Drachenspiele / China-Trilogie Bd.2 (ePub)
Paul hat gelernt, mit dem Tod seines Sohnes zu leben. Geholfen hat ihm dabei Christine, die seine ganze Hoffnung für die Zukunft...
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Paul hat gelernt, mit dem Tod seines Sohnes zu leben. Geholfen hat ihm dabei Christine, die seine ganze Hoffnung für die Zukunft ist. Sie hatten geplant, auf der kleinen Insel Lamma vor Hongkong zusammenzuleben, doch Christine will davon nun nichts mehr wissen. Ein Wahrsager hat ihr und dem Mann, den sie liebt, eine düstere Zukunft vorausgesagt. Wie viele Chinesen ist Christine nicht religiös, jedoch sehr abergläubisch, und die Prophezeiung verunsichert sie zutiefst. Paul ist verstört und enttäuscht - er glaubt nicht an Schicksal oder die Macht der Sterne.
Als Christine von ihrem während der Kulturrevolution verschollenen Bruder Da Long einen Brief erhält, in dem er dringend ihre Hilfe erbittet, fühlt sie ihre dunklen Vorahnungen bestätigt. Sie überwindet ihre Angst und macht sich zusammen mit Paul auf die Reise zu Da Long in ein Dorf nahe Schanghai, in dem Menschen und Tiere auf rätselhafte Weise erkranken und sterben.
Paul, der rationale Westler, will der Sache auf den Grund gehen - und kommt dabei einem von höchster Stelle gedeckten Verbrechen auf die Spur. Immer tiefer verstrickt er sich in ein Land, das er zu kennen glaubte und das ihm zunehmend fremder wird. Wie sehr er sich und die Menschen, die ihn um Hilfe baten, dabei in Gefahr bringt, bemerkt er zu spät. Die Prophezeiung scheint sich zu erfüllen. Pauls alte Gewissheiten gelten nicht mehr.
PROLOG
Ich bin in die Hölle geraten. Ohne mein Zutun. Ohne Schuld. Ich muss mich verlaufen haben, eine andere Erklärung gibt es nicht. Im Irrgarten des Lebens versehentlich an einer Stelle den falschen Weg genommen, ohne es zu bemerken. Einmal nicht Acht gegeben. An einer Gabelung links statt rechts gegangen. Oder umgekehrt. Ich habe kein Schild gesehen, nichts, das mir Warnung hätte sein können. Ich bin einfach gelaufen, ohne innezuhalten. So wie immer in meinem Leben. Weiter. Immer weiter.
Viele Menschen haben diesen Weg vor mir genommen, ich hätte ihre Spuren sehen müssen auf diesen langen, ausgetrampelten Pfaden Richtung Inferno. Ich hätte ihre Rufe hören können. Ich hätte den Gestank riechen können. Hätte. Was sehen, hören, riechen wir schon? Nur das, was wir wollen.
Ich bin nicht allein hier. Die Hölle ist ein dicht besiedelter Ort. Ein Trost ist das nicht.
Das Leben weicht aus mir, mit jedem Atemzug wird es weniger. Wie ein altes Gemäuer, das abgetragen wird. Stein um Stein. Jeden Tag fehlt ein Stück mehr.
Mein Körper ist zu einer Höhle geworden. Finster ist es dort, so finster, dass kein Lichtstrahl mich erreicht. Und kalt. Und feucht. Ich friere in der Nacht und mich friert am Tage.
Die äußere Welt ist vor meinen Augen erloschen. Zunächst schwanden die Farben, das Haus, die Felder, das Dorf. Ein Leben in Schwarzweiß. Alles sah aus wie in den alten Filmen, die wir uns so gern angeschaut haben. Dann zerfielen die Konturen, alles um mich herum verschwamm: die Welt durch eine Wand aus Wasser besehen. Kurz darauf brach die Finsternis herein.
Ich schmecke nichts.
Ich rieche nichts.
Von der Ordnung und der Schönheit, die mich einst umgaben, ist nichts geblieben. Außer dir und der Musik. Ihr haltet mich am Leben. Dich vernehme und sehe ich den ganzen Tag. Dein Bild ist mir für immer in die Seele gebrannt. Deine zarten Hände mit den langen, schlanken Fingern. Deine lachenden Augen. Deine Lippen. Wie du tief gebeugt über einer Schüssel Reis sitzt. Ohne dich würde ich diese Pein keine Stunde länger ertragen.
