Eine ungezähmte Lady (ePub)
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Eine ungezähmte Lady von Jane ArcherAus dem Amerikanischen von Ulrike Laszlo
1
1883, Delaware Bend, Texas
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Sie kennt keine Gnade, sie kennt kein Gesetz, die Lady mit dem Colt.« Deputy U.S. Marshal Rafe Morgan saß an einem zerschrammten Tisch. Sein Whiskeyglas setzte allmählich Staub an, während er der nah und fern bekannten Sängerin lauschte, die einfach nur als »Lady« angekündigt worden war. Sie war eine atemberaubende Schönheit, eine Herzensbrecherin. Und ihr Name stand ganz oben auf seiner Fahndungsliste. Ladys samtweiche Stimme weckte geheime Sehnsüchte, spielte, lockte und verhieß die Erfüllung aller Träume im silbernen Mondschein. Auf ihrer Gitarre zupfend, stand sie da und schlug ihre Zuhörer in ihren Bann. Als sie mit einem koketten Lächeln den Fuß auf die Sprosse des Stuhls neben sich stellte, kamen weiße Spitzenunterröcke und wohlgeformte Beine in schwarzen Netzstrümpfen in Sicht. Rafe schüttelte den Kopf, fest entschlossen, sich nicht von ihrem Zauber einwickeln zu lassen. Dennoch fühlte er sich wie jeder andere gesunde Mann im Saloon : eher wie ein Sünder als wie ein Heiliger. Das scharlachrote Kleid betonte ihr rotbraunes Haar und die goldene Haut und schmiegte sich aufreizend an ihre kurvenreiche Figur. Es wurde gemunkelt, dass sie Indianerblut in den Adern hatte, vielleicht die Erklärung dafür, warum es ihr immer wieder gelang zu entwischen. In ihren großen Augen konnte ein Mann versinken. Den Verstand verlieren und auch sonst alles, was er besaß. Viele Männer wären bereit gewesen, diesen Preis zu bezahlen. Rafe war keiner von ihnen. Denn Rafe hatte einen Haftbefehl in der Tasche, auf dem Ladys Name stand. Richter Parker und Marshal Boles, zuständig für das westliche Arkansas, zu dem auch das Indian Territory gehörte, forderten Ladys Ergreifung. Tot oder lebendig. Er hatte sie bis nach Bend verfolgt, eine Stadt am Ufer des Red River, das Texas zugeordnet wurde. Es war ein gefährliches Pflaster, denn es wimmelte von zwielichtigen Gestalten, die sich hier ihr eigenes kleines Paradies eingerichtet hatten, um nach Herzenslust dem Glücksspiel, dem Whiskey und dem Lotterleben zu frönen. Sollte ein Texas Ranger dennoch die Kühnheit besitzen, sich hier zu zeigen, flüchteten die Banditen sich einfach nach Norden auf die andere Seite des Red River, wo indianisches Recht ausschließlich für Indianer galt, während die Marshals sich an das Bundesgesetz halten mussten. Obwohl Rafe und seine Mitstreiter ihr Bestes gaben, drehten die Desperados ihnen immer wieder eine lange Nase. Berauscht von Alkohol und Begierde, stampften die Cowboys, Revolverhelden und Banditen mit den Füßen, forderten laut johlend eine Zugabe und grölten den Refrain der »Ballade von der Lady mit dem Colt« mit. Sie sangen zwar schrecklich falsch und konnten auch den Takt nicht halten, doch ihre Begeisterung brachte die Deckenbalken zum Erbeben. Die Darbietung von Lady war so fesselnd, dass keiner der Männer ein Auge für den berühmten Tresen des Red River Saloon hatte, während sie sang. Das war an sich schon eine ziemliche Leistung, wenn man bedachte, dass in das Mahagoni nackte Tänzerinnen eingeschnitzt waren. Zwar konnten die Gäste ihre Gläser nicht abstellen, ohne dass diese kippelten, doch dafür verbrachten viele von ihnen ihre Zeit damit, mit der einen Hand ihren Drink festzuhalten, während sie mit der anderen das Werk des in Nöte geratenen Künstlers von der Ostküste liebkosten, der seine Talente einst hier gegen Whiskey eingetauscht hatte. Die spannendsten Stellen glänzten bereits abgewetzt. Rafe wusste die künstlerische Arbeit zwar zu schätzen, doch sie konnte mit der leibhaftigen Schönheit auf der Bühne nicht mithalten.
Lady schürzte die aufreizend rot geschminkten Lippen und ließ den Blick durch den Saloon schweifen, während sie mit verführerischer Stimme weitersang. Sie rücken nur ungern die Pferde raus Und trennen sich weinend vom Gold Doch hier am Red River regiert nunmal Die Lady mit dem Colt Rafe kippte seinen Whiskey hinunter und bedauerte, dass das Getränk nicht so kalt war wie ein Fluss im Winter. Außerdem änderte der Whiskey leider auch nichts an der lodernden Begierde nach Lady, die in ihm brannte. Diese Frau neckte und quälte die Männer und schürte die Flamme in ihnen, tat aber nichts, um sie von ihren Leiden zu erlösen. Niemand wusste, wie sie wirklich hieß oder woher sie kam. Doch welche Schwierigkeiten konnte ein kleines Frauchen ihm schon machen? Bend war für Gesetzeshüter kein Zuckerschlecken, und Rafe hatte hier eigentlich keine Vollmachten, aber das kümmerte ihn nicht. Er wollte sie unbedingt festnehmen. Und er hatte auch schon einen Plan. Es war zwar nicht unbedingt ein ausgeklügelter Plan, was er allerdings auch für überflüssig hielt. Er würde Lady auf einen Drink einladen, sie nach draußen locken und ihr Handschellen anlegen. Und dann würde er sie zu Pferde ins Indian Territory und von dort aus nach Fort Smith bringen. Falls Lady ihm keine zu großen Schwierigkeiten bereitete, würde er sich unterwegs Zeit lassen und sie nach seiner Schwester Crystabelle fragen. Sie war von Banditen aus einem Zug der Bahngesellschaft Katy Railroad entführt worden, und er wusste nicht, ob sie noch lebte, auch wenn er die Hoffnung nicht aufgab. Obwohl er über die besten Kundschafter und Spurenleser verfügte, war Crystabelle wie vom Erdboden verschluckt. Da sie sehr zart war, machte er sich große Sorgen um sie.
Während er wartete, betrachtete er die anderen Gäste. An einem Tisch und mit dem Rücken zur Wand saß ein hünenhafter Mann, unter dessen schwarzem Hut eine lange silberne Haarmähne hervorquoll. Zwei schmaler gebaute Männer, der eine mit blondem Bart, der andere mit glattem schwarzen Haar, hatten links und rechts von ihm Platz genommen. Die drei sahen aus wie die Sorte von Leuten, denen ein Deputy seinen Arbeitsplatz verdankte. Als Rafe sich wieder zu Lady umdrehte, stellte diese gerade die Gitarre weg und schlenderte durchs Publikum, um ihren Zuschauern eine Kostprobe dessen zu geben, wie es wohl wäre, ihr nahe kommen zu dürfen. Auf ihrem Weg durch den Raum tätschelte sie hier einen kahlen Schädel, zauste dort einen buschigen Bart und hauchte dem Dritten einen Kuss auf die Wange. Ihr folgte ein leises Stöhnen, das mehr nach Tier als nach Mensch klang. Schließlich hatte sie Rafe erreicht und beugte sich vor, sodass der Ansatz ihrer Brüste im Ausschnitt des Kleides zu sehen war. »Lädst du eine Dame auf einen Drink ein?« Er nickte, wobei er ihr entschlossen in die Augen schaute, um sich nur nicht von den Verlockungen eine Etage tiefer aus dem Konzept bringen zu lassen. Lady hatte ungewöhnliche dreifarbige Augen, braun in der Mitte, mit einem hellgrünen und einem tannengrünen Ring darum. Sie erinnerten ihn an Murmeln. Vermutlich bezauberte sie mit diesen Katzenaugen die Männer. Aber nicht ihn. Er war nicht so ein Weichling. Rafe nahm die Whiskeyflasche vom Tisch und schenkte das zweite Glas voll, das da stand. Dann schob er mit dem Fuß den Stuhl neben sich nach vorne und senkte die rechte Hand zu dem Colt .45 Peacemaker an seiner Hüfte. Er war auf alles gefasst. »Neu in der Stadt?« Als sie lächelte, bogen sich die rubinroten Lippen leicht nach oben. Drink und Stuhl würdigte sie keines Blickes. »Auf der Durchreise.« Sie beugte sich vor und ließ spielerisch die Fingerspitzen über seine Brust spazieren. Ihm stockte der Atem. Es war zwar nicht leicht, aber es gelang ihm, die Ruhe zu bewahren. Sie roch süß und frisch wie eine Mischung aus Geißblatt und Zitrone. Nichts wünschte er sich sehnlicher, als den Kopf an diesen üppigen Busen zu schmiegen. Dicht unterhalb des rechten Mundwinkels hatte sie einen Schönheitsfleck. Er wollte diese dunkle Stelle küssen, an ihren Lippen saugen und ihren ganzen Körper besitzen. Er hielt sich vor Augen, dass er im Dienst war. »Ich begrüße Neuankömmlinge stets auf meine ganz besondere Weise.« Sie legte ihm beide Handflächen auf die Brust und schob sie über die Lederweste bis zu den Schultern hinauf. »So, dass sie es nie wieder vergessen.« Mit einer plötzlichen Bewegung schlug sie die linke Seite seiner Weste zurück, unter der er seine Dienstmarke versteckt hatte. Verdammt, er hätte sie in der Satteltasche lassen sollen. Doch eigentlich spielte es keine Rolle. Er würde diese Frau festnehmen, koste es, was es wolle. Sie seufzte auf und verzog die roten Lippen zu einem Schmollmund. »Hab ich mir doch gleich gedacht, dass du ein Deputy bist, aber gehofft, dass ich mich irre.« Sie zog die Handschellen aus seiner Westentasche. Wieder überrumpelt, griff er danach, aber sie duckte sich geschickt wie eine Katze und ging auf Abstand. Dann wandte Lady sich an die Anwesenden. »Meine Herren ! Wir haben heute einen Vertreter von Recht und Gesetz bei uns zu Gast.« Die Banditen trampelten, johlten, zischten und buhten. Rafe machte sich auf einiges gefasst. Allerdings war er schon aus schlimmeren Zwickmühlen heil herausgekommen. Jetzt musste er sich nur etwas einfallen lassen, damit sich die Situation nicht zuspitzte. Lady schwenkte die Handschellen über dem Kopf und klapperte rhythmisch damit. Als sie auf ihr Publikum wies, hallten raue Männerstimmen durch den Saloon. »Sie kennt keine Gnade, sie kennt kein Gesetz, die Lady mit dem Colt.« Lady warf lachend den Kopf in den Nacken, wirbelte einmal um die eigene Achse und klimperte dabei weiter mit den Handschellen. Am liebsten hätte Rafe sie gepackt, geschüttelt und dann in sein Bett geschleppt. Doch er durfte sich nicht von ihr vorführen lassen. »Schätzchen«, sagte er gedehnt. »Soll ich dir zeigen, wozu diese Handschellen gut sind?« Sie drehte sich zu ihm um. Ihre Katzenaugen funkelten aufgeregt, und sie zog eine Augenbraue hoch. »Willst du spielen, Deputy?« Sie war so frech, wie es nur eine Frau sein konnte, die auf die schiefe Bahn geraten war. Außerdem setzte sie sich in seinen Gedanken fest, als wolle sie darin Wurzeln schlagen. Mühsam riss er sich aus ihrem Bann. Sie war nur ein kleines Frauchen und vom rechten Wege abgekommen. »In meinem Hotelzimmer habe ich ein Eisenbett.« »Wirklich?« Sie kam näher und hielt sich die Handschellen an die wogenden Brüste. »Erzähl mir mehr.« »Gib sie mir zurück. Dann können wir ausprobieren, wie gut sie sich an meinem Bettpfosten machen.« »Du hast wohl eine ziemlich hohe Meinung von dir, was?