Der letzte Dieb (ePub)
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Der letzte Dieb von Steffen Kopetzky1923
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Er ist kaum einen Tag hier, doch er kennt schon genau die Abfolge der Geräusche, die die Wärter während ihrer Kontrollgänge hervorbringen, wenn sie mit schwerem, wie absichtlich polterndem Schritt die langgestreckten Flure entlangmarschieren, so als ob es ihnen darum ginge, die Gefangenen hinter den Eisentüren noch im Schlaf von ihrer freien Beweglichkeit wissen zu lassen. Josef weiß, wie es klingt, wenn der Wärter eine der Türen öffnet, er kennt das Geräusch des Schlüssels, der in eines der großen Schlösser eingeführt wird. So wie jetzt. Wenn ihn nicht alles trügt, dann handelt es sich um eines der neuen, erst seit ein paar Jahren verbauten Zylinderschlösser, mit deren Produktion sie zu Hause in Velbert nach dem Weltkrieg begonnen hatten und die weit sicherer sind als die alten Bartschlösser. Moabits Türen sind offenbar auf dem neuesten Stand der Technik.
Vielleicht handelt es sich um den gewöhnlichen Reflex eines Menschen, der erst kürzlich zu einem Gefangenen geworden ist, auch das scheinbar Ungewöhnliche auf sich selbst zu beziehen. Vielleicht ist es Instinkt, vorausspürendes Wissen - Josef jedenfalls ist davon überzeugt, dass das ferne Poltern ihm gilt. Jemand öffnet das Schloss an der großen Tür des Zellentrakts, die gewaltige Eisentür schwingt auf, er hört ein paar hingemurmelte Silben, es sind mehrere Männer, mindestens drei, wahrscheinlich mehr.
Jeder dieser Schritte lässt Josefs Herz stärker schlagen, er lauscht konzentriert. Die Gruppe kommt näher, bald kann sie nur noch ein paar Meter von seiner Zelle entfernt sein, und jetzt, in diesem Moment, ist Josef davon überzeugt, dass ihm Übles bevorsteht. Er vermutet das Herannahen einer mit der Untersuchung seines Falles betrauten gerichtlichen Autoritätsperson. Man weiß, wer er ist und was er verbrochen hat, man wird ihm sein Strafmaß verkünden. Die Männer erreichen seine Tür. Eine letzte Sekunde lang versucht Josef, alle in seiner Seelezerstreuten Momente der Hoffnung zusammenzuziehen. Wenn sie doch einfach weitergehen könnten, bitte! Die Gruppe bleibt genau vor seiner Zellentür stehen. Wieder wird etwas gemurmelt, Josef hört und versteht jedes einzelne Wort. »Hier, die Herren ...« Der Schlüssel fährt in den Zylinder, dreht sich zweimal, zwei große Riegel werden auf beiden Seiten der Tür krachend zur Seite geschoben, die Tür öffnet sich, das Licht der Bogenlampen fällt grell herein und in dem schmalen Durchlass erscheinen die scharf umrissenen Schemen einiger Männer. »Denn mal rinn, nur nicht so schüchtern«, sagt der Wärter, und nachdem zwei Männer die Zelle betreten haben, schließt sich die Tür hinter ihnen. Wieder Dunkelheit, nur von schräg einfallendem Mondlicht aus dem winzigen Fensterchen spärlich erhellt. Erst als sich die Augen der beiden an die Dunkelheit gewöhnt haben, entdecken sie, dass es auch noch einen dritten Häftling gibt. Moabit ist dieser wirren Tage, in denen sich der Staat selbst mit gefälschten Millionen seiner Kriegsschulden zu entledigen trachtet, hoffnungslos überfüllt.
