Clarissa 2 - Wo der Himmel brennt (ePub)
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Kanada, 1898: Ausgerechnet an ihrem Hochzeitstag wendet sich das Schicksal gegen Clarissa. Ihr geliebter Mann Alex verschwindet spurlos, und zu allem Unglück taucht auch noch Frank Whittler in der kleinen Küstenstadt auf. Der Millionärssohn kann seine Niederlage im Kampf um Clarissa nicht verwinden und hat einen Haftbefehl gegen sie erwirkt. Im fernen Alaska glaubt sie vor ihm sicher zu sein. Mit dem Hundeschlitten flieht sie in die Bergwildnis an der kanadischen Grenze. Jetzt bleibt ihr nur noch die Hoffnung, dass Alex auf wundersame Weise überlebt hat, und Bones, der geheimnisvolle Geisterwolf, ihren Spuren in die Berge folgt.
Christopher Ross schreibt großartige Romane. Kieler Nachrichten
1
»Heya! Heya!«, feuerte Clarissa die Hunde an. »Wollt ihr wohl laufen, ihr müden Gesellen? Ihr wisst doch, was morgen für ein Tag ist! Alex würde es uns nie verzeihen, wenn wir zu spät kommen. Heya, bewegt euch endlich!« Clarissa stand mit beiden Beinen auf dem Trittbrett ihres Schlittens und strahlte vor Glück. In dem Paket auf der Ladefläche war ihr Brautkleid, ein Traum aus cremefarbener Seide, wie ihn sich sonst nur wohlhabende Ladys aus Vancouver oder Victoria leisten konnten. Die Seide hatte ihr ein japanischer Kapitän geschenkt, den Alex auf einen Jagdausflug mitgenommen hatte, und genäht hatte es ihre indianische Freundin aus Kwinitsa, die einige Jahre bei einem Schneider in die Lehre gegangen war. Sie hatte es persönlich abgeholt, damit noch ein paar Änderungen vorgenommen werden konnten, und mit kostbaren Pelzen bezahlt. Seit zwei Jahren lebte sie mit Alex schon in der Wildnis, in einer Blockhütte ungefähr zwanzig Meilen nördlich von Port Essington, dem Handelszentrum am Zusammenfluss von Skeena und Ecstall River. Vor einem Friedensrichter hatten sie sich gleich nach ihrer Ankunft das Jawort gegeben, doch morgen würden sie ihren Bund auch vor Gott beschließen und nach dem langen und harten Winter endlich wieder einen Grund zum Feiern haben. Allein bei dem Gedanken an den köstlichen Kuchen, den die Frau des Pastors backen wollte, lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Über ihren Beerenkuchen ging nichts! »Vorwärts, Smoky! Was ist los mit dir? Hast du das Laufen verlernt?« Smoky war ihr Leithund, seit Billy vom Huf eines wütenden Elchs getroffen worden und wenig später gestorben war. Er war nicht mehr so übermütig wie vor etwas mehr als zwei Jahren, als sie zum ersten Mal dabei geholfen hatte, ihn vor einen Schlitten zu spannen, und kräftiger und besonnener. Nur manchmal, wenn sie wie jetzt auf einem ausgetretenen Pfad unterwegs waren, blitzte noch der jugendliche Übermut durch, und er legte sich mit dem jungen Charly an, der direkt hinter ihm lief und sich nur schwer unterordnen konnte. Sie mochte die Fahrten mit dem Hundeschlitten, auch jetzt im beginnenden Frühjahr, wenn die Tage länger wurden, und der Schnee langsam unter den Kufen schmolz. Hier unter den Bäumen war er noch kalt und fest, und die Hunde brauchten keine Angst zu haben, sich am felsigen Boden die Pfoten aufzureißen. Wie Clarissa erfreuten sie sich an der klaren Luft, die unter den mächtigen und weit ausladenden Douglasfichten noch frischer und würziger war und ihnen das Gefühl gab, wirklich am Leben zu sein. Clarissa genoss jeden Atemzug, sog die Luft tief in die Lungen und konnte nicht verstehen, warum sie Vancouver nicht schon viel früher verlassen hatte und in die Wildnis gezogen war. Das Gefühl, in dieser Einsamkeit mit der Natur zu verschmelzen und nur den Atem der Huskys und das Knarren der Schlittenkufen zu hören, war unvergleichlich und erfüllte sie mit tiefer Zufriedenheit. Fernab der Zivilisation im kanadischen Busch zu leben, noch dazu mit einem aufrichtigen Mann wie Alex Carmack, war mehr, als sie vom Leben erwarten durfte. Clarissa lenkte den Schlitten aus dem Wald und auf die verschneite Wagenstraße, die nach Port Essington führte. Der frische Abendwind blies ihr ins Gesicht und färbte ihr schmales Gesicht und die hohen Wangen, die ihr ein leicht exotisches Aussehen verliehen. Unter ihrer Pelzmütze flatterten schwarze Haare hervor. Das Leben in der Wildnis bekam ihrer Haut gut, es hatte die ungesunde Blässe vertrieben, die man bei den Frauen in den großen Städten so schätzte. Ihre dunklen Augen strahlten, als würde ein unsichtbares Feuer darin brennen, und wenn sie einen Fuß vom Trittbrett nahm und den Schlitten anschob, verriet sie trotz ihrer schlanken Gestalt eine ungewöhnliche Entschlossenheit, die selbst Fallensteller und Indianer beeindruckte. Kaum noch etwas erinnerte an die Frau, die sich nach dem Tod ihrer Eltern als Haushälterin bei wohlhabenden Familien durchgeschlagen hatte. »Gleich haben wir es geschafft«, rief sie den Hunden zu. »Was meint ihr? Ob mir das Kleid steht? Ich würde wie eine Prinzessin darin aussehen, sagt meine Freundin in Kwinitsa, aber was wird Alex dazu sagen? Der kennt mich doch nur in langen Hosen oder im Rock. Ich wette, er wird ohnmächtig, wenn er mich im weißen Kleid sieht.« Sie kicherte. »Oder er biegt sich vor Lachen. Ich kann ihn mir auch nicht im Anzug vorstellen.