Das geraubte Leben des Waisen Jun Do (ePub)
Roman
Pak Jun Do hat noch nie einen Film gesehen, kaum je ein Werbeplakat, er findet es merkwürdig, dass woanders Leute Tiere im Haus halten, und wundert sich über Maschinen, die Geld auswerfen. Er kennt keine Ironie, keine Kunst, keine Mode und keine Magazine....
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Das geraubte Leben des Waisen Jun Do (ePub)“
Pak Jun Do hat noch nie einen Film gesehen, kaum je ein Werbeplakat, er findet es merkwürdig, dass woanders Leute Tiere im Haus halten, und wundert sich über Maschinen, die Geld auswerfen. Er kennt keine Ironie, keine Kunst, keine Mode und keine Magazine. Aufgewachsen im nordkoreanischen Waisenhaus Frohe Zukunft, ist er ein winziges Rädchen im großen Getriebe der absurd-grausamen Herrschaft des »Geliebten Führers« Kim Jong Il. Schon ein falsches Wort kann jeden sofort ins Lager bringen.
Doch mit der Zeit beginnt Jun Do an etwas zu glauben, was stärker ist als Staatstreue: Freundschaft und Liebe. Als er die Schauspielerin Sun Moon trifft, lernt er das bedingungslose Vertrauen in einen anderen Menschen kennen. Und nur dafür lohnt es sich zu überleben.
Doch mit der Zeit beginnt Jun Do an etwas zu glauben, was stärker ist als Staatstreue: Freundschaft und Liebe. Als er die Schauspielerin Sun Moon trifft, lernt er das bedingungslose Vertrauen in einen anderen Menschen kennen. Und nur dafür lohnt es sich zu überleben.
Lese-Probe zu „Das geraubte Leben des Waisen Jun Do (ePub)“
Das geraubte Leben des Waisen Jun Do von Adam Johnson Aus dem amerikanischen Englisch von Anke Caroline Burger.
Der Mann, der Sun Moon liebt
Jun Do träumte von Haien, die ihn bissen, von der Schauspielerin Sun Moon, die verzweifelt blinzelte, so wie damals Rumina, als sie den Sand in die Augen bekommen hatte. Er träumte vom Zweiten Maat, der immer weiter in das grelle Licht hineintrieb. Schmerzen durchzuckten ihn - schlief er oder war er wach? Seine Augäpfel kreisten unter zugeschwollenen Lidern. Der endlose Fischgestank. Das Schrillen der Fabriksirenen markierte den Anbruch eines Heldentags der Arbeit, und dass es Nacht geworden war, wusste er, wenn zusammen mit dem Strom das Summen eines Kühlschranks in seiner Nähe ausging.
All seine Gelenke waren wie eingerostet, und wenn er tief einatmete, entfesselte das ein Höllenfeuer aus Schmerz. Als sein guter Arm endlich hinübergreifen und den verletzten betasten konnte, spürte er dort etwas wie die dicken Borsten einer Pferdebremse - man hatte ihn scheinbar mit einem festen Faden zusammengeflickt. Sehr dunkel erinnerte er sich daran, wie man ihm die Treppe des Wohnblocks hinaufgeholfen hatte, in die Wohnung des Zweiten Maats und seiner Frau.
Der Lautsprecher der Propaganda unterhielt ihn tagsüber. Am Nachmittag kam sie aus der Konservenfabrik nach Hause, an den Händen noch schwacher Maschinenölgeruch. Der kleine Teekessel rasselte und pfiff, und sie summte beim Kim-Jong-Il-Marsch mit, der immer am Ende der Nachrichten gespielt wurde. Dann desinfizierten ihre vom Alkohol eiskalten Hände seine Wunden. Dieselben Hände rollten ihn nach rechts und nach links, um die Laken zu wechseln, und er glaubte, den Ehering an ihrem Finger zu spüren.
... mehr
Bald ließen die Schwellungen nach, und seine Augen waren nicht mehr entzündet, sondern nur noch verklebt. Mit einem dampfend heißen Waschlappen weichte sie den Schorf auf. »Da ist er ja«, sagte die Frau des Zweiten Maats, als er endlich wieder sehen konnte. »Der Mann, der Sun Moon liebt.«
Jun Do hob den Kopf. Er lag unter einem hellgelben Laken nackt auf einer Pritsche am Boden. Er erkannte die Lamellenfenster des Wohnblocks. Quer durchs Zimmer waren Drähte gespannt, an denen kleine Barsche wie Wäschestücke zum Trocknen aufgehängt waren.
Sie sagte: »Mein Vater war überzeugt, dass seine Tochter nicht zu hungern bräuchte, wenn sie einen Fischer heiratet.« Er sah die Frau des Zweiten Maats an.
»In welchem Geschoss sind wir hier?«, fragte er.
»Im zehnten.«
»Wie hast du mich hier hochgekriegt?«
»So schwer war das nicht. So, wie mein Mann dich beschrieben hat, dachte ich, du wärst viel größer.« Sie fuhr ihm mit dem warmen Waschlappen über die Tätowierung, das Bild Sun Moons auf seiner Brust, und er versuchte, nicht zusammenzuzucken. »Deine arme Schauspielerin, ganz blau und grün im Gesicht. Alt sieht sie aus, als ob ihre besten Zeiten vorüber wären. Kennst du ihre Filme?«
Als er den Kopf schüttelte, tat sein Nacken weh.
»Ich auch nicht«, sagte sie. »Nicht in diesem Provinzkaff. Der einzige Film, den ich gesehen habe, war aus dem Ausland. Eine Liebesgeschichte.« Sie tauchte den Waschlappen wieder in heißes Wasser und tupfte die wulstigen Nähte auf seinem Arm ab. »Er handelte von einem Schiff, das gegen einen Eisberg fährt, und alle sterben.«
An der Wand, unterhalb der Bildnisse des Großen und des Geliebten Führers, war ein kleines Regal, auf dem die Amerikaschuhe des Zweiten
Maats standen. Jun Do zerbrach sich den Kopf darüber, wie er sie nach Hause geschafft haben mochte, wo doch die gesamte Besatzung dabei zugesehen hatte, wie die Dinger über Bord gingen. An die Wand gepinnt war die große Seekarte der Junma. Das gesamte Koreanische Ostmeer war darauf zu sehen; alle anderen Karten an Bord bezogen sich auf diese Hauptkarte. Alle hatten angenommen, dass sie zusammen mit den anderen dem Feuer zum Opfer gefallen war. Stecknadeln markierten sämtliche Fischgründe, die sie angefahren hatten, und im Norden waren an mehreren Stellen mit Bleistift Koordinaten eingetragen.
»Das ist eine Karte mit allen Orten drauf, wo er schon war«, sagte sie. »Die roten Nadeln sind Städte, von denen er schon mal gehört hat. Er hat immer davon geredet, wohin er mal mit mir fahren würde.«
Sie sah Jun Do fragend in die Augen.
»Was ist?«, fragte er.
»Hat er das wirklich gemacht? Hat er wirklich einen Trupp amerikanischer Soldaten mit dem Messer bedroht, oder ist das irgendein Schwachsinn, den ihr euch ausgedacht habt?«
»Und warum würdest du mir glauben?«
»Weil du vom Geheimdienst bist«, antwortete sie. »Weil dir sowieso alle hier in diesem Scheißkaff egal sind. Wenn dein Auftrag erledigt ist, gehst du zurück nach Pjöngjang und denkst nie wieder an uns Fischerleute.«
»Und was ist mein Auftrag?«
»Es wird einen Krieg auf dem Meeresgrund geben«, vertraute sie ihm an. »Vielleicht hätte mir mein Mann das nicht erzählen dürfen, hat er aber getan.«
»Das ist lächerlich«, sagte er. »Ich bin Funker, nichts weiter. Und, ja, dein Mann hat sich der amerikanischen Marine mit nichts als einem Messer bewaffnet gegenübergestellt.«
Voll stummer Bewunderung schüttelte sie den Kopf.
»Er hatte so viele verrückte Pläne«, sagte sie. »Wenn man das hört, sollte man fast glauben, dass er einen davon in die Tat umgesetzt hätte, wenn er nicht umgekommen wäre.«
Sie löffelte Jun Do gesüßtes Reiswasser in den Mund, rollte ihn dann wieder auf den Rücken und deckte ihn zu. Es wurde dunkel im Zimmer, und bald würde der Strom abgeschaltet.