« Sie wandte sich wieder an die anderen und schüttelte die Handschellen. »Gentlemen! Wie gehen wir in Bend mit Gesetzeshütern um?« Zorniges Geschrei erfüllte den Saloon. So sehr Rafe sich auch zwang, sich auf seine missliche Lage zu konzentrieren, sein Körper wollte einfach nicht gehorchen. Als er die Banditen musterte, die sich an den Tischen drängten, wurde ihm ziemlich mulmig. Es sah übel für ihn aus. Er musste jetzt etwas unternehmen. Also stand er auf und behielt dabei die Männer im Auge. Blitzschnell schloss Lady eine der Handschellen um sein linkes Handgelenk. Als er sie packen wollte, wich sie ihm aus und befestigte die andere Handschelle an der Sprosse seines Stuhls. Dann trat sie triumphierend zurück. Die Anwesenden lachten brüllend. Rafe hatte zwar gehört, wozu sie fähig war, sie aber offenbar unterschätzt. Hinzu kam, dass er sich von ihr das Gehirn hatte vernebeln lassen. Natürlich hätte er den Stuhl auf dem Tisch zerschmettern und sich auf diese Weise rasch befreien können. Aber sie hatte ihn in seinem Stolz verletzt. Also setzte er sich wieder, lehnte sich lässig zurück und versuchte, trotz seines Herzklopfens einen ruhigen Eindruck zu erwecken. Überrascht neigte sie den Kopf zur Seite. Mit der freien Hand klopfte er auf sein Bein. »Komm, setz dich, und dann reden wir darüber, wie wir am besten den Schlüssel zu den Handschellen finden.« Sie schüttelte den Kopf. Ein Lächeln spielte um ihre Lippen. »Du bist anscheinend ein Deputy, dem man einen Lektion erteilen muss.« »Und du glaubst, dass du die richtige Frau dafür bist?« Er berührte seine Westentasche, jederzeit bereit, falls einer der Männer Anstalten machen sollte, sich auf ihn zu stürzen. Sie seufzte theatralisch auf. »Sieht aus, als würde diese Aufgabe an mir hängenbleiben.« Er klopfte wieder auf sein Bein. »Ich könnte bei der Schlüsselsuche Hilfe gebrauchen.« »Du weißt anscheinend wirklich nicht, wann Schluss ist.« Mit wehendem scharlachroten Rock drehte sie sich zu den Männern um. »Gentlemen, er gehört euch.« Rafe blickte ihrem hübschen Hinterteil nach, das sich rasch entfernte. Sie hatte alle Trümpfe in der Hand. Er konnte sie nicht verfolgen, nicht, solange eine Horde angriffslustiger Männer im Raum war. Also stand er auf und steckte den Schlüssel aus seiner Westentasche geschickt ins Schloss der Handschellen. Ein riesenhafter Kerl, dem der Bart bis zum Gürtel reichte, erhob sich, vom Alkohol kühn geworden. Ein anderer zerbrach eine Whiskeyflasche an der Tischkante. Auch die drei Halunken, die ihm schon vorhin aufgefallen waren, kamen auf ihn zu. Wenn sie etwas erleben wollten, na gut. Jedenfalls würde er sich nicht kampflos geschlagen geben. Er befreite seine Hand mit einem satten Klicken. Dann griff er nach dem Peacemaker.
2
»Ich stecke in Schwierigkeiten!«, rief Lady. Sie stürmte in Mannys Mietstall und warf die Kapuze ihres dunkelgrünen Umhangs zurück. Bald würde der Morgen grauen. Wenn sie sich im Schutze der Dunkelheit davonmachen wollte, musste sie sich beeilen. »Wann steckst du einmal nicht in Schwierigkeiten?« Manny, der gerade ein Pferd fütterte, drehte sich um. »Ich musste einem miesen Deputy eine Lektion erteilen.« »Und hat er sie gern gelernt?« »Nicht wirklich.« Kopfschüttelnd spuckte Manny einen Schwall Kautabak in Richtung des Spucknapfs in der Ecke und hinkte auf sie zu. Er trug eine ausgewaschene Jeans und ein rot kariertes Hemd. »Wie schnell musst du verschwinden?« »Sehr schnell.« »Willst du Jipsey nehmen?« Er kratzte sich den grauen Bart und fuhr sich mit den Fingern durch das zerzauste Haar mit den silbrigen Strähnen. »Bitte. Ich muss mich auch umziehen.« »Du meinst, als Junge verkleiden.« »Ich tue, was nötig ist.« »Du kannst die Toten nicht ruhen lassen, was?« Eine Hand an der Leiter zum Heuboden, hielt sie inne und sah ihn an. »Copper und Jipsey sind alles, was ich noch von Ma und Dad habe.« »Gute Pferde.« »Die besten! Dad dachte, dass kein Hengst, den er je gezüchtet hatte, Copper das Wasser reichen kann. Wenn ich ihn nicht bald finde, wird er zu lahmen anfangen.« »Du findest ihn schon, bevor ihm jemand den Gnadenschuss gibt.« »Hoffentlich.« Tränen traten ihr in die Augen. Sie blinzelte heftig, um sie zurückzudrängen. »Weinst du etwa?«, fragte er verdattert. »Nein, ich bin nur wütend.« »Du sollst nicht wütend sein, sondern dich rächen.« Manny griff nach Sattel und Zaumzeug. »Damit deine Wünsche Wirklichkeit werden.« »Wenn Wünsche Pferde wären.« Sie seufzte. »Dann hätte ich eine ganze Herde.« »Mit Copper und Jipsey hast du einen Grundstock zur Zucht, der alle anderen Pferde alt aussehen lassen wird.« »Dazu muss ich Copper erst mal fi nden.« Die Gitarre um die Schulter, kletterte Lady die Leiter hinauf, so schnell es ihre Röcke gestatten, und atmete in tiefen Zügen den beruhigenden, süßen Geruch des Heus ein. Ihr gemütliches Nest war hinter strategisch gestapelten Heuballen versteckt. Eine dicke Plane aus Segeltuch bedeckte den rauen Holzboden, und eine Steppdecke und ein Kopfkissen sorgten für Wärme und Bequemlichkeit. Ein kleiner Spiegel, eine Waschschüssel mit Krug, ein Handtuch, eine Öllampe und eine Truhe für ihre Habe waren alles, was sie brauchte, um in Bend zu überleben. Vorsichtig legte sie ihre Gitarre in ihren Koffer und stellte sie weg. Mit sechzehn hatte sie ein ganzes Jahr lang gespart, um sich das wundervolle Instrument leisten zu können. Inzwischen war sie siebenundzwanzig und ließ die Gitarre in Mannys Obhut, wenn sie unterwegs war. Während sie das Satinkleid auszog, in dem sie sich nie so richtig wohlfühlte, dachte sie an den erstaunten Gesichtsausdruck des gut aussehenden Deputys. Gesetzeshüter hielten Frauen in Satinkleidern offenbar für Dummerchen. Doch obwohl sie sich gern auf diesen Umstand verließ, war sie stets auf der Hut. Wer auf der falschen Seite des Gesetzes stand, musste wachsam sein. Die Gäste des Red River Saloon würden den Deputy schon aus der Stadt jagen. Sie wünschte, sie hätte Gelegenheit gehabt, sich noch ein wenig mit ihm zu amüsieren. Er hatte sie an einen starken Hengst erinnert, und sie hatte eine Schwäche für gute Pferde. Groß, breite Schultern, schmale Hüften, lange Beine. Er bewegte sich mit der Anmut eines wilden Tieres. Bekleidet war er mit einem blauen Hemd, einer schwarzen Lederweste und einer dunklen Hose gewesen, die in schwarzen kniehohen Militärstiefeln steckte. Das dunkle Haar war lang und mit einem Lederriemen zusammengebunden. Dazu ein glatt rasiertes Gesicht, sonnengebräunte Haut, hohe Wangenknochen und volle Lippen. Doch am faszinierendsten waren seine Augen: ein tiefes Rauchgrau. Eindeutig ein Mann, der das Blut einer Frau in Wallung brachte. Was vermutlich auch der Grund war, warum sie der Versuchung nicht hatte widerstehen können, ihn zu berühren und ihn ein wenig zu hänseln. Schmunzelnd dachte sie an seine Handschellen. Ihr gefiel es, wenn ein Mann den Mumm hatte, sie amüsant und nicht etwa einschüchternd zu finden. Ein Jammer nur, dass er sie hinter Gitter bringen wollte. Sie entledigte sich ihres Korsetts und der anderen Wäschestücke, die Männer so begeisterten. Nachdem sie die zarten Stoffe vorsichtig zusammengefaltet hatte, verstaute sie sie für ihren nächsten Auftritt als Lady wieder im Koffer. Um ihre Kurven zu tarnen, drückte sie ihre Brüste mit einem Stoffstreifen platt und zog ein weites grün kariertes Hemd, eine zeltartige schwarze Weste und eine zu große Jeans an. Die Füße steckte sie in teure Cowboystiefel, ihr einziges Zugeständnis an die Eitelkeit. Dann band sie sich ein Halstuch mit dem Zipfel nach vorne um, damit man ihre Kehle nicht sah, und zog es bis über die Nase, steckte ihr langes, dickes Haar hoch und stülpte einen breitkrempigen Hut darüber. Zu guter Letzt schlüpfte sie in Lederhandschuhe, um ihre Hände zu schützen und zu tarnen. Wenn man nicht zu genau hinschaute, konnte sie als Junge durchgehen. Eine Verkleidung. Ihr ganzes Leben war nichts als Theater. Satin und Jeans. Die Saloonsängerin und der halbwüchsige Junge, der reiten konnte wie der Wind. Manchmal fragte sie sich, wer sie unter den vielen Lügen wirklich war. Doch sie durfte nicht darüber nachgrübeln. Und nun würde sie sich wieder in Gefahr begeben. Zum Glück hatte Dad ihr den Umgang mit Waffen beigebracht. Rasch schnallte sie den Revolvergurt um, vergewisserte sich, dass sein kostbarer Colt Kaliber .44 mit dem Perlmuttgriff auch geladen war, steckte ihn ins Halfter und rückte ihn zurecht, bis das Gewicht richtig saß. Jetzt war sie zu allem bereit. Während sie nach unten hastete, versuchte sie, sich nur auf die Herausforderung zu konzentrieren, die ihr bevorstand. Manny hatte Jipsey bereits gesattelt. Es konnte losgehen. »Danke.« Zärtlich streichelte sie das lang gezogene Gesicht des Rotfuchses und trat zurück, um sein dunkelrotes Fell zu bewundern. Der linke Vordermittelfuß vorne und die Fesseln rechts vorne und links hinten waren weiß. Eine gute Tarnfarbe. Lady griff nach dem Zügel und schwang sich elegant in den Sattel. »Die Feldflasche ist voll. Maisfladen und Dörrfleisch sind in der Satteltasche.« Sie beugte sich hinunter und küsste Manny auf die raue Wange. »Was würde ich nur ohne dich machen?« »Am Galgen baumeln.« »Sag so etwas nicht.« »Für dich ist ein Auftrag reingekommen.« »Jetzt?« »Ja. Die Hayes-Brüder treiben wieder ihr Unwesen.« »Ich dachte, die wären im Indian Territory.« »Jedenfalls waren sie lange genug in Texas, um auf Ma Engles Farm in der Nähe von Whitesborough zwei Apfelkuchen zu stehlen.« »Und sie glaubt nicht, dass sie sie gleich an Ort und Stelle verschlungen haben?« Manny kicherte. »Sie bäckt den besten Apfelkuchen im Red River Valley, das ist allgemein bekannt. Der Kirchenbasar naht. Also hat sie vermutlich Kuchen gebacken und sie zum Abkühlen auf die Veranda gestellt. Als sie aus der Scheune kam, hat sie gesehen, wie sie mit ihren Kuchen davongeritten sind.« »Und was will sie zurück haben? Die Äpfel?« »Natürlich nicht. Sie hat auch ihr Täschchen draußen liegen lassen. Die Jungs haben es sich geschnappt. Wahrscheinlich haben sie Geld darin vermutet.« »Und das will sie wiederhaben?« Manny legte eine Hand auf ihren Stiefel. »Die Sache ist, dass Ma den Totenschmuck ihrer Tochter in diesem Beutel aufbewahrt hat. Sie hat eine goldene Haarlocke des Kindes in eine Brosche in Blumenform gefl ochten. Die Brosche hat einzig und allein für sie einen Wert.« »Ein Jammer. Aber wahrscheinlich haben sie die Brosche inzwischen weggeworfen.