
Er setzte sich auf den Frisierstuhl.
»Also, was machen wir?«, fragte die junge Chinesin. Sie sah Louis flüchtig an, doch eigentlich war die Frage an mich gerichtet, und das war auch allen Anwesenden klar. Aber Louis war schließlich erwachsen und hatte immer noch seinen eigenen Kopf - nun ja, beinahe jedenfalls.
»Wie hättest du es denn gern, Louis? Wie kurz? Soll überall was runter? Was ist mit dem Bart? Vielleicht kürzer,
aber nicht zu kurz? Wäre das in Ordnung?«
Er schenkte mir seinen milchigen Blick und nickte.
»Kürzer, aber nicht zu kurz bitte.«
Die junge Chinesin nickte und machte sich an die Arbeit. Falls sie irgendeinen Widerwillen oder gar Ekel empfand, merkte man es ihr zumindest nicht an. Sie wusste, dass hier etwas nicht stimmte und Louis inzwischen nicht mehr alle Zacken in der Krone hatte. Aber er war nicht immer so gewesen, was die Sachlage natürlich verändert hätte. Er war ganz und gar nicht so gewesen.
Das alles schien sie zu begreifen und schnippelte und stutzte beinahe mit Respekt und Ehrfurcht vor dem alten Louis, dem Louis, der er eigentlich war, dem Louis, der er früher gewesen war. Obwohl, sehr viel anders ausgesehen hat er ehrlich gesagt nie. Adrett oder anständig frisiert hätte man ihn wohl in keiner Phase seiner Laufbahn genannt. (Wenn man das überhaupt Laufbahn nennen wollte; vielleicht wäre zufällige Flugbahn richtiger.)
Aber sie schnitt und schnitt, erst mit der Schere und dann mit dem Trimmer. Allmählich kam Louis hinter der Tarnung zum Vorschein, und dann war er plötzlich wieder da und war genau wie vor all den Jahren, als wir uns gegenseitig windelweich geprügelt hatten. Nur älter und grauer, aber ansonsten genauso. Ich überlegte, ob er eigentlich schon immer diesen traurigen, milchigen, verlorenen und flehenden Blick gehabt hatte, der zu fragen schien, was für ein verwirrendes Rätsel das Leben doch war und warum er es einfach nicht hinbekam, wo er doch eigentlich so viele Dinge konnte, und sogar gut. Aber darauf hat nie einer eine Antwort gefunden. Meiner Erfahrung nach weiß bei solchen Sachen ohnehin nie einer eine Antwort.
»Augenbraue?«
Louis sah wieder mich an und hob, als wollte er meine Meinung einholen, die Braue, die die kleine Chinesin meinte.
»Wenn Sie so nett wären«, sagte ich. »Das wäre toll.«
Toll wäre es eigentlich gar nicht. Es wären einfach nur kürzere Augenbrauen. Aber so was sagt man eben zu Leuten im Geschäft. Es kommt aus der gleichen Ecke wie Schönen Tag noch und Wie geht es Ihnen und Phantastisch und Keine Ursache und Kein Problem.
Louis lehnte sich zurück und schloss die Augen, damit es mit den Brauen losgehen konnte.
Ich fragte mich, ob sich womöglich seine Linsen zu trüben begannen und das vielleicht der Grund für diesen milchigen, beinahe sahnigen Blick war. Den Grünen Star hatte er sowieso schon. Er hatte eine Menge Krankheiten. Vielleicht hatte er nicht genügend auf sich geachtet. Er hatte fünfzehn Jahre mit Bella und sieben mit Kirstin zusammengelebt. Die war vor zehn Jahren ausgezogen, und seitdem hatte er sich ein ganzes Jahrzehnt lang vernachlässigt.
Die chinesische Friseurin nahm einen Kamm und eine Schneidemaschine und stutzte geschickt die zornigen Augenbrauen. Als sie fertig war, sah Louis gesund und normal aus. Er war kein Wilder mehr. Es fiel sogar auf, dass er beinahe gut aussah. Ich fragte mich tatsächlich, ob er etwa besser aussah als ich, und kam zu dem Schluss, dass es womöglich so war. Aber gutes Aussehen ist nicht alles, wie einem ja jeder weniger gut aussehende Mensch bestätigen kann.
Sie brauchte eine ganze Weile, bis sie alles erledigt hatte, und danach kam noch die Sache mit den zwei Spiegeln und dem Hinterkopf. Aber als sie dann wirklich fertig war, berechnete sie nichts extra, nur den üblichen Preis. Es ging ans Zahlen, und Louis schaute mich an, also nahm ich das Geld aus seinem Portemonnaie, und die kleine Chinesin schien überrascht zu sein, dass ich ihr ein Trinkgeld gab, obwohl sie sich das ja nun wirklich verdient hatte.