Auch Partituren tauchen in der Dunkelheit vor meinen Augen auf. Ich sehe sie ganz deutlich, fünf dünne, tintenschwarze Linien auf einem blütenweißen Blatt Papier. Kleine schwarze Punkte mit Strichen daran. Wie Kaulquappen in einem Teich. Allegro. Moderato. Adagio. Ich höre jede Note, die hohen und die tiefen, die langsamen und die schnellen. Ich höre den Anschlag des kleinen Hämmerchens auf der Saite. Ich höre den zartesten Strich des Bogens auf der Violine. Fugen. Etüden. Sonaten. Ich höre Orchester. Die Streicher, die Bläser, die Trommler. Ich höre ganze Opern. Mimi, Alfredo, Figaro, die Königin der Nacht sind meine treuen Gefährten. Ich habe sie erst spät entdecken dürfen und deshalb nie genug bekommen können. Die Gier der Hungernden. Verzeih mir. Ich habe Musik im Kopf. Sie lindert die Schmerzen. Sie verscheucht düstere Gedanken, so wie der Wind an einem Herbsttag die Wolken vor sich hertreibt. Ich habe fast alles verloren, aber die Musik, die kann mir niemand nehmen.
KANNST DU MICH HÖREN, LIEBSTE?
Aber ja. Ich kann mich nicht bewegen, ich kann dir nicht die Hand reichen, wenn ich es möchte, ich kann dir nicht den Kopf zuwenden, ich kann dir nicht danken, aber ich kann dich hören. Jeden Schritt. Jeden Seufzer. Jeden Ton. Jeden Atemzug. Wenn du mit dem Geschirr klapperst. Den Boden fegst. Stühle rückst. Die Schale mit meinen Exkrementen in die Toilette entleerst. Wenn du dich neben mich legst und mir etwas von deiner Wärme gibst. Mich weniger friert. Wie früher. Das sind die Momente, in denen auch ein Leben wie dieses lebenswert ist.
HÖRST DU MICH? WO BIST DU NUR?
Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dir antworten zu können. Es geht nicht. Ich bin gefangen in diesem nutzlosen Körper. Ich mag mit meinen Fäusten in diesem Verlies mit aller Macht gegen die Wände trommeln, ich könnte schreien, so laut ich will, mich hört hier unten niemand. Iiiicccchhhh......llllliiiiiieeeeebbbbbbeeeeee...... dddddiiiiiiicccccchhhhh. Es ist nicht lange her, da habe ich versucht, noch einmal die Lippen so zu formen, die Zunge zum Gaumen geführt, hinter die Zähne gelegt, die Luft herausgepresst. Drei Worte noch. Nur drei. Du hast sie nicht mehr verstanden. Du bist mit deinem Ohr ganz nah an meinen Mund gekommen und batest mich zu wiederholen, was ich gesagt habe. Sssssscccccchhhhhh...... Sssssscccccchhhhhh..... Sssssscccccchhhhhh. Mehr wollte mir nicht gelingen, egal, wie oft ich es noch versuchte. Ich war ein Sssssscccccchhhhh geworden. Für ein paar Stunden nur. Dann hat mich die Lautlosigkeit endgültig gefangen genommen und abgeführt. Geblieben ist das Gurgeln, Röcheln und Grunzen, das ich zuweilen von mir gebe. Was für eine Qual für mich, die die menschliche Stimme so liebt.
Jetzt liegt mir die Zunge nutzlos im Mund wie ein alter verfaulter Dumpling. Die Lippen sind taub. Aber ich spüre deinen warmen Atem auf meiner Wange, wenn du mich am Abend vorsichtig küsst. Der unverwechselbare Atem meines alten, geliebten Mannes. Der Atem unseres gelebten Lebens.
Am schlimmsten sind die Nächte, auch wenn ich längst von Dunkelheit umgeben bin. Es ist die äußere Stille, die ich schlecht ertrage. Das Haus, das Dorf, sie klingen plötzlich nicht mehr.
In der Ferne höre ich vereinzelt einen Lastwagen. Hin und wieder bellt ein Hund. Die Katzen sind schon lange tot. In den Stunden nach Mitternacht ist es nur noch dein Luftholen, was mich mit dem Rest der Welt verbindet.
Sie wollen dir einreden, ich sei nur noch eine leere Hülle. Eine alte, faltige, seelenlose Puppe. Sie lassen sich vom äußeren Erscheinen der Dinge blenden. Wie so oft. Wie so viele. Sie tragen Uniformen, weiße Kittel, ich weiß es, auch wenn ich sie nicht sehe. Ich erkenne sie an ihren Stimmen. Die Stimmen von Uniformträgern, egal welcher Couleur, klingen immer gleich. Sie wissen. Sie sind sich sicher. Alle Tests beweisen. Hoffnungslos. Sie haben keine Ahnung, wovon sie reden. Ich höre kein Beben in ihren Stimmen. Hoffnungslos. Kein Mensch, der dieses Wort gelassen ausspricht, weiß, was er sagt. Ein Los ohne Hoffnung. Das gibt es nur im Reich der Toten, und das ist uns verschlossen. Was mussten wir uns in unserem Leben schon alles von Männern und Frauen in Uniformen anhören. Glaube ihnen kein Wort. Sie wissen nichts. Sie sehen nur ein schwarzes Loch, wenn sie die Augen schließen. Sie haben keine Musik im Kopf.