« »Sie zahlt fünf Golddollar an die Brüder und zehn an dich, wenn du sie zurückholst.« »Das wären ja insgesamt fünfzehn Dollar, vermutlich ihr ganzes Vermögen.« Er nickte. »Sie hatte nur diese eine Tochter. Ein Schlangenbiss im letzten Sommer.« »Also wahrscheinlich wieder Arbeit, für die ich kein Geld annehmen kann.« »Sieht danach aus.« »Okay, ich halte die Augen nach den Hayes-Brüdern offen.« »Pass auf dich auf. Das Indian Territory wimmelt vor Banditen wie ein Hund vor Flöhen. Und die U.S. Marshals sind mit sich selbst beschäftigt.« Sie zog den Hut in die Stirn. »Bis auf den, den ich im Saloon zurückgelassen habe.« Manny kratzte sich am Bart. »Ordnungshüter haben es nicht gern, wenn man sie zum Narren hält.« »Ich werde vorsichtig sein.« Lady ritt auf Jipseys Rücken aus dem Stall in die Dunkelheit hinaus. Die Nacht war schwülheiß, und außerdem war es draußen ungewöhnlich hell. Der Geruch von Schnaps, Müll, Außentoiletten und Schweiß mischte sich in der Luft. Sie hörte Geschrei und Schüsse. Was führten die wilden Kerle von Bend wohl jetzt wieder im Schilde? Sie ließ ihre Stute die Seitengasse hinuntertraben und sah, wie zornige Männer aus dem Red River Saloon in die Main Street strömten. Ihr Gebrüll lockte die Gäste aus den übrigen Saloons herbei. Einige Männer standen auf der Straße und hielten Fackeln hoch, um die Umgebung zu beleuchten. Unter lautem Johlen schubste die Menschenmenge einen Deputy, ihren Deputy, die Straße hinunter. Er hatte die Hände auf dem Rücken gefesselt, wehrte sich gegen seine Peiniger und stemmte dabei die Absätze seiner Stiefel so tief in den Boden, dass Furchen entstanden. An einem hohen Baum angekommen, warf einer aus der mordlüsternen Horde ein Seil über einen tief hängenden Ast. Zwei Männer stülpten dem Polizisten eine Henkerschlinge über den Kopf. Er sträubte sich immer noch, als man ihn unsanft auf den Rücken eines Pferdes verfrachtete.
3
Wenn der Deputy starb, würde Lady sich ewig Vorwürfe machen. Sie hatte ihn doch nur aus der Stadt jagen und nicht gleich umbringen wollen. Offenbar hatte er die Gäste im Saloon gewaltig gegen sich aufgebracht. Hatte er denn nicht bemerkt, dass die Männer betrunken und auf Streit aus waren? Immerhin war Bend dafür berüchtigt, dass Recht und Gesetz hier nichts galten. Aber eigentlich spielte es keine Rolle, wie er an das falsche Ende eines Henkersstricks geraten war. Sie musste ihn retten, wenn sie ihrer stetig anwachsenden Liste nicht noch einen weiteren Grund für Schuldgefühle hinzufügen wollte. Sie stieß einen leisen Fluch aus und holte tief Luft. Da ihre Widersacher in der Überzahl und außerdem bewaffnet waren, musste sie sie überrumpeln, um überhaupt eine Chance zu haben, ihn zu befreien. Sie wendete Jipsey und ritt durch einige Seitengassen zum Ende der Main Street, wo sie im Schutze der Dunkelheit ihr Halstuch hochzog, um ihr Gesicht zu tarnen. Dann vergewisserte sie sich, dass ihr Gewehr lose im Lederhalfter am Sattel steckte. Zu guter Letzt beugte sie sich vor und flüsterte ihrer Stute etwas ins Ohr. Schnell wie der Blitz setzten sie sich in Bewegung. Als sie in halsbrecherischer Geschwindigkeit die Straße entlangpreschte, wirbelten die Hufe der Stute Schlamm und Abfälle auf. Lady riss die Winchester aus dem Halfter, zielte über die Köpfe der mordlüsternen Menge hinweg und feuerte einen Schuss in die Luft ab, um sie zu verscheuchen. Doch die Meute erstarrte nur vor Schreck, was nicht das gewünschte Ergebnis war. Erst als sie einigen der Männer die Hüte vom Kopf fegte, liefen sie los und suchten Deckung. Der Deputy saß auf einem honigfarbenen Pferd mit blondem Schwanz und blonder Mähne. Ein prachtvolles Tier. Wirklich beeindruckend. Allerdings keine gute Wahl für einen Gesetzeshüter, der eigentlich allen Grund hatte, sich bedeckt zu halten. Vielleicht war er ja ein Angeber. Jedenfalls musste sie sein tänzelndes Pferd beruhigen. Wenn es durchging, war es aus und vorbei mit ihm. Sie flüsterte Jipsey etwas zu. Die Stute wurde langsamer und wieherte laut, bis ihr Artgenosse sie wahrnahm. Das Pferd zitterte zwar, rührte sich aber nicht von der Stelle. Lady hätte gern mehr Licht gehabt, um besser sehen zu können. Schließlich wollte sie den Gesetzeshüter nicht treffen und so den Mördern die Arbeit abnehmen. Also zielte sie sorgfältig und drückte ab. Daneben. Sie bemühte sich, die Hände ruhig zu halten, holte tief Luft und schoss noch einmal. Der zweite Schuss durchtrennte das angespannte Seil. Der Deputy, die Schlinge noch um den Hals und die Hände auf dem Rücken gefesselt, sackte nach vorne. Allerdings war er geschickt genug, im Sattel zu bleiben und sein Pferd zum Galopp anzutreiben. Lady packte seine Zügel und wendete Jipsey durch ein Zusammendrücken der Knie. Gemeinsam preschten sie, gefolgt von Schreien und Schüssen, die Straße hinunter. Lady duckte sich tief in den Sattel, um so wenig Zielfläche wie möglich abzugeben. Dabei betete sie, dass der Deputy kräftig genug war, um nicht aus dem Sattel zu kippen. Leider war das helle Fell seines Pferdes nicht zu übersehen. Sie konnte also nur hoffen, dass die Verfolger zu betrunken waren, um richtig zu zielen, auch wenn sie sich normalerweise nicht auf ihr Glück verließ. Nicht weit von hier, am Nordufer des Red River, wartete die Rettung. Während Bend hinter ihnen zurückblieb, hielt Lady die Zügel des anderen Pferdes fest umklammert und trieb ihre Stute zur Höchstgeschwindigkeit an, fest entschlossen, einen möglichst großen Vorsprung zu gewinnen, nur für den Fall, dass die Mörderbande ihnen nachreiten sollte. Jetzt stellte sich bloß noch die Frage, was sie mit dem Deputy anfangen sollte. Er war kein Bandit, sondern ein Vertreter des Gesetzes, weshalb er vom Regen in die Traufe kommen würde, wenn sie ihn in eines der üblichen Verstecke brächte. Außerdem durfte er nichts von der Existenz dieser Unterschlüpfe erfahren. Sonst würde er womöglich später wiederkommen und genau die Banditen verhaften, die sie brauchte, um sie zu Copper zu führen. Allerdings blieb ihr nicht viel anderes übrig, denn wenn die Verfolger sie erwischten, würde sie neben dem Ordnungshüter am Galgen baumeln. Eine mordlüsterne Lynchmeute würde sie ohne Schminke und Satinkleid womöglich nicht als Lady erkennen und vermutlich erst bemerken, dass sie eine Frau vor sich hatten, wenn es längst zu spät war. Wäre sie nur nicht so übermütig gewesen. Dann hätte sie einfach ihr Lied zu Ende gesungen und wäre durch die Hintertür verschwunden, ohne ihn zur Rede zu stellen. Und nun musste sie ausgerechnet den Mann retten, der sie hinter Gitter bringen wollte. Sie bog in einen Geheimpfad der Banditen ein, der sie in bekanntes Gebiet führen würde. An einem Busch unweit der steilen Ufer des Red River wurde Jipsey langsamer und umrundete eine Kurve, hinter der sie außer Sichtweite waren. Lady zügelte die Pferde und sprang aus dem Sattel. Während der Morgen bereits fahlgrau dämmerte, hastete sie, mit einem Zweig bewaffnet, den Pfad zurück, wo sie innehielt und nach Verfolgern horchte. Nichts. Rasch und rückwärts gehend verwischte sie mit dem Laub die Hufspuren, bis sie wieder im sicheren Gebüsch angelangt war. Am helllichten Tag hätte sie keinen guten Spurensucher damit täuschen können, doch vielleicht würden sie so zumindest ein wenig Zeit gewinnen. Der Deputy sah ziemlich mitgenommen aus: kein Hut, aufgeplatzte Lippen und eine blutige Nase. Die Banditen hatten ihn ordentlich in die Mangel genommen. Trotzdem hielt er sich, mit letzter Kraft und fest entschlossen, im Sattel. Sie tätschelte ihm beruhigend das Knie. Als sich seine Muskeln daraufhin verspannten, lief ihr ein heißer Schauer über den Rücken. Nur ungern nahm sie die Hand wieder weg. So zerschlagen er auch sein mochte, rief sein Anblick noch immer Bilder von brünstigen Hengsten und Stuten in ihr wach. Wie gerne wäre sie ihm als wirkliche Dame begegnet. Doch unter den gegebenen Umständen durften sich ihre Wege nie wieder kreuzen. »Danke, Fremder«, sagte er. Seine Stimme war ein rauer Bariton. Ruckartig zog sie die Hand weg und schalt sich für ihre eigene Schwäche. Auch wenn sie ihn noch so anziehend fand, konnte sie keine zusätzlichen Komplikationen gebrauchen. Niemals durfte er erfahren, dass sie die Lady mit dem Colt war. Und deshalb musste sie sich von ihm fernhalten. »Schlinge runter.« Er beugte sich vor. Sie mühte sich mit dem derben Strick ab und versuchte, den Knoten zu lösen, aber vergeblich. Gleichzeitig spitzte sie die Ohren, ob sich womöglich die Lynchmeute näherte. Während sie heftiger an dem Strick zerrte, klammerte er sich mit den Knien fest, was sicherlich nicht einfach war. »Beeil dich«, drängte er. »Das Ding rührt sich nicht«, erwiderte sie leise und mit verstellter Stimme. Sie gab es auf und ließ die Hände sinken. Eigentlich hätte sie ihr Messer benutzen sollen, doch die Zeit reichte nicht. »Der Schlüssel zu den Handschellen?« »Den haben sie mir abgenommen.« Seufzend warf sie einen Blick in die Richtung, wo Bend lag. »Aufschießen geht nicht. Zu laut.« »Ich kann reiten.« Als sie wieder sein Knie tätschelte, spürte sie, dass es feucht und klebrig war. »Du blutest.«
»Macht nichts.« »Tut es doch. Wenn du umkippst, fällst du vom Pferd.« Da es ihr nicht gelang, Schlinge und Handschellen zu entfernen, musste sie einen anderen Weg finden, damit er im Sattel blieb und es wohlbehalten über den Red River schaffte. Also würde sie zuerst seine Wunde verbinden, damit er nicht zu viel Blut verlor. Als sie sich Jipsey näherte, hörte sie in ihrem Kopf - einmal, zweimal, dreimal - das drängende Wiehern eines Pferdes. Sie stolperte, und ein Schauder überlief sie. Epona, ihr Totempferd, erteilte ihr eine Warnung, die außer ihr niemand hören konnte. Genauso war sie an dem Morgen geweckt worden, als ihre Eltern gestorben waren. Es drohte Gefahr. Im nächsten Moment war am Anfang des Pfades das Klirren von Zaumzeug zu hören. Ein Geräusch, das es wirklich gab. Keine Zeit zu verlieren. Sie zerrte ihr Lasso von Jipseys Sattel, hastete zu dem Deputy hinüber und band ihn an seinem Pferd fest. »Ganz ruhig. Ich hole uns hier raus.« Sie sprang in den Sattel, zerrte an den Zügeln seines Pferdes und trieb Jipsey zur Eile an. Die Fähre von Delaware Jim kam ebenso wenig in Frage wie die schmale Furt in der Biegung des Red River. Sie würde den gefährlichen Landweg nach Osten nehmen und Ausschau nach einer Stelle halten müssen, um den Fluss trotz der trügerischen Sandbänke zu überqueren. Nur so würden sie der mordlüsternen Meute entkommen.
