Das Sommerhaus (ePub)
Kann die Verzweiflung der Vergangenheit den Schmerz der Gegenwart lindern?
England im 1. Weltkrieg: Die junge Lady Helen ist in einer standesgemäßen doch lieblosen Ehe gefangen. Als der kanadische Pilot Oliver in ihr Leben tritt, beginnen die beiden...
England im 1. Weltkrieg: Die junge Lady Helen ist in einer standesgemäßen doch lieblosen Ehe gefangen. Als der kanadische Pilot Oliver in ihr Leben tritt, beginnen die beiden...
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Produktinformationen zu „Das Sommerhaus (ePub)“
Kann die Verzweiflung der Vergangenheit den Schmerz der Gegenwart lindern?
England im 1. Weltkrieg: Die junge Lady Helen ist in einer standesgemäßen doch lieblosen Ehe gefangen. Als der kanadische Pilot Oliver in ihr Leben tritt, beginnen die beiden eine leidenschaftliche Affäre, die nicht ohne Folgen bleibt. Doch Helens Eltern zwingen sie, ihre kleine Tochter Laura zur Adoption freizugeben.
Zwanzig Jahre später: Erneut tobt ein Krieg über Europa und in Lauras Leben scheint sich die tragische Geschichte ihrer Mutter zu wiederholen.
Doch dann macht das Schicksal ihr ein unerwartetes Geschenk...
''WUNDERBAR! Ein großartiger Roman!'' (Judith Lennox)
England im 1. Weltkrieg: Die junge Lady Helen ist in einer standesgemäßen doch lieblosen Ehe gefangen. Als der kanadische Pilot Oliver in ihr Leben tritt, beginnen die beiden eine leidenschaftliche Affäre, die nicht ohne Folgen bleibt. Doch Helens Eltern zwingen sie, ihre kleine Tochter Laura zur Adoption freizugeben.
Zwanzig Jahre später: Erneut tobt ein Krieg über Europa und in Lauras Leben scheint sich die tragische Geschichte ihrer Mutter zu wiederholen.
Doch dann macht das Schicksal ihr ein unerwartetes Geschenk...
''WUNDERBAR! Ein großartiger Roman!'' (Judith Lennox)
Lese-Probe zu „Das Sommerhaus (ePub)“
Das Sommerhaus von Mary NicholsProlog
Februar 1918
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Von ihrem Schlafzimmerfenster aus beobachtete Helen den Wagen, der sich den Berg hinaufschlängelte. Sie hatte schon eine Weile dort gestanden und nachdenklich den kahlen Hang betrachtet. Auf den Gipfeln lag noch Schnee, und selbst an den niedrigeren Abhängen gab es ein paar Schrunden, in die er hineingeweht war und sich weiß vor dem Blauschwarz der winterlichen Berge abzeichnete. Der Wagen verschwand kurz hinter einer Felsnase und tauchte dann, ein Stück nähergekommen, wieder auf.
Den Wagen ihres Vaters erkannte sie selbst aus dieser Entfernung. Im Hochland Schottlands waren Automobile ein seltener Anblick, und es war jedes Mal ein Ereignis, wenn eines vorbeifuhr. Die Einwohner des Dorfes würden es zur Kenntnis nehmen, sich fragen, wem es gehörte und wohin es wohl fuhr. So war es gewesen, als Papa sie hierher gebracht hatte. Ihre Großtante Martha hatte die Gerüchteküche schnell zum Schweigen gebracht und verlauten lassen, Helen wohne bei ihr, um auf die Geburt ihres Kindes zu warten, während ihr Mann als Soldat in Frankreich kämpfte. Ob das hingenommen wurde, wusste Helen nicht, doch es war ihr auch gleichgültig.
Anfangs war es gar nicht so schlecht gewesen. Bevor ihr Bauch sich erkennbar rundete, hatte sie spazieren gehen, einkaufen, mit dem Pfarrer und seiner Frau Tee trinken und davon träumen dürfen, dass Oliver kommen und sie retten würde. Dann wäre die Welt wieder in Ordnung gewesen.
Als die Wochen jedoch ins Land zogen und kein Brief von ihm eintraf, verfiel sie in eine Art Lethargie, ein Gefühl, dass sie nichts ändern konnte, was sie auch unternahm. »Habe ich es dir nicht gesagt ?«, bemerkte Tante Martha nicht zum ersten Mal. »Er hatte seinen Spaß, und jetzt hat er dich mit den Folgen sitzen lassen. Typisch Mann. Du hast seine ganzen verlogenen Liebesschwüre doch nicht etwa geglaubt ?« Das Problem war, sie wusste nicht, was sie glauben sollte, und ihre Tränen, die anfangs so reichlich geflossen waren, versiegten gänzlich.
