Die Brücken am Fluss (ePub)
Das eBook zum Film
Der Fotograf Robert Kincaid, zweiundfünfzig Jahre alt, hat die ganze Welt gesehen. Noch immer zieht er unstet durch die Lande, allein, einsam, auf der Suche nach einem ungewöhnlichen Motiv, nach ein wenig Unbeschwertheit und Glück.Als er sich eines Tages...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Die Brücken am Fluss (ePub)“
Der Fotograf Robert Kincaid, zweiundfünfzig Jahre alt, hat die ganze Welt gesehen. Noch immer zieht er unstet durch die Lande, allein, einsam, auf der Suche nach einem ungewöhnlichen Motiv, nach ein wenig Unbeschwertheit und Glück.Als er sich eines Tages nach dem Weg zu einer alten versteckten Brücke von fast vergessener Schönheit erkundigt, begegnet er der Farmersfrau Francesca Johnson. Nach landläufigen Maßstäben glücklich verheiratet, kann sie doch nicht von den Träumen ihrer Jugend lassen. Robert und Francesca sind mutig genug, sich auf eine große, wunderbare, aussichtslose Liebe einzulassen. Vier Tage und drei Nächte lang tauchen sie ein in einer Liebe bis ans Ende aller Grenzen.»Der erfolgreichste Liebesroman der letzten zehn Jahre - eine herzergreifende Liebesgeschichte.«»Einfach unwiderstehlich«»Bewundernswert. Eine bewegende Liebesgeschichte.«
Lese-Probe zu „Die Brücken am Fluss (ePub)“
Wie alles begannEs gibt Lieder, die entsteigen dem Blau der Binsenlilien und dem Staub von Tausenden von Landstraßen.
Das hier ist eines davon.
Eines Spätsommernachmittags im August 1989 sitze ich an meinem Schreibtisch, den blinkenden Cursor meines Computers vor mir, als das Telefon schrillt.
Am anderen Ende der Leitung ist ein Michael Johnson, der aus Iowa stammt und mittlerweile in Florida lebt. Ein Freund aus Iowa hat ihm eins meiner Bücher geschickt. Michael Johnson hat es gelesen; seine Schwester Carolyn hat es gelesen; und jetzt haben die beiden eine Geschichte, die mich ihrer Ansicht nach interessieren könnte. Er ist sehr vorsichtig, lehnt es ab, auch nur das mindeste über diese Geschichte zu sagen, außer dass Carolyn und er auch nach Iowa reisen würden, um sich mit mir darüber zu unterhalten. Dass die beiden bereit sind, sich eine solche Mühe zu machen, lässt mich trotz meiner Skepsis gegenüber derlei Angeboten neugierig werden. Also willige ich ein, mich die Woche darauf mit ihnen in Des Moines zu verabreden. Wir treffen uns in einem Holiday Inn in der Nähe des Flughafens, und die anfängliche Verlegenheit gibt sich, während die beiden mir gegenübersitzen und draußen bei leichtem Schneefall der Abend hereinbricht.
Sie nehmen mir ein Versprechen ab: Sollte ich die Geschichte nicht schreiben wollen, muss ich mich einverstanden erklären, absolutes Stillschweigen zu bewahren über das, was sich seinerzeit, 1965, im Madison County von Iowa und während der folgenden vierundzwanzig Jahre ereignet hat. Na schön, das ist nur recht und billig. Immerhin ist es ihre Geschichte, nicht die meine.
Also höre ich zu, aufmerksam, stelle fleißig Fragen. Und die beiden reden. Schier unaufhörlich. Carolyn weint hin und wieder ungeniert, während Michael tapfer dagegen ankämpft. Sie zeigen mir Dokumente, Ausschnitte aus
... mehr
Zeitschriften und die Tagebücher ihrer Mutter Francesca. Der Etagenkellner geht ein und aus. Wir bestellen Kaffee nach. Während sie erzählen, sehe ich schon die ersten Bilder. Zuerst muss man Bilder haben, die Worte kommen danach. Und schließlich höre ich auch die Worte, sehe sie auf beschriebenen Seiten vor mir. Irgendwann kurz nach Mitternacht erkläre ich mich einverstanden, die Geschichte zu schreiben – oder wenigstens, es zu versuchen.
Der Entschluss, mit ihrem Wissen an die Öffentlichkeit zu gehen, war den beiden nicht leichtgefallen. Die Umstände sind, da es dabei ja um die Mutter und, wenigstens am Rande, auch um den Vater geht, delikat. Michael wie auch Carolyn waren sich darüber im Klaren, dass eine Veröffentlichung dieser Geschichte zu geschmacklosem Klatsch und einer unschönen Entwürdigung des Gedenkens an Richard und Francesca Johnson führen könnte.
In einer Welt jedoch, in der persönliche Bindungen in all ihren Spielarten in die Brüche zu gehen scheinen und Liebe nur noch eine Annehmlichkeit ist, hatten die beiden das Gefühl, dass diese bemerkenswerte Geschichte erzählt werden sollte. Ich war – damals und bin heute mehr denn je – der Ansicht, dass sie mit ihrem Urteil absolut richtig lagen.
Im Lauf meiner Recherchen und der eigentlichen Niederschrift bat ich Michael und Carolyn drei weitere Male um ein Treffen. Und jedes Mal reisten sie ohne Murren nach Iowa. So sehr war ihnen daran gelegen, dass die Geschichte auch richtig erzählt würde.
Zuweilen unterhielten wir uns einfach; zuweilen fuhren wir aber auch langsam über die Straßen des Madison County, und sie zeigten mir Örtlichkeiten, die in der Geschichte eine wesentliche Rolle spielen.