« Smoky verstand kein Wort, er drehte sich nicht mal um. Er ahnte zwar, dass die Zweibeiner, bei denen er wohnte, etwas Besonderes im Schilde führten, nur dass sie am nächsten Morgen in festlicher Kleidung vor den Altar treten und noch einmal die Ringe tauschen und sich anschließend auf einer riesigen Party vergnügen würden, verriet ihm sein Instinkt nicht. Die Bürger der kleinen Stadt sprachen seit Tagen von nichts anderem. Obwohl Clarissa und Alex noch nicht lange bei Port Essington lebten, schätzten sie den wortkargen Fallensteller, vor allem aber Clarissa, die zu jedem hilfsbereit und freundlich war und sogar als Lehrerin ausgeholfen hatte, als Mrs Pratt krank gewesen war. Die meisten wussten, dass beide aus dem Süden kamen und Clarissa als Haushälterin in Vancouver gearbeitet hatte. Den wahren Grund dafür, warum sie nach Norden gekommen waren, kannte nicht mal ihre Freundin in Kwinitsa. Sie hätte die abenteuerliche Geschichte sowieso nicht geglaubt. Manchmal konnte selbst Clarissa nicht glauben, welche Abenteuer sie während der letzten Jahre erlebt hatte. In Vancouver hatte Frank Whittler, der Sohn des reichen Eisenbahnmanagers, für den sie als Haushälterin gearbeitet hatte, sie beinahe vergewaltigt und anschließend behauptet, sie habe ihm Geld gestohlen. Als er die Polizei auf sie gehetzt hatte, war sie in die Wildnis geflohen. Ihr Leben verdankte sie einem geheimnisvollen Wolf, der sie zu Alex' Hütte geführt hatte, als ihr Frank Whittler und die Verfolger zu nahe gekommen waren. Ein Geisterwolf, wie die Indianer behaupteten, der sie beschützte, seitdem sie ihn verarztet und ihm das Leben gerettet und hatte. Eine Reihe von glücklichen Zufällen, behauptete Alex, der nie etwas mit Geistern im Sinn hatte, und stets das Gesicht verzog, wenn sie von dem Wolf erzählte.
Er war auch nicht dabei gewesen, als Bones den von seinem Hass besessenen Frank Whittler mit gefletschten Zähnen vertrieben hatte. Bones ... So hatte sie den Wolf wegen seines knochigen, aber sehr zähen Körpers genannt. Wie eine Furie hatte er sich auf Whittler gestürzt und ihn davongejagt. Wenig später war herausgekommen, dass Whittler gelogen hatte, seine Verlobte war ihm weggelaufen, und er hatte sich nie mehr blicken lassen. Auch Alex, den er wegen Beihilfe zur Flucht vor Gericht bringen wollte, wurde nicht mehr gesucht. Dennoch hielt sie sich bedeckt, wenn ein Fremder in der Stadt auftauchte, aus Angst, Whittler könnte einen seiner Männer geschickt haben. An diesem Abend hatte sie keinen Grund, ihn zu fürchten. Die Kirche und das Gemeinschaftshaus waren festlich geschmückt, die Frau des Pfarrers und ihre Freundinnen standen in der Küche und backten Kuchen, und alle freuten sich auf die bevorstehende Hochzeit und das anschließende Fest. Noch war Port Essington eine halbe Geisterstadt, und die wenigen Einwohner, die im Winter geblieben waren, fühlten sich als große Familie. Der Großteil der Bürger würde erst im Frühjahr wiederkommen, wenn sich die Lachse in den Flussmündungen versammelten, und die Arbeit in den beiden Konservenfabriken wieder auf Hochtouren lief. Dann fuhren auch die Flussdampfer wieder über den eisfreien Skeena River nach Hazelton, voll beladen mit Handelswaren für die Menschen in dem bedeutenden Handelszentrum. Die Sonne stand schon weit im Westen und berührte das Wasser der scheinbar endlosen Bucht, als Clarissa den Schlitten über die Hauptstraße lenkte. In den meisten der teilweise auf Pfählen gebauten Häuser brannten bereits die Petroleumlampen, und ihr gelber Lichtschein spiegelte sich im Schnee und im nahen Fluss. Der Schnee auf den Giebeldächern war nach unten gerutscht. »In einer Woche ist der Schnee weg«, rief sie den Hunden zu. »Noch zwei oder drei Touren, dann könnt ihr euch auf die faule Haut legen.« Sie ließ ihren Blick über die Bucht und den breiten Skeena River gleiten. Einige Indianer paddelten in ihren Kanus über den eisfreien Fluss und suchten mit ihren Speeren nach Beute. Ein Fischadler kreiste weit über ihnen, die dunklen Schwingen weit ausgebreitet. Für einen winzigen Augenblick glaubte sie, die gelben Augen eines Wolfes am Waldrand zu erkennen, und sie fühlte sich bereits an Bones erinnert, doch sie verschwanden sofort wieder, und es wäre wohl auch ein zu großer Zufall gewesen, wenn er ihr nach zwei langen Jahren bis in den Hohen Norden gefolgt wäre. Auch sie wusste mittlerweile, dass Wölfe am liebsten im Rudel umherzogen und ihr angestammtes Revier nur in höchster Not verließen. Vielleicht hatte sie einen Hirsch oder Elch gesehen, oder sie war einer anderen Täuschung erlegen. Die letzten Jahre waren nicht einfach für Clarissa gewesen. Nachdem Alex zurückgekehrt war, hatte sie die Ranch, auf der sie sich vor Whittler versteckt hatte, verlassen und war mit dem Mann, den sie liebte, von einer Stadt zur anderen gezogen, auf der Suche nach einem Ort, an dem sie in Frieden leben konnten. In der Nähe von Port Essington, wenige Meilen von der Pazifikküste entfernt, waren sie fündig geworden. In den Wäldern, die bisher nur wenige Weiße gesehen hatten, gab es Biber und Hermeline, deren Felle und Pelze sogar im fernen Paris geschätzt