Sooft sie auch in Gedanken durchging, was geschehen war, sooft sie sich auch ins Gedächtnis rief, was sie und Oliver sich geschworen hatten, wie sicher, beinahe unverwundbar sie sich gefühlt hatte, wenn sie in seinen Armen lag, wie oft sie sich auch wiederholte, dass Oliver sie liebte und zu ihr halten würde, sie konnte sich selbst nicht mehr überzeugen, geschweige denn Papa, Mama und Großtante Martha. Sie hatten gewonnen.
Das Automobil tuckerte inzwischen die letzte Steigung hinauf. In knapp einer Minute hielte es vor dem Haus an, ihr Vater würde aussteigen und hereinkommen. Jetzt verwandelte sich ihre Lethargie in Sorge. Ob er weniger wütend wäre, nicht mehr so starrsinnig und unnachgiebig wie an dem Tag, an dem er sie hier abgesetzt hatte ? Ihr Vater gehörte zu den Männern der alten Schule, verhaftet in Klassendenken, war es gewohnt, von Dienern umgeben zu sein, zu schießen, zu angeln und auf die Jagd zu gehen, den Großteil der Ortschaft zu besitzen und den Bewohnern Vorschriften zu machen, ebenso wie ihr.
Sie war in einem Internat für höhere Töchter und in einem Mädchenpensionat in der Schweiz erzogen worden und hatte anschließend zu Hause gewohnt, um zu warten, bis sich ein geeigneter Ehemann für sie fand. Dass sie eine Stelle annehmen oder etwas Nützliches tun könnte, war nie in Erwägung gezogen worden. Töchter eines Earls gingen nicht arbeiten, sie heirateten junge Herren ihres Standes. Rückblickend fand sie es eigenartig, dass sie das alles hingenommen hatte.
Sie drehte sich um und sah sich das Zimmer an, das in den vergangenen sechs Monaten ihr Gefängnis und ihre Zuflucht gewesen war. Es zeigte sich gediegen möbliert, passend zur Gediegenheit des Hauses : ein eisernes Bettgestell mit Messingkopf- und -fußteil, Schrank und Kommode aus Mahagoni, ein Waschtisch, auf dem eine Schüssel und eine Kanne standen und dessen Schrankteil einen Nachttopf beherbergte. Der Boden war mit Linoleum ausgelegt, Vorleger befanden sich zu beiden Seiten des Bettes. Im Vergleich zu dem Luxus ihres Zimmers in Beckbridge Hall mit seinem dicken Teppich, den spießigen Bezügen und hellen Vorhängen, erschien es spartanisch, doch sie ging davon aus, dass das Teil ihrer Bestrafung war.
Auf dem Bett lag ein gepackter Koffer. Er war nicht groß ; sie hatte nicht viel mitgebracht, nur zwei Kleider, Unterwäsche, Strümpfe, Nachthemden und Toilettensachen. Ihre Tante hatte ihr Kleider von sich zum Wechseln gegeben, die ihr erst passten, als sie an Umfang zunahm, schwarze und braune, aus kratziger Wolle oder steifem Taft. Bis auf das Kleid, das sie trug, würde sie keines mitnehmen.
Sie hörte, wie ihr Vater von ihrer Großtante begrüßt wurde, beschloss, sich lieber blicken zu lassen, und verließ das Zimmer. Oben an der Treppe blieb sie stehen und schaute hinunter. Er zog seinen Mantel aus und setzte den Hut ab, reichte beides Lisa weiter, der einzigen Hausangestellten ihrer Tante, blickte auf und sah sie. Vielleicht war er nicht auf ihren Umfang vorbereitet, jedenfalls unternahm er nichts, um seinen Widerwillen zu verbergen.
Langsam ging sie die Treppe hinunter, klammerte sich ans Geländer und achtete auf ihre Füße, die fast unter der Wölbung ihres Leibes verschwanden. Unten angekommen, schaute sie zu ihm auf. Er war hochgewachsen, hatte eine aristokratische Haltung, sein Anzug war makellos geschneidert. Sein Haar wurde an den Schläfen grau, und sein Schnurrbart war weiß. War das vor sechs Monaten schon so gewesen ? Seine grauen Augen, stellte sie fest, blickten kalt.