Niemand soll mich bemitleiden. Ich will keine Tränen an meinem Bett. Ich will mich nicht beklagen. Nicht, solange du bei mir bist. Wenn ich es recht bedenke, bin ich nur in einen Vorhof der Hölle geraten. Die Hölle der Lebenden ist einsamen Menschen vorbehalten. Zu denen zähle ich nicht.
Nicht, solange ich am Abend deinen Atem spüre.
Du bist ein liebeshungriger Mensch.
Es war das erste Mal, dass er diesen Satz von einer Frau hörte. Liebeshungrig. Er wusste nicht, ob das eine Klage oder ein Kompliment sein sollte. Sind wir das nicht alle?, antwortete er, ohne darüber lange nachzudenken.
Sie lächelte. Manche mehr, manche weniger.
Und ich? Mehr oder weniger?
Mehr. Mehrmehrmehr.
Er nahm sie in den Arm. Diesen schmächtigen Körper, den er manchmal zu zerdrücken fürchtete. Der ihn aufregen konnte, ihn in langen, schlaflosen Nächten um den Verstand brachte wie zuvor kein anderer in seinem Leben. Er atmete tief ein und schloss die Augen.
Mehr. Mehrmehrmehr.
Liebeshungrig. Es hat Menschen in seinem Leben gegeben, die hätten ihn mit diesem Wort verletzen wollen. Und Zeiten, in denen ihnen das gelungen wäre. Er hätte die Behauptung als Affront empfunden und als eine geradezu absurde Unterstellung zurückgewiesen.
Heute nicht. Obgleich die Worte Hunger und Liebe in seinem Kopf nicht zusammenpassen wollten. Liebe klang für ihn, zumindest mit Christine im Arm, nach Reichtum, Glück, Erfüllung. Hunger hingegen war eine Not. Hunger musste gestillt werden, notfalls um jeden Preis. Hunger kannte nur sich, Liebe nur den anderen. Hungrige Menschen waren schwach, Liebende stark. Wenn Hunger und Liebe etwas verband, war es die Maßlosigkeit, die in beidem steckte.
Er fragte, wie es gemeint war. Ob er es als Beschwerde oder Schmeichelei verstehen dürfe.
Weder noch, antwortete sie. Nur als Feststellung.
Dabei beließen sie es. Zunächst.
Vielleicht, dachte er, hatte sie Recht. Vielleicht hatten die vergangenen drei Jahre tiefere Spuren hinterlassen, als ihm bewusst war. Drei Jahre, in denen er sich nichts sehnlicher gewünscht hatte, als allein zu sein. Drei Jahre, in denen ein Tag, an dem er mit keinem Menschen ein Wort gewechselt hatte, ein guter Tag gewesen war. Eine Zeit, in der seine Welt auf die Größe eines Hauses und einer kleinen, autofreien, kaum bewohnten Insel im Südchinesischen Meer geschrumpft war. Vielleicht war ein Mensch, der sich so zurückziehen musste, der in der Vergangenheit und von Erinnerungen lebte, der nichts und niemanden auf der Welt mehr liebte als einen Toten, vielleicht war so ein Mensch in größerer Not, als Paul es wahrhaben wollte.
Liebeshungrig. Hungrig nach Liebe. Es war die Bedürftigkeit, die in dem Wort mitklang, die ihm nicht gefiel, ohne dass er genau hätte sagen können, warum. Bedürftig sind wir alle, wollte er laut einwenden, und ahnte Christines Antwort. Manche mehr, andere weniger.
Und ich?
Mehr. Mehrmehrmehr.
Er sagte nichts und küsste sie auf die Stirn. Er fuhr mit seinen langen Fingern ihren Nacken entlang und massierte mit sanften rhythmischen Bewegungen ihren Kopf. Sie schloss die Augen, und er strich ihr über das Gesicht und den Mund. Er spürte, wie seine Hände die Lust in ihr weckten, hörte, wie ihr Atem schneller wurde. Nicht viel, aber genug, um ihm zu zeigen, dass es dabei nicht bleiben würde. Er küsste sie auf den Hals, und sie flüsterte, sie wolle ihn lieben. Hier, auf der Terrasse. Jetzt.