»Ich muss noch mal weg«, sagte sie. »Wenn etwas ist, ruf einfach, dann ist die Blockwartin sofort an der Tür. Die steht schon auf der Matte, wenn hier jemand einen fahren lässt.«
Sie wusch sich bei der Tür, wo er sie nicht sehen konnte. Er hörte nur das Wispern des Waschlappens auf ihrer Haut und das Wasser, das von ihrem Körper in die Schüssel tropfte, in der sie hockte. Er fragte sich, ob es derselbe Lappen war, mit dem sie auch ihn gewaschen hatte.
Dann stand sie vor ihm in einem Kleid, dem man ansah, dass es von Hand ausgewrungen und zum Trocknen aufgehängt worden war. Sie war eine echte Schönheit, hochgewachsen und breitschultrig und doch in eine Schicht weichen Babyspecks gehüllt, das sah er, auch wenn seine Augen noch etwas verklebt waren. Ihre Augen waren groß, ihr Blick schwer zu lesen, ein schwarzer Pagenschnitt rahmte ihr rundes Gesicht ein. In der Hand hielt sie ein Englischwörterbuch. »Ich habe schon öfter Leute gesehen, die sie so fertiggemacht haben wie dich«, sagte sie. »Du wirst wieder gesund.« Und dann fügte sie auf Englisch hinzu: »Sweet dreams!«
Am Morgen fuhr er aus dem Schlaf - ein Traum, der in stechendem Schmerz geendet hatte. Das Betttuch roch nach Zigaretten und Schweiß. Da wusste er, dass sie neben ihm geschlafen hatte. Als er sich endlich aufgesetzt hatte, war sie nirgendwo zu sehen. Das Licht wurde vom Meer zurückgeworfen und erfüllte das Zimmer mit strahlender Helligkeit. Er hob das Laken: Blaue und grüne Blutergüsse blühten auf seiner Brust, seine Rippen waren mit offenen Platzwunden übersät. Die Nähte waren verkrustet, und man roch, dass sie vereitert waren. Der Lautsprecher grüßte ihn: »Bürger, heute wurde bekannt gegeben, Am Morgen fuhr er aus dem Schlaf - ein Traum, der in stechendem Schmerz geendet hatte. Das Betttuch roch nach Zigaretten und Schweiß. Da wusste er, dass sie neben ihm geschlafen hatte. Als er sich endlich aufgesetzt hatte, war sie nirgendwo zu sehen. Das Licht wurde vom Meer zurückgeworfen und erfüllte das Zimmer mit strahlender Helligkeit. Er hob das Laken: Blaue und grüne Blutergüsse blühten auf seiner Brust, seine Rippen waren mit offenen Platzwunden übersät. Die Nähte waren verkrustet, und man roch, dass sie vereitert waren. Der Lautsprecher grüßte ihn: »Bürger, heute wurde bekannt gegeben, dass eine nordkoreanische Delegation Amerika besuchen wird, um die Schwierigkeiten zu diskutieren, die zwischen unseren beiden mächtigen Nationen bestehen.« Dann ging die Radiosendung gemäß der gewohnten Formel weiter: Belege für die weltweite Anerkennung Nordkoreas, ein weiteres Exempel der gottgleichen Weisheit Kim Jong Ils, ein neuer Tipp, wie die Bürger dem Hungertod entgehen konnten, und schließlich Ermahnungen verschiedener Ministerien an die Zivilbevölkerung.
Zugluft brachte die Trockenfische an der Leine zum Schwanken; ihre Flossen sahen so durchsichtig aus wie Transparentpapier. Zum ersten Mal seit Tagen bekam Jun Do Hunger.
Die Tür ging auf, und die Frau des Zweiten Maats kam schwer atmend herein.
Sie schleppte einen Koffer und zwei Fünf-Liter-Wasserbehälter. Sie schwitzte und hatte ein seltsames Grinsen im Gesicht.
»Wie findest du meinen neuen Koffer?«, fragte sie. »Hab ich getauscht.«
»Was hast du dafür hergegeben?«
»Ist doch egal«, sagte sie. »Kannst du dir vorstellen, dass ich nicht mal einen Koffer hatte?«
»Wahrscheinlich bist du nie verreist.«
»Wahrscheinlich bin ich nie verreist«, sagte sie zu sich selbst.
Sie schöpfte ihm etwas Reiswasser in eine Plastiktasse.
Er trank und fragte dann:
»Vermissen die dich gar nicht in der Konservenfabrik?«
Sie gab keine Antwort, sondern kniete sich hin und durchwühlte die Kofferfächer nach Hinterlassenschaften des Vorbesitzers.
Jun Do sagte: »Du kriegst bestimmt eine Selbstkritiksitzung aufgebrummt. «
»Ich gehe nicht mehr in die Konservenfabrik«, erklärte sie.
»Gar nicht mehr?«
»Nein«, antwortete sie. »Ich gehe nach Pjöngjang.«
»Du gehst nach Pjöngjang.«
»Ganz genau«, sagte sie. Im Innenfutter des Koffers fand sie abgelaufene Reisepapiere, die an jeder Kontrollstelle zwischen Kaesng und Ch'ongjin abgestempelt worden waren. »Meistens dauert es mehrere Wochen, aber ich habe irgendwie ein gutes Gefühl. Vielleicht passiert es ja schon morgen.«
»Was passiert morgen?«
»Dass sie einen Ersatzmann für mich finden.«
»Und du glaubst also, der ist in Pjöngjang?«
»Ich bin die Frau eines Helden«, erwiderte sie.
»Die Witwe, meinst du.«
»Sag das nicht. Witwe klingt furchtbar.«
Jun Do trank sein Reiswasser aus und legte sich ganz, ganz langsam wieder hin.
»Es ist doch so«, sagte sie. »Was mit meinem Mann passiert ist, ist furchtbar. Ich darf gar nicht daran denken. Ehrlich, sobald meine Gedanken dahin wandern wollen, dann wendet sich etwas in mir einfach ab. Aber wir waren ja nur ein paar Monate verheiratet, und davon war er fast die ganze Zeit bei euch an Bord.«
Das Aufsetzen hatte Jun Do sehr angestrengt, und als sein Kopf jetzt die Pritsche berührte, war es ein herrliches Gefühl, sich der Erschöpfung zu überlassen. Ihm tat praktisch alles weh, und doch überkam ihn ein körperliches Wohlbefinden, als habe er zusammen mit seinen Kameraden den ganzen Tag geschuftet. Er schloss die Augen; als er sie wieder aufmachte, war es Nachmittag. Möglicherweise hatte ihn das Geräusch der Tür geweckt, die sich hinter ihr schloss. Er rutschte ein wenig zur Seite, bis er die andere Zimmerecke sehen konnte. Da war die Schüssel, in der sie sich wusch. Er wünschte, er könnte den Arm danach ausstrecken und fühlen, ob das Wasser noch warm war.
Von unten im Hof kam Gejohle, gefolgt von Lachen oder Weinen, das ließ sich nicht genau sagen, und Jun Do wusste, dass inmitten der Gruppe von Betrunkenen die Frau des Zweiten Maats stand. Der Lärm drang selbst in den zehnten Stock hinauf, und überall im Wohnblock ertönte das Quietschen, als die Glaslamellen aufgekurbelt wurden, weil die Bewohner sehen wollten, wer sich da unten so danebenbenahm.
Jun Do richtete sich auf, schob einen Stuhl als Gehhilfe vor sich her und schleppte sich ans Fenster. Am Himmel stand eine schmale Mondsichel, und weit unten im Hof machte er mehrere Leute an ihrem lauten Gelächter aus - zu sehen waren nur schwarze Schatten. Aber er konnte sich den Glanz ihres Haars, den Schimmer ihres Nackens und ihrer Schultern vorstellen.
Als sie zur Tür hereinschwankte, hatte er eine Kerze angezündet und saß, in sein Laken gewickelt, auf einem Stuhl. Sie hatte geweint.
»Arschlöcher«, sagte sie und steckte sich eine Zigarette an.
»Komm zurück«, rief eine Stimme von unten. »Wir haben doch nur Spaß gemacht.« Sie ging ans Fenster und warf einen Fisch auf sie. Sie drehte sich zu Jun Do um. »Was glotzt du so?« Aus einer Kommode
zog sie Kleidungsstücke ihres Mannes. »Zieh dir lieber mal ein Hemd an!« Sie warf ihm ein weißes Unterhemd ins Gesicht.
Das Hemd war zu klein und roch nach dem Schweiß des Zweiten Maats. Die Arme durchzustecken war die Hölle. »Vielleicht ist die Karaokebar ja nicht der richtige Ort für dich«, meinte er.