Über die Hilfe von Michael und Carolyn hinaus basiert die Geschichte, so wie ich sie hier erzähle, auf Informationen aus den Tagebüchern Francesca Johnsons, auf eigenen Recherchen im Nordwesten der Vereinigten Staaten, vor allem in Seattle und Bellingham, Washington, unauffälligen Nachforschungen im Madison County, Iowa, indirekten Informationen aus Robert Kincaids fotografischen Essays, der Unterstützung diverser Zeitschriftenredakteure, detaillierten Angaben der Hersteller von Filmmaterial und Fotoausrüstungen sowie langen Diskussionen mit einer Reihe von wunderbaren alten Herrschaften im Seniorenheim von Barnesville, Ohio, die Kincaid noch aus seinen Kindertagen kannten.
Trotz aller Mühe, die ich auf meine Recherchen verwandt habe, bleiben dennoch Lücken. Ich habe in solchen Fällen mit meiner Phantasie etwas nachgeholfen, freilich nur dann, wenn ich mir aufgrund der durch meine Nachforschungen gewonnenen intimen Vertrautheit mit Francesca Johnson und Robert Kincaid ein fundiertes Urteil erlauben konnte. Ich bin überzeugt, dem, was sich tatsächlich zugetragen hat, sehr nahegekommen zu sein.
Eine wesentliche Lücke umfasst die Einzelheiten einer Reise Kincaids durch den Norden der Vereinigten Staaten. Wir wissen, dass er diese Reise gemacht hat, weil in der Folge eine ganze Reihe von Fotos veröffentlicht wurden und Francesca Johnson sie kurz in ihrem Tagebuch erwähnt; außerdem hat er beim Herausgeber eines Magazins handschriftliche Notizen hinterlassen. Mit diesen Quellen als Führer habe ich seinen Weg von Bellingham ins Madison County nachgezeichnet, so wie er ihn meiner Ansicht nach im August 1965 zurückgelegt haben muss. Als ich mich gegen Ende meiner eigenen Reise dem Madison County näherte, hatte ich das Gefühl, in vieler Hinsicht selbst zu Robert Kincaid geworden zu sein.
Dennoch war mir der Versuch, das Wesen Kincaids zu begreifen, sowohl bei meinen Recherchen als auch bei der eigentlichen Niederschrift die größte Herausforderung. Er ist eine nur schwer fassbare Gestalt. Zuweilen scheint er einem recht gewöhnlich. Dann wieder erdentrückt, wenn nicht gar geisterhaft. Was seine Arbeit anbelangte, war er ein absoluter Profi. Ungeachtet dessen sah er sich als eine merkwürdige Art männliches Tier, das in einer zunehmend durchstrukturierten Welt langsam, aber sicher überlebte. Er sprach einmal vom »unbarmherzigen Heulen« der Zeit in seinem Kopf, und Francesca Johnson charakterisierte ihn als einen, der »in merkwürdigen, schattenhaften Gefilden tief an den Wurzeln Darwinscher Logik« zu Hause sei.
Es gibt noch zwei andere faszinierende Fragen, die bisher ohne Antwort geblieben sind. Zunächst einmal konnten wir nicht feststellen, was aus Kincaids Foto-Archiv geworden ist. Bei seiner Arbeitsweise muss er Tausende, wahrscheinlich Hunderttausende von Negativen besessen haben, die bisher nirgendwo aufgetaucht sind. Wir können nur vermuten – und es wäre durchaus im Einklang mit seinen Ansichten über sich und seinen Platz in der Welt –, dass er sie vor seinem Tod vernichtet hat.
Die zweite Frage ist die nach seinem Leben zwischen 1975 und 1982. Hierüber gibt es nur sehr wenige Informationen. Wir wissen, dass er sich in Seattle einige Jahre lang mehr schlecht als recht als Porträtfotograf durchgeschlagen und dabei nach wie vor die Gegend um den Puget Sound fotografiert hat. Das ist alles, was wir haben. Interessant ist, dass er sämtliche Briefe der Sozialkasse und des Bundesveteranenamtes handschriftlich mit dem Vermerk »Annahme verweigert« versehen und zurückgeschickt hat.
Die Arbeit an diesem Buch hat meine Weltsicht verändert, meine Art zu denken. Vor allem aber habe ich gelernt, das, was in der Arena zwischenmenschlicher Beziehungen möglich ist, mit weniger Zynismus zu betrachten.
Francesca Johnson und Robert Kincaid, wie ich sie im Lauf meiner Recherchen kennenlernen konnte, haben mir gezeigt, dass die Grenzen solcher Beziehungen um ein Beträchtliches weiter gezogen werden können und müssen, als ich das je für möglich gehalten hätte. Vielleicht werden Sie im Verlauf der Lektüre die gleiche Erfahrung machen.
Leicht wird das freilich nicht. Leben wir in dieser sich zunehmend verhärtenden Welt doch alle mit unserem ganz persönlichen Panzer verschorfter Gefühle. Wo die große Leidenschaft aufhört und der Kitsch beginnt, kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Sicher ist jedoch, dass unsere Neigung, uns selbst schon über die Möglichkeit einer solchen großen Leidenschaft zu mokieren und echte, tiefe Gefühle als rührselig abzutun, uns den Zugang zum Reich der Zärtlichkeit erschwert, in dem allein die Geschichte von Francesca Johnson und Robert Kincaid zu verstehen ist. Ich jedenfalls musste diese Neigung erst einmal überwinden, bevor ich mit dem Schreiben beginnen konnte.
Wenn Sie jedoch das nun Folgende mit einem, wie Coleridge es formulierte, bewussten Außerkraftsetzen des Unglaubens angehen, so werden Sie sicherlich die gleiche Erfahrung machen wie ich.
Vielleicht finden Sie, wie Francesca Johnson, in den gleichgültigen Räumen Ihres Herzens wieder Platz zum Tanzen.
Sommer 1991
Robert Kincaid
Am Morgen des 8. August 1965 verschloss Robert Kincaid seine kleine Zweizimmerwohnung im zweiten Stock eines weitläufigen Mietshauses in Bellingham, Washington.
Er trug einen Rucksack voller Fotoausrüstung und einen Koffer die hölzerne Stiege hinunter und durch einen Korridor nach hinten hinaus zu seinem alten Chevrolet-Pick-up, der auf einem für die Bewohner des Hauses reservierten Parkplatz stand.