4
Rafe fühlte sich wie ein für den Markt gefesseltes Huhn. Er wurde derart durchgerüttelt, dass er fast befürchtete, sich jeden Knochen im Leibe zu brechen. Ganz davon zu schweigen, dass er um seine Fähigkeit bangte, je wieder einer Dame eine Freude machen zu können. Oder sich selbst. Gleichzeitig kochte er derart vor Wut, dass er sich die Schuldige am liebsten sofort vorgeknöpft hätte. Aber zuerst einmal musste er überleben. Aus irgendeinem Grund war ein Junge ihm zur Hilfe gekommen. Ein echter Schlag ins Kontor. Eigentlich war er es doch, der andere Menschen rettete, nicht umgekehrt. Allerdings hatte er allen Grund, dankbar zu sein. Justice schien nichts abgekriegt zu haben. Rafe hoffte wirklich, dass die Meute seinem Wallach nichts angetan hatte, denn es hätte ihn sehr geschmerzt, Crystabelles Geschenk zu verlieren. Das Pferd war von Unbekannten mit einem Zettel vor dem Gerichtsgebäude in Fort Smith zurückgelassen worden. Falls es sich dabei um einen Scherz nach Banditenart handelte, konnte er nicht darüber lachen. Vielleicht aber war Justice ja auch ein Zeichen, das ihm mitteilen sollte, dass seine Schwester noch lebte. Rafe rutschte im Sattel herum, damit seine Knie besseren Halt hatten. Die Schlinge lastete wie ein Amboss auf Hals und Schultern. Die Handschellen schnitten in seine Handgelenke ein. Aus einigen Verletzungen tropfte Blut. Er war zwar mitgenommen, aber noch nicht außer Gefecht gesetzt. Rafe hatte schon genug Schlägereien hinter sich, um zu wissen, wie er seine Kraft und Körpergröße richtig einsetzen musste. Außerdem verschaffte ihm seine Schnelligkeit meist einen Vorteil. Doch damit, dass sie ihn lynchen wollten, hatte er nicht gerechnet. Er hatte geglaubt, sich den Weg aus dem Red River Saloon freiprügeln zu können und höchstens ein paar Blessuren davonzutragen. Dass man in Bend ein Exempel statuieren wollte, indem man Deputy U.S. Marshal Rafe Morgan aufknüpfte, hätte er in seinen kühnsten Träumen nicht gedacht. Man hatte ihm geraten, Verstärkung mitzunehmen. Aber es war kein Kollege verfügbar gewesen. Außerdem hatte man ihn gewarnt, dass Lady schlau wie ein Fuchs war. Doch er hatte das auf die leichte Schulter genommen, überzeugt, dass er mit einem kleinen Frauchen schon allein fertigwerden würde. Auch dass Bend angeblich ihr Revier war, hatte ihm nur ein Schmunzeln entlocken können. Nun wünschte er, er hätte den guten Rat nicht in den Wind geschlagen. Da die Sonne vom Himmel brannte, fühlte er sich, als würde sein Gehirn allmählich in Dörrfleisch verwandelt. Er streckte Knie und Oberschenkel so weit wie möglich, weil sie ihm allmählich taub wurden. Außerdem hatte er solchen Durst, dass er einen Fluss hätte austrinken können. Nur ein Gedanke hielt ihn aufrecht. Er würde die Lady mit dem Colt hinter Gitter bringen. Wenn sie weiter nach Osten ritten, würden sie irgendwann nach Paris kommen. Dort würde er sich an Bill Phillips, den U.S. Marshall für das östliche Texas, wenden. Falls die Lynchmeute sie nicht vorher erwischte. Was die Pferde anging, stand das Glück auf ihrer Seite. Er hatte ein gutes Tier, und der Junge ritt mühelos auf einem dunklen Rotfuchs, der einen schnellen und zähen Eindruck machte. Allerdings durfte er nicht außer Acht lassen, dass auch einiges gegen sie sprach. Seine Fesseln behinderten ihn. Und falls der Junge ebenfalls ein Bandit war, wollte er vielleicht einen Deputy in seiner Schuld wissen. Eine andere Möglichkeit war, dass er ihn einer anderen Bande ans Messer lieferte. Doch im Moment blieb Rafe nichts anderes übrig, als ihm zu vertrauen und auf das Beste zu hoffen. Er blickte sich um. Die Meute gab offenbar nicht auf, denn er konnte feststellen, dass sich die Staubwolke, die sie aufwirbelte, stetig näherte. So würden sie niemals wohlbehalten einen Unterschlupf erreichen. Wenn er nur Schlinge und Handschellen losgeworden wäre, hätte er Justice lenken und schneller reiten können. »Hallo«, rief er mit vor Durst heiserer Stimme. »Halt an und befrei mich.« »Da vorne ist eine Höhle.« Der Junge wies auf einen Felsen. »Dort können wir uns verstecken.« Die Erleichterung durchströmte ihn wie ein Fluss und spülte die bis jetzt unterdrückten Schmerzen an die Oberfläche. Ihm tat jeder Knochen im Leibe weh. Er musste wirklich so schnell wie möglich aus dem Sattel. Kurz darauf führte der Junge die Pferde aus dem hellen Sonnenlicht in eine kleine, dunkle Höhle, stieg ab und band das Lasso los. »Danke«, stieß Rafe mühsam hervor. Als er vorsichtig vom Pferd rutschte, gaben ihm die Knie nach, sodass er unsanft auf dem Hintern landete. »Mach mich schnell los.« »Wird erledigt.« Der Junge bearbeitete wieder die Schlinge. Rafe zwang sich, still zu halten, obwohl er den Strick am liebsten mit den Zähnen durchgerissen hätte. Er spürte, wie die behandschuhte Hand des Jungen ihm auf die Schulter tippte. »Ich muss es durchschneiden.« »Dann tu es.« Ungeduldig wartete er ab, wohl wissend, dass die Verfolger unerbittlich näherrückten. Er konnte einen Blick auf ein scharfes Messer erhaschen und fühlte dann, wie damit an dem Strick herumgesäbelt wurde. Es tat höllisch weh, doch das kümmerte ihn nicht. Als das Messer endlich die harten Fasern durchtrennte, ritzte die Klinge seine ohnehin schon wund gescheuerte Haut. Aber auch das war ihm gleichgültig. Es zählte nur die Erleichterung, als ihm die Schlinge endlich über den Kopf gezogen wurde und auf dem Boden landete. Rafe atmete tief durch und lockerte seine Halsmuskeln. »Jetzt die Handschellen.« Der Junge holte ein Päckchen aus der Satteltasche, kauerte sich neben Rafe und entfaltete einen blauen Stoffbeutel. Er war in einzelne Fächer unterteilt ; in jedem steckte ein anderes Einbruchswerkzeug. Rafe sah zu, wie eine behandschuhte Hand einen Dietrich auswählte. Der Junge hatte lange Finger und schlanke Handgelenke. Nach einigen geschickten Bewegungen öffnete sich das Schloss mit einem Klicken. Rafe riss sich die Handschellen ab, warf sie hin und rieb sich die wunden, geschwollenen Handgelenke, um den Blutkreislauf anzuregen. Rasch packte der Junge die Dietriche zusammen, verstaute sie wieder in der Satteltasche und kehrte mit einer Feldflasche zurück. Rafe goss sich Wasser übers Gesicht, trank einige große Schlucke und seufzte zufrieden. Dann befeuchtete er sein Halstuch und band es sich um, damit seine gerötete Haut nicht so brannte. »Am besten verschwinden wir jetzt«, sagte der Junge und wies auf die Pferde. »Danke«, erwiderte Rafe. Er hielt ihm die Hand hin. »Ich heiße Rafe«, stellte er sich vor. Etwas an dem Jungen kam ihm bekannt vor, doch das Licht war zu schlecht, um viel zu sehen, und außerdem hatte der Junge den Hut tief in die Stirn gezogen. »Rafe Morgan.« Der Junge drehte Rafes Hand um und legte ein paar Maisfladen und Dörrfleisch hinein. »Ich kann dein Essen nicht annehmen. Schlimm genug, dass ich dein Wasser getrunken habe. Könnte gefährlich für dich werden.« »Iss es beim Reiten.« Der Junge griff nach der Feldflasche und steuerte auf sein Pferd zu. Er sah aus, als hätte er die Sachen seines großen Bruders an. »Danke, ich zahle es dir zurück.«
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2013 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Sie kennt keine Gnade, sie kennt kein Gesetz, die Lady mit dem Colt.« Deputy U.S. Marshal Rafe Morgan saß an einem zerschrammten Tisch. Sein Whiskeyglas setzte allmählich Staub an, während er der nah und fern bekannten Sängerin lauschte, die einfach nur als »Lady« angekündigt worden war. Sie war eine atemberaubende Schönheit, eine Herzensbrecherin. Und ihr Name stand ganz oben auf seiner Fahndungsliste. Ladys samtweiche Stimme weckte geheime Sehnsüchte, spielte, lockte und verhieß die Erfüllung aller Träume im silbernen Mondschein. Auf ihrer Gitarre zupfend, stand sie da und schlug ihre Zuhörer in ihren Bann. Als sie mit einem koketten Lächeln den Fuß auf die Sprosse des Stuhls neben sich stellte, kamen weiße Spitzenunterröcke und wohlgeformte Beine in schwarzen Netzstrümpfen in Sicht. Rafe schüttelte den Kopf, fest entschlossen, sich nicht von ihrem Zauber einwickeln zu lassen. Dennoch fühlte er sich wie jeder andere gesunde Mann im Saloon : eher wie ein Sünder als wie ein Heiliger. Das scharlachrote Kleid betonte ihr rotbraunes Haar und die goldene Haut und schmiegte sich aufreizend an ihre kurvenreiche Figur. Es wurde gemunkelt, dass sie Indianerblut in den Adern hatte, vielleicht die Erklärung dafür, warum es ihr immer wieder gelang zu entwischen. In ihren großen Augen konnte ein Mann versinken. Den Verstand verlieren und auch sonst alles, was er besaß. Viele Männer wären bereit gewesen, diesen Preis zu bezahlen. Rafe war keiner von ihnen. Denn Rafe hatte einen Haftbefehl in der Tasche, auf dem Ladys Name stand. Richter Parker und Marshal Boles, zuständig für das westliche Arkansas, zu dem auch das Indian Territory gehörte, forderten Ladys Ergreifung. Tot oder lebendig. Er hatte sie bis nach Bend verfolgt, eine Stadt am Ufer des Red River, das Texas zugeordnet wurde. Es war ein gefährliches Pflaster, denn es wimmelte von zwielichtigen Gestalten, die sich hier ihr eigenes kleines Paradies eingerichtet hatten, um nach Herzenslust dem Glücksspiel, dem Whiskey und dem Lotterleben zu frönen. Sollte ein Texas Ranger dennoch die Kühnheit besitzen, sich hier zu zeigen, flüchteten die Banditen sich einfach nach Norden auf die andere Seite des Red River, wo indianisches Recht ausschließlich für Indianer galt, während die Marshals sich an das Bundesgesetz halten mussten. Obwohl Rafe und seine Mitstreiter ihr Bestes gaben, drehten die Desperados ihnen immer wieder eine lange Nase. Berauscht von Alkohol und Begierde, stampften die Cowboys, Revolverhelden und Banditen mit den Füßen, forderten laut johlend eine Zugabe und grölten den Refrain der »Ballade von der Lady mit dem Colt« mit. Sie sangen zwar schrecklich falsch und konnten auch den Takt nicht halten, doch ihre Begeisterung brachte die Deckenbalken zum Erbeben. Die Darbietung von Lady war so fesselnd, dass keiner der Männer ein Auge für den berühmten Tresen des Red River Saloon hatte, während sie sang. Das war an sich schon eine ziemliche Leistung, wenn man bedachte, dass in das Mahagoni nackte Tänzerinnen eingeschnitzt waren. Zwar konnten die Gäste ihre Gläser nicht abstellen, ohne dass diese kippelten, doch dafür verbrachten viele von ihnen ihre Zeit damit, mit der einen Hand ihren Drink festzuhalten, während sie mit der anderen das Werk des in Nöte geratenen Künstlers von der Ostküste liebkosten, der seine Talente einst hier gegen Whiskey eingetauscht hatte. Die spannendsten Stellen glänzten bereits abgewetzt. Rafe wusste die künstlerische Arbeit zwar zu schätzen, doch sie konnte mit der leibhaftigen Schönheit auf der Bühne nicht mithalten.