»Arschlöcher«, sagte sie, rauchte auf dem anderen Stuhl und starrte angestrengt an die Decke, als denke sie über etwas nach. »Den ganzen Abend haben sie auf meinen Mann getrunken, auf den Helden.« Sie fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Die haben mir mindestens zehn Glas Pflaumenwein ausgegeben. Dann haben sie angefangen, traurige Lieder in der Karaokemaschine auszusuchen. Als ich ›Pochonbo‹ gesungen hatte, war ich völlig fertig. Und dann haben sie sich darum gestritten, wer mich trösten darf.«
»Ich verstehe nicht, warum du dich mit solchen Typen abgibst.«
»Ich brauche sie«, erwiderte sie. »Mein neuer Mann wird bald ausgewählt. Ich muss einen guten Eindruck auf die Leute machen. Sie sollen wissen, wie gut ich singen kann. Das ist meine große Chance.«
»Das sind doch nur Lokalfunktionäre. Die haben gar nichts zu melden.«
Sie hielt sich den schmerzenden Bauch. »Ich hab die Nase so voll von den ständigen Fischvergiftungen, ständig muss ich Chlortabletten schlucken. Hier, riech mal, wie ich stinke. Ist es nicht unglaublich, dass mein Vater mir so was angetan hat? Wie soll ich es nach Pjöngjang schaffen, wenn ich nach Fisch und Chlor stinke?«
»Ich weiß, dass es dir ungerecht vorkommt«, tröstete Jun Do sie, »aber dein Vater wusste bestimmt, was auf dem Spiel stand. Er hat ganz sicher das gewählt, was für dich am besten war.«
»Mehrmals im Jahr kamen Männer zu uns in den Ort, oben an der Küste. Alle Mädchen wurden in einer Reihe aufgestellt, und die hübschen«
- sie legte den Kopf in den Nacken und blies den Rauch aus - »sind einfach verschwunden. Mein Vater hatte Verbindungen, er hat immer Wind davon gekriegt, und meldete mich an diesen Tagen krank. Und dann hat er mich hierhergeschickt. Und wozu, kannst du mir das sagen? Wozu Sicherheit, wozu überleben, wenn man dann ein halbes Jahrhundert lang Fische ausnehmen muss? Schönheit bedeutet hier gar nichts«, sagte sie. »Hier interessiert nur, wie viele Fische über deinen Tisch gehen. Niemanden juckt es, dass ich so schön singen kann - nur die Kerle, die mich trösten wollen. Aber in Pjöngjang, da sind das Theater, das Kino, das Fernsehen, die Oper. Nur in Pjöngjang werde ich mal jemand sein.« Jun Do atmete tief durch. Gleich würde sie die Kerze auspusten, und der Abend wäre vorbei und das Zimmer so finster wie das Meer, auf dem der Zweite Maat trieb.
© Suhrkamp Verlag, Pappelallee 78-79, 10437 Berlin
Bald ließen die Schwellungen nach, und seine Augen waren nicht mehr entzündet, sondern nur noch verklebt. Mit einem dampfend heißen Waschlappen weichte sie den Schorf auf. »Da ist er ja«, sagte die Frau des Zweiten Maats, als er endlich wieder sehen konnte. »Der Mann, der Sun Moon liebt.«
Jun Do hob den Kopf. Er lag unter einem hellgelben Laken nackt auf einer Pritsche am Boden. Er erkannte die Lamellenfenster des Wohnblocks. Quer durchs Zimmer waren Drähte gespannt, an denen kleine Barsche wie Wäschestücke zum Trocknen aufgehängt waren.
Sie sagte: »Mein Vater war überzeugt, dass seine Tochter nicht zu hungern bräuchte, wenn sie einen Fischer heiratet.« Er sah die Frau des Zweiten Maats an.
»In welchem Geschoss sind wir hier?«, fragte er.
»Im zehnten.«
»Wie hast du mich hier hochgekriegt?«
»So schwer war das nicht. So, wie mein Mann dich beschrieben hat, dachte ich, du wärst viel größer.« Sie fuhr ihm mit dem warmen Waschlappen über die Tätowierung, das Bild Sun Moons auf seiner Brust, und er versuchte, nicht zusammenzuzucken. »Deine arme Schauspielerin, ganz blau und grün im Gesicht. Alt sieht sie aus, als ob ihre besten Zeiten vorüber wären. Kennst du ihre Filme?«
Als er den Kopf schüttelte, tat sein Nacken weh.
»Ich auch nicht«, sagte sie. »Nicht in diesem Provinzkaff. Der einzige Film, den ich gesehen habe, war aus dem Ausland. Eine Liebesgeschichte.« Sie tauchte den Waschlappen wieder in heißes Wasser und tupfte die wulstigen Nähte auf seinem Arm ab. »Er handelte von einem Schiff, das gegen einen Eisberg fährt, und alle sterben.«
An der Wand, unterhalb der Bildnisse des Großen und des Geliebten Führers, war ein kleines Regal, auf dem die Amerikaschuhe des Zweiten
Maats standen. Jun Do zerbrach sich den Kopf darüber, wie er sie nach Hause geschafft haben mochte, wo doch die gesamte Besatzung dabei zugesehen hatte, wie die Dinger über Bord gingen. An die Wand gepinnt war die große Seekarte der Junma. Das gesamte Koreanische Ostmeer war darauf zu sehen; alle anderen Karten an Bord bezogen sich auf diese Hauptkarte. Alle hatten angenommen, dass sie zusammen mit den anderen dem Feuer zum Opfer gefallen war. Stecknadeln markierten sämtliche Fischgründe, die sie angefahren hatten, und im Norden waren an mehreren Stellen mit Bleistift Koordinaten eingetragen.
»Das ist eine Karte mit allen Orten drauf, wo er schon war«, sagte sie. »Die roten Nadeln sind Städte, von denen er schon mal gehört hat. Er hat immer davon geredet, wohin er mal mit mir fahren würde.«
Sie sah Jun Do fragend in die Augen.
»Was ist?«, fragte er.
»Hat er das wirklich gemacht? Hat er wirklich einen Trupp amerikanischer Soldaten mit dem Messer bedroht, oder ist das irgendein Schwachsinn, den ihr euch ausgedacht habt?«
»Und warum würdest du mir glauben?«
»Weil du vom Geheimdienst bist«, antwortete sie. »Weil dir sowieso alle hier in diesem Scheißkaff egal sind. Wenn dein Auftrag erledigt ist, gehst du zurück nach Pjöngjang und denkst nie wieder an uns Fischerleute.«
»Und was ist mein Auftrag?«
»Es wird einen Krieg auf dem Meeresgrund geben«, vertraute sie ihm an. »Vielleicht hätte mir mein Mann das nicht erzählen dürfen, hat er aber getan.«
»Das ist lächerlich«, sagte er. »Ich bin Funker, nichts weiter. Und, ja, dein Mann hat sich der amerikanischen Marine mit nichts als einem Messer bewaffnet gegenübergestellt.«
Voll stummer Bewunderung schüttelte sie den Kopf.
»Er hatte so viele verrückte Pläne«, sagte sie. »Wenn man das hört, sollte man fast glauben, dass er einen davon in die Tat umgesetzt hätte, wenn er nicht umgekommen wäre.«
Sie löffelte Jun Do gesüßtes Reiswasser in den Mund, rollte ihn dann wieder auf den Rücken und deckte ihn zu. Es wurde dunkel im Zimmer, und bald würde der Strom abgeschaltet.
»Ich muss noch mal weg«, sagte sie. »Wenn etwas ist, ruf einfach, dann ist die Blockwartin sofort an der Tür. Die steht schon auf der Matte, wenn hier jemand einen fahren lässt.«
Sie wusch sich bei der Tür, wo er sie nicht sehen konnte. Er hörte nur das Wispern des Waschlappens auf ihrer Haut und das Wasser, das von ihrem Körper in die Schüssel tropfte, in der sie hockte. Er fragte sich, ob es derselbe Lappen war, mit dem sie auch ihn gewaschen hatte.