»Papa. Hattest du eine angenehme Fahrt ?«
Er musterte sie von Kopf bis Fuß. »Es war verdammt ermüdend. Bist du fertig zum Aufbruch ?«
»Ja, Papa.«
Er war die ganze Strecke allein gefahren, und sie wusste, warum. Sich von seinem Chauffeur bringen zu lassen, wäre viel einfacher gewesen, aber Bedienstete reden, und das Ziel der Übung war Geheimhaltung gewesen. Niemand in Beckbridge, niemand ihrer Bekannten oder Verwandten, durfte je von Helens Schande erfahren.
»Ich habe einen frühen Lunch angeordnet«, sagte die Großtante und ging ihnen voraus in den Salon, in dem ein Feuer brannte. Salon und Speiseraum waren die einzigen Zimmer, in denen ein Feuer erlaubt war, wenn noch kein dauerhaft kaltes Wetter herrschte, natürlich mit Ausnahme der Küche, in der Lisa das Sagen hatte. Helen war oft wach geworden und hatte Eisblumen an ihren Schlafzimmerfenstern entdeckt.
»Gut. Entschuldige, wenn ich nicht bleibe, aber die Fahrt ist lang. Ich möchte heute Abend noch bis Edinburgh kommen, wenn es geht. Trödeln hat keinen Sinn.«
Überhaupt keinen, dachte Helen, fragte sich jedoch, wohin er sie bringen würde. Nicht nach Hause, nicht mit der Kugel, die Helen vor sich herschob und die aller Welt verkündete, dass sie hochschwanger war.
Sie gingen ins Speisezimmer, und Lisa trug die Gerichte auf. Helen aß dem Kind zuliebe, doch das Essen schmeckte nach nichts. Sie war froh, als die schweigende Mahlzeit vorüber und es an der Zeit war, ihren Hut aufzusetzen und den Umhang überzuwerfen, der ihre Wölbung besser kaschierte als ein Mantel. Ihr Vater nahm ihren Koffer von Lisa entgegen und stellte ihn in den Kofferraum. Sie wandte sich ihrer Großtante zu.
»Auf Wiedersehen, Tante Martha. Danke, dass du mich aufgenommen hast.«
»Auf Wiedersehen, Kind.« Sie gab Helen einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Und vergiss nicht, was ich gesagt habe. Wenn es vorbei ist, schließ damit ab und sei eine gehorsame Tochter. Denk an deine arme Mama und deinen Mann. Bete zu Gott, dass dieser entsetzliche Krieg bald vorbei sein wird und wir alle wieder das Leben aufnehmen können, das wir vorher geführt haben.«
»Ja, Tante.« Als sie sich auf den Beifahrersitz setzte, wusste sie, dass das Leben nie wieder so sein würde, wie es einmal war. Und sie war eine gehorsame Tochter gewesen. Das schien nicht das Problem. Sie hatte sogar folgsam den Mann geheiratet, den ihre Eltern für sie ausgesucht hatten. Nicht etwa, dass sie Richard nicht hatte heiraten wollen ; sie war einfach zu dumm gewesen, um es besser zu wissen.
Ihr Vater setzte sich hinter das Lenkrad, und sie brachen auf Richtung Süden. »Wo fahren wir hin, Papa ?«
»Nach London.«
»London ?« Sie wunderte sich.
»Ja. Da gibt es eine Klinik, in der du dein Kind zur Welt bringen kannst. Sie ist bekannt dafür, diskret zu sein. Man wird sich um dein Kind kümmern und es weggeben.«
»Weggeben ! O Papa !« Er hatte sich nicht verändert. Er war noch immer unnachgiebig. Sie musste ihr Kind hergeben.
Anfangs widersprach sie dem heftig, doch Tante Martha hatte sie tagtäglich bearbeitet und ihr zugesetzt, sie müsse daran denken, was ihre arme Mutter aufgrund ihrer, Helens, Verruchtheit durchzumachen habe. Sie konnte wieder Kinder haben. Was war so schrecklich daran, eins in ein gutes Zuhause abzugeben, an jemanden, der sich wirklich ein Kind wünschte ? So ging es ständig, wie ein tropfender Wasserhahn. Sie hätte nicht klein beigegeben, wenn sie etwas von Oliver gehört hätte, aber da kam nichts, nicht ein Wort.