Lady schürzte die aufreizend rot geschminkten Lippen und ließ den Blick durch den Saloon schweifen, während sie mit verführerischer Stimme weitersang. Sie rücken nur ungern die Pferde raus Und trennen sich weinend vom Gold Doch hier am Red River regiert nunmal Die Lady mit dem Colt Rafe kippte seinen Whiskey hinunter und bedauerte, dass das Getränk nicht so kalt war wie ein Fluss im Winter. Außerdem änderte der Whiskey leider auch nichts an der lodernden Begierde nach Lady, die in ihm brannte. Diese Frau neckte und quälte die Männer und schürte die Flamme in ihnen, tat aber nichts, um sie von ihren Leiden zu erlösen. Niemand wusste, wie sie wirklich hieß oder woher sie kam. Doch welche Schwierigkeiten konnte ein kleines Frauchen ihm schon machen? Bend war für Gesetzeshüter kein Zuckerschlecken, und Rafe hatte hier eigentlich keine Vollmachten, aber das kümmerte ihn nicht. Er wollte sie unbedingt festnehmen. Und er hatte auch schon einen Plan. Es war zwar nicht unbedingt ein ausgeklügelter Plan, was er allerdings auch für überflüssig hielt. Er würde Lady auf einen Drink einladen, sie nach draußen locken und ihr Handschellen anlegen. Und dann würde er sie zu Pferde ins Indian Territory und von dort aus nach Fort Smith bringen. Falls Lady ihm keine zu großen Schwierigkeiten bereitete, würde er sich unterwegs Zeit lassen und sie nach seiner Schwester Crystabelle fragen. Sie war von Banditen aus einem Zug der Bahngesellschaft Katy Railroad entführt worden, und er wusste nicht, ob sie noch lebte, auch wenn er die Hoffnung nicht aufgab. Obwohl er über die besten Kundschafter und Spurenleser verfügte, war Crystabelle wie vom Erdboden verschluckt. Da sie sehr zart war, machte er sich große Sorgen um sie.
Während er wartete, betrachtete er die anderen Gäste. An einem Tisch und mit dem Rücken zur Wand saß ein hünenhafter Mann, unter dessen schwarzem Hut eine lange silberne Haarmähne hervorquoll. Zwei schmaler gebaute Männer, der eine mit blondem Bart, der andere mit glattem schwarzen Haar, hatten links und rechts von ihm Platz genommen. Die drei sahen aus wie die Sorte von Leuten, denen ein Deputy seinen Arbeitsplatz verdankte. Als Rafe sich wieder zu Lady umdrehte, stellte diese gerade die Gitarre weg und schlenderte durchs Publikum, um ihren Zuschauern eine Kostprobe dessen zu geben, wie es wohl wäre, ihr nahe kommen zu dürfen. Auf ihrem Weg durch den Raum tätschelte sie hier einen kahlen Schädel, zauste dort einen buschigen Bart und hauchte dem Dritten einen Kuss auf die Wange. Ihr folgte ein leises Stöhnen, das mehr nach Tier als nach Mensch klang. Schließlich hatte sie Rafe erreicht und beugte sich vor, sodass der Ansatz ihrer Brüste im Ausschnitt des Kleides zu sehen war. »Lädst du eine Dame auf einen Drink ein?« Er nickte, wobei er ihr entschlossen in die Augen schaute, um sich nur nicht von den Verlockungen eine Etage tiefer aus dem Konzept bringen zu lassen. Lady hatte ungewöhnliche dreifarbige Augen, braun in der Mitte, mit einem hellgrünen und einem tannengrünen Ring darum. Sie erinnerten ihn an Murmeln. Vermutlich bezauberte sie mit diesen Katzenaugen die Männer. Aber nicht ihn. Er war nicht so ein Weichling. Rafe nahm die Whiskeyflasche vom Tisch und schenkte das zweite Glas voll, das da stand. Dann schob er mit dem Fuß den Stuhl neben sich nach vorne und senkte die rechte Hand zu dem Colt .45 Peacemaker an seiner Hüfte. Er war auf alles gefasst. »Neu in der Stadt?« Als sie lächelte, bogen sich die rubinroten Lippen leicht nach oben. Drink und Stuhl würdigte sie keines Blickes. »Auf der Durchreise.« Sie beugte sich vor und ließ spielerisch die Fingerspitzen über seine Brust spazieren. Ihm stockte der Atem. Es war zwar nicht leicht, aber es gelang ihm, die Ruhe zu bewahren. Sie roch süß und frisch wie eine Mischung aus Geißblatt und Zitrone. Nichts wünschte er sich sehnlicher, als den Kopf an diesen üppigen Busen zu schmiegen. Dicht unterhalb des rechten Mundwinkels hatte sie einen Schönheitsfleck. Er wollte diese dunkle Stelle küssen, an ihren Lippen saugen und ihren ganzen Körper besitzen. Er hielt sich vor Augen, dass er im Dienst war. »Ich begrüße Neuankömmlinge stets auf meine ganz besondere Weise.« Sie legte ihm beide Handflächen auf die Brust und schob sie über die Lederweste bis zu den Schultern hinauf. »So, dass sie es nie wieder vergessen.« Mit einer plötzlichen Bewegung schlug sie die linke Seite seiner Weste zurück, unter der er seine Dienstmarke versteckt hatte. Verdammt, er hätte sie in der Satteltasche lassen sollen. Doch eigentlich spielte es keine Rolle. Er würde diese Frau festnehmen, koste es, was es wolle. Sie seufzte auf und verzog die roten Lippen zu einem Schmollmund. »Hab ich mir doch gleich gedacht, dass du ein Deputy bist, aber gehofft, dass ich mich irre.« Sie zog die Handschellen aus seiner Westentasche. Wieder überrumpelt, griff er danach, aber sie duckte sich geschickt wie eine Katze und ging auf Abstand. Dann wandte Lady sich an die Anwesenden. »Meine Herren ! Wir haben heute einen Vertreter von Recht und Gesetz bei uns zu Gast.« Die Banditen trampelten, johlten, zischten und buhten. Rafe machte sich auf einiges gefasst. Allerdings war er schon aus schlimmeren Zwickmühlen heil herausgekommen. Jetzt musste er sich nur etwas einfallen lassen, damit sich die Situation nicht zuspitzte. Lady schwenkte die Handschellen über dem Kopf und klapperte rhythmisch damit. Als sie auf ihr Publikum wies, hallten raue Männerstimmen durch den Saloon. »Sie kennt keine Gnade, sie kennt kein Gesetz, die Lady mit dem Colt.« Lady warf lachend den Kopf in den Nacken, wirbelte einmal um die eigene Achse und klimperte dabei weiter mit den Handschellen. Am liebsten hätte Rafe sie gepackt, geschüttelt und dann in sein Bett geschleppt. Doch er durfte sich nicht von ihr vorführen lassen. »Schätzchen«, sagte er gedehnt. »Soll ich dir zeigen, wozu diese Handschellen gut sind?« Sie drehte sich zu ihm um. Ihre Katzenaugen funkelten aufgeregt, und sie zog eine Augenbraue hoch. »Willst du spielen, Deputy?« Sie war so frech, wie es nur eine Frau sein konnte, die auf die schiefe Bahn geraten war. Außerdem setzte sie sich in seinen Gedanken fest, als wolle sie darin Wurzeln schlagen. Mühsam riss er sich aus ihrem Bann. Sie war nur ein kleines Frauchen und vom rechten Wege abgekommen. »In meinem Hotelzimmer habe ich ein Eisenbett.« »Wirklich?« Sie kam näher und hielt sich die Handschellen an die wogenden Brüste. »Erzähl mir mehr.« »Gib sie mir zurück. Dann können wir ausprobieren, wie gut sie sich an meinem Bettpfosten machen.« »Du hast wohl eine ziemlich hohe Meinung von dir, was?« Sie wandte sich wieder an die anderen und schüttelte die Handschellen. »Gentlemen! Wie gehen wir in Bend mit Gesetzeshütern um?« Zorniges Geschrei erfüllte den Saloon. So sehr Rafe sich auch zwang, sich auf seine missliche Lage zu konzentrieren, sein Körper wollte einfach nicht gehorchen. Als er die Banditen musterte, die sich an den Tischen drängten, wurde ihm ziemlich mulmig. Es sah übel für ihn aus. Er musste jetzt etwas unternehmen. Also stand er auf und behielt dabei die Männer im Auge. Blitzschnell schloss Lady eine der Handschellen um sein linkes Handgelenk. Als er sie packen wollte, wich sie ihm aus und befestigte die andere Handschelle an der Sprosse seines Stuhls. Dann trat sie triumphierend zurück. Die Anwesenden lachten brüllend. Rafe hatte zwar gehört, wozu sie fähig war, sie aber offenbar unterschätzt. Hinzu kam, dass er sich von ihr das Gehirn hatte vernebeln lassen. Natürlich hätte er den Stuhl auf dem Tisch zerschmettern und sich auf diese Weise rasch befreien können. Aber sie hatte ihn in seinem Stolz verletzt. Also setzte er sich wieder, lehnte sich lässig zurück und versuchte, trotz seines Herzklopfens einen ruhigen Eindruck zu erwecken. Überrascht neigte sie den Kopf zur Seite. Mit der freien Hand klopfte er auf sein Bein. »Komm, setz dich, und dann reden wir darüber, wie wir am besten den Schlüssel zu den Handschellen finden.« Sie schüttelte den Kopf. Ein Lächeln spielte um ihre Lippen. »Du bist anscheinend ein Deputy, dem man einen Lektion erteilen muss.« »Und du glaubst, dass du die richtige Frau dafür bist?« Er berührte seine Westentasche, jederzeit bereit, falls einer der Männer Anstalten machen sollte, sich auf ihn zu stürzen. Sie seufzte theatralisch auf. »Sieht aus, als würde diese Aufgabe an mir hängenbleiben.« Er klopfte wieder auf sein Bein. »Ich könnte bei der Schlüsselsuche Hilfe gebrauchen.« »Du weißt anscheinend wirklich nicht, wann Schluss ist.« Mit wehendem scharlachroten Rock drehte sie sich zu den Männern um. »Gentlemen, er gehört euch.« Rafe blickte ihrem hübschen Hinterteil nach, das sich rasch entfernte. Sie hatte alle Trümpfe in der Hand. Er konnte sie nicht verfolgen, nicht, solange eine Horde angriffslustiger Männer im Raum war. Also stand er auf und steckte den Schlüssel aus seiner Westentasche geschickt ins Schloss der Handschellen. Ein riesenhafter Kerl, dem der Bart bis zum Gürtel reichte, erhob sich, vom Alkohol kühn geworden. Ein anderer zerbrach eine Whiskeyflasche an der Tischkante. Auch die drei Halunken, die ihm schon vorhin aufgefallen waren, kamen auf ihn zu. Wenn sie etwas erleben wollten, na gut. Jedenfalls würde er sich nicht kampflos geschlagen geben. Er befreite seine Hand mit einem satten Klicken. Dann griff er nach dem Peacemaker.