Er hörte die Zikaden schnarren, hörte lautes Vogelgezwitscher und aus der Ferne die Stimmen der Nachbarn und wollte einwenden, dass jemand sie überraschen könnte, und ob sie nicht lieber hinauf in sein Schlafzimmer gehen sollten. Aber die Leidenschaft, mit der sie ihn küsste und festhielt, mit der sie ihm zeigte, wie sehr sie ihn begehrte, hier, jetzt, ließ ihn schweigen.
Sie zog einen der Gartenstühle heran, drückte seinen Körper sanft, aber bestimmt auf den Stuhl und setzte sich auf ihn.
Sie trug einen Rock und verlor keine Zeit. Sie bestimmte den Rhythmus und liebte ihn heftiger und wilder, als er es von ihr kannte. Am Ende stieß sie einen kurzen Schrei aus, laut, aber nicht hell und erleichtert wie sonst, sondern dunkel und tief, mit Macht herausgepresst, fast verzweifelt. Als wäre es das letzte Mal.
Sie hielten sich lange fest, klammernd, schweigend, horchend, wie sich ihr Atem allmählich beruhigte.
Bevor sie aufstand, nahm sie seinen Kopf in ihre Hände und schaute ihm in die Augen. Ob er ahne, wie sehr sie ihn liebe? Was er ihr bedeute? Er nickte etwas überrascht und musste versprechen, das nie zu vergessen.
Er nickte wieder, zu erschöpft, um Fragen zu stellen.
Als er sie später zur Fähre brachte, war sie auf eine beunruhigende Weise schweigsam. Es war ein warmer, feuchter tropischer Abend, sie gingen den Hügel nach Yung Shue Wan hinunter, in den Büschen um sie herum zirpte, fiepte und zischelte es, und er wollte wissen, worüber sie nachdachte.
Nichts Bestimmtes, behauptete sie.
Ob alles in Ordnung sei?
Sie überging seine Frage.
Die letzten Meter mussten sie laufen. Christine durfte die Fähre nicht verpassen, sie hatte ihrem Sohn und ihrer Mutter versprochen, spätestens zum Abendessen zu Hause zu sein.
Er hasste die Rennerei. Die nächste Fähre fuhr in vierzig Minuten, und Paul empfand es als unerträgliche Zumutung, sich von einem Fahrplan zur Hast zwingen zu lassen. Es geschah ihm häufiger, dass er, spät kommend, auf dem Kai gemessenen Schrittes Richtung Anlegestelle ging, während andere Passagiere, angetrieben durch das Klingeln, welches das langsame Schließen der Tore ankündigte, ihn in einem wilden Spurt schnaufend überholten und er am Ende als Einziger das Schiff verpasste. Statt zu fluchen setzte er sich dann in aller Ruhe auf eine kleine Bank, die im Schatten der Pinien vor der Bücherhalle stand, und schaute aufs Wasser. Oder hockte sich auf einen Polder und beobachtete die Gischt unter ihm. Schon als Kind hatte er es geliebt, spritzenden Tropfen mit den Augen zu folgen, es faszinierte ihn zu sehen, wie sie sich aus dem Wasser lösten, für wenige Sekunden eine Form annahmen und durch die Luft wirbelten, um sogleich wieder für immer in der Weite des Ozeans zu verschwinden. Menschen waren wie diese kleinen Tropfen, hatte er sich damals gedacht, sie tauchten auf und verschwanden wieder in jener Unendlichkeit, aus der sie kamen. Sie hörten zu existieren auf und blieben doch Teil eines Ganzen. Irgendwie hatte dieser Gedanke für den Zehnjährigen etwas Tröstendes gehabt. Seinem Vater gefiel dieses Bild, allerdings fand er, dass Menschen endeten wie Tropfen, die auf eine heiße Platte fielen: Mit einem kurzen Zischen lösten sie sich in nichts auf. Ein Vergleich, den der junge Paul alles andere als tröstlich empfand.
Er sah gern den Wellen zu, wenn sie mit den Fischerbooten spielten und auf die Steine vor ihm schwappten. Er hörte die Stimmen des Meeres. Manchmal passierte es, dass er auf diese Weise selbst die folgende Fähre verträumte.
Du hast auch keinen Sohn, der auf dich wartet, hatte Christine gesagt, als er einmal davon erzählte.
Nein, den hatte er nicht. Sein Sohn war tot.