»Nenn mich nicht ›Papa‹. Du kannst deiner Mutter danken, dass wir dich nicht auf die Straße gesetzt und enterbt haben. Dass ausgerechnet mein Kind ... Wäre Brandon noch am Leben ... « Er verstummte und presste die Lippen zusammen. Wenn er ihren Bruder erwähnte, verfi el er immer in eine eigenartige Stimmung. Helen hatte ihren Bruder geliebt und seinen Tod ebenso betrauert wie ihre Eltern, aber das hatten sie nie zur Kenntnis genommen. In ihren eigenen Kummer versunken, hatten sie keine Zeit für die Trauer ihrer Tochter gehabt. Anders als Richard.
Brendans Tod hatte Richard nach Beckbridge Hall geführt. Er hatte sich veranlasst gefühlt, ihren Eltern vom letzten heldenhaften Kampf ihres Sohnes zu berichten. Die offi zielle Bekanntmachung, dass er gefallen war, sagte ihnen nicht viel. Trotz des traurigen Anlasses hatte Richard mit seinem selbstsicheren Auftreten und dem bereitwilligen Lächeln nicht nur Helen, sondern auch ihre Eltern beeindruckt. Sie hatten ihn eingeladen zu bleiben. Er war charmant und verständnisvoll, und Helen hatte ihn gemocht, die Art und Weise, wie er sich ihr zuwandte und sie in die Unterhaltung mit einbezog, aus der ihre Eltern sie womöglich ausgeschlossen hätten. Sie ritten aus, gingen spazieren und sprachen über alles, nur nicht über den Krieg.
»Schreibst du mir ?«, hatte er vor seiner Abreise gefragt, und sie hatte eingewilligt.
Ihr Liebeswerben fand briefl ich statt, bis Richard dann zu einem dringend benötigten Urlaub nach England kam und sie sich wiedersahen. Bei dieser Gelegenheit hielt er um ihre Hand an. Ihre Eltern waren ganz auf ihn versessen gewesen und hatten ihr gesagt, sie werde nie einen besseren Ehemann finden : tapfer, gutaussehend, wohlhabend, charmant und eine gute Partie. Sie hatte ihnen geglaubt. Irgendwie gelang es ihm, seinen Urlaub verlängern zu lassen, und sie hatten auf der Stelle geheiratet. Nach der zweitägigen Hochzeitsreise war er nach Frankreich zurückgekehrt. Was ihnen blieb, waren Briefe. Wie aber konnte man sich per Briefwechsel lieben ?
Helen hatte sich damit abgefunden, sich auf jedes eher unpersönliche Sendschreiben gefreut und auf die Zeit, in der sie wieder zusammen sein würden. Unterdessen wohnte sie weiterhin zu Hause.
Sie half ihrer Mutter, das Haus mit weniger Personal zu führen, mit der Knappheit an Nahrungsmitteln, Alkohol und Kohle und vielem anderen zurechtzukommen und erst recht mit dem zunehmend reizbaren Temperament ihres Vaters. Ihr war klar, dass der Grund in seiner Enttäuschung lag. Er war früher Soldat gewesen, wollte draußen an der Front sein und seine Pfl icht und Schuldigkeit tun, aber er war zu alt und nicht in Form. Als leidenschaftlicher Patriot verköstigte er gern junge Offi ziere aus allen Waffengattungen, bot ihnen ein Bad und eine Mahlzeit an, häufi g auch einen Übernachtungsplatz, was in der Zeit des Wohlstands vor dem Krieg schön und gut gewesen wäre. Aber wie alle anderen auch mussten sie den Gürtel enger schnallen, und diese Freigebigkeit war nur mühsam aufrechtzuerhalten.