Dann stand sie vor ihm in einem Kleid, dem man ansah, dass es von Hand ausgewrungen und zum Trocknen aufgehängt worden war. Sie war eine echte Schönheit, hochgewachsen und breitschultrig und doch in eine Schicht weichen Babyspecks gehüllt, das sah er, auch wenn seine Augen noch etwas verklebt waren. Ihre Augen waren groß, ihr Blick schwer zu lesen, ein schwarzer Pagenschnitt rahmte ihr rundes Gesicht ein. In der Hand hielt sie ein Englischwörterbuch. »Ich habe schon öfter Leute gesehen, die sie so fertiggemacht haben wie dich«, sagte sie. »Du wirst wieder gesund.« Und dann fügte sie auf Englisch hinzu: »Sweet dreams!«
Am Morgen fuhr er aus dem Schlaf - ein Traum, der in stechendem Schmerz geendet hatte. Das Betttuch roch nach Zigaretten und Schweiß. Da wusste er, dass sie neben ihm geschlafen hatte. Als er sich endlich aufgesetzt hatte, war sie nirgendwo zu sehen. Das Licht wurde vom Meer zurückgeworfen und erfüllte das Zimmer mit strahlender Helligkeit. Er hob das Laken: Blaue und grüne Blutergüsse blühten auf seiner Brust, seine Rippen waren mit offenen Platzwunden übersät. Die Nähte waren verkrustet, und man roch, dass sie vereitert waren. Der Lautsprecher grüßte ihn: »Bürger, heute wurde bekannt gegeben, Am Morgen fuhr er aus dem Schlaf - ein Traum, der in stechendem Schmerz geendet hatte. Das Betttuch roch nach Zigaretten und Schweiß. Da wusste er, dass sie neben ihm geschlafen hatte. Als er sich endlich aufgesetzt hatte, war sie nirgendwo zu sehen. Das Licht wurde vom Meer zurückgeworfen und erfüllte das Zimmer mit strahlender Helligkeit. Er hob das Laken: Blaue und grüne Blutergüsse blühten auf seiner Brust, seine Rippen waren mit offenen Platzwunden übersät. Die Nähte waren verkrustet, und man roch, dass sie vereitert waren. Der Lautsprecher grüßte ihn: »Bürger, heute wurde bekannt gegeben, dass eine nordkoreanische Delegation Amerika besuchen wird, um die Schwierigkeiten zu diskutieren, die zwischen unseren beiden mächtigen Nationen bestehen.« Dann ging die Radiosendung gemäß der gewohnten Formel weiter: Belege für die weltweite Anerkennung Nordkoreas, ein weiteres Exempel der gottgleichen Weisheit Kim Jong Ils, ein neuer Tipp, wie die Bürger dem Hungertod entgehen konnten, und schließlich Ermahnungen verschiedener Ministerien an die Zivilbevölkerung.
Zugluft brachte die Trockenfische an der Leine zum Schwanken; ihre Flossen sahen so durchsichtig aus wie Transparentpapier. Zum ersten Mal seit Tagen bekam Jun Do Hunger.
Die Tür ging auf, und die Frau des Zweiten Maats kam schwer atmend herein.
Sie schleppte einen Koffer und zwei Fünf-Liter-Wasserbehälter. Sie schwitzte und hatte ein seltsames Grinsen im Gesicht.
»Wie findest du meinen neuen Koffer?«, fragte sie. »Hab ich getauscht.«
»Was hast du dafür hergegeben?«
»Ist doch egal«, sagte sie. »Kannst du dir vorstellen, dass ich nicht mal einen Koffer hatte?«
»Wahrscheinlich bist du nie verreist.«
»Wahrscheinlich bin ich nie verreist«, sagte sie zu sich selbst.
Sie schöpfte ihm etwas Reiswasser in eine Plastiktasse.
Er trank und fragte dann:
»Vermissen die dich gar nicht in der Konservenfabrik?«
Sie gab keine Antwort, sondern kniete sich hin und durchwühlte die Kofferfächer nach Hinterlassenschaften des Vorbesitzers.
Jun Do sagte: »Du kriegst bestimmt eine Selbstkritiksitzung aufgebrummt. «
»Ich gehe nicht mehr in die Konservenfabrik«, erklärte sie.
»Gar nicht mehr?«
»Nein«, antwortete sie. »Ich gehe nach Pjöngjang.«
»Du gehst nach Pjöngjang.«
»Ganz genau«, sagte sie. Im Innenfutter des Koffers fand sie abgelaufene Reisepapiere, die an jeder Kontrollstelle zwischen Kaesng und Ch'ongjin abgestempelt worden waren. »Meistens dauert es mehrere Wochen, aber ich habe irgendwie ein gutes Gefühl. Vielleicht passiert es ja schon morgen.«
»Was passiert morgen?«
»Dass sie einen Ersatzmann für mich finden.«
»Und du glaubst also, der ist in Pjöngjang?«
»Ich bin die Frau eines Helden«, erwiderte sie.
»Die Witwe, meinst du.«
»Sag das nicht. Witwe klingt furchtbar.«
Jun Do trank sein Reiswasser aus und legte sich ganz, ganz langsam wieder hin.
»Es ist doch so«, sagte sie. »Was mit meinem Mann passiert ist, ist furchtbar. Ich darf gar nicht daran denken. Ehrlich, sobald meine Gedanken dahin wandern wollen, dann wendet sich etwas in mir einfach ab. Aber wir waren ja nur ein paar Monate verheiratet, und davon war er fast die ganze Zeit bei euch an Bord.«
Das Aufsetzen hatte Jun Do sehr angestrengt, und als sein Kopf jetzt die Pritsche berührte, war es ein herrliches Gefühl, sich der Erschöpfung zu überlassen. Ihm tat praktisch alles weh, und doch überkam ihn ein körperliches Wohlbefinden, als habe er zusammen mit seinen Kameraden den ganzen Tag geschuftet. Er schloss die Augen; als er sie wieder aufmachte, war es Nachmittag. Möglicherweise hatte ihn das Geräusch der Tür geweckt, die sich hinter ihr schloss. Er rutschte ein wenig zur Seite, bis er die andere Zimmerecke sehen konnte. Da war die Schüssel, in der sie sich wusch. Er wünschte, er könnte den Arm danach ausstrecken und fühlen, ob das Wasser noch warm war.
Von unten im Hof kam Gejohle, gefolgt von Lachen oder Weinen, das ließ sich nicht genau sagen, und Jun Do wusste, dass inmitten der Gruppe von Betrunkenen die Frau des Zweiten Maats stand. Der Lärm drang selbst in den zehnten Stock hinauf, und überall im Wohnblock ertönte das Quietschen, als die Glaslamellen aufgekurbelt wurden, weil die Bewohner sehen wollten, wer sich da unten so danebenbenahm.
Jun Do richtete sich auf, schob einen Stuhl als Gehhilfe vor sich her und schleppte sich ans Fenster. Am Himmel stand eine schmale Mondsichel, und weit unten im Hof machte er mehrere Leute an ihrem lauten Gelächter aus - zu sehen waren nur schwarze Schatten. Aber er konnte sich den Glanz ihres Haars, den Schimmer ihres Nackens und ihrer Schultern vorstellen.
Als sie zur Tür hereinschwankte, hatte er eine Kerze angezündet und saß, in sein Laken gewickelt, auf einem Stuhl. Sie hatte geweint.
»Arschlöcher«, sagte sie und steckte sich eine Zigarette an.
»Komm zurück«, rief eine Stimme von unten. »Wir haben doch nur Spaß gemacht.« Sie ging ans Fenster und warf einen Fisch auf sie. Sie drehte sich zu Jun Do um. »Was glotzt du so?« Aus einer Kommode
zog sie Kleidungsstücke ihres Mannes. »Zieh dir lieber mal ein Hemd an!« Sie warf ihm ein weißes Unterhemd ins Gesicht.
Das Hemd war zu klein und roch nach dem Schweiß des Zweiten Maats. Die Arme durchzustecken war die Hölle. »Vielleicht ist die Karaokebar ja nicht der richtige Ort für dich«, meinte er.