In dem kleinen Laster lagen bereits ein zweiter Rucksack, eine mittelgroße Kühlbox, zwei Stative, mehrere Stangen Camels, eine Thermosflasche und eine große Tüte mit Obst. Hinten auf der Ladefläche lag ein Gitarrenkoffer. Kincaid plazierte die beiden Rucksäcke sorgfältig auf dem Sitz und Kühlbox und Stative auf dem Boden davor. Er kletterte auf die Ladefläche und verkeilte Gitarre und Koffer in einer Ecke, stützte sie mit einem flach auf dem Boden liegenden Ersatzreifen ab und zurrte die beiden Koffer dann mit einem Stück Wäscheleine an dem Reifen fest. Unter den abgefahrenen Ersatzreifen schob er eine schwarze Plane.
Er setzte sich ans Steuer, steckte sich eine Camel an und ging in Gedanken eine Checkliste durch: zweihundert Filme diverser Sorten, größtenteils wenig empfindliches Kodachromematerial; die Stative; die Kühlbox; drei Kameras mit fünf Objektiven; die Jeans; die Khakihose; Hemden; die Foto-Weste hatte er bereits an. Okay. Alles andere konnte er unterwegs kaufen, falls er etwas vergessen haben sollte. Kincaid trug verwaschene Levis, gut eingelaufene Armeestiefel, Khakihemd und orangefarbene Hosenträger. An seinem breiten Gürtel hatte er ein Futteral mit einem Schweizer Offiziersmesser.
Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr: acht Uhr siebzehn. Der kleine Laster sprang beim zweiten Versuch an, und er manövrierte ihn rückwärts aus der Parkbucht, legte den Ersten ein und fuhr dann langsam die im dunstigen Sonnenlicht liegende Gasse hinunter. Dann ging es durch die Straßen von Bellingham Richtung Süden auf die Staatsstraße 11, die ihn einige Meilen die Küste des Puget Sound entlangführte, bevor sie sich nach einem kleinen Schlenker landeinwärts mit der Bundesstraße 20 traf.
Auf dieser machte er sich, die Morgensonne direkt im Gesicht, an die lange und windungsreiche Fahrt durch die Cascades. Er mochte dieses Land und verspürte nicht die geringste Eile, legte hin und wieder sogar einen Stop ein, um sich an Stellen, die ihm interessant genug für künftige Ausflüge schienen, Notizen zu machen und »Gedächtnisstützen« zu schießen, wie er solche Fotos nannte. Ihr Zweck bestand darin, ihn an Orte zu erinnern, an die er vielleicht einmal zurückkommen wollte, um sie sich ernsthaft vorzunehmen. Am späten Nachmittag nahm er in Spokane die Bundesstraße 2 Richtung Norden, die ihn über den halben Kontinent nach Duluth in Minnesota bringen sollte.
Zum tausendsten Mal im Leben wünschte er sich, einen Hund zu haben, einen Golden Retriever vielleicht, um auf Reisen wie dieser nicht allein zu sein und zu Hause etwas Gesellschaft zu haben. Aber er war so oft im Ausland, meist in Übersee, dass es dem Tier gegenüber nicht fair gewesen wäre. Trotzdem, dran denken musste er immer wieder. In einigen Jahren schon würde er zu alt sein für den kraftraubenden Einsatz im Außendienst. »Vielleicht schaff ich mir dann einen Hund an«, sagte er zu dem nadeligen Grün, das am Fenster des Pick-ups vorüberwogte.
Fahrten wie diese machten ihm stets Laune auf eine Bestandsaufnahme. Der Hund gehörte dazu. Robert Kincaid war so allein, wie man es nur sein konnte – ein Einzelkind, beide Eltern tot, entfernte Verwandte, die ihn längst aus den Augen verloren hatten ebenso wie er sie, ohne einen einzigen engen Freund.
Er kannte den Namen des Mannes, dem in Bellingham der Lebensmittelmarkt an der Ecke gehörte, und den vom Besitzer der Fotohandlung, in der er seine Ausrüstung kaufte. Und dann hatte er förmliche, weil rein berufliche Beziehungen zu mehreren Redakteuren von Zeitschriften. Darüber hinaus kannte er so gut wie niemanden, jedenfalls nicht näher, und den anderen ging es genauso mit ihm.
Er dachte an Marian. Sie hatte ihn vor neun Jahren verlassen, nach fünf Jahren Ehe. Er war jetzt zweiundfünfzig, sie wäre also im Augenblick knapp unter vierzig. Marian hatte von einer Karriere als Musikerin geträumt; sie wäre gern Folksängerin geworden. Sie konnte sämtliche Songs der Weavers und sang sie, ziemlich gut sogar, in den Kaffeehäusern von Seattle. Wann immer er in dieser guten alten Zeit zu Hause gewesen war, hatte er sie zu ihren Auftritten gefahren und sich dann unters Publikum gesetzt, während sie sang.
Seine langen Abwesenheiten – zuweilen gleich zwei, drei Monate – zehrten die Ehe aus. Er wusste das. Sie war sich darüber im Klaren gewesen, was er machte, als sie sich entschlossen hatten zu heiraten. Und beide hatten sie gedacht, sie würden das schon irgendwie hinkriegen. Aber sie hatten sich getäuscht. Als er einmal von einer Fotoexpedition nach Island zurückkam, war sie nicht mehr da. Sie hatte ihm einen Zettel hinterlassen: »Robert, es hat einfach nicht geklappt. Ich hab dir die Gitarre dagelassen. Melde dich mal.«
Er meldete sich nicht. Ebensowenig wie sie. Als ein Jahr später die Scheidungspapiere kamen, unterschrieb er sie und stieg tags darauf in eine Maschine nach Australien. Sie hatte nichts verlangt außer ihrer Freiheit.