»Also gut«, sagt der eine von beiden, der nahe der Tür stehen geblieben war, ein elegant gekleideter Mann, und geht dann zu dem kleinen, von zahllosen, mit geduldigen Fingernägeln eingeritzten Botschaften bedeckten Holztisch, zieht den Schemel darunter heraus und setzt sich. Er fasst sich in die rechte Tasche seines Sakkos und holt ein flaches Schächtelchen hervor. Josef glaubt, eine schimmernde Reihe blütenweißer Zigaretten zu erkennen, dann klappt der andere die kleine Schachtel wieder zu. Er streicht ein Schwefelholz an, dessen Flamme den Raum für einen kurzen Moment erhellt, entzündet die Zigarette, inhaliert und atmet aus. Der Duft des Tabaks wandert durch den Raum, überdeckt den elenden Mief der Arrestzelle, den Josef niemals mehr in seinem Leben wird vergessen können. Er wird auch nicht vergessen, wie köstlich ihm der im Mondlicht bläuende Rauch der Zigarette vorkommt. Er hat zwar schon ein paar Mal an Selbstgedrehten aus fein geschnittenen Tabakstengeln gezogen, aber solche an ihrem Duft schon als teuer zu erkennende Zigaretten waren ihm unerschwinglich. Der andere inhaliert genüsslich ein paar Züge, schnippt dann die Asche von der Glut auf den Boden. Josef mustert den fein gezwirbelten Schnurrbart, das bis auf einen schmalen, hingehauchten Streifen am Kragen makellos saubere Hemd, die dunkelrote Krawatte aus Seide. Der Anzug hellgrau. Er schiebt die Schachtel in Josefs Richtung. »Die haben mich eine goldene Uhr gekostet ...«, sagt er und lacht. »Bedien dich ...« Josef betrachtet die Schachtel im Dunkel der Zelle - er erkennt zwei Männer zu Pferde, orientalisch gekleidet, vor einem steinernen, zu einem Spitzbogen zusammenlaufenden Stadttor. Der eine scheint dem anderen eine Zigarette anzubieten, trotz seines sich vor Ungeduld aufbäumenden Pferdes. Eine Szenerie, die Josef fasziniert. Säße er doch auf einem der beiden Gäule! Bei der Entzifferung der vornehm gedruckten Schriftzüge auf der Schachtel tut er sich schwer, schließlich aber liest er: »Salemaleikum«.
»Nun zier dich nicht. Wir haben keine Zeit.«
Josef nimmt sich eine Zigarette, zündet sie umständlich an, inhaliert, Tränen treiben ihm in die Augen; er muss leicht husten. »Also - von vorne! Weshalb bist du hier eingebunkert?«
Die Frage reißt Josef aus dem leichten, angenehmen Schwindel des Nikotins. Kein Wort wird er sagen, nicht um alles in der Welt. Josef zittert. Dass er es nicht ungeschehen machen kann, lässt ihn verzweifeln. Der Grund für seine Inhaftierung ist dagegen banal. Ein Einbruch in das Warenlager eines Kaufhauses am Nordhafen (Josef hielt es für abgelegen und unbenutzt), wo ihn Speditionsarbeiter am gestrigen Morgen auf einem riesigen, aus Übersee importierten Bett schlafend vorfanden. Den Schlössern war nichts anzusehen. Sie waren geöffnet und wieder verschlossen worden. Nichts war beschädigt. Nichts fehlte. Ein gut ausgeführter Einbruch. Allerdings war das Objekt nicht gut ausgesucht, und überdies war es natürlich mehr als dumm, sich dann ausgerechnet dort schlafen zu legen. Die Polizei hält ihn für einen geschickten Landstreicher. Doch einem Untersuchungsrichter wurde er bislang noch nicht vorgeführt. »Bin in ein Lagerhaus eingestiegen.«
»So, 'n Einbrecher.«
Die Augen des anderen scheinen zu funkeln.
»Haben Sie das gehört, Herr Doktor? Glück braucht man im Leben und ...«, vergnügt wirft er die Zigarette auf den Boden und tritt sie aus. Der Dritte im Raum, der knapp vor der Tür stehen geblieben ist, wirft Josef einen flüchtigen Blick zu, murmelt etwas Unverständliches und bleibt ansonsten unbewegt. Er ist deutlich älter als der andere, schon längere Zeit nicht mehr rasiert und trägt einen schwarzen Anzug mit Weste, dazu ein weißes Hemd ohne Kragen. Er ist abgemagert bis auf die Knochen, seine Augen liegen tief in den Höhlen.
Der Jüngere fasst sich in die linke Tasche und befördert ein kleines Instrument vor Josefs Augen, das er unschwer als eine Ausführung jenes Patents erkennt, das der Berliner Schlosser meister Dietrich vor ein paar Jahrzehnten angemeldet hatte. Ein Universalschlüssel.
»Kannst du die Tür damit aufmachen?«
Nun ist Josef kein Einbrecher, sondern ein achtzehnjähriger Schlossergeselle aus Velbert im Bergischen Land - aber gerade deshalb hat er zu seinen Fähigkeiten im Umgang mit Schlössern grundsätzliches Vertrauen. Er nickt, atemlos. »Da war meine Uhr ja richtig gut angelegt«, er zwinkert Josef zu, dreht sich lächelnd zu dem hageren Mann um und winkt ihn näher an das Tischchen heran.