wurden, und die Hudson's Bay Company, die mit einem Handelsposten in Port Essington vertreten war, zahlte besser als die Amerikaner im Süden. Alex konnte sich nicht vorstellen, jemals in einem Büro oder einer Fabrik zu arbeiten. Er brauchte die Wildnis wie die Luft zum Atmen. Selbst eine Siedlung wie Port Essington war für ihn schon zu groß. Über die breite Hauptstraße fuhr sie im Schritttempo. Der Eigentümer des Eisenwarenladens stand rauchend vor seinem Laden und winkte ihr freundlich zu. Sogar der Schmied unterbrach für einen Augenblick sein Hämmern und grüßte sie lächelnd. Alle mochten sie und freuten sich mit ihr auf eine feierliche Zeremonie und eine fröhliche Party. Im Winter gab es wenig Anlässe zum Feiern in der kleinen Stadt, und man war über jede Abwechslung froh. Einige Kinder rannten neben ihrem Schlitten her und nahmen hastig Reißaus, als Smoky den Kopf wandte und bellte. Vor der Pension von Mary Redfeather hielt sie den Schlitten an. Sie stieg vom Trittbrett und blickte die Straße zum Flussufer hinab, sah einige Männer lachend die Straße überqueren und im Saloon des Hotels verschwinden. »Treib es bloß nicht zu toll, Alex Carmack«, rief sie lächelnd. »Wenn du morgen früh mit einer Fahne in der Kirche erscheinst, muss ich mir noch mal schwer überlegen, ob ich dir mein Jawort gebe.« Sie lief zu den Hunden vor, ohne den Blick von den Männern zu nehmen. »Und fang bloß nichts mit den bemalten Mädchen an, sonst zieh ich dir die Ohren bis zum Boden runter!« Sie spannte die Hunde aus und brachte sie zu ihrem Schlafplatz hinter dem Hotel. Dort hatte Mary Redfeather bereits Strohlager hergerichtet. »Wird auch langsam Zeit, dass du kommst«, erklang die Stimme der Wirtin, als Clarissa zum Schlitten zurückkehrte und das Paket mit dem Brautkleid von der Ladefläche nahm. Die rundliche Frau, nach eigener Aussage die Tochter eines Chinesen und einer Indianerin und die Enkelin eines Russen und einer Frau, über die man nichts wusste, stand in der Tür mit einer Pfeife aus Walknochen zwischen den Lippen. Ihre Stimme klang heiser. »Ich dachte schon, du willst dich drücken.« Clarissa erwiderte ihr Lächeln. »Alex? Den lass ich nicht mehr von der Angel. Es sei denn, er lässt sich von den Mädchen im Saloon verführen.« »Dazu wird es nicht kommen, meine Liebe. Ich kenne die Mädchen noch von früher und hab ihnen Prügel angedroht, falls sie deinem Alex zu nahekommen. Und dem Wirt hab ich gesagt, dass er ihm nur so viel Whiskey geben soll, dass er morgen vor dem Altar nicht aus den Schuhen kippt. Keine Angst, er wird nicht über die Stränge schlagen, dafür habe ich schon gesorgt.« Clarissa nickte dankbar, als die Wirtin den Schlitten aufstellte und gegen die Hauswand lehnte. »Wenn ich's mir recht überlege, könnte ich selbst einen Whiskey gebrauchen, so aufgeregt, wie ich bin. Vor dem Friedensrichter war ich die Ruhe selbst, aber morgen in der Kirche, vor den vielen Leuten und in dem langen weißen Kleid ... Mir wird schon übel, wenn ich nur daran denke.« »Keine Angst«, erwiderte die Wirtin, »ich bin die ganze Zeit bei dir. Dafür sind Trauzeugen doch da.« Sie ging zur Tür. »Und jetzt komm endlich rein, oder willst du hier draußen Wurzeln schlagen? Ich hab getrockneten Lachs und Reis für deine Hunde, und für dich steht Wildeintopf auf dem Herd, den magst du doch so gern. Wenn du willst, braue ich dir frischen Kräutertee nach meinem neuen Geheimrezept. « Wie immer, wenn sie von einer Fahrt zurückkehrte, kümmerte sich Clarissa zuerst um die Hunde. Sie warteten bereits ungeduldig und jaulten aufgeregt, als sie mit dem Fressen aus dem Haus kam. Als Leithund war Smoky zuerst dran, eine Reihenfolge, die sie strikt einhielt, so wie sie für jeden Husky ein paar freundliche Worte übrig hatte, als sie ihm den Napf und frisches Wasser hinstellte. »Morgen ist ein besonderer Tag für mich«, sagte sie zu Smoky. »Alex und ich heiraten in der Kirche. Da ist die ganze Stadt auf den Beinen, und es gibt eine große Party. Erschrick nicht, wenn es ein bisschen lauter wird, hörst du?« Im Haus zog Clarissa ihre Winterkleidung aus und schlüpfte in den bequemen Hausmantel, den Mary Redfeather ihr geliehen hatte. Allerdings nur, solange sie sich den Wildeintopf und den Kräutertee schmecken ließ. Nach dem Essen bestand die Wirtin darauf, sie in ihrem neuen Brautkleid zu sehen. Sie zog es in ihrem Zimmer an, betrachtete sich minutenlang im Spiegel und zupfte nervös an dem verzierten Kragen, bevor sie ins Wohnzimmer hinabstieg. Außer ihr wohnten keine Gäste in der Pension, und die Wirtin war nicht verheiratet. »Wenn du lachst, rede ich kein Wort mehr mit dir«, drohte sie schon, bevor sie unten war. Mary Redfeather dachte nicht daran, sie auszulachen. Im Gegenteil, als Clarissa den Raum betrat, schlug sie beeindruckt die Hände vor den Mund und staunte: »Wunderschön! Du siehst wunderschön aus! Das Kleid ist einfach himmlisch! Die Leute werden hingerissen sein, wenn du morgen in der Kirche erscheinst, und Alex ... Er wird dich noch mehr lieben.« »Meinst du wirklich?« Sie strich nervös die kostbare Seide glatt. »Ist es nicht zu protzig? Weiße Kleider tragen sonst nur Töchter angesehener Familien und Prinzessinnen. Vielleicht hätte man die Spitze am Kragen weglassen sollen? Mit dem Schleier wird es vielleicht ein bisschen viel.