In Kalispell, Montana, machte er halt für die Nacht. Es war schon spät. Das Cozy Inn machte ihm einen erschwinglichen Eindruck, und das war es denn auch. Er trug seine Ausrüstung in ein Zimmer mit zwei Tischlampen, eine davon mit einer durchgebrannten Birne. Im Bett las er bei einer Flasche Bier Die Grünen Hügel Afrikas und konnte dabei die Papiermühlen von Kalispell riechen. Am Morgen joggte er vierzig Minuten, machte fünfzig Liegestütze und erledigte, mit seinen Kameras als leichten Handgewichten, den Rest seines Pensums.
Er fuhr, immer parallel zur oberen Grenze von Montana, nach North Dakota hinein, und das karge, flache Land, das er hier fand, faszinierte ihn nicht weniger als die Berge oder das Meer. Das Land war von einer herben Schönheit, und er hielt mehrere Male an, baute ein Stativ auf und schoss Schwarzweißaufnahmen von alten Farmgebäuden. Diese Landschaft entsprach seinen minimalistischen Neigungen. Die Indianerreservate waren deprimierend, aus all den Gründen, die jeder kennt und ignoriert. Freilich waren diese Siedlungen auch im Nordwesten Washingtons nicht besser, dort nicht und wo immer sonst er ihnen begegnet war.
Am Morgen des 14. August, zwei Autostunden vor Duluth, bog er in nordöstlicher Richtung ab und nahm eine Landstraße hinauf nach Hibbings, zu den Eisenminen. Roter Staub lag hier in der Luft; überall standen riesige Maschinen und Züge mit Spezialwaggons, die das Erz zu den Frachtern in Two Harbors am Lake Superior transportierten. Er verbrachte den Nachmittag damit, sich in Hibbings umzusehen, fand es aber nicht nach seinem Geschmack; auch dass Bob Zimmermann-Dylan von hier stammte, änderte nichts daran. Der einzige Dylan-Song, für den er je wirklich etwas übrig gehabt hatte, war »Girl from the North Country« gewesen. Den konnte er spielen und singen. Er summte die Worte vor sich hin, als er dieses Land mit den gigantischen roten Löchern in der Erde wieder verließ. Marian hatte ihm ein paar Griffe und einige simple Arpeggiotechniken beigebracht, so dass er sich begleiten konnte. »Sie hat mir mehr hinterlassen als ich ihr«, hatte er einmal zu einem versoffenen Flussschiffer gesagt in einer Pinte namens McElroy’s Bar irgendwo im Amazonasbecken. Und so war es auch.
Der Superior-Nationalpark war ein herrliches Waldgebiet; hier gefiel es ihm. Ein Land wie zu Zeiten der Trapper, die dieses Gebiet erforscht hatten. Als er noch jung war, hatte er sich immer gewünscht, in jenen Tagen zu leben, um selbst Forschungsreisender werden zu können. Er fuhr an Wiesen vorbei, sah drei Elche, einen Rotfuchs und jede Menge Damwild. An einem kleinen See machte er halt und fotografierte die Spiegelungen eines merkwürdig gewachsenen Astes auf dem Wasser. Als er fertig war, setzte er sich auf das Trittbrett seines Lasters, trank Kaffee, rauchte eine Zigarette und lauschte auf den Wind in den Birken.
»Es wäre schon gut, jemanden zu haben, eine Frau«, dachte er und sah dem Rauch seiner Zigarette nach. »Wenn man älter wird, kommt man nun mal auf solche Gedanken.« Aber so oft, wie er weg war, wäre das nicht gerade leicht für den, der zu Hause blieb. Das hatte er ja bereits erfahren müssen.
Wenn er zu Hause in Bellingham war, dann traf er sich gelegentlich mit der künstlerischen Leiterin einer in Seattle ansässigen Werbeagentur. Er hatte sie während eines Auftrags für die Industrie kennengelernt. Sie war zweiundvierzig, intelligent und ein netter Typ, aber er liebte sie eben nicht und würde sie auch niemals lieben. Manchmal jedoch wurde ihnen beiden etwas einsam ums Herz, und dann verbrachten sie einen Abend zusammen, gingen ins Kino, genehmigten sich ein paar Biere und beendeten den Abend mit einem recht ordentlichen Schäferstündchen. Sie war eine Frau mit Erfahrung – zwei Ehen und Jobs in diversen Bars, mit denen sie ihr Studium finanzierte. Jedes Mal wenn sie einander geliebt hatten und noch beieinander lagen, sagte sie ihm unweigerlich: »Du bist der Größte, Robert, mit Abstand, an dich kommt keiner ran.«
Er nahm an, dass es in Ordnung war, das als Mann gesagt zu bekommen, verfügte aber über so viel Erfahrung auch wieder nicht und hätte ohnehin nicht sagen können, ob sie es nun ehrlich meinte oder nicht. Aber einmal hatte sie etwas gesagt, was ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte: »Robert, in dir steckt ein Wesen, das herauszubringen ich nicht gut genug und das zu erreichen ich nicht stark genug bin. Ich habe manchmal das Gefühl, du bist schon sehr lange hier, mehr als nur ein Leben, und dass du an Orten gelebt hast, von denen wir anderen noch nicht mal träumen. Du jagst mir Angst ein, auch wenn du zärtlich zu mir bist. Würde ich mich bei dir nicht mit aller Kraft unter Kontrolle halten, ich habe das Gefühl, ich würde mich völlig verlieren und nie wieder zurückbekommen.«
Er ahnte dunkel, was sie meinte. Aber auch er selbst konnte es nicht greifen. Seine Gedanken hatten die Eigenart, ihm hin und wieder zu entgleiten, und er verfügte über ein wehmütiges Gespür für das Tragische kombiniert mit großer körperlicher und intellektueller Kraft, schon damals während seiner Kindheit in einer Kleinstadt in Ohio. Während andere Kinder »Row, Row, Row Your Boat« sangen, lernte er die englische Version eines französischen Variété-Chansons.