»Jetzt erzählen Sie mal in Ruhe, Herr Doktor Gemma. Das ging ja vorhin nicht wirklich gut.«
»Was ich sagte, stimmt. Mögen Sie mir glauben oder nicht.«
Er spricht stockend, unbeholfen.
Der elegant gekleidete Mann klopft lächelnd auf das Schächtelchen Salem.
»Auch wenn mir der Kerl, dem ich meine Uhr geben durfte, geschworen hat, dass es ganz leicht sein wird, zu entkommen, wenn wir nur die Zellentür aufkriegen, so stelle ich mir eine Flucht zu zweit einfacher vor als eine zu dritt. Zumal Sie auch nicht mehr der Jüngste sind. Ich will einen Beweis, so wahr ich Albrecht Sachs heiße.«
Josef bemerkt verblüfft, dass Sachs ihn offenbar schon längst in seinen Fluchtplan mit einbezogen hat, mit jener nüchternen Selbstverständlichkeit, die nur dem Handlanger gewährt wird, ohne den man nicht kann.
Der Adamsapfel des Hageren macht einen Hüpfer, er beißt sich auf die Lippen, zögert noch einen Moment, dann fasst er sich mit den Fingern der Rechten in den Mund. Josef glaubt zu erkennen, dass er nicht mehr allzu viele Zähne besitzt. Für einen Moment hören sie leichte Würgegeräusche, dann hält Dr. Gemma einen kleinen runden Gegenstand ins Dämmerlicht der Zelle, säubert ihn an seinem Sakko und gibt ihn Sachs. Der entzündet ein Streichholz, unter dessen Licht ein archaisch anmutender, mit seltsamen Schriftzeichen besetzter Ring aufblitzt. Sachs dreht ihn lächelnd hin und her. »Tja, die Buchstaben kann ich zwar nicht lesen, aber dass der Ring aus Gold ist, da bin ich mir sicher. Wo haben Sie den her?«
Der Hagere schweigt, doch da ihn Sachs weiterhin mit hochgezogenen Augenbrauen anblickt und damit klarmacht, dass er auf einer Antwort bestehen wird, erzählt er schließlich umständlich und mit abgehackten Worten von der deutsch-osmanischen Expedition, an der er zu Beginn des Krieges als Archäologe teilgenommen habe.
»Ein alter Mann in Bagdad zeigte ihn mir. Er behauptete, er hätte den Ring von seinem Großvater erhalten. Doch auch sein Großvater habe ihn geerbt, da der Ring älter sei als alles andere von Menschen Gemachte, das man finden könne. Die Atlanter hätten ihn gemacht. Aber der Alte war nur ein Dieb. Er hatte keinen Anspruch auf den Ring.« Gemma räuspert sich und blickt düster zu Boden.
Sachs lächelt weiterhin, doch anstatt etwas zu sagen, probiert er den Ring aus und schiebt ihn sich schließlich über den Ringfinger der linken Hand.
»Dass er aus Gold ist, genügt mir. Was ist mit dem Rest? Soll das auch von den Atlantern sein?«
»Nein. Das stammt aus der britischen Bank in Isfahan. Ein ganzer Beutel mit Goldmünzen.«
»Und das ist jetzt in Berlin?«
»Ja. Ich selbst habe die Münzen in einem Tongefäß versteckt, welches vor einer Woche endlich hier eingetroffen ist. Es hing in Konstantinopel fest.«
»Und als Sie das Beutelchen holen wollten, wurden Sie erwischt. «
Dr. Gemma nickt und blickt starr vor sich hin. Sachs spreizt noch einmal die Finger seiner linken Hand, betrachtet den Ring und dreht ihn hin und her. »Hübsch, wirklich ...«, und dann, nach einer kleinen Pause, sagt er, zu Josef gewandt, der vor Verwirrung und Furcht kein Wort herausbringt:
»Na, dann wollen wir dreimal unser Glück versuchen! Hier ist der Dietrich, mein Junge. Leg los.«
Luchterhand Verlag
Er ist kaum einen Tag hier, doch er kennt schon genau die Abfolge der Geräusche, die die Wärter während ihrer Kontrollgänge hervorbringen, wenn sie mit schwerem, wie absichtlich polterndem Schritt die langgestreckten Flure entlangmarschieren, so als ob es ihnen darum ginge, die Gefangenen hinter den Eisentüren noch im Schlaf von ihrer freien Beweglichkeit wissen zu lassen. Josef weiß, wie es klingt, wenn der Wärter eine der Türen öffnet, er kennt das Geräusch des Schlüssels, der in eines der großen Schlösser eingeführt wird. So wie jetzt. Wenn ihn nicht alles trügt, dann handelt es sich um eines der neuen, erst seit ein paar Jahren verbauten Zylinderschlösser, mit deren Produktion sie zu Hause in Velbert nach dem Weltkrieg begonnen hatten und die weit sicherer sind als die alten Bartschlösser. Moabits Türen sind offenbar auf dem neuesten Stand der Technik.