Sie hatte sich sofort entschuldigt. Sie habe nur sagen wollen, dass er keine familiären oder beruflichen Verpflichtungen kenne, keinen Chef, keine Geschäftspartner, die auf Pünktlichkeit bestanden, niemanden, der auf ihn wartete, außer ihr selbst. Und sie würde ihm eine Verspätung im Zweifelsfall nachsehen.
Auch da hatte sie Recht. Obschon, wie er anmerkte, ihre Nachsicht, was Unpünktlichkeit betraf, von ihm bisher nicht in Anspruch genommen worden war. Wenn sie verabredet waren, wollte er die Fähre unter keinen Umständen verpassen und kam fünfzehn, zwanzig Minuten früher an den Anleger als nötig. Freiwilliges Warten machte ihm nichts aus. Für ihn war diese Zeit ein Geschenk an sich selbst.
Christine verabschiedete sich in aller Eile mit einem flüchtigen Kuss. Er sah, wie sie über die Gangway lief, ohne sich noch einmal nach ihm umzudrehen, wenige Sekunden später war sie im Bauch des Schiffes verschwunden. Er blieb auf dem Pier stehen, winkte in die Dunkelheit und blickte der Fähre nach, bis sie hinter der Inselspitze nicht mehr zu sehen war.
Es war ein dunkler Abend, das Meer lag tiefschwarz vor ihm, in der Ferne funkelten die Lichter von Cheung Chau und Lantau. Eine Dschunke mit Sonntagsausflüglern schipperte dicht an Lamma vorbei, er konnte das monotone Stampfen des Dieselmotors hören, ausgelassenes Kindergeschrei und die mahnenden Worte eines Erwachsenen. Von der Uferpromenade in Yung Shue Wan drangen Stimmen und Gelächter zu ihm herüber, er schlenderte die Mole entlang, genoss die milde, warmfeuchte Luft, sanft wie Seide, setzte sich in die Green Cottage direkt ans Wasser und bestellte einen frisch gepressten Apfel-Karotten-Ingwer-Saft. Niemand außer ihm war allein unterwegs. Er vermisste Christine. Schon jetzt, obwohl ihre Fähre gerade erst in den Hongkonger Hafen einlief.
Vor vier Wochen hatten sie an dieser Stelle gesessen, auf die dümpelnden Fischerboote geblickt, die roten Lampions, die sich im Wasser spiegelten und zum ersten Mal darüber nachgedacht, ob sie zu ihm ziehen solle. Ihr Sohn könnte die Fähre zur Schule nehmen, sie eine etwas spätere ins Büro. Platz gab es im Haus genug. Zumindest räumlich. Würde er es ertragen, ein anderes Kind in Justins Zimmer zu sehen? Die Idee war so ungeheuerlich wie verlockend für ihn. Der Versuch einer Familie, mit dreiundfünfzig Jahren, nachdem der erste gescheitert war. Einen weiteren hätte er nicht.
Der Gedanke hatte ihn seitdem nicht losgelassen, er hatte heute mit Christine darüber reden wollen, aber sie war seinen Fragen ausgewichen und den ganzen Tag über sehr still gewesen, in sich gekehrt. Liebeshungrig. Wie war sie darauf gekommen? Warum ausgerechnet heute? Hatte er ihr einen Anlass gegeben? Er versuchte sich zu erinnern, wie die Worte aus ihrem Mund geklungen hatten. Sie hatte es zärtlich gesagt. Glaubte er. Jetzt kamen ihm Zweifel.
Sie rief jeden Sonntagabend an, bevor sie ins Bett ging, sagte, dass sie gut zu Hause angekommen sei, wie sehr sie die Stunden mit ihm genossen habe, dass sie ihn bereits jetzt vermisse, und er erklärte, dass es ihm genauso gehe. Ihr Sonntagabendritual. Für andere Paare vielleicht nichts als eine simple Gewohnheit im Zusammenleben, wie die gemeinsamen Frühstücke und Abendessen, Abschiede, Wiedersehen, Gute-Nacht-Wünsche, die immer gleichen Ich-liebedich- Versicherungen. Für Paul Leibovitz bedeutete das viel mehr.
Es waren die kleinen Dinge, denen er jetzt Beachtung schenkte.
Er hatte begonnen, der Schönheit in ihr Versteck zu folgen. Zum ersten Mal in seinem Leben.
Der Tod seines Sohnes war sein Lehrmeister gewesen. Ein grausamer, unbarmherziger Lehrmeister. Einer, der keinen Fehler verzieh und keinen Widerspruch duldete. Als sein Schüler hatte Paul eine der wichtigsten Lektionen gelernt: niemals wieder etwas für selbstverständlich zu halten.