Er mochte Wörter und Bilder. Eines seiner Lieblingswörter war »blau«. Er mochte das Gefühl auf Lippen und Zunge, wenn er es sagte. Wörter, so erinnerte er sich an seine Gedanken von damals, haben nicht nur eine Bedeutung, man kann sie auch spüren. Er mochte noch andere Wörter, »Ferne« zum Beispiel, »Waldkauz«, »Highway«, »uralt«, »Passage«, »Reisende« und »Indien«, allesamt wegen ihres Klangs wie auch wegen ihres Geschmacks und der Bilder wegen, die sie in ihm entstehen ließen. Er machte Listen der Wörter, die er besonders gern hatte, und pinnte sie an die Wände seines Zimmers.
Dann fügte er die Wörter zu Sätzen und pinnte auch sie an die Wände.
Zu nah am Feuer.
Ich kam aus dem Osten mit einer kleinen Gruppe Reisender.
Das beständige Gezirpe derer, die mich retten wollen, und derer, die mich verkaufen würden.
Talisman, Talisman, deine Geheimnisse, ich möchte sie sehen.
Steuermann, Steuermann, kehr um und bring mich nach Haus.
Nackt zu liegen, wo Blauwale schwimmen.
Ich wünschte ihm Züge, die aus verschneiten Bahnhöfen dampfen.
Bevor ich zum Manne wurde, war ich ein Pfeil – vor langer Zeit.
Dann gab es da noch die Orte, deren Namen er mochte: Somalibecken, Big Hatchet Mountain, Straße von Malakka und eine ganze lange Liste mehr. Die Zettel voller Wörter, Sätze und Orte bedeckten schließlich sämtliche Wände seines Zimmers.
Selbst seiner Mutter fiel auf, dass er anders war. Er sprach nicht ein Wort, bevor er drei war, und redete dann sofort in vollständigen Sätzen, und schon mit fünf las er ganz außergewöhnlich gut. An der Schule war er nicht interessiert, ein frustrierender Schüler für seine Lehrer.
Der Entschluss, mit ihrem Wissen an die Öffentlichkeit zu gehen, war den beiden nicht leichtgefallen. Die Umstände sind, da es dabei ja um die Mutter und, wenigstens am Rande, auch um den Vater geht, delikat. Michael wie auch Carolyn waren sich darüber im Klaren, dass eine Veröffentlichung dieser Geschichte zu geschmacklosem Klatsch und einer unschönen Entwürdigung des Gedenkens an Richard und Francesca Johnson führen könnte.
In einer Welt jedoch, in der persönliche Bindungen in all ihren Spielarten in die Brüche zu gehen scheinen und Liebe nur noch eine Annehmlichkeit ist, hatten die beiden das Gefühl, dass diese bemerkenswerte Geschichte erzählt werden sollte. Ich war – damals und bin heute mehr denn je – der Ansicht, dass sie mit ihrem Urteil absolut richtig lagen.
Im Lauf meiner Recherchen und der eigentlichen Niederschrift bat ich Michael und Carolyn drei weitere Male um ein Treffen. Und jedes Mal reisten sie ohne Murren nach Iowa. So sehr war ihnen daran gelegen, dass die Geschichte auch richtig erzählt würde.
Zuweilen unterhielten wir uns einfach; zuweilen fuhren wir aber auch langsam über die Straßen des Madison County, und sie zeigten mir Örtlichkeiten, die in der Geschichte eine wesentliche Rolle spielen.
Über die Hilfe von Michael und Carolyn hinaus basiert die Geschichte, so wie ich sie hier erzähle, auf Informationen aus den Tagebüchern Francesca Johnsons, auf eigenen Recherchen im Nordwesten der Vereinigten Staaten, vor allem in Seattle und Bellingham, Washington, unauffälligen Nachforschungen im Madison County, Iowa, indirekten Informationen aus Robert Kincaids fotografischen Essays, der Unterstützung diverser Zeitschriftenredakteure, detaillierten Angaben der Hersteller von Filmmaterial und Fotoausrüstungen sowie langen Diskussionen mit einer Reihe von wunderbaren alten Herrschaften im Seniorenheim von Barnesville, Ohio, die Kincaid noch aus seinen Kindertagen kannten.
Trotz aller Mühe, die ich auf meine Recherchen verwandt habe, bleiben dennoch Lücken. Ich habe in solchen Fällen mit meiner Phantasie etwas nachgeholfen, freilich nur dann, wenn ich mir aufgrund der durch meine Nachforschungen gewonnenen intimen Vertrautheit mit Francesca Johnson und Robert Kincaid ein fundiertes Urteil erlauben konnte. Ich bin überzeugt, dem, was sich tatsächlich zugetragen hat, sehr nahegekommen zu sein.
Eine wesentliche Lücke umfasst die Einzelheiten einer Reise Kincaids durch den Norden der Vereinigten Staaten. Wir wissen, dass er diese Reise gemacht hat, weil in der Folge eine ganze Reihe von Fotos veröffentlicht wurden und Francesca Johnson sie kurz in ihrem Tagebuch erwähnt; außerdem hat er beim Herausgeber eines Magazins handschriftliche Notizen hinterlassen. Mit diesen Quellen als Führer habe ich seinen Weg von Bellingham ins Madison County nachgezeichnet, so wie er ihn meiner Ansicht nach im August 1965 zurückgelegt haben muss. Als ich mich gegen Ende meiner eigenen Reise dem Madison County näherte, hatte ich das Gefühl, in vieler Hinsicht selbst zu Robert Kincaid geworden zu sein.
Dennoch war mir der Versuch, das Wesen Kincaids zu begreifen, sowohl bei meinen Recherchen als auch bei der eigentlichen Niederschrift die größte Herausforderung. Er ist eine nur schwer fassbare Gestalt. Zuweilen scheint er einem recht gewöhnlich. Dann wieder erdentrückt, wenn nicht gar geisterhaft. Was seine Arbeit anbelangte, war er ein absoluter Profi. Ungeachtet dessen sah er sich als eine merkwürdige Art männliches Tier, das in einer zunehmend durchstrukturierten Welt langsam, aber sicher überlebte. Er sprach einmal vom »unbarmherzigen Heulen« der Zeit in seinem Kopf, und Francesca Johnson charakterisierte ihn als einen, der »in merkwürdigen, schattenhaften Gefilden tief an den Wurzeln Darwinscher Logik« zu Hause sei.