Wir dankten ihr und gingen, und ich reichte Louis sein Portemonnaie zurück.
»Ich habe ihr ein Trinkgeld gegeben«, sagte ich. »Von deinem Geld. Ich hoffe, das war in Ordnung.«
Er antwortete nicht, sondern verstaute nur sein Portemonnaie in der blauen Kühltasche.
»Wie sehen die Reste aus?«, fragte er und besah flüchtig sein Spiegelbild in einem Fenster. Die Sonne stand hoch am Himmel und verwandelte die Schaufenster in Spiegel.
»Gut«, sagte ich. »Sie hat ihre Sache gut gemacht.«
»Wo ist meine Mütze?«, fragte Louis.
Ich gab sie ihm, und er setzte sie auf.
»Ist dir da drunter denn nicht zu warm?«, fragte ich.
»Bald fällt sowieso alles aus«, sagte er.
Ich sah, dass auf seiner Mütze das Logo Piping Hot stand.
Als er sie aufsetzte, konnte ich zum ersten Mal deutlich seine Narbe erkennen. Sie war verheilt, sah aber immer noch hässlich aus. Der Gedanke war mir unangenehm - dass sie einem den Schädel aufsägten und einen Teil vom Gehirn rausholten, selbst wenn dieser Teil krank war.
»Komm, wir gehen einen Kaffee trinken«, sagte Louis. »Ich gebe dir einen aus.«
Louis hatte es immer schon draufgehabt, sich großzügig zu geben, selbst wenn er gar nichts Besonderes tat.
»Ich lasse einen Kaffee springen«, sagte er. »Oder ein Mittagessen.«
Wir liefen die Straße hinunter. Dieser Vorort von Brisbane ließ mich an Amerika denken. Alles war so weitläufig, die Gebäude eher hingestreut als aufeinandergetürmt - wie in einer Stadt im Hinterland.
»Wie wäre das hier?«
Es gab überall Cafés, aber in diesem waren draußen noch eine Menge Tische frei. Die Kellnerinnen waren jung und freundlich. Keine Chinesinnen, vielleicht eher Malaysierinnen. Aber vermutlich waren es eigentlich Australierinnen. Sie hatten nur mal als Chinesinnen und Malaysierinnen angefangen, und jetzt waren sie Australierinnen, genau wie die ehemaligen Britinnen und Irinnen und Griechinnen und Schottinnen. Für jeden war sozusagen etwas dabei.
Wir setzten uns an einen Tisch, und eine Kellnerin brachte uns die Karte.
»Können Sie einen von diesen Heizstrahlern anmachen? «, fragte Louis. »Mir ist kalt.«
»Willst du lieber drinnen sitzen?«, fragte ich ihn.
»Nein. Aber den Strahler hätte ich gern.«
»Natürlich«, sagte die Kellnerin. »Kein Problem.«
Sie öffnete ein Ventil und drückte auf einen Knopf, damit der Heizstrahler anging. Als sie wieder weg war, sagte ich zu Louis: »Wie kommt es eigentlich, dass hier nie einer ein Problem hat?« Er sah mich verwirrt an. »Jeder sagt: ›Kein Problem‹. Ich kann nicht glauben, dass die gar keine haben.«
Er antwortete nicht. Es war, als sähe er durch mich hindurch. Aber das war nichts Neues. Das hatte er immer schon gemacht, schon in unserer Kindheit.
Louis starrte auf die Karte, begriff sie aber nicht, deshalb las ich sie laut vor.
»Das nehme ich«, sagte er. Aber dann wollte er den Preis wissen, und als ich ihn nannte, hätte er es sich fast noch anders überlegt.
»Ich zahle«, verkündete ich.
»Ist schon in Ordnung«, sagte er. »Aber es ist teuer.«
»Lebenshaltungskosten, Louis«, sagte ich.
Wofür hätte er auch sonst Geld ausgeben sollen? Und wie viel Zeit hatte er überhaupt noch, welches auszugeben? Die Welt war voller Leute mit Geldproblemen, aber es gab auch welche, die überhaupt eine Geldprobleme hatten, und die machten sich trotzdem noch Sorgen - Sorgen, dass irgendetwas passieren könnte, was mit Geld nicht zu beheben war.
Manchmal glaube ich, wenn man einmal alle Dinge auflisten würde, die man mit Geld nicht regeln kann, dann wären es mehr als solche, die man damit regeln kann.