« »Unsinn! Das Kleid ist genau richtig. Alle Frauen werden dich beneiden, wenn sie dich morgen in der Kirche sehen. Du hast dir das Weiß verdient! Wie gern hätte ich in einem solchen Kleid geheiratet, aber mein Jacky glaubte weder an Gott noch an die Geister seines Stammes und wurde schon nervös, wenn er eine Glocke läuten hörte. Er legte mir am Lagerfeuer eine Decke um die Schultern und murmelte irgendwas, und damit hatte es sich. Damit waren wir nach dem Recht unseres Stammes verheiratet. Vielleicht hat ihn Gott deshalb so früh zu sich gerufen. Wahrscheinlich hat er ihn gleich in die Hölle weitergeschickt.« »Und du meinst wirklich, ich kann so gehen?«, fragte Clarissa. »Wenn du die Stiefel weglässt und stattdessen die neuen weißen Schuhe anziehst, die mit dem letzten Schiff gekommen sind«, erwiderte sie grinsend. Obwohl sie müde von der langen Fahrt war, und ihr ein anstrengender Tag bevorstand, lag Clarissa an diesem Abend noch lange wach. Eine Weile las sie in dem Buffalo- Bill-Heftchen, das ebenfalls mit der ersten Post gekommen war, leichte Kost, die ihr sonst immer beim Einschlafen half, doch kaum hatte sie das Licht gelöscht, wälzte sie sich unruhig von einer Seite auf die andere, und versuchte vergeblich, sich in einen Traum zu flüchten. Stattdessen drang der Lärm aus dem Saloon an ihre Ohren, das Hämmern des mechanischen Klaviers, das Lachen der Männer, das Klirren der Gläser. »So ist es bei uns üblich«, hatte ihr Mary Redfeather erklärt, »der Mann tobt sich noch mal richtig aus, bevor er in den Hafen der Ehe einläuft, auch wenn er sein Jawort schon vor einem Friedensrichter gegeben hat.« Ihre Augen blitzten. »Aber keine Bange, wir haben ein Auge auf Alex, und die leichten Mädchen haben strenge Anweisung, einen großen Bogen um ihn zu machen. Mehr als ein Tänzchen ist nicht drin. Und sobald er genug getrunken hat, schließt der Wirt seine Flaschen in einen Schrank und treibt ihn zur Not mit der Schrotflinte auf sein Zimmer.« Clarissa stand auf und trat ans Fenster. Es waren keine Eisblumen mehr auf den Scheiben, dazu war es nicht mehr kalt genug, und sie konnte auf die Hauptstraße und bis zum Hotel sehen, wo sich im Erdgeschoss der Saloon befand. Vor dem Eingang hingen zahlreiche Lampions und warfen bunte Lichter auf den schmutzigen Schnee, ein sicheres Zeichen dafür, dass ein besonderer Tag bevorstand, denn sonst holte der Chinese, der die andere Hälfte des Hotels besaß, die Lampions nur am chinesischen Neujahrstag aus der Kiste. Die Tür klappte auf, und ein Mann torkelte heraus, lief einige Schritte singend über den Gehsteig und stürzte in den Schnee. In einem der Wohnhäuser ging ein Fenster auf, und eine schrille Frauenstimme rief: »Komm du mir heute Nacht nach Hause! Ich hab die Nase endgültig voll!« Edward Joscelyn, der Besitzer des Mietstalls, und seine Frau. Die beiden stritten schon seit Monaten, dachten aber gar nicht daran, sich zu trennen. Genauso wenig wie der alte Mann, der nach ihm aus dem Saloon wankte und sich an einem Telegrafenmast festhalten musste, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Er war mit der Tochter eines Häuptlings verheiratet, die das Ansehen des Stammes in Verruf bringen würde, falls sie sich von ihm trennte. »Ich hoffe, du liegst schon im Bett, Alex«, flüsterte sie. »Wäre doch peinlich, wenn du morgen einen Kater hättest und den Ring nicht finden würdest.« Aus der Ferne drang das Heulen eines Wolfes herüber. Sie blickte über die Häuser hinweg zu den bewaldeten Hängen des Spokeshut Mountain empor und glaubte wieder, die gelben Augen ihres vierbeinigen Freundes zu erblicken, ihres Schutzgeistes, wie die Indianer behaupteten; allerdings leuchteten sie diesmal weder dankbar noch besonders freundlich in der Dunkelheit. Sie wischte ihren verdunsteten Atem von der Scheibe und blickte genauer hin, bis sie die Umrisse des Wolfes deutlich sehen konnte. »Bones«, erkannte sie ihn sofort. Er stand oben auf einem Hügelkamm. »Du bist es tatsächlich! Was willst du?« Der Wolf antwortete mit einem kräftigen Heulen, das wie eine Warnung klang. Er lief einige Schritte, kehrte zurück und entfernte sich erneut. Als wollte er sie auffordern, ihm aus der Stadt zu folgen. Er blieb stehen und starrte sie lange an, schien darauf zu warten, dass sie das Haus verließ, und gebärdete sich plötzlich so nervös, als wäre der Lauf eines Gewehrs auf ihn gerichtet. Wie ein Tier, das man in die Enge getrieben hatte, drehte er sich um die eigene Achse und suchte nach einem Fluchtweg, blieb plötzlich wieder stehen und fixierte sie mit seinem stechenden Blick. »Komm mit mir!«, signalisierte ihr das Funkeln in seinen Augen. »Schnell! Du schwebst in großer Gefahr!« Sie glaubte sich in einem Albtraum und schloss die Augen, vertrieb den Schwindel, den sie beim Anblick des nervösen Wolfes empfunden hatte, und öffnete sie zögernd wieder. Bones war verschwunden, als wäre er niemals da gewesen. Sie schalt sich eine Närrin, weil sie einem Albtraum aufgesessen war, kehrte erschöpft in ihr Bett zurück und war wenig später eingeschlafen.