2
»Ich stecke in Schwierigkeiten!«, rief Lady. Sie stürmte in Mannys Mietstall und warf die Kapuze ihres dunkelgrünen Umhangs zurück. Bald würde der Morgen grauen. Wenn sie sich im Schutze der Dunkelheit davonmachen wollte, musste sie sich beeilen. »Wann steckst du einmal nicht in Schwierigkeiten?« Manny, der gerade ein Pferd fütterte, drehte sich um. »Ich musste einem miesen Deputy eine Lektion erteilen.« »Und hat er sie gern gelernt?« »Nicht wirklich.« Kopfschüttelnd spuckte Manny einen Schwall Kautabak in Richtung des Spucknapfs in der Ecke und hinkte auf sie zu. Er trug eine ausgewaschene Jeans und ein rot kariertes Hemd. »Wie schnell musst du verschwinden?« »Sehr schnell.« »Willst du Jipsey nehmen?« Er kratzte sich den grauen Bart und fuhr sich mit den Fingern durch das zerzauste Haar mit den silbrigen Strähnen. »Bitte. Ich muss mich auch umziehen.« »Du meinst, als Junge verkleiden.« »Ich tue, was nötig ist.« »Du kannst die Toten nicht ruhen lassen, was?« Eine Hand an der Leiter zum Heuboden, hielt sie inne und sah ihn an. »Copper und Jipsey sind alles, was ich noch von Ma und Dad habe.« »Gute Pferde.« »Die besten! Dad dachte, dass kein Hengst, den er je gezüchtet hatte, Copper das Wasser reichen kann. Wenn ich ihn nicht bald finde, wird er zu lahmen anfangen.« »Du findest ihn schon, bevor ihm jemand den Gnadenschuss gibt.« »Hoffentlich.« Tränen traten ihr in die Augen. Sie blinzelte heftig, um sie zurückzudrängen. »Weinst du etwa?«, fragte er verdattert. »Nein, ich bin nur wütend.« »Du sollst nicht wütend sein, sondern dich rächen.« Manny griff nach Sattel und Zaumzeug. »Damit deine Wünsche Wirklichkeit werden.« »Wenn Wünsche Pferde wären.« Sie seufzte. »Dann hätte ich eine ganze Herde.« »Mit Copper und Jipsey hast du einen Grundstock zur Zucht, der alle anderen Pferde alt aussehen lassen wird.« »Dazu muss ich Copper erst mal fi nden.« Die Gitarre um die Schulter, kletterte Lady die Leiter hinauf, so schnell es ihre Röcke gestatten, und atmete in tiefen Zügen den beruhigenden, süßen Geruch des Heus ein. Ihr gemütliches Nest war hinter strategisch gestapelten Heuballen versteckt. Eine dicke Plane aus Segeltuch bedeckte den rauen Holzboden, und eine Steppdecke und ein Kopfkissen sorgten für Wärme und Bequemlichkeit. Ein kleiner Spiegel, eine Waschschüssel mit Krug, ein Handtuch, eine Öllampe und eine Truhe für ihre Habe waren alles, was sie brauchte, um in Bend zu überleben. Vorsichtig legte sie ihre Gitarre in ihren Koffer und stellte sie weg. Mit sechzehn hatte sie ein ganzes Jahr lang gespart, um sich das wundervolle Instrument leisten zu können. Inzwischen war sie siebenundzwanzig und ließ die Gitarre in Mannys Obhut, wenn sie unterwegs war. Während sie das Satinkleid auszog, in dem sie sich nie so richtig wohlfühlte, dachte sie an den erstaunten Gesichtsausdruck des gut aussehenden Deputys. Gesetzeshüter hielten Frauen in Satinkleidern offenbar für Dummerchen. Doch obwohl sie sich gern auf diesen Umstand verließ, war sie stets auf der Hut. Wer auf der falschen Seite des Gesetzes stand, musste wachsam sein. Die Gäste des Red River Saloon würden den Deputy schon aus der Stadt jagen. Sie wünschte, sie hätte Gelegenheit gehabt, sich noch ein wenig mit ihm zu amüsieren. Er hatte sie an einen starken Hengst erinnert, und sie hatte eine Schwäche für gute Pferde. Groß, breite Schultern, schmale Hüften, lange Beine. Er bewegte sich mit der Anmut eines wilden Tieres. Bekleidet war er mit einem blauen Hemd, einer schwarzen Lederweste und einer dunklen Hose gewesen, die in schwarzen kniehohen Militärstiefeln steckte. Das dunkle Haar war lang und mit einem Lederriemen zusammengebunden. Dazu ein glatt rasiertes Gesicht, sonnengebräunte Haut, hohe Wangenknochen und volle Lippen. Doch am faszinierendsten waren seine Augen: ein tiefes Rauchgrau. Eindeutig ein Mann, der das Blut einer Frau in Wallung brachte. Was vermutlich auch der Grund war, warum sie der Versuchung nicht hatte widerstehen können, ihn zu berühren und ihn ein wenig zu hänseln. Schmunzelnd dachte sie an seine Handschellen. Ihr gefiel es, wenn ein Mann den Mumm hatte, sie amüsant und nicht etwa einschüchternd zu finden. Ein Jammer nur, dass er sie hinter Gitter bringen wollte. Sie entledigte sich ihres Korsetts und der anderen Wäschestücke, die Männer so begeisterten. Nachdem sie die zarten Stoffe vorsichtig zusammengefaltet hatte, verstaute sie sie für ihren nächsten Auftritt als Lady wieder im Koffer. Um ihre Kurven zu tarnen, drückte sie ihre Brüste mit einem Stoffstreifen platt und zog ein weites grün kariertes Hemd, eine zeltartige schwarze Weste und eine zu große Jeans an. Die Füße steckte sie in teure Cowboystiefel, ihr einziges Zugeständnis an die Eitelkeit. Dann band sie sich ein Halstuch mit dem Zipfel nach vorne um, damit man ihre Kehle nicht sah, und zog es bis über die Nase, steckte ihr langes, dickes Haar hoch und stülpte einen breitkrempigen Hut darüber. Zu guter Letzt schlüpfte sie in Lederhandschuhe, um ihre Hände zu schützen und zu tarnen. Wenn man nicht zu genau hinschaute, konnte sie als Junge durchgehen. Eine Verkleidung. Ihr ganzes Leben war nichts als Theater. Satin und Jeans. Die Saloonsängerin und der halbwüchsige Junge, der reiten konnte wie der Wind. Manchmal fragte sie sich, wer sie unter den vielen Lügen wirklich war. Doch sie durfte nicht darüber nachgrübeln. Und nun würde sie sich wieder in Gefahr begeben. Zum Glück hatte Dad ihr den Umgang mit Waffen beigebracht. Rasch schnallte sie den Revolvergurt um, vergewisserte sich, dass sein kostbarer Colt Kaliber .44 mit dem Perlmuttgriff auch geladen war, steckte ihn ins Halfter und rückte ihn zurecht, bis das Gewicht richtig saß. Jetzt war sie zu allem bereit. Während sie nach unten hastete, versuchte sie, sich nur auf die Herausforderung zu konzentrieren, die ihr bevorstand. Manny hatte Jipsey bereits gesattelt. Es konnte losgehen. »Danke.« Zärtlich streichelte sie das lang gezogene Gesicht des Rotfuchses und trat zurück, um sein dunkelrotes Fell zu bewundern. Der linke Vordermittelfuß vorne und die Fesseln rechts vorne und links hinten waren weiß. Eine gute Tarnfarbe. Lady griff nach dem Zügel und schwang sich elegant in den Sattel. »Die Feldflasche ist voll. Maisfladen und Dörrfleisch sind in der Satteltasche.« Sie beugte sich hinunter und küsste Manny auf die raue Wange. »Was würde ich nur ohne dich machen?« »Am Galgen baumeln.« »Sag so etwas nicht.« »Für dich ist ein Auftrag reingekommen.« »Jetzt?« »Ja. Die Hayes-Brüder treiben wieder ihr Unwesen.« »Ich dachte, die wären im Indian Territory.« »Jedenfalls waren sie lange genug in Texas, um auf Ma Engles Farm in der Nähe von Whitesborough zwei Apfelkuchen zu stehlen.« »Und sie glaubt nicht, dass sie sie gleich an Ort und Stelle verschlungen haben?« Manny kicherte. »Sie bäckt den besten Apfelkuchen im Red River Valley, das ist allgemein bekannt. Der Kirchenbasar naht. Also hat sie vermutlich Kuchen gebacken und sie zum Abkühlen auf die Veranda gestellt. Als sie aus der Scheune kam, hat sie gesehen, wie sie mit ihren Kuchen davongeritten sind.« »Und was will sie zurück haben? Die Äpfel?« »Natürlich nicht. Sie hat auch ihr Täschchen draußen liegen lassen. Die Jungs haben es sich geschnappt. Wahrscheinlich haben sie Geld darin vermutet.« »Und das will sie wiederhaben?« Manny legte eine Hand auf ihren Stiefel. »Die Sache ist, dass Ma den Totenschmuck ihrer Tochter in diesem Beutel aufbewahrt hat. Sie hat eine goldene Haarlocke des Kindes in eine Brosche in Blumenform gefl ochten. Die Brosche hat einzig und allein für sie einen Wert.« »Ein Jammer. Aber wahrscheinlich haben sie die Brosche inzwischen weggeworfen.« »Sie zahlt fünf Golddollar an die Brüder und zehn an dich, wenn du sie zurückholst.« »Das wären ja insgesamt fünfzehn Dollar, vermutlich ihr ganzes Vermögen.« Er nickte. »Sie hatte nur diese eine Tochter. Ein Schlangenbiss im letzten Sommer.« »Also wahrscheinlich wieder Arbeit, für die ich kein Geld annehmen kann.« »Sieht danach aus.« »Okay, ich halte die Augen nach den Hayes-Brüdern offen.« »Pass auf dich auf. Das Indian Territory wimmelt vor Banditen wie ein Hund vor Flöhen. Und die U.S. Marshals sind mit sich selbst beschäftigt.« Sie zog den Hut in die Stirn. »Bis auf den, den ich im Saloon zurückgelassen habe.« Manny kratzte sich am Bart. »Ordnungshüter haben es nicht gern, wenn man sie zum Narren hält.« »Ich werde vorsichtig sein.« Lady ritt auf Jipseys Rücken aus dem Stall in die Dunkelheit hinaus. Die Nacht war schwülheiß, und außerdem war es draußen ungewöhnlich hell. Der Geruch von Schnaps, Müll, Außentoiletten und Schweiß mischte sich in der Luft. Sie hörte Geschrei und Schüsse. Was führten die wilden Kerle von Bend wohl jetzt wieder im Schilde? Sie ließ ihre Stute die Seitengasse hinuntertraben und sah, wie zornige Männer aus dem Red River Saloon in die Main Street strömten. Ihr Gebrüll lockte die Gäste aus den übrigen Saloons herbei. Einige Männer standen auf der Straße und hielten Fackeln hoch, um die Umgebung zu beleuchten. Unter lautem Johlen schubste die Menschenmenge einen Deputy, ihren Deputy, die Straße hinunter. Er hatte die Hände auf dem Rücken gefesselt, wehrte sich gegen seine Peiniger und stemmte dabei die Absätze seiner Stiefel so tief in den Boden, dass Furchen entstanden. An einem hohen Baum angekommen, warf einer aus der mordlüsternen Horde ein Seil über einen tief hängenden Ast. Zwei Männer stülpten dem Polizisten eine Henkerschlinge über den Kopf. Er sträubte sich immer noch, als man ihn unsanft auf den Rücken eines Pferdes verfrachtete.