Manchmal nützt einem Geld nicht mehr als Steine in der Wüste, wenn man eigentlich ein Glas kaltes Wasser braucht.
2 Terri
Zu Terri gibt es zwei Geschichten - oder besser gesagt, es gibt eine Geschichte, diese aber in zwei Versionen mit unterschiedlichem Ausgang. Hier folgt Variante Nummer eins.
Das erste Mal hörte ich von Terri, als Louis mich eines Morgens anrief. Wenn er anrief, dann immer morgens. Das heißt, bei mir war es morgens und bei ihm spätabends. Er war gerade von einem besonders miesen Job zurückgekehrt, mit dem er den Tag verbracht hatte. Louis hatte einiges auf dem Kasten und einen Bachelor und einen Master und ein Ingenieursdiplom, aber trotzdem übernahm er nur schlecht bezahlte Aushilfsarbeiten, denn wie der Biff Loman in Arthur Millers Stück Tod eines Handlungsreisenden kriegte er irgendwie »sein Leben nicht in den Griff«.
Er hat mir mal erzählt, er arbeite nicht in seinem erlernten Beruf, weil ihm da die »Politik« nicht gefalle. Das Problem dabei ist meiner Ansicht nach, dass es überall irgendeine Politik gibt. Man könnte den dreckigsten, am geringsten geachteten und schlechtestbezahlten Job machen, und trotzdem gäbe es da noch irgendwelche Politik. Es gibt immer noch einen Boss und immer noch Kollegen. Man kann der Politik ebenso wenig entgehen wie anderen Leuten. Machbar wäre es vielleicht schon, aber nicht einfach. Man müsste Einsiedler sein.
Aber so wie viele Menschen, die mit der Welt, wie sie nun mal ist, nicht zurechtkommen, musste Louis immer alles perfekt machen. Kein Bummeln, kein Trödeln, keine Schummelei. Noch der dämlichste Job musste akkurat erledigt werden, und ständig beklagte er sich über die miesen Chefs und irgendwelche Kollegen, denen alles schnurz war. Selbst dann, wenn er für den Mindestlohn als Maschinist oder in irgendeiner Fabrik am Fließband arbeitete. Louis schien immer zu wissen, was zu tun war, um eine Firma am Laufen zu halten, nur für sich selbst kriegte er es irgendwie nicht hin. Zweimal hatte er versucht, seinen eigenen Laden aufzuziehen, aber beide Male hatte er dabei nur Geld in den Sand gesetzt. Obwohl er so gut qualifiziert und ausgebildet war, war er aus irgendeinem Grund der Ansicht, körperliche Arbeit sei wertvoller als geistige. Vielleicht hielt er sie für unverfälschter, authentischer. Ironischerweise hatten unsere Eltern sich für uns beide gerade gewünscht, dass wir eine höhere Bildung bekamen und der Schinderei in einer Fabrik und der körperlichen Arbeit entkommen konnten.
Jedenfalls, er rief an, und ich ging dran. Es hatte eine Zeit gegeben, wo solche Anrufe eine Seltenheit gewesen waren, nur an Weihnachten und zum Geburtstag oder in Notfällen. Aber dann waren die Kosten für Ferngespräche gesunken, und wir sprachen oft miteinander, vielleicht einmal pro Woche oder alle vierzehn Tage.
»Hey!«, rief er.
»Hi, Louis«, sagte ich ein wenig unwillig, weil ich bei was auch immer gestört wurde, es aber zu verbergen versuchte. Man kann ja keinem einen Vorwurf machen, weil er zur unpassenden Zeit anruft. Wenn man ihn selbst anruft, ist es wahrscheinlich genauso unpassend. »Wie geht's?«
»Du glaubst ja nicht, was passiert ist«, sagte er. Und dann schwieg er wie üblich, so als wollte er, dass ich es selbst herauskriegte und ihm die Sache aus der Nase zog.
Übersetzung: Armin Gontermann
© Copyright by Ullstein Verlag
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Autoren-Porträt von Alex Shearer
In An guten Tagen fahren wir rückwärts erzählt Alex Shearer die wahre Geschichte seines Bruders. Er hat mehrere erfolgreiche Kinderbücher veröffentlicht und schreibt außerdem für Film, Fernsehen und Theater. Er lebt in Somerset, England.
Bibliographische Angaben
- Autor: Alex Shearer
- 2014, 1. Auflage, 256 Seiten, Deutsch
- Übersetzer: Armin Gontermann
- Verlag: Ullstein Taschenbuchvlg.
- ISBN-10: 3843706964
- ISBN-13: 9783843706964
- Erscheinungsdatum: 11.04.2014
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