»Arschlöcher«, sagte sie, rauchte auf dem anderen Stuhl und starrte angestrengt an die Decke, als denke sie über etwas nach. »Den ganzen Abend haben sie auf meinen Mann getrunken, auf den Helden.« Sie fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Die haben mir mindestens zehn Glas Pflaumenwein ausgegeben. Dann haben sie angefangen, traurige Lieder in der Karaokemaschine auszusuchen. Als ich ›Pochonbo‹ gesungen hatte, war ich völlig fertig. Und dann haben sie sich darum gestritten, wer mich trösten darf.«
»Ich verstehe nicht, warum du dich mit solchen Typen abgibst.«
»Ich brauche sie«, erwiderte sie. »Mein neuer Mann wird bald ausgewählt. Ich muss einen guten Eindruck auf die Leute machen. Sie sollen wissen, wie gut ich singen kann. Das ist meine große Chance.«
»Das sind doch nur Lokalfunktionäre. Die haben gar nichts zu melden.«
Sie hielt sich den schmerzenden Bauch. »Ich hab die Nase so voll von den ständigen Fischvergiftungen, ständig muss ich Chlortabletten schlucken. Hier, riech mal, wie ich stinke. Ist es nicht unglaublich, dass mein Vater mir so was angetan hat? Wie soll ich es nach Pjöngjang schaffen, wenn ich nach Fisch und Chlor stinke?«
»Ich weiß, dass es dir ungerecht vorkommt«, tröstete Jun Do sie, »aber dein Vater wusste bestimmt, was auf dem Spiel stand. Er hat ganz sicher das gewählt, was für dich am besten war.«
»Mehrmals im Jahr kamen Männer zu uns in den Ort, oben an der Küste. Alle Mädchen wurden in einer Reihe aufgestellt, und die hübschen«
- sie legte den Kopf in den Nacken und blies den Rauch aus - »sind einfach verschwunden. Mein Vater hatte Verbindungen, er hat immer Wind davon gekriegt, und meldete mich an diesen Tagen krank. Und dann hat er mich hierhergeschickt. Und wozu, kannst du mir das sagen? Wozu Sicherheit, wozu überleben, wenn man dann ein halbes Jahrhundert lang Fische ausnehmen muss? Schönheit bedeutet hier gar nichts«, sagte sie. »Hier interessiert nur, wie viele Fische über deinen Tisch gehen. Niemanden juckt es, dass ich so schön singen kann - nur die Kerle, die mich trösten wollen. Aber in Pjöngjang, da sind das Theater, das Kino, das Fernsehen, die Oper. Nur in Pjöngjang werde ich mal jemand sein.« Jun Do atmete tief durch. Gleich würde sie die Kerze auspusten, und der Abend wäre vorbei und das Zimmer so finster wie das Meer, auf dem der Zweite Maat trieb.
© Suhrkamp Verlag, Pappelallee 78-79, 10437 Berlin
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Autoren-Porträt von Adam Johnson
Adam Johnson wurde 1967 in South Dakota geboren und verbrachte seine Kindheit in Arizona. Nach der Highschool Studium der Englischen Literaturwissenschaft. Erste Veröffentlichungen in Zeitschriften wie Esquire oder Harpers Magazine. Adam Johnson lebt in San Francisco und lehrt Creative Writing an der Stanford University.
Autoren-Interview mit Adam Johnson
Sprechen wir zunächst über Ihren Protagonisten Jun Do. Wie sind Sie auf Jun Do als Ihren - und unseren - Reiseführer durch diese alptraumhafte Welt gekommen? Adam Johnson: Über Politik, Militär und Wirtschaft Nordkoreas wurde schon viel geschrieben, mich hat jedoch immer auch der menschliche Aspekt dabei interessiert. Ich habe mich gefragt, wie Familien diese Unterdrückung aushalten, wie sie angesichts der allgegenwärtigen Propaganda ihre Identität bewahren und ob Paare ungeachtet der Gefahr trotzdem noch ihre geheimsten Gedanken miteinander teilen. Von Anfang an war ich bestrebt, eine Figur zu schaffen, die sich absolut menschlich für mich anfühlt. Wobei man statt »schaffen« auch »einfangen« sagen könnte, denn ich habe sehr viel Recherche für diese Geschichte betrieben. Die erste Person, die ich für das Buch interviewt habe, war ein Waisenjunge aus dem Norden, und die Verzweiflung und Traurigkeit, die aus seinen Erinnerungen sprachen, haben den Anfang des Buches stark geprägt. Sämtliche Geschichten von Überläufern haben mich unglaublich fasziniert. Egal, ob Fabrikarbeiter oder Fischer, sie hatten alle die gleichen Erfahrungen gemacht - Wehrpflicht, Hungerjahre, Freunde und Familienmitglieder, die einfach verschwunden sind, brutale Übergriffe durch den Staat. In einer Welt, in der man nicht einfach seine
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Meinung sagen darf und Spontanität als gefährlich gilt, war es besonders wichtig, auch mal Momente der Vertrautheit zu finden, Humor, Überraschung. Aus diesen Recherchen heraus ist Jun Do entstanden. Zu Beginn des Buches ist er ein normaler Bürger, jemand, der immer tut, was man ihm sagt, und keine Fragen stellt. Dadurch, dass er ab und zu ausländische Radiosender hört, und durch eine Begegnung mit US-Marines schleichen sich jedoch plötzlich Spontanität und neue Möglichkeiten in Jun Dos Leben. Er beschließt, seinen eigenen Wünschen und Bedürfnissen zu folgen, was ihn auf allen Ebenen mit der Gesellschaft, in der er lebt, in Konflikt bringt.
Das erste Mal, dass Sie mir in diesem Buch das Herz gebrochen haben - und Sie haben es mir mehr als einmal gebrochen -, geschieht auf den allerersten Seiten, wenn der Leser langsam erahnt, dass Jun Do, der so stolz darauf ist, als Einziger im Waisenhaus noch einen Vater zu haben, ebenfalls Waise ist. Im echten Leben kann die traurige Geschichte eines Waisenkindes einen so überwältigen, dass man völlig darüber hinwegsieht, dass dieser Mensch auch noch andere Facetten hat, und hauptsächlich Mitleid für denjenigen empfindet. Und selbst in einem Buch nimmt uns das Schicksal eines Waisenkindes immer geradezu gefangen, seien wir nun Leser oder der Autor selbst. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
Adam Johnson: Stimmt, im wahren Leben fühlt man schon sehr mit. Ich hatte davor noch nie über Waisenkinder geschrieben und war völlig fasziniert von Jun Dos psychischer Stärke und Wissbegierde. In der Literatur ist so eine Figur immer wie ein unbeschriebenes Blatt, ohne Betreuer oder Beschützer, ein Mensch, für den selbst grundlegende Emotionen wie Liebe und Zuneigung nicht selbstverständlich sind und erst einmal erfahren werden müssen. Und in Nordkorea besteht die Primärbeziehung eines Menschen natürlich zwischen ihm und dem Staat. Dem Staat soll man sich am meisten verbunden fühlen, erst danach kommt die Familie - was in gewisser Weise alle zu Waisen macht und das Kim-Regime zum Herrn der Waisen.
Stimmt, die Waise als unbeschriebenes Blatt verhilft dem Schriftsteller zu einer gewissen Freiheit, finde ich. Wenn ich beispielsweise jemanden Interessantes in der U-Bahn sehe, gehen meine Gedanken immer in zwei verschiedene Richtungen. Woher kommt derjenige? Und wohin geht er? Die zweite Frage ist oft das, was einen Roman voranbringt. Bei einer Figur, die Waise ist und nichts über die eigene Familiengeschichte weiß, kommt man mit der ersten Frage ohnehin nicht allzu weit. Wo wir gerade davon sprechen: Ich habe Ihre Fotos von der U-Bahn in Pjöngjang gesehen. Als Sie zu Besuch in Nordkorea waren, hatten Sie schon mehrere Jahre lang am Buch gearbeitet. Sie hatten schon eine ganze Menge darüber gelesen und Gedanken gesammelt. Was war die größte Überraschung, als Sie dann endlich selbst dort waren?
Adam Johnson: Ich hatte schon mehrere Jahre lang an Das geraubte Leben des Waisen Jun Do gearbeitet, bevor ich die Möglichkeit bekam, nach Pjöngjang zu reisen. Nur wenige Leute bekommen diese Chance, und meine ›Aufpasser‹ - intelligente, humorvolle, interessante Menschen - wussten nicht so recht, was sie von mir halten sollten. Aufgrund meiner Recherchen für den Roman wusste ich genau, welche Sehenswürdigkeiten ich besuchen wollte. Meine Aufpasser waren begeistert, dass ich Interesse an den Denkmälern hatte, auf die man im Land sehr stolz ist, wie zum Beispiel dem Friedhof der Revolutionshelden (der im Buch eine wichtige Rolle spielt) oder den Gewächshäusern, in denen die Nationalblumen Kimjongilia und Kimilsungia gezüchtet werden. Aber als ich dann Fragen zu einem völlig altmodischen Vergnügungspark hatte, schlug mir auf einmal großes Misstrauen entgegen. Dass ich mich erkundigte, warum man nirgendwo in der Hauptstadt Behinderte sah, wo die Feuerwehren waren und wie die Post zugestellt wurde, wenn es doch keine Briefkästen gab, machte die Sache nicht unbedingt besser. Als ich bemerkte, dass alle Frauen in Pjöngjang dieselbe Lippenstiftfarbe trugen, war es dann ganz aus. Die wirklich verstörenden Dinge, die mir in Pjöngjang auffielen, landeten sofort im Buch: ein LKW voller ›Freiwilliger‹ auf dem Weg raus aufs Land, eine Familie, die in einem öffentlichen Park versuchte, Kastanien zu stehlen, die Fabriksirenen, die zur Akkordarbeit aufrufen, polierte Kalaschnikows und ein Sicherheitsmann, der nachts die Karpfen im See bewachte.