2
Noch bevor die ersten Sonnenstrahlen zum Fenster hereinfielen, wachte sie auf. Sie starrte verwirrt zur Decke empor und brauchte eine Weile, um sich von den düsteren Träumen der Nacht zu lösen. Oder hatte sie den Wolf wirklich gesehen? Wollte er sie mit seinem durchdringenden Blick vor einem Unglück warnen? An diesem Morgen war es ihr unmöglich, zwischen Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden, nicht einmal ihre Umgebung erkannte sie auf Anhieb. Erst als sie ihre Decken zurückschob und sich aufsetzte, wurde ihr bewusst, dass sie sich in der Pension von Mary Redfeather befand und mit der aufgehenden Sonne einer der wichtigsten Tage ihres Lebens begann. Ein zufriedenes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Alex und sie hatten den Termin immer wieder verschoben, zuerst aus Angst, Frank Whittler könnte auf sie aufmerksam werden und seine Männer auf sie hetzen, dann wegen des heißen Sommers oder des strengen Winters, oder weil sie einfach noch nicht bereit für die feierliche Zeremonie waren. Jetzt hatten sie sich endlich dazu entschlossen, und der begeisterte Zuspruch ihrer neuen Freunde und Bekannten in Port Essington zeigte ihnen, dass sie das Richtige getan hatten. Ohne kirchlichen Segen war man auch in der kanadischen Wildnis nur ein halber Mensch. Dennoch blieb ihre Freude verhalten. Es gelang ihr nicht, die erneute Begegnung mit Bones aus ihren Gedanken zu verbannen, und die Vorstellung, seine Warnung könnte ihrer Hochzeit gegolten haben, einer drohenden Gefahr, die auf sie in der Kirche oder auf der anschließenden Party wartete, ließ sie so nervös werden, dass sie zu zittern begann. Sie schob es auf die Kälte, die sogar durch das geschlossene Fenster in den Raum drang, und schlüpfte in den Hausmantel. Am frühen Morgen war es immer noch empfindlich kalt. Barfuß trat sie ans Fenster und blickte auf die Hauptstraße hinab. Die Sonne kroch bereits über den Spokeshute Mountain und die vorgelagerten Inseln und tauchte die Häuser in orangefarbenes Zwielicht, das ihren Fassaden zumindest für ein paar Minuten das verwitterte Aussehen nahm und selbst den schmutzigen Schnee verführerisch aussehen ließ. Wie eine Frau, die ihr verhärmtes Gesicht unter der Schminke versteckte, hatte ihre Freundin mal gesagt. Wie viele Indianerinnen hatte sie ein Faible für blumige Vergleiche. Clarissas erster Blick galt dem Hügelkamm, auf dem Bones verharrt und sie angeblickt hatte. Dort war niemand zu sehen. Sie wäre gern auf den Hügel gestiegen, um Spuren oder einen anderen Beweis dafür zu finden, dass er in der Nacht tatsächlich dort gestanden hatte, aber der Aufstieg würde viel zu lange dauern, und man würde sie wahrscheinlich für verrückt erklären. Selbst Alex hatte ihr nie abgenommen, dass Bones tatsächlich ihr Schutzgeist war.
Wahrscheinlich hatte sie nur schlecht geträumt, und ihre ganze Aufregung war umsonst. Auch wenn sie vor dem Gesetz schon verheiratet waren, stand ihr doch ein wichtiger und einschneidender Moment in ihrem Leben bevor, und es kam nicht von ungefähr, dass sie nervös war, und ihre Fantasie seltsame Blüten trieb. Was sollte schon passieren? Sie waren unter guten Freunden und Bekannten, die sie gegen sämtliche Störenfriede schützen würden, und weder bei Alex noch bei ihr bestand die geringste Gefahr, dass sie die entscheidende Frage des Pfarrers mit »Nein« beantworteten. Es war nur die übliche Nervosität vor dem großen Ereignis, die wohl jede Frau empfand. Sie hatte schon von Frauen gehört, die wenige Stunden vor der Trauung ihre Hochzeit absagen wollten. Nein, so verrückt war sie nicht. In Alex hatte sie den Mann gefunden, nach dem sie sich ihr ganzes Leben gesehnt hatte, einen rauen Burschen, der auch mal über die Stränge schlagen konnte, wenn er mit anderen Männern zusammen war, sich ihr gegenüber jedoch so sanft und gefühlvoll gab, wie er es wohl selbst nicht für möglich gehalten hätte. Kein Angeber wie viele Männer, die sie in Vancouver kennengelernt hatte, aber auch kein ungehobelter Wilder, der sich eine Indianerin oder ein leichtes Mädchen für den Winter kaufte. Ein leises Geräusch ließ sie zusammenzucken, als ob jemand einen Kiesel gegen die Hauswand geworfen hätte. Sie trat noch dichter an das Fenster heran und schreckte sofort wieder zurück, als ein Kiesel die Scheibe traf und ein klirrendes Geräusch hinterließ. Verstört schob sie das Fenster nach oben.