Früher hatte er geglaubt, es sei selbstverständlich, dass aus Säuglingen Kinder, aus Kindern Jugendliche und aus Jugendlichen Erwachsene werden.
Er hatte geglaubt, dass blaue Flecken auf kleinen Körpern auf nichts anderes hinweisen als auf einen Sturz oder Stoß.
Er hatte geglaubt, dass Kinder, die krank werden, auch wieder zu Kräften kommen.
Die Zerbrechlichkeit des Glücks.
Die Willkür des Unglücks.
Nichts war selbstverständlich. Wer das einmal begriffen, nein, dachte Paul, wer diesen banalen, oft so unbedacht dahingesagten Satz als existenzielle Wahrheit erfahren und nicht wieder vergessen hatte, der war für immer zu einem Grenzgänger geworden. Ein Heimatloser. Der konnte Pläne schmieden, Kinder zeugen, Häuser kaufen, Entscheidungen für die Zukunft treffen und wusste doch zur selben Zeit, dass er sich einer Illusion hingab; dass Zukunft lediglich ein Versprechen war, auf das man sich niemals verlassen durfte, dass Sicherheit nie von Dauer sein konnte, sondern nur für kurze, unendlich kostbare Momente existierte.
Als hinge nicht alles Glück dieser Welt an einem zum Zerreisen gespannten Faden. So dünn, dass die meisten Menschen ihn nicht einmal bemerkten.
Es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen. Mit diesen Worten hatte der Arzt Pauls Faden zerschnitten. Für immer und ewig, wie sein Sohn es ausgedrückt hätte. Es gab kein Zurück. In diesem Glauben hatte Paul sich eingerichtet. Bis er Christine traf.
Als wäre Vertrauen etwas für Dumme. Als hätten wir eine Wahl. Das waren die ersten Sätze von ihr, die ihm in Erinnerung blieben. Er hatte sie zunächst nicht ernst genommen. Er hatte sich insgeheim ein wenig gewundert über so viel Naivi tät bei einer erwachsenen Frau. Bis dahin war er überzeugt gewesen, dass Misstrauen etwas sehr Nützliches war, etwas, das uns schützte und, war es in ausreichendem Maße vorhanden, vor allzu großen Enttäuschungen bewahrte. Sie kamen, so dachte er, aus zwei sehr unterschiedlichen Welten, Christine Wu, die Träumerin, und Paul Leibovitz, der Realist.
Wie soll ein Mensch vertrauen können, dem das Wichtigste auf der Welt genommen worden war. Über Nacht. Schuldlos und ohne Grund. Der mit ansehen musste, wie rote Blutkörperchen einfach nicht aufhören wollten, sich zu vermehren, wie ihre Zahl stieg und stieg, und es kein Medikament auf der Welt gab, das sie daran hindern konnte? Auf was sollte er sich noch verlassen können? Auf was, Christine?
Sie hatte ihm diese Frage nicht mit Worten beantwortet. Sie hatte zu ihm gehalten, auch als er sie wegstieß. Sie hatte ihm vertraut, mehr als er sich selbst. Vertrauen kann ansteckend sein, hatte sie ihn gewarnt. Und Recht behalten.
Es war kurz nach Mitternacht. In Yung Shue Wan waren die Stimmen des Abends längst verstummt, die Lichter der meisten Restaurants erloschen, Lamma hatte sich zur Ruhe begeben. Paul öffnete die große Schiebetür zum Garten und trat hinaus. Wie laut die Nacht in den Tropen war. Die Zikaden schnarrten unermüdlich, von einem nahen Tümpel drang das aufdringliche Gurren der Kröten herüber, vor ihm im Gebüsch raschelte es heftig, eine Rattenschlange auf der Jagd vermutlich. Der Bambus bog sich sanft in einer leichten Brise. Wie oft hatte er diesem gleichmäßigem Knarren und Ächzen gelauscht und war dabei eingeschlafen.
Normalerweise hätte Christine um diese Zeit längst angerufen. Ihm eine gute Nacht gewünscht. Er hatte sich mehrfach vergewissert, ob sein Telefon eingeschaltet und auf laut gestellt war, ob der Akku noch genug Strom hatte. Er konnte sich an keinen Sonntag erinnern, an dem sie sich nicht mehr gemeldet hatte. Hatte ihr Sohn sie zu sehr in Beschlag genommen? Oder ihre Mutter? Vielleicht hatte sie sich einfach nur für einen Moment aufs Bett gelegt und war vor Erschöpfung eingeschlafen. Er sehnte sich nach ihrer Stimme und hatte mehrfach überlegt, ob er sie anrufen sollte. Aber das wäre nicht das Gleiche gewesen. Er brauchte die Geste.