3
Wenn der Deputy starb, würde Lady sich ewig Vorwürfe machen. Sie hatte ihn doch nur aus der Stadt jagen und nicht gleich umbringen wollen. Offenbar hatte er die Gäste im Saloon gewaltig gegen sich aufgebracht. Hatte er denn nicht bemerkt, dass die Männer betrunken und auf Streit aus waren? Immerhin war Bend dafür berüchtigt, dass Recht und Gesetz hier nichts galten. Aber eigentlich spielte es keine Rolle, wie er an das falsche Ende eines Henkersstricks geraten war. Sie musste ihn retten, wenn sie ihrer stetig anwachsenden Liste nicht noch einen weiteren Grund für Schuldgefühle hinzufügen wollte. Sie stieß einen leisen Fluch aus und holte tief Luft. Da ihre Widersacher in der Überzahl und außerdem bewaffnet waren, musste sie sie überrumpeln, um überhaupt eine Chance zu haben, ihn zu befreien. Sie wendete Jipsey und ritt durch einige Seitengassen zum Ende der Main Street, wo sie im Schutze der Dunkelheit ihr Halstuch hochzog, um ihr Gesicht zu tarnen. Dann vergewisserte sie sich, dass ihr Gewehr lose im Lederhalfter am Sattel steckte. Zu guter Letzt beugte sie sich vor und flüsterte ihrer Stute etwas ins Ohr. Schnell wie der Blitz setzten sie sich in Bewegung. Als sie in halsbrecherischer Geschwindigkeit die Straße entlangpreschte, wirbelten die Hufe der Stute Schlamm und Abfälle auf. Lady riss die Winchester aus dem Halfter, zielte über die Köpfe der mordlüsternen Menge hinweg und feuerte einen Schuss in die Luft ab, um sie zu verscheuchen. Doch die Meute erstarrte nur vor Schreck, was nicht das gewünschte Ergebnis war. Erst als sie einigen der Männer die Hüte vom Kopf fegte, liefen sie los und suchten Deckung. Der Deputy saß auf einem honigfarbenen Pferd mit blondem Schwanz und blonder Mähne. Ein prachtvolles Tier. Wirklich beeindruckend. Allerdings keine gute Wahl für einen Gesetzeshüter, der eigentlich allen Grund hatte, sich bedeckt zu halten. Vielleicht war er ja ein Angeber. Jedenfalls musste sie sein tänzelndes Pferd beruhigen. Wenn es durchging, war es aus und vorbei mit ihm. Sie flüsterte Jipsey etwas zu. Die Stute wurde langsamer und wieherte laut, bis ihr Artgenosse sie wahrnahm. Das Pferd zitterte zwar, rührte sich aber nicht von der Stelle. Lady hätte gern mehr Licht gehabt, um besser sehen zu können. Schließlich wollte sie den Gesetzeshüter nicht treffen und so den Mördern die Arbeit abnehmen. Also zielte sie sorgfältig und drückte ab. Daneben. Sie bemühte sich, die Hände ruhig zu halten, holte tief Luft und schoss noch einmal. Der zweite Schuss durchtrennte das angespannte Seil. Der Deputy, die Schlinge noch um den Hals und die Hände auf dem Rücken gefesselt, sackte nach vorne. Allerdings war er geschickt genug, im Sattel zu bleiben und sein Pferd zum Galopp anzutreiben. Lady packte seine Zügel und wendete Jipsey durch ein Zusammendrücken der Knie. Gemeinsam preschten sie, gefolgt von Schreien und Schüssen, die Straße hinunter. Lady duckte sich tief in den Sattel, um so wenig Zielfläche wie möglich abzugeben. Dabei betete sie, dass der Deputy kräftig genug war, um nicht aus dem Sattel zu kippen. Leider war das helle Fell seines Pferdes nicht zu übersehen. Sie konnte also nur hoffen, dass die Verfolger zu betrunken waren, um richtig zu zielen, auch wenn sie sich normalerweise nicht auf ihr Glück verließ. Nicht weit von hier, am Nordufer des Red River, wartete die Rettung. Während Bend hinter ihnen zurückblieb, hielt Lady die Zügel des anderen Pferdes fest umklammert und trieb ihre Stute zur Höchstgeschwindigkeit an, fest entschlossen, einen möglichst großen Vorsprung zu gewinnen, nur für den Fall, dass die Mörderbande ihnen nachreiten sollte. Jetzt stellte sich bloß noch die Frage, was sie mit dem Deputy anfangen sollte. Er war kein Bandit, sondern ein Vertreter des Gesetzes, weshalb er vom Regen in die Traufe kommen würde, wenn sie ihn in eines der üblichen Verstecke brächte. Außerdem durfte er nichts von der Existenz dieser Unterschlüpfe erfahren. Sonst würde er womöglich später wiederkommen und genau die Banditen verhaften, die sie brauchte, um sie zu Copper zu führen. Allerdings blieb ihr nicht viel anderes übrig, denn wenn die Verfolger sie erwischten, würde sie neben dem Ordnungshüter am Galgen baumeln. Eine mordlüsterne Lynchmeute würde sie ohne Schminke und Satinkleid womöglich nicht als Lady erkennen und vermutlich erst bemerken, dass sie eine Frau vor sich hatten, wenn es längst zu spät war. Wäre sie nur nicht so übermütig gewesen. Dann hätte sie einfach ihr Lied zu Ende gesungen und wäre durch die Hintertür verschwunden, ohne ihn zur Rede zu stellen. Und nun musste sie ausgerechnet den Mann retten, der sie hinter Gitter bringen wollte. Sie bog in einen Geheimpfad der Banditen ein, der sie in bekanntes Gebiet führen würde. An einem Busch unweit der steilen Ufer des Red River wurde Jipsey langsamer und umrundete eine Kurve, hinter der sie außer Sichtweite waren. Lady zügelte die Pferde und sprang aus dem Sattel. Während der Morgen bereits fahlgrau dämmerte, hastete sie, mit einem Zweig bewaffnet, den Pfad zurück, wo sie innehielt und nach Verfolgern horchte. Nichts. Rasch und rückwärts gehend verwischte sie mit dem Laub die Hufspuren, bis sie wieder im sicheren Gebüsch angelangt war. Am helllichten Tag hätte sie keinen guten Spurensucher damit täuschen können, doch vielleicht würden sie so zumindest ein wenig Zeit gewinnen. Der Deputy sah ziemlich mitgenommen aus: kein Hut, aufgeplatzte Lippen und eine blutige Nase. Die Banditen hatten ihn ordentlich in die Mangel genommen. Trotzdem hielt er sich, mit letzter Kraft und fest entschlossen, im Sattel. Sie tätschelte ihm beruhigend das Knie. Als sich seine Muskeln daraufhin verspannten, lief ihr ein heißer Schauer über den Rücken. Nur ungern nahm sie die Hand wieder weg. So zerschlagen er auch sein mochte, rief sein Anblick noch immer Bilder von brünstigen Hengsten und Stuten in ihr wach. Wie gerne wäre sie ihm als wirkliche Dame begegnet. Doch unter den gegebenen Umständen durften sich ihre Wege nie wieder kreuzen. »Danke, Fremder«, sagte er. Seine Stimme war ein rauer Bariton. Ruckartig zog sie die Hand weg und schalt sich für ihre eigene Schwäche. Auch wenn sie ihn noch so anziehend fand, konnte sie keine zusätzlichen Komplikationen gebrauchen. Niemals durfte er erfahren, dass sie die Lady mit dem Colt war. Und deshalb musste sie sich von ihm fernhalten. »Schlinge runter.« Er beugte sich vor. Sie mühte sich mit dem derben Strick ab und versuchte, den Knoten zu lösen, aber vergeblich. Gleichzeitig spitzte sie die Ohren, ob sich womöglich die Lynchmeute näherte. Während sie heftiger an dem Strick zerrte, klammerte er sich mit den Knien fest, was sicherlich nicht einfach war. »Beeil dich«, drängte er. »Das Ding rührt sich nicht«, erwiderte sie leise und mit verstellter Stimme. Sie gab es auf und ließ die Hände sinken. Eigentlich hätte sie ihr Messer benutzen sollen, doch die Zeit reichte nicht. »Der Schlüssel zu den Handschellen?« »Den haben sie mir abgenommen.« Seufzend warf sie einen Blick in die Richtung, wo Bend lag. »Aufschießen geht nicht. Zu laut.« »Ich kann reiten.« Als sie wieder sein Knie tätschelte, spürte sie, dass es feucht und klebrig war. »Du blutest.«
»Macht nichts.« »Tut es doch. Wenn du umkippst, fällst du vom Pferd.« Da es ihr nicht gelang, Schlinge und Handschellen zu entfernen, musste sie einen anderen Weg finden, damit er im Sattel blieb und es wohlbehalten über den Red River schaffte. Also würde sie zuerst seine Wunde verbinden, damit er nicht zu viel Blut verlor. Als sie sich Jipsey näherte, hörte sie in ihrem Kopf - einmal, zweimal, dreimal - das drängende Wiehern eines Pferdes. Sie stolperte, und ein Schauder überlief sie. Epona, ihr Totempferd, erteilte ihr eine Warnung, die außer ihr niemand hören konnte. Genauso war sie an dem Morgen geweckt worden, als ihre Eltern gestorben waren. Es drohte Gefahr. Im nächsten Moment war am Anfang des Pfades das Klirren von Zaumzeug zu hören. Ein Geräusch, das es wirklich gab. Keine Zeit zu verlieren. Sie zerrte ihr Lasso von Jipseys Sattel, hastete zu dem Deputy hinüber und band ihn an seinem Pferd fest. »Ganz ruhig. Ich hole uns hier raus.« Sie sprang in den Sattel, zerrte an den Zügeln seines Pferdes und trieb Jipsey zur Eile an. Die Fähre von Delaware Jim kam ebenso wenig in Frage wie die schmale Furt in der Biegung des Red River. Sie würde den gefährlichen Landweg nach Osten nehmen und Ausschau nach einer Stelle halten müssen, um den Fluss trotz der trügerischen Sandbänke zu überqueren. Nur so würden sie der mordlüsternen Meute entkommen.