Hatten Sie Gelegenheit, außerhalb der geführten Tour mit Menschen zu sprechen?
Adam Johnson: Das ist eine interessante Frage. Kontakt zu Ausländern ist für Bürger der DVRK nämlich verboten. Jeder, den ich getroffen habe, hatte zuvor ein spezielles Training dafür durchlaufen, wie man mit amerikanischen Besuchern umgeht. Es war also keine echte Unterhaltung mit ihnen möglich. Während ich durch die Menschenmenge in den Straßen der Hauptstadt lief, hatte ich das starke Bedürfnis, die Leute anzusprechen, mir ihre Geschichten erzählen zu lassen. Das ging aber leider nicht, also musste ich ihre Geschichten in meinem Roman zum Leben erwecken.
Haben Sie, vielleicht auch nur aus dem Autofenster heraus, eigentlich jemals jemanden gesehen, der glücklich war? Jemanden, der einen kurzen Moment des Glücks erlebt, weil er mit einem Freund die Straße entlanggeht, oder der kurz stehen bleibt und den Wind im Gesicht genießt.
Adam Johnson: Natürlich, die Leute dort sind doch genauso Menschen wie wir, sie haben dieselben Bedürfnisse und Wünsche. Sie müssen sich an sehr viele Regeln halten, aber solange sie vorsichtig sind und immer gut aufpassen, können sie ein relativ normales Leben führen. Die meisten Bewohner dort wollen kein Risiko eingehen und sehen Ausländer lieber nicht einmal an, aber ich habe beispielsweise Pärchen am Taedong entlangspazieren und Familien beim Picknick auf dem Mansu-Hügel gesehen. Kleine Jungs haben in den Springbrunnen mit ihren Spielzeugbooten gespielt, und ältere Herren waren auf dem Platz mit Kartenspielen beschäftigt. Ich habe junge Leute gesehen, die (von der Regierung genehmigte) Bücher lasen, und eine Gruppe, die nach einem Gärtner- Club aussah und sich um die Pflanzen neben der Challima-Statue kümmerte. In Pjöngjang wohnen die Bessergestellten der Nation, deren Leben etwas krisensicherer und angenehmer ist als das der Landbevölkerung.
Inwieweit hat Ihr Besuch in Nordkorea das Buch verändert?
Adam Johnson: Da ich mit den Leuten in Pjöngjang - Museumsführer, Köche, Busfahrer - nur durch den Umweg über meine Aufpasser kommunizieren durfte, wollte ich unbedingt einen Menschen von dort zum Leben erwecken. Deshalb habe ich mir die Figur des Vernehmungsbeamten ausgedacht, jemand, der uns die Wohnblöcke, die U-Bahn und die Nachtmärkte der Hauptstadt zeigen konnte. Diese Figur herauszuarbeiten war jedoch nicht leicht. Aus Pjöngjang kommen fast keine Überläufer, die Außenwelt erfährt also sehr selten von persönlichen Schicksalen, deshalb weiß man wenig darüber, wie die Menschen dort wirklich leben. Man weiß auch sehr wenig über die nordkoreanische Geheimpolizei. Ich musste mir diese Figur also wirklich zum großen Teil ausdenken. Ich habe dabei auf so viele Quellen wie möglich zurückgegriffen, und während die Passagen über diese Figur vielleicht nicht die sind, die auf den meisten Fakten beruhen, habe ich dennoch das Gefühl, sie stellen auf emotionaler Ebene die ehrlichsten Teile im Buch dar. In Bezug auf Selbstzensur und darauf, wie Verfolgungswahn eine ganze Familie zerstören kann, sogar die Beziehung zwischen Eltern und Kindern, bis nur noch Misstrauen und Angst übrig sind, bis die Liebe komplett ins Gegenteil verkehrt ist.
Woher sollen die Leser wissen, was im Buch wahr ist und was nicht? Es ist zwar ein Roman, aber er spielt ja an einem realen Ort.
Adam Johnson: Wenn man Literatur als Fiktion betrachtet, die eine tiefere Wahrheit transportiert, dann empfinde ich mein Buch durchaus als eine sehr genaue Darstellung dessen, wie die Grundsätze des Totalitarismus das Menschliche in uns vernichten: Freiheit, Kunst, Optionen, Identität, Ausdrucksmöglichkeiten, Liebe. Und da man - abgesehen von Satellitenbildern und den Aussagen von Regimegegnern - nur wenig über Nordkorea wirklich sicher weiß, scheint mir dies eine Angelegenheit zu sein, in der die Vorstellungskraft von Literatur unser bestes Mittel ist, die menschliche Dimension einer solch schwer fassbaren Gesellschaft aufzudecken. Ich weiß jedoch, worauf Sie hinauswollen. Werden den Leuten in Nordkorea wirklich die Tattoos herausgeschnitten? Lässt Nordkorea tatsächlich immer noch Japaner entführen? Nimmt die nordkoreanische Regierung ihren Bürgern wirklich zwangsweise Blut ab? Ich habe natürlich für jede künstlerische Entscheidung, die ich beim Schreiben getroffen habe, einen guten Grund, aber so viel kann ich sagen: Die überwiegende Mehrheit der schockierenden Aspekte in meinem Buch basiert auf der Realität. Die Lautsprecher, die Gulags, der Hunger, die Entführungen. Viele Propagandapassagen, besonders die, die völlig verrückt klingen, habe ich direkt aus der Rodong Sinmun, der »Arbeiterzeitung« aus Pjöngjang übernommen. Zu Beginn meiner Recherche bin ich zum Beispiel auf die Geschichte von Charles Robert Jenkins gestoßen, einem US-Soldaten, der im Jahr 1965 einmal nach zehn Bieren die Demilitarisierte Zone durchquert und Nordkorea betreten hat, wo er dann neununddreißig Jahre lang gefangen gehalten wurde. Die Nordkoreaner haben Jenkins die Tätowierungen, die ihn als Mitglied des US Marine Corps auswiesen, ohne Betäubung mit einem Messer herausgeschnitten. Die ersten sieben Jahre seiner Gefangenschaft verbrachte er damit, unter Zwang die Werke von Kim Il Sung abzuschreiben und auswendig zu lernen. Danach wurde er in eine Sprachschule geschickt, um dort nordkoreanischen Spionen Englisch beizubringen. Als sich sein North-Carolina-Akzent jedoch als problematisch erwies, musste er von da an die Rolle des bösen Amerikaners in Propagandafilmen spielen. 1980 wurde eine Ehe mit Hiromi Soga arrangiert, einer japanischen Krankenschwester, die man entführt hatte. Den Lesern fällt sicher auf, dass all diese Elemente auf die eine oder andere Art ihren Weg in meinen Roman gefunden haben. Es ist bekannt, dass Nordkorea Überfalltunnel unter der Demilitarisierten Zone gegraben hat, dass eine große Anzahl an Ausländern entführt wurde und dass man Fischerboote nutzt, um Falschgeld, Drogen und Waffen zu schmuggeln. Fiktional ist lediglich, dass ein einzelner Mensch in alle diese Angelegenheiten involviert ist, wie es bei Jun Do der Fall ist. Ehrlich gesagt hatte ich das Gefühl, Nordkoreas tatsächliche Schwärze noch etwas verharmlosen zu müssen. Es ist teilweise so schlimm dort, die Zwangsabtreibungen, Amputationen und Massenexekutionen im Kwan-liso- Straflager beispielsweise, dass ich mir die Sache mit der Zwangsblutabnahme als einen etwas weniger grausigen Ersatz ausgedacht habe. Eine einfache Idee aus dem Bauch heraus, die dafür steht, wie das Kim-Regime seinen Bürgern, die es zu lebenslanger Sklavenarbeit verurteilt hat, auch noch den letzten Tropfen Leben auspresst.