Liebeshungrig. Vielleicht hatte sie Recht.
Er beschloss, ihr eine SMS zu schicken.
Mein Liebes, mein Liebstes, warum habe ich gar nichts mehr von dir geh
Nein, er wollte ihr keine Vorwürfe machen.
Mein Liebes, mein Liebstes, wo steckst Du? Ich hätte mich sehr über einen Anr
Auch keine versteckten.
Mein Liebes, mein Liebstes, schlaf schön. Danke für den Tag. Danke für alles. Ich liebe dich. Mehr und immer mehr.
Er zögerte. Fügte ich brauche dich und ich vermisse dich so hinzu. Löschte es wieder. Er wollte nicht bedürftig klingen.
Paul las den Text noch einige Male; er war nicht geübt im Schreiben von Kurzmitteilungen und wollte kein Missverständnis riskieren. Schließlich schickte er sie ab, stellte das Telefon aus und fühlte sich gleich wohler. Morgen früh würde sie mit ein paar zärtlichen Sätzen antworten, und der Spuk wäre vorüber.
Es war eine traumlose Nacht. Er schlief gut, länger als gewöhnlich, und als er erwachte, galt sein erster Gedanke Christine. Welch ein Geschenk es war, neben ihr zu wachen, während sie noch schlief. Die Wärme ihres Körpers zu spüren. Die Gleichmäßigkeit ihres Atems.
Wie wenig es zuweilen braucht, das Glück in seinem Versteck zu finden. Wie oft wir daran vorbeigehen.
Er griff neben das Bett und schaltete sein Handy ein. Keine Nachricht. Paul spürte plötzlich dieselbe innere Unruhe, die ihn schon am Abend geplagt hatte. Es war zu früh, sagte er sich. Um diese Zeit duschte sie und machte sich fertig für einen langen Tag im Büro. Normalerweise schrieb sie ihm erst aus dem MTR-Zug auf dem Weg nach Wan Chai.
Er stand auf, band das Moskitonetz zu einem Knoten, ging in die Küche hinunter und setzte Wasser für einen Tee auf. Die Luft war in der Nacht nur wenig abgekühlt, das Thermometer vor dem Fenster zeigte 25 Grad und 88 Prozent Luftfeuchtigkeit an, und es war noch nicht einmal acht Uhr. Paul musste sich beeilen, in Kürze würde die Sonne auf die Dachterrasse scheinen und bald darauf so viel Kraft haben, dass man Schutz vor ihr suchen musste und an Tai Chi nur noch im Schatten zu denken war. Die Übungen dauerten immer genau eine Stunde. Sie halfen ihm, nach schlechten Nächten in den Tag zu finden, gaben ihm, zumindest für ihre Dauer, ein Gefühl von fast heiterer Gelassenheit.
Heute nicht. Seine Ausführungen waren ungenau und seltsam stockend, die Hüfte viel zu steif, die Schultern verspannt. Die »Einzelne Peitsche« und den »Kranich, der seine Flügel ausbreitet« begann er sogar von vorn, aber ein harmonischer Bewegungsablauf wollte nicht gelingen.
Im Laufe des Tages sprachen sie nur kurz miteinander. In Christines Büro war es noch hektischer als sonst, am Abend hatte ihr Sohn hohes Fieber, er brauchte seine Mutter.
Natürlich hatte Paul dafür Verständnis, sie musste sich weder erklären noch entschuldigen.
Am Dienstagmorgen kam eine SMS, in der sie ihm mitteilte, dass sie am kommenden Sonntag nicht nach Lamma kommen könne. Er rief dreimal an. Alle drei Gespräche waren ungewöhnlich kurz. Mal passte es nicht, weil ein aufgebrachter Kunde auf dem Flughafen in Jakarta festsaß, mal weil Cathay Pacific Flüge annullierte oder Christine die Kinderärztin auf der anderen Leitung hatte. Die versprochenen Rückrufe blieben aus.
Ihr Schweigen. Paul versuchte es zu ignorieren. Er putzte das Haus noch gründlicher als sonst. Staubte die Bücher ab. Wischte die Regale und die Fußböden. Versah den alten chinesischen Hochzeitsschrank mit einer neuen Wachspolitur, bis er wieder glänzte. Räumte den Kühlschrank aus und wusch jedes einzelne Fach mit Seifenlauge aus. Immunsystem geschwächt. Achten Sie auf äußerste Reinlichkeit. Im ganzen Haus. Schon ein kleiner Infekt kann lebensbedrohlich sein.
Es gibt Sätze, dachte er, die verfolgen uns ein Leben lang. Justin war bald vier Jahre tot. Trotzdem konnte Paul bis heute nicht einmal die Andeutung von Schmutz im Haus ertragen.