In der schmalen Gasse zwischen der Pension und dem Nachbarhaus stand Maggie, ihre indianische Freundin aus Kwinitsa, die Frau, die ihr Hochzeitskleid genäht hatte. »Maggie!«, rief sie mit gedämpfter Stimme nach unten. »Was tust du denn hier? Die Trauung beginnt doch erst um zehn.« »Ich muss dich dringend sprechen!«, rief Maggie. »Komm zur Hintertür! Ich mache dir auf.« Sie schlüpfte in ihre Hausschuhe und stieg leise die Treppe hinunter. Im Haus brannte kein Licht. Es war noch keine sechs, und sie hatte sich erst für acht Uhr mit Mary Redfeather zum Frühstück verabredet. Sie öffnete die Tür. »Maggie! Was ist denn passiert? Bist du mit dem Hundeschlitten hier?« »Steht vor dem Haus. Darf ich reinkommen?« Sie klang gehetzt. »Natürlich.« Clarissa zog die Tür auf und machte den Weg zur Treppe frei. »Aber sei leise! Mary schläft noch.« Sie schloss die Tür und folgte Maggie. In ihrem Zimmer blieben beide stehen. »Ich bin gekommen, um dich zu warnen«, sagte Maggie. Sie war einige Jahre jünger als Clarissa, trug eine Jacke, die sie aus einer Decke der Hudson's Bay Company geschneidert hatte, Männerhosen und feste Stiefel. Ihre halblangen Haare ragten unter einer Biberfellmütze hervor. »Ein Mann hat in Kwinitsa nach dir gefragt. Er behauptet, du wärst ... Du wärst eine gemeine Diebin.« Clarissa sank entsetzt auf ihr Bett zurück. Das war es also! Sie hatte sich Bones nicht eingebildet, er war ihr tatsächlich gefolgt und hatte sie schon vor Einbruch der Nacht gewarnt. »Frank Whittler?«, fragte sie, nachdem sie sich einigermaßen von ihrem Schrecken erholt hatte. »Hieß er Frank Whittler?« »Er hat mir seinen Namen nicht gesagt, aber er trägt eine teure Pelzjacke und hat genug Geld dabei, um einen Indianer zu bezahlen, der ihn mit seinem Hundeschlitten durch das Land fährt. Er ist ein reicher und bedeutender Mann. Er behauptet, du hättest ihm mehrere hundert Dollar gestohlen, und er hätte sogar einen glaubhaften Zeugen dafür.« »Unsinn! Was hast du ihm geantwortet, Maggie?« Das Gesicht der Freundin heiterte sich etwas auf. »Ich habe ihm gesagt, dass ich eine Frau, auf die seine Beschreibung passt, auf der Wagenstraße nach Williams Lake getroffen hätte. Du hättest mir verraten, dass du in die Vereinigten Staaten unterwegs wärst ... über die Grenze. Du hättest es eilig gehabt.« »Und er hat dir geglaubt? Ihr Lächeln verstärkte sich. »Wenn es sein muss, bin ich eine gute Lügnerin. Nicht mal der Indianer schöpfte Verdacht. Er kommt aus dem Süden ... Er weiß nichts. Frank Whittler hat keine Ahnung, dass du hier bist, Clarissa.« »Vielleicht doch. Ich bin hier nicht mehr sicher, Maggie.« »Willst du wegziehen?« »Wäre vielleicht das Beste«, antwortete sie ihrer Freundin. Die Nachricht von Whittlers Auftauchen hatte sie so aufgewühlt, dass sie jetzt schon darüber nachdachte, die Stadt zu verlassen. Vielleicht hatten sie Whittler unterschätzt und waren nicht weit genug geflohen. Wer wusste schon, was in so einem Mann vorging?
Sie würde mit Alex darüber sprechen, gleich nach der Hochzeitsnacht. Den feierlichsten Augenblick ihres Lebens würde sie sich nicht durch Whittler verderben lassen. Aber später ... In drei Tagen ging das Dampfschiff nach Alaska in Port Essington vor Anker. Wenn sie tatsächlich verschwinden mussten, was sie nicht hoffte, wäre das Land im Hohen Norden ein gutes Ziel, so traurig es wäre, sich von Freunden wie Maggie und Mary Redfeather verabschieden zu müssen. »Bist du sicher, dass er umgekehrt ist?«, fragte sie. »Ganz sicher«, erwiderte Maggie. »Er hat noch ein paar andere Leute gefragt, aber die haben ihm wohl was Ähnliches gesagt. Du hast viele Freunde bei meinem Stamm, Clarissa, und in Kwinitsa wohnen fast nur Indianer.« Sie lächelte. »Meine Brüder verfolgen ihn heimlich. Falls er es sich anders überlegt und umkehrt, sagen sie mir Bescheid. Du kannst dich auf sie verlassen, Clarissa.« Sie zögerte. »Du hast ihn doch nicht bestohlen, Clarissa, oder?« »Nein, ich habe ihn nicht bestohlen«, antwortete Clarissa leise. Ihr Blick war in das Halbdunkel des Zimmers gerichtet, er wich den Sonnenstrahlen aus, die durch das Fenster fielen und helle Streifen auf den Boden warfen. »Ich habe dir bisher nie von ihm erzählt, weil ich ... Ich wollte niemanden damit belästigen. Aber ich habe ihn nicht bestohlen. Das ... Das musst du mir glauben, Maggie.« »Ich glaube dir ... Du bist eine ehrliche Frau.« Clarissa hob den Kopf und sah ihrer Freundin in die Augen. »Zieh deine Jacke aus, und setz dich zu mir. Ich erzähle dir, was in Vancouver passiert ist.« Sie wartete, bis die Indianerin neben ihr saß und schilderte ihr in nüchternen Worten, wie Whittler versucht hatte, sie zu vergewaltigen, und wie sie sich erfolgreich gewehrt hatte und geflohen war. »Sie haben uns gejagt, er und seine Männer, aber wir konnten ihnen entkommen, und als man die Brieftasche fand und sich herausstellte, dass ich unschuldig war, glaubten wir, in Sicherheit zu sein.« Dass ihr ein geheimnisvoller Wolf dabei geholfen hatte, verschwieg sie. »Frank Whittler war sehr wütend auf mich, auf mich und Alex, und ich hatte Angst, dass er uns auch weiterhin folgen würde. Ein eingebildeter Stadtfrack wie er kann es nicht verwinden, wenn man ihn in seine Schranken weist. Schon gar nicht, wenn er gegen eine ... eine Haushälterin verliert.« Sie seufzte bedrückt. »Ich frage mich, warum er plötzlich wieder nach mir sucht ... Nach zwei Jahren. Und wer hat ihm verraten, dass Alex und ich nach Norden gezogen sind? Er kennt ja noch nicht mal meinen Namen.