»Louise, ich bin Earl«, sagte er, wenn ihre Mutter protestierte. »Wir haben ein Niveau zu wahren. Unseren Jungs in Uniform Gastfreundschaft anzubieten, ist das Mindeste, was ich tun kann, nachdem sie mich nicht ranlassen.«
»Dem Herrn sei Dank dafür«, sagte ihre Mutter. »Aber zusätzliche Nahrungsmittel aufzutreiben ist nicht besonders leicht, und Kohle zum Erhitzen des Wassers für die Bäder ist ein Problem.«
»Das mag ja sein, aber ich hoffe, keiner wird mich des Geizes bezichtigen.«
Daher hatte ihre Mutter, die schon immer unter seiner Knute gestanden hatte, was sich wohl auch nicht ändern würde, auch weiterhin Offi ziere bewirtet, die in der Nähe ihres Anwesens stationiert waren. Sie standen dann auf dem dicken Teppich im Salon, hörten ihrem Vater zu, der sich darüber ausließ, wie er den Krieg führen würde, schlürften Cocktails und bewunderten alles, was sie zu sehen bekamen, angefangen von den silbernen Kelchen bis hin zum feinen Porzellan, von Bronzebüsten bis zu den Porträts der Vorfahren, die über Generationen zurückreichten. Helen war höfl ich und freundlich und behandelte alle gleich. Bis sie Oliver kennenlernte.
Übersetzung: Marion Balkenhol
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2011 by
Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Von ihrem Schlafzimmerfenster aus beobachtete Helen den Wagen, der sich den Berg hinaufschlängelte. Sie hatte schon eine Weile dort gestanden und nachdenklich den kahlen Hang betrachtet. Auf den Gipfeln lag noch Schnee, und selbst an den niedrigeren Abhängen gab es ein paar Schrunden, in die er hineingeweht war und sich weiß vor dem Blauschwarz der winterlichen Berge abzeichnete. Der Wagen verschwand kurz hinter einer Felsnase und tauchte dann, ein Stück nähergekommen, wieder auf.
Den Wagen ihres Vaters erkannte sie selbst aus dieser Entfernung. Im Hochland Schottlands waren Automobile ein seltener Anblick, und es war jedes Mal ein Ereignis, wenn eines vorbeifuhr. Die Einwohner des Dorfes würden es zur Kenntnis nehmen, sich fragen, wem es gehörte und wohin es wohl fuhr. So war es gewesen, als Papa sie hierher gebracht hatte. Ihre Großtante Martha hatte die Gerüchteküche schnell zum Schweigen gebracht und verlauten lassen, Helen wohne bei ihr, um auf die Geburt ihres Kindes zu warten, während ihr Mann als Soldat in Frankreich kämpfte. Ob das hingenommen wurde, wusste Helen nicht, doch es war ihr auch gleichgültig.
Anfangs war es gar nicht so schlecht gewesen. Bevor ihr Bauch sich erkennbar rundete, hatte sie spazieren gehen, einkaufen, mit dem Pfarrer und seiner Frau Tee trinken und davon träumen dürfen, dass Oliver kommen und sie retten würde. Dann wäre die Welt wieder in Ordnung gewesen.
Als die Wochen jedoch ins Land zogen und kein Brief von ihm eintraf, verfiel sie in eine Art Lethargie, ein Gefühl, dass sie nichts ändern konnte, was sie auch unternahm. »Habe ich es dir nicht gesagt ?«, bemerkte Tante Martha nicht zum ersten Mal. »Er hatte seinen Spaß, und jetzt hat er dich mit den Folgen sitzen lassen. Typisch Mann. Du hast seine ganzen verlogenen Liebesschwüre doch nicht etwa geglaubt ?« Das Problem war, sie wusste nicht, was sie glauben sollte, und ihre Tränen, die anfangs so reichlich geflossen waren, versiegten gänzlich.
Sooft sie auch in Gedanken durchging, was geschehen war, sooft sie sich auch ins Gedächtnis rief, was sie und Oliver sich geschworen hatten, wie sicher, beinahe unverwundbar sie sich gefühlt hatte, wenn sie in seinen Armen lag, wie oft sie sich auch wiederholte, dass Oliver sie liebte und zu ihr halten würde, sie konnte sich selbst nicht mehr überzeugen, geschweige denn Papa, Mama und Großtante Martha. Sie hatten gewonnen.
Das Automobil tuckerte inzwischen die letzte Steigung hinauf. In knapp einer Minute hielte es vor dem Haus an, ihr Vater würde aussteigen und hereinkommen. Jetzt verwandelte sich ihre Lethargie in Sorge. Ob er weniger wütend wäre, nicht mehr so starrsinnig und unnachgiebig wie an dem Tag, an dem er sie hier abgesetzt hatte ? Ihr Vater gehörte zu den Männern der alten Schule, verhaftet in Klassendenken, war es gewohnt, von Dienern umgeben zu sein, zu schießen, zu angeln und auf die Jagd zu gehen, den Großteil der Ortschaft zu besitzen und den Bewohnern Vorschriften zu machen, ebenso wie ihr.