Es gibt noch zwei andere faszinierende Fragen, die bisher ohne Antwort geblieben sind. Zunächst einmal konnten wir nicht feststellen, was aus Kincaids Foto-Archiv geworden ist. Bei seiner Arbeitsweise muss er Tausende, wahrscheinlich Hunderttausende von Negativen besessen haben, die bisher nirgendwo aufgetaucht sind. Wir können nur vermuten – und es wäre durchaus im Einklang mit seinen Ansichten über sich und seinen Platz in der Welt –, dass er sie vor seinem Tod vernichtet hat.
Die zweite Frage ist die nach seinem Leben zwischen 1975 und 1982. Hierüber gibt es nur sehr wenige Informationen. Wir wissen, dass er sich in Seattle einige Jahre lang mehr schlecht als recht als Porträtfotograf durchgeschlagen und dabei nach wie vor die Gegend um den Puget Sound fotografiert hat. Das ist alles, was wir haben. Interessant ist, dass er sämtliche Briefe der Sozialkasse und des Bundesveteranenamtes handschriftlich mit dem Vermerk »Annahme verweigert« versehen und zurückgeschickt hat.
Die Arbeit an diesem Buch hat meine Weltsicht verändert, meine Art zu denken. Vor allem aber habe ich gelernt, das, was in der Arena zwischenmenschlicher Beziehungen möglich ist, mit weniger Zynismus zu betrachten.
Francesca Johnson und Robert Kincaid, wie ich sie im Lauf meiner Recherchen kennenlernen konnte, haben mir gezeigt, dass die Grenzen solcher Beziehungen um ein Beträchtliches weiter gezogen werden können und müssen, als ich das je für möglich gehalten hätte. Vielleicht werden Sie im Verlauf der Lektüre die gleiche Erfahrung machen.
Leicht wird das freilich nicht. Leben wir in dieser sich zunehmend verhärtenden Welt doch alle mit unserem ganz persönlichen Panzer verschorfter Gefühle. Wo die große Leidenschaft aufhört und der Kitsch beginnt, kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Sicher ist jedoch, dass unsere Neigung, uns selbst schon über die Möglichkeit einer solchen großen Leidenschaft zu mokieren und echte, tiefe Gefühle als rührselig abzutun, uns den Zugang zum Reich der Zärtlichkeit erschwert, in dem allein die Geschichte von Francesca Johnson und Robert Kincaid zu verstehen ist. Ich jedenfalls musste diese Neigung erst einmal überwinden, bevor ich mit dem Schreiben beginnen konnte.
Wenn Sie jedoch das nun Folgende mit einem, wie Coleridge es formulierte, bewussten Außerkraftsetzen des Unglaubens angehen, so werden Sie sicherlich die gleiche Erfahrung machen wie ich.
Vielleicht finden Sie, wie Francesca Johnson, in den gleichgültigen Räumen Ihres Herzens wieder Platz zum Tanzen.
Sommer 1991
Robert Kincaid
Am Morgen des 8. August 1965 verschloss Robert Kincaid seine kleine Zweizimmerwohnung im zweiten Stock eines weitläufigen Mietshauses in Bellingham, Washington.
Er trug einen Rucksack voller Fotoausrüstung und einen Koffer die hölzerne Stiege hinunter und durch einen Korridor nach hinten hinaus zu seinem alten Chevrolet-Pick-up, der auf einem für die Bewohner des Hauses reservierten Parkplatz stand.
In dem kleinen Laster lagen bereits ein zweiter Rucksack, eine mittelgroße Kühlbox, zwei Stative, mehrere Stangen Camels, eine Thermosflasche und eine große Tüte mit Obst. Hinten auf der Ladefläche lag ein Gitarrenkoffer. Kincaid plazierte die beiden Rucksäcke sorgfältig auf dem Sitz und Kühlbox und Stative auf dem Boden davor. Er kletterte auf die Ladefläche und verkeilte Gitarre und Koffer in einer Ecke, stützte sie mit einem flach auf dem Boden liegenden Ersatzreifen ab und zurrte die beiden Koffer dann mit einem Stück Wäscheleine an dem Reifen fest. Unter den abgefahrenen Ersatzreifen schob er eine schwarze Plane.
Er setzte sich ans Steuer, steckte sich eine Camel an und ging in Gedanken eine Checkliste durch: zweihundert Filme diverser Sorten, größtenteils wenig empfindliches Kodachromematerial; die Stative; die Kühlbox; drei Kameras mit fünf Objektiven; die Jeans; die Khakihose; Hemden; die Foto-Weste hatte er bereits an. Okay. Alles andere konnte er unterwegs kaufen, falls er etwas vergessen haben sollte. Kincaid trug verwaschene Levis, gut eingelaufene Armeestiefel, Khakihemd und orangefarbene Hosenträger. An seinem breiten Gürtel hatte er ein Futteral mit einem Schweizer Offiziersmesser.
Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr: acht Uhr siebzehn. Der kleine Laster sprang beim zweiten Versuch an, und er manövrierte ihn rückwärts aus der Parkbucht, legte den Ersten ein und fuhr dann langsam die im dunstigen Sonnenlicht liegende Gasse hinunter. Dann ging es durch die Straßen von Bellingham Richtung Süden auf die Staatsstraße 11, die ihn einige Meilen die Küste des Puget Sound entlangführte, bevor sie sich nach einem kleinen Schlenker landeinwärts mit der Bundesstraße 20 traf.
Auf dieser machte er sich, die Morgensonne direkt im Gesicht, an die lange und windungsreiche Fahrt durch die Cascades. Er mochte dieses Land und verspürte nicht die geringste Eile, legte hin und wieder sogar einen Stop ein, um sich an Stellen, die ihm interessant genug für künftige Ausflüge schienen, Notizen zu machen und »Gedächtnisstützen« zu schießen, wie er solche Fotos nannte. Ihr Zweck bestand darin, ihn an Orte zu erinnern, an die er vielleicht einmal zurückkommen wollte, um sie sich ernsthaft vorzunehmen. Am späten Nachmittag nahm er in Spokane die Bundesstraße 2 Richtung Norden, die ihn über den halben Kontinent nach Duluth in Minnesota bringen sollte.