Vielleicht handelt es sich um den gewöhnlichen Reflex eines Menschen, der erst kürzlich zu einem Gefangenen geworden ist, auch das scheinbar Ungewöhnliche auf sich selbst zu beziehen. Vielleicht ist es Instinkt, vorausspürendes Wissen - Josef jedenfalls ist davon überzeugt, dass das ferne Poltern ihm gilt. Jemand öffnet das Schloss an der großen Tür des Zellentrakts, die gewaltige Eisentür schwingt auf, er hört ein paar hingemurmelte Silben, es sind mehrere Männer, mindestens drei, wahrscheinlich mehr.
Jeder dieser Schritte lässt Josefs Herz stärker schlagen, er lauscht konzentriert. Die Gruppe kommt näher, bald kann sie nur noch ein paar Meter von seiner Zelle entfernt sein, und jetzt, in diesem Moment, ist Josef davon überzeugt, dass ihm Übles bevorsteht. Er vermutet das Herannahen einer mit der Untersuchung seines Falles betrauten gerichtlichen Autoritätsperson. Man weiß, wer er ist und was er verbrochen hat, man wird ihm sein Strafmaß verkünden. Die Männer erreichen seine Tür. Eine letzte Sekunde lang versucht Josef, alle in seiner Seelezerstreuten Momente der Hoffnung zusammenzuziehen. Wenn sie doch einfach weitergehen könnten, bitte! Die Gruppe bleibt genau vor seiner Zellentür stehen. Wieder wird etwas gemurmelt, Josef hört und versteht jedes einzelne Wort. »Hier, die Herren ...« Der Schlüssel fährt in den Zylinder, dreht sich zweimal, zwei große Riegel werden auf beiden Seiten der Tür krachend zur Seite geschoben, die Tür öffnet sich, das Licht der Bogenlampen fällt grell herein und in dem schmalen Durchlass erscheinen die scharf umrissenen Schemen einiger Männer. »Denn mal rinn, nur nicht so schüchtern«, sagt der Wärter, und nachdem zwei Männer die Zelle betreten haben, schließt sich die Tür hinter ihnen. Wieder Dunkelheit, nur von schräg einfallendem Mondlicht aus dem winzigen Fensterchen spärlich erhellt. Erst als sich die Augen der beiden an die Dunkelheit gewöhnt haben, entdecken sie, dass es auch noch einen dritten Häftling gibt. Moabit ist dieser wirren Tage, in denen sich der Staat selbst mit gefälschten Millionen seiner Kriegsschulden zu entledigen trachtet, hoffnungslos überfüllt.