Sie war in einem Internat für höhere Töchter und in einem Mädchenpensionat in der Schweiz erzogen worden und hatte anschließend zu Hause gewohnt, um zu warten, bis sich ein geeigneter Ehemann für sie fand. Dass sie eine Stelle annehmen oder etwas Nützliches tun könnte, war nie in Erwägung gezogen worden. Töchter eines Earls gingen nicht arbeiten, sie heirateten junge Herren ihres Standes. Rückblickend fand sie es eigenartig, dass sie das alles hingenommen hatte.
Sie drehte sich um und sah sich das Zimmer an, das in den vergangenen sechs Monaten ihr Gefängnis und ihre Zuflucht gewesen war. Es zeigte sich gediegen möbliert, passend zur Gediegenheit des Hauses : ein eisernes Bettgestell mit Messingkopf- und -fußteil, Schrank und Kommode aus Mahagoni, ein Waschtisch, auf dem eine Schüssel und eine Kanne standen und dessen Schrankteil einen Nachttopf beherbergte. Der Boden war mit Linoleum ausgelegt, Vorleger befanden sich zu beiden Seiten des Bettes. Im Vergleich zu dem Luxus ihres Zimmers in Beckbridge Hall mit seinem dicken Teppich, den spießigen Bezügen und hellen Vorhängen, erschien es spartanisch, doch sie ging davon aus, dass das Teil ihrer Bestrafung war.
Auf dem Bett lag ein gepackter Koffer. Er war nicht groß ; sie hatte nicht viel mitgebracht, nur zwei Kleider, Unterwäsche, Strümpfe, Nachthemden und Toilettensachen. Ihre Tante hatte ihr Kleider von sich zum Wechseln gegeben, die ihr erst passten, als sie an Umfang zunahm, schwarze und braune, aus kratziger Wolle oder steifem Taft. Bis auf das Kleid, das sie trug, würde sie keines mitnehmen.
Sie hörte, wie ihr Vater von ihrer Großtante begrüßt wurde, beschloss, sich lieber blicken zu lassen, und verließ das Zimmer. Oben an der Treppe blieb sie stehen und schaute hinunter. Er zog seinen Mantel aus und setzte den Hut ab, reichte beides Lisa weiter, der einzigen Hausangestellten ihrer Tante, blickte auf und sah sie. Vielleicht war er nicht auf ihren Umfang vorbereitet, jedenfalls unternahm er nichts, um seinen Widerwillen zu verbergen.
Langsam ging sie die Treppe hinunter, klammerte sich ans Geländer und achtete auf ihre Füße, die fast unter der Wölbung ihres Leibes verschwanden. Unten angekommen, schaute sie zu ihm auf. Er war hochgewachsen, hatte eine aristokratische Haltung, sein Anzug war makellos geschneidert. Sein Haar wurde an den Schläfen grau, und sein Schnurrbart war weiß. War das vor sechs Monaten schon so gewesen ? Seine grauen Augen, stellte sie fest, blickten kalt.
»Papa. Hattest du eine angenehme Fahrt ?«
Er musterte sie von Kopf bis Fuß. »Es war verdammt ermüdend. Bist du fertig zum Aufbruch ?«
»Ja, Papa.«
Er war die ganze Strecke allein gefahren, und sie wusste, warum. Sich von seinem Chauffeur bringen zu lassen, wäre viel einfacher gewesen, aber Bedienstete reden, und das Ziel der Übung war Geheimhaltung gewesen. Niemand in Beckbridge, niemand ihrer Bekannten oder Verwandten, durfte je von Helens Schande erfahren.
»Ich habe einen frühen Lunch angeordnet«, sagte die Großtante und ging ihnen voraus in den Salon, in dem ein Feuer brannte. Salon und Speiseraum waren die einzigen Zimmer, in denen ein Feuer erlaubt war, wenn noch kein dauerhaft kaltes Wetter herrschte, natürlich mit Ausnahme der Küche, in der Lisa das Sagen hatte. Helen war oft wach geworden und hatte Eisblumen an ihren Schlafzimmerfenstern entdeckt.
»Gut. Entschuldige, wenn ich nicht bleibe, aber die Fahrt ist lang. Ich möchte heute Abend noch bis Edinburgh kommen, wenn es geht. Trödeln hat keinen Sinn.«
Überhaupt keinen, dachte Helen, fragte sich jedoch, wohin er sie bringen würde. Nicht nach Hause, nicht mit der Kugel, die Helen vor sich herschob und die aller Welt verkündete, dass sie hochschwanger war.