Zum tausendsten Mal im Leben wünschte er sich, einen Hund zu haben, einen Golden Retriever vielleicht, um auf Reisen wie dieser nicht allein zu sein und zu Hause etwas Gesellschaft zu haben. Aber er war so oft im Ausland, meist in Übersee, dass es dem Tier gegenüber nicht fair gewesen wäre. Trotzdem, dran denken musste er immer wieder. In einigen Jahren schon würde er zu alt sein für den kraftraubenden Einsatz im Außendienst. »Vielleicht schaff ich mir dann einen Hund an«, sagte er zu dem nadeligen Grün, das am Fenster des Pick-ups vorüberwogte.
Fahrten wie diese machten ihm stets Laune auf eine Bestandsaufnahme. Der Hund gehörte dazu. Robert Kincaid war so allein, wie man es nur sein konnte – ein Einzelkind, beide Eltern tot, entfernte Verwandte, die ihn längst aus den Augen verloren hatten ebenso wie er sie, ohne einen einzigen engen Freund.
Er kannte den Namen des Mannes, dem in Bellingham der Lebensmittelmarkt an der Ecke gehörte, und den vom Besitzer der Fotohandlung, in der er seine Ausrüstung kaufte. Und dann hatte er förmliche, weil rein berufliche Beziehungen zu mehreren Redakteuren von Zeitschriften. Darüber hinaus kannte er so gut wie niemanden, jedenfalls nicht näher, und den anderen ging es genauso mit ihm.
Er dachte an Marian. Sie hatte ihn vor neun Jahren verlassen, nach fünf Jahren Ehe. Er war jetzt zweiundfünfzig, sie wäre also im Augenblick knapp unter vierzig. Marian hatte von einer Karriere als Musikerin geträumt; sie wäre gern Folksängerin geworden. Sie konnte sämtliche Songs der Weavers und sang sie, ziemlich gut sogar, in den Kaffeehäusern von Seattle. Wann immer er in dieser guten alten Zeit zu Hause gewesen war, hatte er sie zu ihren Auftritten gefahren und sich dann unters Publikum gesetzt, während sie sang.
Seine langen Abwesenheiten – zuweilen gleich zwei, drei Monate – zehrten die Ehe aus. Er wusste das. Sie war sich darüber im Klaren gewesen, was er machte, als sie sich entschlossen hatten zu heiraten. Und beide hatten sie gedacht, sie würden das schon irgendwie hinkriegen. Aber sie hatten sich getäuscht. Als er einmal von einer Fotoexpedition nach Island zurückkam, war sie nicht mehr da. Sie hatte ihm einen Zettel hinterlassen: »Robert, es hat einfach nicht geklappt. Ich hab dir die Gitarre dagelassen. Melde dich mal.«
Er meldete sich nicht. Ebensowenig wie sie. Als ein Jahr später die Scheidungspapiere kamen, unterschrieb er sie und stieg tags darauf in eine Maschine nach Australien. Sie hatte nichts verlangt außer ihrer Freiheit.
In Kalispell, Montana, machte er halt für die Nacht. Es war schon spät. Das Cozy Inn machte ihm einen erschwinglichen Eindruck, und das war es denn auch. Er trug seine Ausrüstung in ein Zimmer mit zwei Tischlampen, eine davon mit einer durchgebrannten Birne. Im Bett las er bei einer Flasche Bier Die Grünen Hügel Afrikas und konnte dabei die Papiermühlen von Kalispell riechen. Am Morgen joggte er vierzig Minuten, machte fünfzig Liegestütze und erledigte, mit seinen Kameras als leichten Handgewichten, den Rest seines Pensums.
Er fuhr, immer parallel zur oberen Grenze von Montana, nach North Dakota hinein, und das karge, flache Land, das er hier fand, faszinierte ihn nicht weniger als die Berge oder das Meer. Das Land war von einer herben Schönheit, und er hielt mehrere Male an, baute ein Stativ auf und schoss Schwarzweißaufnahmen von alten Farmgebäuden. Diese Landschaft entsprach seinen minimalistischen Neigungen. Die Indianerreservate waren deprimierend, aus all den Gründen, die jeder kennt und ignoriert. Freilich waren diese Siedlungen auch im Nordwesten Washingtons nicht besser, dort nicht und wo immer sonst er ihnen begegnet war.
Am Morgen des 14. August, zwei Autostunden vor Duluth, bog er in nordöstlicher Richtung ab und nahm eine Landstraße hinauf nach Hibbings, zu den Eisenminen. Roter Staub lag hier in der Luft; überall standen riesige Maschinen und Züge mit Spezialwaggons, die das Erz zu den Frachtern in Two Harbors am Lake Superior transportierten. Er verbrachte den Nachmittag damit, sich in Hibbings umzusehen, fand es aber nicht nach seinem Geschmack; auch dass Bob Zimmermann-Dylan von hier stammte, änderte nichts daran. Der einzige Dylan-Song, für den er je wirklich etwas übrig gehabt hatte, war »Girl from the North Country« gewesen. Den konnte er spielen und singen. Er summte die Worte vor sich hin, als er dieses Land mit den gigantischen roten Löchern in der Erde wieder verließ. Marian hatte ihm ein paar Griffe und einige simple Arpeggiotechniken beigebracht, so dass er sich begleiten konnte. »Sie hat mir mehr hinterlassen als ich ihr«, hatte er einmal zu einem versoffenen Flussschiffer gesagt in einer Pinte namens McElroy’s Bar irgendwo im Amazonasbecken. Und so war es auch.