« »Den Nachnamen schon«, erwiderte Maggie lächelnd. »Ich glaube nicht, dass er dich hier oben vermutet hat. Die meisten Weißen denken doch, hier wäre die Welt zu Ende, und hier lebten nur noch Indianer. Die Idee, so weit nördlich nach dir zu suchen, hatte sicher sein Indianer. Whittler dachte wahrscheinlich, du hättest dich in den Bergen versteckt. In einer einsamen Blockhütte.« »Oder dass ich längst in den Staaten bin.« Clarissa schüttelte den Kopf. »Er muss schon sehr verzweifelt sein, wenn er immer noch nach mir sucht. Oder besessen ... Ich glaube, er ist besessen. Ein Adeliger, den ich in seiner Ehre verletzt habe, weil ich mich ihm nicht hingegeben habe.« Bei der Erinnerung daran, wie er in ihr Zimmer gestürmt war und ihr sein Knie zwischen die Beine gedrängt hatte, lief ihr ein Schauer über den Rücken. Sie verzog angewidert ihr Gesicht. »Und er behauptet einen Zeugen zu haben?« Maggie nickte. »Ein Mann hätte gesehen, wie du ihm die Brieftasche gestohlen hast. Es wäre so schnell passiert, dass er dich nicht zurückhalten konnte, und du wärst sofort in der Menge verschwunden ... in Vancouver.« »In Vancouver?« Clarissa hätte beinahe gelacht. »Ich war seit über zwei Jahren nicht mehr in Vancouver! Aber was spielt das für eine Rolle, wenn er einen angeblichen Zeugen hat. Sicher ein angesehener Geschäftsmann, der seiner Familie noch was schuldig ist. Wenn es ernst wird, halten diese Bonzen alle zusammen.« Sie zog den Morgenmantel am Kragen zusammen und blinzelte in das helle Sonnenlicht, das jetzt den Raum erhellte. »Danke, dass du hergekommen bist und mich gewarnt hast. Du bist eine echte Freundin.« Maggie bedankte sich, indem sie ihr eine Hand auf den Unterarm legte. »Ich wollte dir nicht die Freude verderben, Clarissa. Auf den schönsten Tag deines Lebens darf kein Schatten fallen. Hab keine Angst! Meine Brüder passen auf, dass Whittler nicht zurückkommt. Nichts wird deine Freude stören.« »Und du bist meine Trauzeugin, nicht wahr?« Maggie entspannte sich. »Natürlich, und ich habe in der Eile nicht mal vergessen, mein gutes Kleid mitzunehmen. Kann ich mich bei dir waschen?« »Sicher. Mary kommt sicher jeden Augenblick ...« Es klopfte, und auf ihr »Herein!« betrat Mary Redfeather den Raum. »Clarissa! Jetzt wird es aber höchste Zeit, dass du ...« Erst jetzt sah sie in dem Sonnenlicht, das sie durchs Fenster blendete, Maggie auf dem Bett sitzen. »Maggie? Du bist schon hier? Ich wette, du bist genauso aufgeregt wie ich.« »Ich konnte nicht mehr schlafen.« Ein schneller Blickkontakt mit Clarissa warnte sie davor, Whittler zu erwähnen. »Dabei bin ich nur Trauzeugin.« »Wie wär's mit einem herzhaften Frühstück? Rühreier mit Speck.« »Klingt gut. Sie sind sehr freundlich, Mary.« »Meine Mutter war Indianerin«, antwortete sie fröhlich. Das Frühstück schmeckte köstlich, doch während die Wirtin und Maggie herzhaft zugriffen, bekam Clarissa nur ein paar Bissen und etwas Kaffee herunter. Vielleicht war es auch die Angst, wieder in die Hände von Frank Whittler zu fallen, die ihr so zusetzte, dass sie kaum ein Lächeln zustande brachte. Erst nachdem sie sich gewaschen und zurechtgemacht hatte und in ihrem Brautkleid und den neuen Schuhen vor dem Spiegel stand, zeigte sich so etwas wie Zufriedenheit in ihren Augen. Das Kleid saß perfekt, und der Schleier, der mit einigen Nadeln an ihren hochgesteckten Haaren befestigt war, umrahmte ihr Gesicht, das sie mit etwas Puder aufgehellt hatte. Das grelle Make-up, das die Frauen in den großen Städten trugen, gefiel ihr nicht. Um den Hals trug sie eine Kette mit dem Amulett aus Elfenbein, das ihr Alex geschenkt hatte. »So eine schöne Braut gab es hier noch nie«, sagte Mary Redfeather beeindruckt. »Die Leute werden mächtig Augen machen, wenn du in die Kirche kommst. Ich hoffe nur, Alex vergisst vor lauter Staunen nicht, Ja zu sagen.«
Clarissa lächelte stolz. »Keine Angst, wir haben lange geübt.« Um kurz vor zehn gingen sie gemeinsam zur Kirche. Mary Redfeather und Maggie, ebenfalls in ihren besten Kleidern, führten sie über die Planken, die man über den Schnee gelegt hatte, zu der kleinen Kirche am Stadtrand. Die Glocke in dem klobigen Erker auf dem Giebeldach läutete hell. Als sie der Kirchendiener, der aufgeregt vor der Tür wartete, entdeckte und hastig in der Kirche verschwand, verstummte die Glocke, und die Frau des Pastors, die auch an diesem Morgen an der Orgel saß, spielte den Hochzeitsmarsch mit solcher Inbrunst, dass die hölzernen Wände zu beben schienen. »Nur Mut!«, flüsterte ihr Mary Redfeather zu, als sie die vollbesetzte Kirche betraten. Weil weder Clarissa noch Alex lebende Verwandte hatten, übernahmen es die Trauzeugen, die Brautleute zum Altar zu führen. Neben Alex, der bereits vor dem Altar wartete, stand ein befreundeter Fischer, der im Sommer frische Lachse gegen frisches Wild mit ihm tauschte, und Clarissa schritt an der Seite von Maggie über den grauen Teppich. Sie spürte die Blicke der ganzen Gemeinde auf sich gerichtet, alle fröhlich und voller Vorfreude auf die feierliche Zeremonie. Die beleibte Frau des Gemischtwarenhändlers zwinkerte ihr zu. Doch Clarissas Blick war nur auf Alex gerichtet. Sein dunkler Anzug, den er sich von einem Bekannten geliehen hatte, weil er erst wieder bei seiner Beerdigung so vornehm gekleidet sein wollte, saß etwas zu locker, und die Hose hing über seine polierten Schuhe, und auch seine mit Frisiercreme geglätteten Haare passten nicht besonders zu ihm, aber seine Augen waren immer noch dieselben und strahlten voller Bewunderung, als sie lächelnd neben ihn trat. »Du siehst wundervoll aus, Clarissa!