Sie gingen ins Speisezimmer, und Lisa trug die Gerichte auf. Helen aß dem Kind zuliebe, doch das Essen schmeckte nach nichts. Sie war froh, als die schweigende Mahlzeit vorüber und es an der Zeit war, ihren Hut aufzusetzen und den Umhang überzuwerfen, der ihre Wölbung besser kaschierte als ein Mantel. Ihr Vater nahm ihren Koffer von Lisa entgegen und stellte ihn in den Kofferraum. Sie wandte sich ihrer Großtante zu.
»Auf Wiedersehen, Tante Martha. Danke, dass du mich aufgenommen hast.«
»Auf Wiedersehen, Kind.« Sie gab Helen einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Und vergiss nicht, was ich gesagt habe. Wenn es vorbei ist, schließ damit ab und sei eine gehorsame Tochter. Denk an deine arme Mama und deinen Mann. Bete zu Gott, dass dieser entsetzliche Krieg bald vorbei sein wird und wir alle wieder das Leben aufnehmen können, das wir vorher geführt haben.«
»Ja, Tante.« Als sie sich auf den Beifahrersitz setzte, wusste sie, dass das Leben nie wieder so sein würde, wie es einmal war. Und sie war eine gehorsame Tochter gewesen. Das schien nicht das Problem. Sie hatte sogar folgsam den Mann geheiratet, den ihre Eltern für sie ausgesucht hatten. Nicht etwa, dass sie Richard nicht hatte heiraten wollen ; sie war einfach zu dumm gewesen, um es besser zu wissen.
Ihr Vater setzte sich hinter das Lenkrad, und sie brachen auf Richtung Süden. »Wo fahren wir hin, Papa ?«
»Nach London.«
»London ?« Sie wunderte sich.
»Ja. Da gibt es eine Klinik, in der du dein Kind zur Welt bringen kannst. Sie ist bekannt dafür, diskret zu sein. Man wird sich um dein Kind kümmern und es weggeben.«
»Weggeben ! O Papa !« Er hatte sich nicht verändert. Er war noch immer unnachgiebig. Sie musste ihr Kind hergeben.
Anfangs widersprach sie dem heftig, doch Tante Martha hatte sie tagtäglich bearbeitet und ihr zugesetzt, sie müsse daran denken, was ihre arme Mutter aufgrund ihrer, Helens, Verruchtheit durchzumachen habe. Sie konnte wieder Kinder haben. Was war so schrecklich daran, eins in ein gutes Zuhause abzugeben, an jemanden, der sich wirklich ein Kind wünschte ? So ging es ständig, wie ein tropfender Wasserhahn. Sie hätte nicht klein beigegeben, wenn sie etwas von Oliver gehört hätte, aber da kam nichts, nicht ein Wort.
»Nenn mich nicht ›Papa‹. Du kannst deiner Mutter danken, dass wir dich nicht auf die Straße gesetzt und enterbt haben. Dass ausgerechnet mein Kind ... Wäre Brandon noch am Leben ... « Er verstummte und presste die Lippen zusammen. Wenn er ihren Bruder erwähnte, verfi el er immer in eine eigenartige Stimmung. Helen hatte ihren Bruder geliebt und seinen Tod ebenso betrauert wie ihre Eltern, aber das hatten sie nie zur Kenntnis genommen. In ihren eigenen Kummer versunken, hatten sie keine Zeit für die Trauer ihrer Tochter gehabt. Anders als Richard.
Brendans Tod hatte Richard nach Beckbridge Hall geführt. Er hatte sich veranlasst gefühlt, ihren Eltern vom letzten heldenhaften Kampf ihres Sohnes zu berichten. Die offi zielle Bekanntmachung, dass er gefallen war, sagte ihnen nicht viel. Trotz des traurigen Anlasses hatte Richard mit seinem selbstsicheren Auftreten und dem bereitwilligen Lächeln nicht nur Helen, sondern auch ihre Eltern beeindruckt. Sie hatten ihn eingeladen zu bleiben. Er war charmant und verständnisvoll, und Helen hatte ihn gemocht, die Art und Weise, wie er sich ihr zuwandte und sie in die Unterhaltung mit einbezog, aus der ihre Eltern sie womöglich ausgeschlossen hätten. Sie ritten aus, gingen spazieren und sprachen über alles, nur nicht über den Krieg.