Es wird oft gelobt, wie meisterhaft Sie dieses Thema verarbeitet haben, wie gut Sie sich mit dem Land und dem Alltag seiner Bürger auskennen. Meiner Meinung nach muss genauso hervorgehoben werden, wie gekonnt Sie mit den verschiedenen Genres umgehen. Der Roman ist ein Bildungsroman, ein Spionageroman, eine Liebesgeschichte, eine Abenteuergeschichte, die auf hoher See stattfindet, eine Entführungsgeschichte, eine Geschichte über Erlösung. Der Tonfall der Erzählung wechselt immer wieder, es gibt tragische, ironische, satirische Elemente und dann auch einige ganz und gar entsetzliche. Wie schreibt man einen derart breit angelegten Roman mit so vielen Stimmen?
Adam Johnson: Vom Ästhetischen her wirkt das Buch auf mich sehr natürlich und normal, wie das echte Leben. Im wahren Leben prallen doch auch immer komische Elemente auf verunsichernde und entsetzliche und ganz alltägliche. Ich empfinde es eher als unnatürlich, wenn ein Roman sein Thema so lange glättet, bis alles im selben, gleichbleibenden Ton dargestellt werden kann. Aber was das Quellenmaterial angeht, fühlte ich mich verpflichtet, das Buch genau so zu verfassen, wie ich es getan habe. Ich habe die Erzählungen vieler Überläufer gelesen, von denen jeder Einzelne Traumatisches zu berichten hatte - ganz Nordkorea ist eigentlich eine einzige große Geschichte eines Traumas. Und tatsächlich ist es doch so: Wir wissen erst dann wirklich, wie man einen Roman schreibt, der in Nordkorea spielt, wenn nordkoreanische Autoren endlich selbst ihre Geschichten erzählen dürfen. Ich hoffe, dass dieser Tag bald kommt.
Das erste Mal, dass Sie mir in diesem Buch das Herz gebrochen haben - und Sie haben es mir mehr als einmal gebrochen -, geschieht auf den allerersten Seiten, wenn der Leser langsam erahnt, dass Jun Do, der so stolz darauf ist, als Einziger im Waisenhaus noch einen Vater zu haben, ebenfalls Waise ist. Im echten Leben kann die traurige Geschichte eines Waisenkindes einen so überwältigen, dass man völlig darüber hinwegsieht, dass dieser Mensch auch noch andere Facetten hat, und hauptsächlich Mitleid für denjenigen empfindet. Und selbst in einem Buch nimmt uns das Schicksal eines Waisenkindes immer geradezu gefangen, seien wir nun Leser oder der Autor selbst. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
Adam Johnson: Stimmt, im wahren Leben fühlt man schon sehr mit. Ich hatte davor noch nie über Waisenkinder geschrieben und war völlig fasziniert von Jun Dos psychischer Stärke und Wissbegierde. In der Literatur ist so eine Figur immer wie ein unbeschriebenes Blatt, ohne Betreuer oder Beschützer, ein Mensch, für den selbst grundlegende Emotionen wie Liebe und Zuneigung nicht selbstverständlich sind und erst einmal erfahren werden müssen. Und in Nordkorea besteht die Primärbeziehung eines Menschen natürlich zwischen ihm und dem Staat. Dem Staat soll man sich am meisten verbunden fühlen, erst danach kommt die Familie - was in gewisser Weise alle zu Waisen macht und das Kim-Regime zum Herrn der Waisen.
Stimmt, die Waise als unbeschriebenes Blatt verhilft dem Schriftsteller zu einer gewissen Freiheit, finde ich. Wenn ich beispielsweise jemanden Interessantes in der U-Bahn sehe, gehen meine Gedanken immer in zwei verschiedene Richtungen. Woher kommt derjenige? Und wohin geht er? Die zweite Frage ist oft das, was einen Roman voranbringt. Bei einer Figur, die Waise ist und nichts über die eigene Familiengeschichte weiß, kommt man mit der ersten Frage ohnehin nicht allzu weit. Wo wir gerade davon sprechen: Ich habe Ihre Fotos von der U-Bahn in Pjöngjang gesehen. Als Sie zu Besuch in Nordkorea waren, hatten Sie schon mehrere Jahre lang am Buch gearbeitet. Sie hatten schon eine ganze Menge darüber gelesen und Gedanken gesammelt. Was war die größte Überraschung, als Sie dann endlich selbst dort waren?
Adam Johnson: Ich hatte schon mehrere Jahre lang an Das geraubte Leben des Waisen Jun Do gearbeitet, bevor ich die Möglichkeit bekam, nach Pjöngjang zu reisen. Nur wenige Leute bekommen diese Chance, und meine ›Aufpasser‹ - intelligente, humorvolle, interessante Menschen - wussten nicht so recht, was sie von mir halten sollten. Aufgrund meiner Recherchen für den Roman wusste ich genau, welche Sehenswürdigkeiten ich besuchen wollte. Meine Aufpasser waren begeistert, dass ich Interesse an den Denkmälern hatte, auf die man im Land sehr stolz ist, wie zum Beispiel dem Friedhof der Revolutionshelden (der im Buch eine wichtige Rolle spielt) oder den Gewächshäusern, in denen die Nationalblumen Kimjongilia und Kimilsungia gezüchtet werden. Aber als ich dann Fragen zu einem völlig altmodischen Vergnügungspark hatte, schlug mir auf einmal großes Misstrauen entgegen. Dass ich mich erkundigte, warum man nirgendwo in der Hauptstadt Behinderte sah, wo die Feuerwehren waren und wie die Post zugestellt wurde, wenn es doch keine Briefkästen gab, machte die Sache nicht unbedingt besser. Als ich bemerkte, dass alle Frauen in Pjöngjang dieselbe Lippenstiftfarbe trugen, war es dann ganz aus. Die wirklich verstörenden Dinge, die mir in Pjöngjang auffielen, landeten sofort im Buch: ein LKW voller ›Freiwilliger‹ auf dem Weg raus aufs Land, eine Familie, die in einem öffentlichen Park versuchte, Kastanien zu stehlen, die Fabriksirenen, die zur Akkordarbeit aufrufen, polierte Kalaschnikows und ein Sicherheitsmann, der nachts die Karpfen im See bewachte.
Hatten Sie Gelegenheit, außerhalb der geführten Tour mit Menschen zu sprechen?
Adam Johnson: Das ist eine interessante Frage. Kontakt zu Ausländern ist für Bürger der DVRK nämlich verboten. Jeder, den ich getroffen habe, hatte zuvor ein spezielles Training dafür durchlaufen, wie man mit amerikanischen Besuchern umgeht. Es war also keine echte Unterhaltung mit ihnen möglich. Während ich durch die Menschenmenge in den Straßen der Hauptstadt lief, hatte ich das starke Bedürfnis, die Leute anzusprechen, mir ihre Geschichten erzählen zu lassen. Das ging aber leider nicht, also musste ich ihre Geschichten in meinem Roman zum Leben erwecken.
Haben Sie, vielleicht auch nur aus dem Autofenster heraus, eigentlich jemals jemanden gesehen, der glücklich war? Jemanden, der einen kurzen Moment des Glücks erlebt, weil er mit einem Freund die Straße entlanggeht, oder der kurz stehen bleibt und den Wind im Gesicht genießt.
Adam Johnson: Natürlich, die Leute dort sind doch genauso Menschen wie wir, sie haben dieselben Bedürfnisse und Wünsche. Sie müssen sich an sehr viele Regeln halten, aber solange sie vorsichtig sind und immer gut aufpassen, können sie ein relativ normales Leben führen. Die meisten Bewohner dort wollen kein Risiko eingehen und sehen Ausländer lieber nicht einmal an, aber ich habe beispielsweise Pärchen am Taedong entlangspazieren und Familien beim Picknick auf dem Mansu-Hügel gesehen. Kleine Jungs haben in den Springbrunnen mit ihren Spielzeugbooten gespielt, und ältere Herren waren auf dem Platz mit Kartenspielen beschäftigt. Ich habe junge Leute gesehen, die (von der Regierung genehmigte) Bücher lasen, und eine Gruppe, die nach einem Gärtner- Club aussah und sich um die Pflanzen neben der Challima-Statue kümmerte. In Pjöngjang wohnen die Bessergestellten der Nation, deren Leben etwas krisensicherer und angenehmer ist als das der Landbevölkerung.
Inwieweit hat Ihr Besuch in Nordkorea das Buch verändert?