4
Rafe fühlte sich wie ein für den Markt gefesseltes Huhn. Er wurde derart durchgerüttelt, dass er fast befürchtete, sich jeden Knochen im Leibe zu brechen. Ganz davon zu schweigen, dass er um seine Fähigkeit bangte, je wieder einer Dame eine Freude machen zu können. Oder sich selbst. Gleichzeitig kochte er derart vor Wut, dass er sich die Schuldige am liebsten sofort vorgeknöpft hätte. Aber zuerst einmal musste er überleben. Aus irgendeinem Grund war ein Junge ihm zur Hilfe gekommen. Ein echter Schlag ins Kontor. Eigentlich war er es doch, der andere Menschen rettete, nicht umgekehrt. Allerdings hatte er allen Grund, dankbar zu sein. Justice schien nichts abgekriegt zu haben. Rafe hoffte wirklich, dass die Meute seinem Wallach nichts angetan hatte, denn es hätte ihn sehr geschmerzt, Crystabelles Geschenk zu verlieren. Das Pferd war von Unbekannten mit einem Zettel vor dem Gerichtsgebäude in Fort Smith zurückgelassen worden. Falls es sich dabei um einen Scherz nach Banditenart handelte, konnte er nicht darüber lachen. Vielleicht aber war Justice ja auch ein Zeichen, das ihm mitteilen sollte, dass seine Schwester noch lebte. Rafe rutschte im Sattel herum, damit seine Knie besseren Halt hatten. Die Schlinge lastete wie ein Amboss auf Hals und Schultern. Die Handschellen schnitten in seine Handgelenke ein. Aus einigen Verletzungen tropfte Blut. Er war zwar mitgenommen, aber noch nicht außer Gefecht gesetzt. Rafe hatte schon genug Schlägereien hinter sich, um zu wissen, wie er seine Kraft und Körpergröße richtig einsetzen musste. Außerdem verschaffte ihm seine Schnelligkeit meist einen Vorteil. Doch damit, dass sie ihn lynchen wollten, hatte er nicht gerechnet. Er hatte geglaubt, sich den Weg aus dem Red River Saloon freiprügeln zu können und höchstens ein paar Blessuren davonzutragen. Dass man in Bend ein Exempel statuieren wollte, indem man Deputy U.S. Marshal Rafe Morgan aufknüpfte, hätte er in seinen kühnsten Träumen nicht gedacht. Man hatte ihm geraten, Verstärkung mitzunehmen. Aber es war kein Kollege verfügbar gewesen. Außerdem hatte man ihn gewarnt, dass Lady schlau wie ein Fuchs war. Doch er hatte das auf die leichte Schulter genommen, überzeugt, dass er mit einem kleinen Frauchen schon allein fertigwerden würde. Auch dass Bend angeblich ihr Revier war, hatte ihm nur ein Schmunzeln entlocken können. Nun wünschte er, er hätte den guten Rat nicht in den Wind geschlagen. Da die Sonne vom Himmel brannte, fühlte er sich, als würde sein Gehirn allmählich in Dörrfleisch verwandelt. Er streckte Knie und Oberschenkel so weit wie möglich, weil sie ihm allmählich taub wurden. Außerdem hatte er solchen Durst, dass er einen Fluss hätte austrinken können. Nur ein Gedanke hielt ihn aufrecht. Er würde die Lady mit dem Colt hinter Gitter bringen. Wenn sie weiter nach Osten ritten, würden sie irgendwann nach Paris kommen. Dort würde er sich an Bill Phillips, den U.S. Marshall für das östliche Texas, wenden. Falls die Lynchmeute sie nicht vorher erwischte. Was die Pferde anging, stand das Glück auf ihrer Seite. Er hatte ein gutes Tier, und der Junge ritt mühelos auf einem dunklen Rotfuchs, der einen schnellen und zähen Eindruck machte. Allerdings durfte er nicht außer Acht lassen, dass auch einiges gegen sie sprach. Seine Fesseln behinderten ihn. Und falls der Junge ebenfalls ein Bandit war, wollte er vielleicht einen Deputy in seiner Schuld wissen. Eine andere Möglichkeit war, dass er ihn einer anderen Bande ans Messer lieferte. Doch im Moment blieb Rafe nichts anderes übrig, als ihm zu vertrauen und auf das Beste zu hoffen. Er blickte sich um. Die Meute gab offenbar nicht auf, denn er konnte feststellen, dass sich die Staubwolke, die sie aufwirbelte, stetig näherte. So würden sie niemals wohlbehalten einen Unterschlupf erreichen. Wenn er nur Schlinge und Handschellen losgeworden wäre, hätte er Justice lenken und schneller reiten können. »Hallo«, rief er mit vor Durst heiserer Stimme. »Halt an und befrei mich.« »Da vorne ist eine Höhle.« Der Junge wies auf einen Felsen. »Dort können wir uns verstecken.« Die Erleichterung durchströmte ihn wie ein Fluss und spülte die bis jetzt unterdrückten Schmerzen an die Oberfläche. Ihm tat jeder Knochen im Leibe weh. Er musste wirklich so schnell wie möglich aus dem Sattel. Kurz darauf führte der Junge die Pferde aus dem hellen Sonnenlicht in eine kleine, dunkle Höhle, stieg ab und band das Lasso los. »Danke«, stieß Rafe mühsam hervor. Als er vorsichtig vom Pferd rutschte, gaben ihm die Knie nach, sodass er unsanft auf dem Hintern landete. »Mach mich schnell los.« »Wird erledigt.« Der Junge bearbeitete wieder die Schlinge. Rafe zwang sich, still zu halten, obwohl er den Strick am liebsten mit den Zähnen durchgerissen hätte. Er spürte, wie die behandschuhte Hand des Jungen ihm auf die Schulter tippte. »Ich muss es durchschneiden.« »Dann tu es.« Ungeduldig wartete er ab, wohl wissend, dass die Verfolger unerbittlich näherrückten. Er konnte einen Blick auf ein scharfes Messer erhaschen und fühlte dann, wie damit an dem Strick herumgesäbelt wurde. Es tat höllisch weh, doch das kümmerte ihn nicht. Als das Messer endlich die harten Fasern durchtrennte, ritzte die Klinge seine ohnehin schon wund gescheuerte Haut. Aber auch das war ihm gleichgültig. Es zählte nur die Erleichterung, als ihm die Schlinge endlich über den Kopf gezogen wurde und auf dem Boden landete. Rafe atmete tief durch und lockerte seine Halsmuskeln. »Jetzt die Handschellen.« Der Junge holte ein Päckchen aus der Satteltasche, kauerte sich neben Rafe und entfaltete einen blauen Stoffbeutel. Er war in einzelne Fächer unterteilt ; in jedem steckte ein anderes Einbruchswerkzeug. Rafe sah zu, wie eine behandschuhte Hand einen Dietrich auswählte. Der Junge hatte lange Finger und schlanke Handgelenke. Nach einigen geschickten Bewegungen öffnete sich das Schloss mit einem Klicken. Rafe riss sich die Handschellen ab, warf sie hin und rieb sich die wunden, geschwollenen Handgelenke, um den Blutkreislauf anzuregen. Rasch packte der Junge die Dietriche zusammen, verstaute sie wieder in der Satteltasche und kehrte mit einer Feldflasche zurück. Rafe goss sich Wasser übers Gesicht, trank einige große Schlucke und seufzte zufrieden. Dann befeuchtete er sein Halstuch und band es sich um, damit seine gerötete Haut nicht so brannte. »Am besten verschwinden wir jetzt«, sagte der Junge und wies auf die Pferde. »Danke«, erwiderte Rafe. Er hielt ihm die Hand hin. »Ich heiße Rafe«, stellte er sich vor. Etwas an dem Jungen kam ihm bekannt vor, doch das Licht war zu schlecht, um viel zu sehen, und außerdem hatte der Junge den Hut tief in die Stirn gezogen. »Rafe Morgan.« Der Junge drehte Rafes Hand um und legte ein paar Maisfladen und Dörrfleisch hinein. »Ich kann dein Essen nicht annehmen. Schlimm genug, dass ich dein Wasser getrunken habe. Könnte gefährlich für dich werden.« »Iss es beim Reiten.« Der Junge griff nach der Feldflasche und steuerte auf sein Pferd zu. Er sah aus, als hätte er die Sachen seines großen Bruders an. »Danke, ich zahle es dir zurück.«
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2013 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Jane Archer
Jane Archer ist auf den Spuren ihrer Ahnen unterwegs, wenn sie für ihre Bücher den Wilden Westen erkundet: auf dem Pferderücken genauso wie im Jeep. Sie lebt abwechselnd in der Nähe alter Indianerpfade in Texas und in den Bergen von Oklahoma.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jane Archer
- 2013, 255 Seiten, Deutsch
- Verlag: Weltbild Deutschland
- ISBN-10: 3863658310
- ISBN-13: 9783863658311
- Erscheinungsdatum: 17.06.2013
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eBook Informationen
- Dateiformat: ePub
- Größe: 0.60 MB
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