»Also gut«, sagt der eine von beiden, der nahe der Tür stehen geblieben war, ein elegant gekleideter Mann, und geht dann zu dem kleinen, von zahllosen, mit geduldigen Fingernägeln eingeritzten Botschaften bedeckten Holztisch, zieht den Schemel darunter heraus und setzt sich. Er fasst sich in die rechte Tasche seines Sakkos und holt ein flaches Schächtelchen hervor. Josef glaubt, eine schimmernde Reihe blütenweißer Zigaretten zu erkennen, dann klappt der andere die kleine Schachtel wieder zu. Er streicht ein Schwefelholz an, dessen Flamme den Raum für einen kurzen Moment erhellt, entzündet die Zigarette, inhaliert und atmet aus. Der Duft des Tabaks wandert durch den Raum, überdeckt den elenden Mief der Arrestzelle, den Josef niemals mehr in seinem Leben wird vergessen können. Er wird auch nicht vergessen, wie köstlich ihm der im Mondlicht bläuende Rauch der Zigarette vorkommt. Er hat zwar schon ein paar Mal an Selbstgedrehten aus fein geschnittenen Tabakstengeln gezogen, aber solche an ihrem Duft schon als teuer zu erkennende Zigaretten waren ihm unerschwinglich. Der andere inhaliert genüsslich ein paar Züge, schnippt dann die Asche von der Glut auf den Boden. Josef mustert den fein gezwirbelten Schnurrbart, das bis auf einen schmalen, hingehauchten Streifen am Kragen makellos saubere Hemd, die dunkelrote Krawatte aus Seide. Der Anzug hellgrau. Er schiebt die Schachtel in Josefs Richtung. »Die haben mich eine goldene Uhr gekostet ...«, sagt er und lacht. »Bedien dich ...« Josef betrachtet die Schachtel im Dunkel der Zelle - er erkennt zwei Männer zu Pferde, orientalisch gekleidet, vor einem steinernen, zu einem Spitzbogen zusammenlaufenden Stadttor. Der eine scheint dem anderen eine Zigarette anzubieten, trotz seines sich vor Ungeduld aufbäumenden Pferdes. Eine Szenerie, die Josef fasziniert. Säße er doch auf einem der beiden Gäule! Bei der Entzifferung der vornehm gedruckten Schriftzüge auf der Schachtel tut er sich schwer, schließlich aber liest er: »Salemaleikum«.
»Nun zier dich nicht. Wir haben keine Zeit.«
Josef nimmt sich eine Zigarette, zündet sie umständlich an, inhaliert, Tränen treiben ihm in die Augen; er muss leicht husten. »Also - von vorne! Weshalb bist du hier eingebunkert?«
Die Frage reißt Josef aus dem leichten, angenehmen Schwindel des Nikotins. Kein Wort wird er sagen, nicht um alles in der Welt. Josef zittert. Dass er es nicht ungeschehen machen kann, lässt ihn verzweifeln. Der Grund für seine Inhaftierung ist dagegen banal. Ein Einbruch in das Warenlager eines Kaufhauses am Nordhafen (Josef hielt es für abgelegen und unbenutzt), wo ihn Speditionsarbeiter am gestrigen Morgen auf einem riesigen, aus Übersee importierten Bett schlafend vorfanden. Den Schlössern war nichts anzusehen. Sie waren geöffnet und wieder verschlossen worden. Nichts war beschädigt. Nichts fehlte. Ein gut ausgeführter Einbruch. Allerdings war das Objekt nicht gut ausgesucht, und überdies war es natürlich mehr als dumm, sich dann ausgerechnet dort schlafen zu legen. Die Polizei hält ihn für einen geschickten Landstreicher. Doch einem Untersuchungsrichter wurde er bislang noch nicht vorgeführt. »Bin in ein Lagerhaus eingestiegen.«
»So, 'n Einbrecher.«
Die Augen des anderen scheinen zu funkeln.
»Haben Sie das gehört, Herr Doktor? Glück braucht man im Leben und ...«, vergnügt wirft er die Zigarette auf den Boden und tritt sie aus. Der Dritte im Raum, der knapp vor der Tür stehen geblieben ist, wirft Josef einen flüchtigen Blick zu, murmelt etwas Unverständliches und bleibt ansonsten unbewegt. Er ist deutlich älter als der andere, schon längere Zeit nicht mehr rasiert und trägt einen schwarzen Anzug mit Weste, dazu ein weißes Hemd ohne Kragen. Er ist abgemagert bis auf die Knochen, seine Augen liegen tief in den Höhlen.
Der Jüngere fasst sich in die linke Tasche und befördert ein kleines Instrument vor Josefs Augen, das er unschwer als eine Ausführung jenes Patents erkennt, das der Berliner Schlosser meister Dietrich vor ein paar Jahrzehnten angemeldet hatte. Ein Universalschlüssel.
»Kannst du die Tür damit aufmachen?«
Nun ist Josef kein Einbrecher, sondern ein achtzehnjähriger Schlossergeselle aus Velbert im Bergischen Land - aber gerade deshalb hat er zu seinen Fähigkeiten im Umgang mit Schlössern grundsätzliches Vertrauen. Er nickt, atemlos. »Da war meine Uhr ja richtig gut angelegt«, er zwinkert Josef zu, dreht sich lächelnd zu dem hageren Mann um und winkt ihn näher an das Tischchen heran.
»Jetzt erzählen Sie mal in Ruhe, Herr Doktor Gemma. Das ging ja vorhin nicht wirklich gut.«
»Was ich sagte, stimmt. Mögen Sie mir glauben oder nicht.«
Er spricht stockend, unbeholfen.