Adam Johnson: Da ich mit den Leuten in Pjöngjang - Museumsführer, Köche, Busfahrer - nur durch den Umweg über meine Aufpasser kommunizieren durfte, wollte ich unbedingt einen Menschen von dort zum Leben erwecken. Deshalb habe ich mir die Figur des Vernehmungsbeamten ausgedacht, jemand, der uns die Wohnblöcke, die U-Bahn und die Nachtmärkte der Hauptstadt zeigen konnte. Diese Figur herauszuarbeiten war jedoch nicht leicht. Aus Pjöngjang kommen fast keine Überläufer, die Außenwelt erfährt also sehr selten von persönlichen Schicksalen, deshalb weiß man wenig darüber, wie die Menschen dort wirklich leben. Man weiß auch sehr wenig über die nordkoreanische Geheimpolizei. Ich musste mir diese Figur also wirklich zum großen Teil ausdenken. Ich habe dabei auf so viele Quellen wie möglich zurückgegriffen, und während die Passagen über diese Figur vielleicht nicht die sind, die auf den meisten Fakten beruhen, habe ich dennoch das Gefühl, sie stellen auf emotionaler Ebene die ehrlichsten Teile im Buch dar. In Bezug auf Selbstzensur und darauf, wie Verfolgungswahn eine ganze Familie zerstören kann, sogar die Beziehung zwischen Eltern und Kindern, bis nur noch Misstrauen und Angst übrig sind, bis die Liebe komplett ins Gegenteil verkehrt ist.
Woher sollen die Leser wissen, was im Buch wahr ist und was nicht? Es ist zwar ein Roman, aber er spielt ja an einem realen Ort.
Adam Johnson: Wenn man Literatur als Fiktion betrachtet, die eine tiefere Wahrheit transportiert, dann empfinde ich mein Buch durchaus als eine sehr genaue Darstellung dessen, wie die Grundsätze des Totalitarismus das Menschliche in uns vernichten: Freiheit, Kunst, Optionen, Identität, Ausdrucksmöglichkeiten, Liebe. Und da man - abgesehen von Satellitenbildern und den Aussagen von Regimegegnern - nur wenig über Nordkorea wirklich sicher weiß, scheint mir dies eine Angelegenheit zu sein, in der die Vorstellungskraft von Literatur unser bestes Mittel ist, die menschliche Dimension einer solch schwer fassbaren Gesellschaft aufzudecken. Ich weiß jedoch, worauf Sie hinauswollen. Werden den Leuten in Nordkorea wirklich die Tattoos herausgeschnitten? Lässt Nordkorea tatsächlich immer noch Japaner entführen? Nimmt die nordkoreanische Regierung ihren Bürgern wirklich zwangsweise Blut ab? Ich habe natürlich für jede künstlerische Entscheidung, die ich beim Schreiben getroffen habe, einen guten Grund, aber so viel kann ich sagen: Die überwiegende Mehrheit der schockierenden Aspekte in meinem Buch basiert auf der Realität. Die Lautsprecher, die Gulags, der Hunger, die Entführungen. Viele Propagandapassagen, besonders die, die völlig verrückt klingen, habe ich direkt aus der Rodong Sinmun, der »Arbeiterzeitung« aus Pjöngjang übernommen. Zu Beginn meiner Recherche bin ich zum Beispiel auf die Geschichte von Charles Robert Jenkins gestoßen, einem US-Soldaten, der im Jahr 1965 einmal nach zehn Bieren die Demilitarisierte Zone durchquert und Nordkorea betreten hat, wo er dann neununddreißig Jahre lang gefangen gehalten wurde. Die Nordkoreaner haben Jenkins die Tätowierungen, die ihn als Mitglied des US Marine Corps auswiesen, ohne Betäubung mit einem Messer herausgeschnitten. Die ersten sieben Jahre seiner Gefangenschaft verbrachte er damit, unter Zwang die Werke von Kim Il Sung abzuschreiben und auswendig zu lernen. Danach wurde er in eine Sprachschule geschickt, um dort nordkoreanischen Spionen Englisch beizubringen. Als sich sein North-Carolina-Akzent jedoch als problematisch erwies, musste er von da an die Rolle des bösen Amerikaners in Propagandafilmen spielen. 1980 wurde eine Ehe mit Hiromi Soga arrangiert, einer japanischen Krankenschwester, die man entführt hatte. Den Lesern fällt sicher auf, dass all diese Elemente auf die eine oder andere Art ihren Weg in meinen Roman gefunden haben. Es ist bekannt, dass Nordkorea Überfalltunnel unter der Demilitarisierten Zone gegraben hat, dass eine große Anzahl an Ausländern entführt wurde und dass man Fischerboote nutzt, um Falschgeld, Drogen und Waffen zu schmuggeln. Fiktional ist lediglich, dass ein einzelner Mensch in alle diese Angelegenheiten involviert ist, wie es bei Jun Do der Fall ist. Ehrlich gesagt hatte ich das Gefühl, Nordkoreas tatsächliche Schwärze noch etwas verharmlosen zu müssen. Es ist teilweise so schlimm dort, die Zwangsabtreibungen, Amputationen und Massenexekutionen im Kwan-liso- Straflager beispielsweise, dass ich mir die Sache mit der Zwangsblutabnahme als einen etwas weniger grausigen Ersatz ausgedacht habe. Eine einfache Idee aus dem Bauch heraus, die dafür steht, wie das Kim-Regime seinen Bürgern, die es zu lebenslanger Sklavenarbeit verurteilt hat, auch noch den letzten Tropfen Leben auspresst.
Es wird oft gelobt, wie meisterhaft Sie dieses Thema verarbeitet haben, wie gut Sie sich mit dem Land und dem Alltag seiner Bürger auskennen. Meiner Meinung nach muss genauso hervorgehoben werden, wie gekonnt Sie mit den verschiedenen Genres umgehen. Der Roman ist ein Bildungsroman, ein Spionageroman, eine Liebesgeschichte, eine Abenteuergeschichte, die auf hoher See stattfindet, eine Entführungsgeschichte, eine Geschichte über Erlösung. Der Tonfall der Erzählung wechselt immer wieder, es gibt tragische, ironische, satirische Elemente und dann auch einige ganz und gar entsetzliche. Wie schreibt man einen derart breit angelegten Roman mit so vielen Stimmen?
Adam Johnson: Vom Ästhetischen her wirkt das Buch auf mich sehr natürlich und normal, wie das echte Leben. Im wahren Leben prallen doch auch immer komische Elemente auf verunsichernde und entsetzliche und ganz alltägliche. Ich empfinde es eher als unnatürlich, wenn ein Roman sein Thema so lange glättet, bis alles im selben, gleichbleibenden Ton dargestellt werden kann. Aber was das Quellenmaterial angeht, fühlte ich mich verpflichtet, das Buch genau so zu verfassen, wie ich es getan habe. Ich habe die Erzählungen vieler Überläufer gelesen, von denen jeder Einzelne Traumatisches zu berichten hatte - ganz Nordkorea ist eigentlich eine einzige große Geschichte eines Traumas. Und tatsächlich ist es doch so: Wir wissen erst dann wirklich, wie man einen Roman schreibt, der in Nordkorea spielt, wenn nordkoreanische Autoren endlich selbst ihre Geschichten erzählen dürfen. Ich hoffe, dass dieser Tag bald kommt.
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Bibliographische Angaben
- Autor: Adam Johnson
- 2013, 2. Auflage, 687 Seiten, Deutsch
- Übersetzer: Anke Caroline Burger
- Verlag: Suhrkamp Verlag AG
- ISBN-10: 351873069X
- ISBN-13: 9783518730690
- Erscheinungsdatum: 11.03.2013
Abhängig von Bildschirmgröße und eingestellter Schriftgröße kann die Seitenzahl auf Ihrem Lesegerät variieren.
eBook Informationen
- Dateiformat: ePub
- Größe: 1.59 MB
- Ohne Kopierschutz
Rezension zu „Das geraubte Leben des Waisen Jun Do (ePub)“
»Das macht den Roman zu einem beeindruckenden Hochseilakt. Trotz aller selbstauferlegten Schwierigkeiten erzählt Johnsons Roman eine große, eine hochspannende Geschichte... Das geraubte Leben des Waisen Jun Do ist also sowohl ein beeindruckender als auch ein höchst lesenswerter Roman.«
Pressezitat
»Dieser Roman ist die Aufregung um ihn wert. Ein Pageturner.«The Washington Post
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