«, flüsterte er ihr zu. »Und du erst!«, erwiderte sie. Er verstand, wie es gemeint war, und griff unwillkürlich nach seiner Krawatte, die ihn mehr noch als der steife Kragen zu behindern schien. »Du glaubst ja nicht, wie lange es gedauert hat, bis der Anzug einigermaßen saß.« »Liebe Gemeinde ...«, begann der Pastor. Clarissa vernahm die salbungsvollen Worte des Pastors wie aus weiter Ferne. Bedeutungslos verhallten sie in ihren Ohren. Sie hatte plötzlich das Gefühl, allein mit Alex in der Kirche zu stehen, nur er und sie, und lächelte verliebt, als er verstohlen nach ihrer Hand griff und sie nervös drückte. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte ihn schon jetzt vor allen Leuten geküsst und ihm ins Ohr geflüstert, dass sie ihn liebte, und nichts sie jemals trennen könnte. Das hätte ihn wohl noch verlegener gemacht, als er jetzt schon war, ihm vielleicht sogar die Schamesröte ins Gesicht getrieben, weil er seine Zuneigung ungern vor anderen zeigte und wahrscheinlich froh war, wenn die Zeremonie vorüber war und er endlich aus seinem schwarzen Anzug kam. Die Aufforderung des Pastors kam so plötzlich, dass Clarissa sie beinahe überhört hätte. »Ja ... natürlich«, rief sie so laut und nervös, dass sich selbst der Pastor ein leichtes Schmunzeln nicht verkneifen konnte. Erst dann sprach sie ihm nach: »Ich, Clarissa, nehme dich, Alex, zu meinem angetrauten Mann, will dich von diesem Tage an lieben, in guten wie in schlechten Tagen, bis dass der Tod uns scheidet, so wahr mir Gott helfe.« Sie lächelte aufmunternd, als Alex ihr mit zitternden Fingern den Ring ansteckte und er die feierlichen Worte sprach: »Trage diesen Ring als Zeichen unserer Liebe und Treue!« »Du darfst die Braut jetzt küssen, Alex«, sagte der Pastor. Sie küssten sich, sehr zur Freude aller Anwesenden, und strahlten, als sie die Kirche unter dem Beifall ihrer Freunde und Bekannten verließen. Erst als das Heulen eines Wolfes von den Berghängen herabdrang, gefror Clarissas Lächeln, und ihr wurde die große Gefahr bewusst, in der sie beide schwebten.
3
Nach der Trauung brauchte Clarissa ihre ganze Kraft, um Alex die betrübliche Nachricht nicht schon während der Feier zu verraten. Er wirkte so fröhlich und ausgelassen, als er den Hochzeitskuchen anschnitt, dass sie es nicht übers Herz gebracht hätte, ihm in diesem feierlichen Augenblick die Stimmung zu verderben. Wenn sie schon unter den schlechten Neuigkeiten litt, sollte wenigstens er die Hochzeitsfeier genießen. Sie wollte sich alle Mühe geben, ihm den Abend zu versüßen und ihm auch nachts geben, wonach er sich sehnte, so sehr sie das Heulen des geheimnisvollen Wolfes auch zur Eile mahnte. Vorerst waren sie sicher. Maggies Söhne würden sie warnen, falls Whittler auf die Idee kam umzukehren. Was sollte ihnen schon passieren? Beim Eröffnungswalzer machten sie keine gute Figur. Weder Alex noch sie hatten Tanzen gelernt, schon gar nicht Wiener Walzer, und sie stolperten mehr schlecht als recht über die Tanzfläche. Die Hochzeitsgäste störte es nicht. Sie applaudierten begeistert und schwangen selbst das Tanzbein, als die Kapelle, die aus dem Schmied und seinen drei Söhnen bestand, eine Polka anstimmte, und man nur noch über den Bretterboden zu hüpfen brauchte. Selbst der Mietstallbesitzer und seine Frau, die sich vor wenigen Stunden noch heftig gestritten hatten, machten mit, und zum ersten Mal seit vielen Wochen huschte ein Lächeln über ihre sonst so grimmigen Gesichter. Daran war wohl auch die süffige Pfirsichbowle schuld. Der Inhaber des Gemischtwarenladens hatte seinen gesamten Vorrat an Dosenpfirsichen und der Wirt des Saloons einige Flaschen seines besten Weins und Sekts beigesteuert. Alex, ansonsten immer für einen kräftigen Schluck zu haben, hielt sich bei der Bowle auffällig zurück. Er flüsterte Clarissa mehrmals ins Ohr, wie wunderschön sie in ihrem Brautkleid aussah und dass er es gar nicht mehr erwarten könnte, endlich mit ihr im Hotel zu verschwinden, wie ein Mann, der seine Liebste zum ersten Mal in ihr Zimmer begleiten darf. Clarissa erwiderte seine Schmeicheleien mit einem bemühten Lächeln, das ihre Stimmung kaum verhehlte. Warum hatte der Wolf nicht später geheult? Warum war Maggie nicht erst am nächsten Morgen mit der schlechten Nachricht gekommen? Wie gern hätte Clarissa mit ihrem angetrauten Mann und ihren Gästen so unbeschwert und ausgelassen gefeiert, wie sie und Alex es verdient hatten. Gegen Mitternacht, eigentlich keine Zeit für Alex, der nach vielen Wochen in der Wildnis gern über die Stränge schlug, zog er sie nah an sich heran und sagte: »Was hältst du davon, wenn wir uns klammheimlich davonmachen, Lady?« Er begleitete das spöttische »Lady« mit einem breiten Grinsen. »Ich glaube, wir waren lange genug auf unserer Hochzeit. Im Hotel haben sie das schönste Zimmer für uns reserviert. Wäre doch jammerschade, wenn wir das nicht ausnützen würden.«
Copyright © 2013 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH
- Autor: Christopher Ross
- 2012, 333 Seiten, Deutsch
- Verlag: Weltbild Deutschland
- ISBN-10: 3863657276
- ISBN-13: 9783863657277
- Erscheinungsdatum: 01.10.2012
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