Der elegant gekleidete Mann klopft lächelnd auf das Schächtelchen Salem.
»Auch wenn mir der Kerl, dem ich meine Uhr geben durfte, geschworen hat, dass es ganz leicht sein wird, zu entkommen, wenn wir nur die Zellentür aufkriegen, so stelle ich mir eine Flucht zu zweit einfacher vor als eine zu dritt. Zumal Sie auch nicht mehr der Jüngste sind. Ich will einen Beweis, so wahr ich Albrecht Sachs heiße.«
Josef bemerkt verblüfft, dass Sachs ihn offenbar schon längst in seinen Fluchtplan mit einbezogen hat, mit jener nüchternen Selbstverständlichkeit, die nur dem Handlanger gewährt wird, ohne den man nicht kann.
Der Adamsapfel des Hageren macht einen Hüpfer, er beißt sich auf die Lippen, zögert noch einen Moment, dann fasst er sich mit den Fingern der Rechten in den Mund. Josef glaubt zu erkennen, dass er nicht mehr allzu viele Zähne besitzt. Für einen Moment hören sie leichte Würgegeräusche, dann hält Dr. Gemma einen kleinen runden Gegenstand ins Dämmerlicht der Zelle, säubert ihn an seinem Sakko und gibt ihn Sachs. Der entzündet ein Streichholz, unter dessen Licht ein archaisch anmutender, mit seltsamen Schriftzeichen besetzter Ring aufblitzt. Sachs dreht ihn lächelnd hin und her. »Tja, die Buchstaben kann ich zwar nicht lesen, aber dass der Ring aus Gold ist, da bin ich mir sicher. Wo haben Sie den her?«
Der Hagere schweigt, doch da ihn Sachs weiterhin mit hochgezogenen Augenbrauen anblickt und damit klarmacht, dass er auf einer Antwort bestehen wird, erzählt er schließlich umständlich und mit abgehackten Worten von der deutsch-osmanischen Expedition, an der er zu Beginn des Krieges als Archäologe teilgenommen habe.
»Ein alter Mann in Bagdad zeigte ihn mir. Er behauptete, er hätte den Ring von seinem Großvater erhalten. Doch auch sein Großvater habe ihn geerbt, da der Ring älter sei als alles andere von Menschen Gemachte, das man finden könne. Die Atlanter hätten ihn gemacht. Aber der Alte war nur ein Dieb. Er hatte keinen Anspruch auf den Ring.« Gemma räuspert sich und blickt düster zu Boden.
Sachs lächelt weiterhin, doch anstatt etwas zu sagen, probiert er den Ring aus und schiebt ihn sich schließlich über den Ringfinger der linken Hand.
»Dass er aus Gold ist, genügt mir. Was ist mit dem Rest? Soll das auch von den Atlantern sein?«
»Nein. Das stammt aus der britischen Bank in Isfahan. Ein ganzer Beutel mit Goldmünzen.«
»Und das ist jetzt in Berlin?«
»Ja. Ich selbst habe die Münzen in einem Tongefäß versteckt, welches vor einer Woche endlich hier eingetroffen ist. Es hing in Konstantinopel fest.«
»Und als Sie das Beutelchen holen wollten, wurden Sie erwischt. «
Dr. Gemma nickt und blickt starr vor sich hin. Sachs spreizt noch einmal die Finger seiner linken Hand, betrachtet den Ring und dreht ihn hin und her. »Hübsch, wirklich ...«, und dann, nach einer kleinen Pause, sagt er, zu Josef gewandt, der vor Verwirrung und Furcht kein Wort herausbringt:
»Na, dann wollen wir dreimal unser Glück versuchen! Hier ist der Dietrich, mein Junge. Leg los.«
Luchterhand Verlag
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Autoren-Porträt von Steffen Kopetzky
Steffen Kopetzky, geboren 1971, ist Verfasser zahlreicher preisgekrönter Romane, Hörspiele und Theaterstücke. Von 2002 bis 2008 war er künstlerischer Leiter der Theater-Biennale Bonn. Er lebt mit seiner Familie in seiner Heimatstadt Pfaffenhofen an der Ilm.
Bibliographische Angaben
- Autor: Steffen Kopetzky
- 2009, 480 Seiten, Deutsch
- Verlag: Random House ebook
- ISBN-10: 3641012236
- ISBN-13: 9783641012236
- Erscheinungsdatum: 11.03.2009
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