Der Superior-Nationalpark war ein herrliches Waldgebiet; hier gefiel es ihm. Ein Land wie zu Zeiten der Trapper, die dieses Gebiet erforscht hatten. Als er noch jung war, hatte er sich immer gewünscht, in jenen Tagen zu leben, um selbst Forschungsreisender werden zu können. Er fuhr an Wiesen vorbei, sah drei Elche, einen Rotfuchs und jede Menge Damwild. An einem kleinen See machte er halt und fotografierte die Spiegelungen eines merkwürdig gewachsenen Astes auf dem Wasser. Als er fertig war, setzte er sich auf das Trittbrett seines Lasters, trank Kaffee, rauchte eine Zigarette und lauschte auf den Wind in den Birken.
»Es wäre schon gut, jemanden zu haben, eine Frau«, dachte er und sah dem Rauch seiner Zigarette nach. »Wenn man älter wird, kommt man nun mal auf solche Gedanken.« Aber so oft, wie er weg war, wäre das nicht gerade leicht für den, der zu Hause blieb. Das hatte er ja bereits erfahren müssen.
Wenn er zu Hause in Bellingham war, dann traf er sich gelegentlich mit der künstlerischen Leiterin einer in Seattle ansässigen Werbeagentur. Er hatte sie während eines Auftrags für die Industrie kennengelernt. Sie war zweiundvierzig, intelligent und ein netter Typ, aber er liebte sie eben nicht und würde sie auch niemals lieben. Manchmal jedoch wurde ihnen beiden etwas einsam ums Herz, und dann verbrachten sie einen Abend zusammen, gingen ins Kino, genehmigten sich ein paar Biere und beendeten den Abend mit einem recht ordentlichen Schäferstündchen. Sie war eine Frau mit Erfahrung – zwei Ehen und Jobs in diversen Bars, mit denen sie ihr Studium finanzierte. Jedes Mal wenn sie einander geliebt hatten und noch beieinander lagen, sagte sie ihm unweigerlich: »Du bist der Größte, Robert, mit Abstand, an dich kommt keiner ran.«
Er nahm an, dass es in Ordnung war, das als Mann gesagt zu bekommen, verfügte aber über so viel Erfahrung auch wieder nicht und hätte ohnehin nicht sagen können, ob sie es nun ehrlich meinte oder nicht. Aber einmal hatte sie etwas gesagt, was ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte: »Robert, in dir steckt ein Wesen, das herauszubringen ich nicht gut genug und das zu erreichen ich nicht stark genug bin. Ich habe manchmal das Gefühl, du bist schon sehr lange hier, mehr als nur ein Leben, und dass du an Orten gelebt hast, von denen wir anderen noch nicht mal träumen. Du jagst mir Angst ein, auch wenn du zärtlich zu mir bist. Würde ich mich bei dir nicht mit aller Kraft unter Kontrolle halten, ich habe das Gefühl, ich würde mich völlig verlieren und nie wieder zurückbekommen.«
Er ahnte dunkel, was sie meinte. Aber auch er selbst konnte es nicht greifen. Seine Gedanken hatten die Eigenart, ihm hin und wieder zu entgleiten, und er verfügte über ein wehmütiges Gespür für das Tragische kombiniert mit großer körperlicher und intellektueller Kraft, schon damals während seiner Kindheit in einer Kleinstadt in Ohio. Während andere Kinder »Row, Row, Row Your Boat« sangen, lernte er die englische Version eines französischen Variété-Chansons.
Er mochte Wörter und Bilder. Eines seiner Lieblingswörter war »blau«. Er mochte das Gefühl auf Lippen und Zunge, wenn er es sagte. Wörter, so erinnerte er sich an seine Gedanken von damals, haben nicht nur eine Bedeutung, man kann sie auch spüren. Er mochte noch andere Wörter, »Ferne« zum Beispiel, »Waldkauz«, »Highway«, »uralt«, »Passage«, »Reisende« und »Indien«, allesamt wegen ihres Klangs wie auch wegen ihres Geschmacks und der Bilder wegen, die sie in ihm entstehen ließen. Er machte Listen der Wörter, die er besonders gern hatte, und pinnte sie an die Wände seines Zimmers.
Dann fügte er die Wörter zu Sätzen und pinnte auch sie an die Wände.
Zu nah am Feuer.
Ich kam aus dem Osten mit einer kleinen Gruppe Reisender.
Das beständige Gezirpe derer, die mich retten wollen, und derer, die mich verkaufen würden.
Talisman, Talisman, deine Geheimnisse, ich möchte sie sehen.
Steuermann, Steuermann, kehr um und bring mich nach Haus.
Nackt zu liegen, wo Blauwale schwimmen.
Ich wünschte ihm Züge, die aus verschneiten Bahnhöfen dampfen.
Bevor ich zum Manne wurde, war ich ein Pfeil – vor langer Zeit.
Dann gab es da noch die Orte, deren Namen er mochte: Somalibecken, Big Hatchet Mountain, Straße von Malakka und eine ganze lange Liste mehr. Die Zettel voller Wörter, Sätze und Orte bedeckten schließlich sämtliche Wände seines Zimmers.
Selbst seiner Mutter fiel auf, dass er anders war. Er sprach nicht ein Wort, bevor er drei war, und redete dann sofort in vollständigen Sätzen, und schon mit fünf las er ganz außergewöhnlich gut. An der Schule war er nicht interessiert, ein frustrierender Schüler für seine Lehrer.
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Autoren-Porträt von Robert Waller
Robert James Waller lebt in Cedar Falls, Iowa, und hat lange Jahre Wirtschaftsmathematik an der Universität von Northern Iowa unterrichtet. »Die Brücken am Fluss« ist Wallers Romandebüt.
Bibliographische Angaben
- Autor: Robert Waller
- 2013, 122 Seiten, Deutsch
- Verlag: Weltbild Deutschland
- ISBN-10: 3955690717
- ISBN-13: 9783955690717
- Erscheinungsdatum: 14.11.2013
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eBook Informationen
- Dateiformat: ePub
- Größe: 2.37 MB
- Ohne Kopierschutz
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