»Schreibst du mir ?«, hatte er vor seiner Abreise gefragt, und sie hatte eingewilligt.
Ihr Liebeswerben fand briefl ich statt, bis Richard dann zu einem dringend benötigten Urlaub nach England kam und sie sich wiedersahen. Bei dieser Gelegenheit hielt er um ihre Hand an. Ihre Eltern waren ganz auf ihn versessen gewesen und hatten ihr gesagt, sie werde nie einen besseren Ehemann finden : tapfer, gutaussehend, wohlhabend, charmant und eine gute Partie. Sie hatte ihnen geglaubt. Irgendwie gelang es ihm, seinen Urlaub verlängern zu lassen, und sie hatten auf der Stelle geheiratet. Nach der zweitägigen Hochzeitsreise war er nach Frankreich zurückgekehrt. Was ihnen blieb, waren Briefe. Wie aber konnte man sich per Briefwechsel lieben ?
Helen hatte sich damit abgefunden, sich auf jedes eher unpersönliche Sendschreiben gefreut und auf die Zeit, in der sie wieder zusammen sein würden. Unterdessen wohnte sie weiterhin zu Hause.
Sie half ihrer Mutter, das Haus mit weniger Personal zu führen, mit der Knappheit an Nahrungsmitteln, Alkohol und Kohle und vielem anderen zurechtzukommen und erst recht mit dem zunehmend reizbaren Temperament ihres Vaters. Ihr war klar, dass der Grund in seiner Enttäuschung lag. Er war früher Soldat gewesen, wollte draußen an der Front sein und seine Pfl icht und Schuldigkeit tun, aber er war zu alt und nicht in Form. Als leidenschaftlicher Patriot verköstigte er gern junge Offi ziere aus allen Waffengattungen, bot ihnen ein Bad und eine Mahlzeit an, häufi g auch einen Übernachtungsplatz, was in der Zeit des Wohlstands vor dem Krieg schön und gut gewesen wäre. Aber wie alle anderen auch mussten sie den Gürtel enger schnallen, und diese Freigebigkeit war nur mühsam aufrechtzuerhalten.
»Louise, ich bin Earl«, sagte er, wenn ihre Mutter protestierte. »Wir haben ein Niveau zu wahren. Unseren Jungs in Uniform Gastfreundschaft anzubieten, ist das Mindeste, was ich tun kann, nachdem sie mich nicht ranlassen.«
»Dem Herrn sei Dank dafür«, sagte ihre Mutter. »Aber zusätzliche Nahrungsmittel aufzutreiben ist nicht besonders leicht, und Kohle zum Erhitzen des Wassers für die Bäder ist ein Problem.«
»Das mag ja sein, aber ich hoffe, keiner wird mich des Geizes bezichtigen.«
Daher hatte ihre Mutter, die schon immer unter seiner Knute gestanden hatte, was sich wohl auch nicht ändern würde, auch weiterhin Offi ziere bewirtet, die in der Nähe ihres Anwesens stationiert waren. Sie standen dann auf dem dicken Teppich im Salon, hörten ihrem Vater zu, der sich darüber ausließ, wie er den Krieg führen würde, schlürften Cocktails und bewunderten alles, was sie zu sehen bekamen, angefangen von den silbernen Kelchen bis hin zum feinen Porzellan, von Bronzebüsten bis zu den Porträts der Vorfahren, die über Generationen zurückreichten. Helen war höfl ich und freundlich und behandelte alle gleich. Bis sie Oliver kennenlernte.
Übersetzung: Marion Balkenhol
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2011 by
Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Mary Nichols
Mary Nichols wurde in Singapur geboren, lebt aber seit ihrem dritten Lebensjahr in England. Sie ist verheiratet, hat drei Kinder und vier erwachsene Enkel. Mary Nichols schreibt seit 28 Jahren historische Romane und Familiensagas. Von ihren bisher 36 Romanen landeten viele auf den Bestsellerlisten.
Bibliographische Angaben
- Autor: Mary Nichols
- 2013, 359 Seiten, Deutsch
- Verlag: Weltbild GmbH & Co. KG
- ISBN-10: 386365725X
- ISBN-13: 9783863657253
- Erscheinungsdatum: 03.01.2013
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- Dateiformat: ePub
- Größe: 10 MB
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