Er machte einen Spaziergang an die Inselspitze nach Pak Kok. Das Mobiltelefon ließ er zu Hause. Er wollte nicht bei jedem Schritt auf ihren Anruf warten.
Er dachte über die vergangenen zwei Tage nach und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Was regte ihn so auf? Dass Christine in achtundvierzig Stunden keine Zeit gefunden hatte, mit ihm in Ruhe ein paar Sätze zu wechseln? Ungewöhnlich, aber sie war eine viel beschäftigte Frau. Dass ihre Stimme nicht so zärtlich klang wie sonst? Wer war er? Ein frisch verliebter Teenager? Er wusste doch, unter welchem Druck sie stand. Dass sie am Sonntag nicht zu ihm kommen konnte? Es war nicht das erste Mal, dass ihr etwas dazwischenkam. Ihre Mutter stellte Ansprüche an die Tochter, die ihm zwar fremd waren, die er aber akzeptieren musste. Dass die SMS nicht mit »in Liebe. Für immer und immer« geendet hatte? Nichts davon rechtfertigte seine innere Unruhe. Und trotzdem war sie da.
Je länger er nachdachte, desto mehr verstand er, dass es nicht Christine war, die ihn verunsicherte. Er war es selbst. Warum geriet er wegen solcher Kleinigkeiten so sehr aus der Fassung? Warum wuchsen in ihm so schnell Zweifel und Furcht?
Christine hatte ihn vor kurzem gefragt, ob er auf Lamma im Exil lebe. Das Wort hatte ihn seltsam berührt. Exil. Exilium auf Lateinisch, wenn er sich richtig erinnerte. In der Fremde weilend. Verbannung. Nein, hatte er spontan antworten wollen. Mich hat niemand verbannt. Er war kein Flüchtling und kein Verfolgter. Er konnte nicht in der Fremde weilen, weil das nur Menschen konnten, die eine Heimat hatten. Die besaß Paul nicht. Seine Eltern waren tot. Mit seinem Geburtsland verband ihn nichts. Von Deutschland erinnerte er kaum mehr als die vielen Schiffe im Hamburger Hafen und seltsamerweise das laute, tiefe Tuten des Dampfers, der sie nach Amerika bringen sollte. Seine frühen Kinderjahre in München waren ein Opfer der Zeit geworden, ebenso die Erinnerungen an seine Großeltern.
Er war amerikanischer Staatsbürger. Sein blauer Pass bezeugte das. Ein Reisedokument, nicht mehr. Nach dem Tod seiner Mutter hatte er mit neunzehn Jahren das Land für immer verlassen. Er hatte nirgendwo auf der Welt Verwandte, die er persönlich kannte.
Wenn ihn früher hin und wieder jemand gefragt hatte, wo seine Heimat sei, war seine Antwort stets: Im Großen und Ganzen auf der Erde. Die meisten hielten es für einen Scherz.
Er lebte seit über dreißig Jahren in Hongkong, aber nicht im Exil. Wenn es überhaupt einen Ort auf der Welt gab, dem er sich vertraut fühlte, war es diese Stadt. Er war ihr dankbar. Sie hatte ihn aufgenommen und nie gezwungen, irgendwo dazuzugehören. Das entsprach ihm.
So habe sie es nicht gemeint, hatte Christine erwidert, als er ihr von den Gedanken erzählte, die ihm durch den Kopf gingen. Sie habe mehr an seinen Rückzug nach Justins Tod gedacht. Hatte er sich damit in ein freiwilliges Exil begeben?
Diese Frage hatte Paul sich noch nie gestellt, eine Antwort blieb er schuldig.
Eine Art Selbstverbannung? Ein Exilant, aus dem Leben geflohen, weil er den Schmerz und die Trauer um den Sohn nicht aushielt? Vielleicht. Wenn dem so war, dann lag es an Christine, dass er den Weg zurück gefunden hatte. Ihre Engelsgeduld in den ersten Monaten. Ihre Kraft, seine Launen zu ertragen. Ihre Fähigkeit, nicht mehr zu verlangen, als er geben konnte.
Sie machte ihn wieder mit dem Leben und der einfachen Wahrheit eines alten chinesischen Sprichwortes vertraut: Ein Mensch allein ist noch kein Mensch.
Copyright © 2009 by Karl Blessing Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
- Autor: Jan-Philipp Sendker
- 2009, 448 Seiten, Deutsch
- Verlag: Penguin Random House
- ISBN-10: 3641027721
- ISBN-13: 9783641027728
- Erscheinungsdatum: 27.07.2009
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