Hexenopfer (ePub)
In den Wäldern regiert die Angst
Tief in den Smoky Mountains von Tennessee liegt das Opfer auf einem Altar, aufgeschlitzt und ausgeblutet: Das grausame Werk eines wahnsinnigen Mörders, der von Bundesstaat zu Bundesstaat zieht. FBI-Ermittler Dallas Sloan...
Tief in den Smoky Mountains von Tennessee liegt das Opfer auf einem Altar, aufgeschlitzt und ausgeblutet: Das grausame Werk eines wahnsinnigen Mörders, der von Bundesstaat zu Bundesstaat zieht. FBI-Ermittler Dallas Sloan...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Hexenopfer (ePub)“
In den Wäldern regiert die Angst
Tief in den Smoky Mountains von Tennessee liegt das Opfer auf einem Altar, aufgeschlitzt und ausgeblutet: Das grausame Werk eines wahnsinnigen Mörders, der von Bundesstaat zu Bundesstaat zieht. FBI-Ermittler Dallas Sloan kennt die Szene nur zu gut - und er weiß, der Mörder wird erst innehalten, wenn er sein fünftes Opfer gefunden hat. Gemeinsam mit Genny Madoc, die über eine besondere Gabe verfügt, macht sich Dallas auf die Jagd.
Tief in den Smoky Mountains von Tennessee liegt das Opfer auf einem Altar, aufgeschlitzt und ausgeblutet: Das grausame Werk eines wahnsinnigen Mörders, der von Bundesstaat zu Bundesstaat zieht. FBI-Ermittler Dallas Sloan kennt die Szene nur zu gut - und er weiß, der Mörder wird erst innehalten, wenn er sein fünftes Opfer gefunden hat. Gemeinsam mit Genny Madoc, die über eine besondere Gabe verfügt, macht sich Dallas auf die Jagd.
Lese-Probe zu „Hexenopfer (ePub)“
Hexenopfer von Beverly BartonDas nächste Opfer
Worum geht es ?«, fragte Genny. »Was hat Teri dir über mich erzählt?«
»Teri ist allen Informationen nachgegangen, die sie über das fünfte Opfer der Mordserien fi nden konnte«, erwiderte Dallas. »Linc Hughes glaubt, dass alle anderen Opfer, die ersten vier bei jedem Fall, wohl einfach nur wahllos ausgesucht wurden, doch mit den fünften Opfern verhielt es sich irgendwie anders.«
»Inwiefern anders ?«
»Aufgrund intensiver Recherchen hat Teri etwas herausgefunden, das alle vier der fünften Opfer gemeinsam haben«, sagte Dallas. »Barbara James, das fünfte Opfer in Mobile, hatte eine seltene Begabung. Nach Aussage ihrer Familie war sie hellseherisch.«
Genny schloss die Augen.
»Das fünfte Opfer der ersten Serie, Kim Johnson, unterhielt ihre Freunde mit telekinetischen Tricks. Daphne Alaire betätigte sich nebenher als Medium. Lori Wright war telepathisch. Offensichtlich hielten es die Freunde und Familien der fünften Opfer nicht für nötig, deren einzigartige Begabungen zu erwähnen, weil sie nicht glaubten, dass diese Information etwas mit der Ermordung zu tun hatte.«
»Ich bin der Grund, warum er nach Cherokee County gekommen ist«, sagte Genny mit Nachdruck. »Er hat mich als fünftes Opfer im Visier ... «
Prolog
... mehr
Dunkel. Kalt. Die Stille vor der Morgendämmerung. Wind peitschte durch die hohen, uralten Bäume im Wald. Bald würde die Sonne über Scotsman's Bluff aufgehen. Er war so weit, war bereit zuzuschlagen, wenn das Morgenlicht den Altar erhellte. Sobald die Tat begangen war, sobald er das erste Opfer dargebracht hatte, würde das Ritual von Neuem beginnen. Hatte er erst ihren köstlichen Lebenssaft geschmeckt, würde er die Kälte des Winters nicht mehr spüren. Ihr Blut würde ihn wärmen, ihm Kraft verleihen, ihn auf die anderen vorbereiten, die ihn zur wichtigsten Veränderung in seinem Leben führen würden. Die ganzen Jahre über hatte er sorgfältig nach Perfektion gestrebt, nach dem Mächtigsten, während er beständig seine Kraft aufgebaut hatte, Stück für Stück, mit unbedeutenderen Sterblichen.
Er schaute auf das nackte Mädchen, das auf den Holzaltar gebunden war. Langes, blondes Haar umflutete ihr engelhaftes Gesicht, während der kühle Wind ihren sinnlichen Körper streichelte. Ihre Augenlider flatterten. Gut. Das bedeutete, dass die Wirkung des Medikaments nachließ, das er ihr verabreicht hatte, und sie rechtzeitig zur Zeremonie aufwachen würde. Ihm gefiel der Ausdruck auf ihren Gesichtern - der Schreck und das Entsetzen -, wenn ihnen klar wurde, was mit ihnen passieren würde.
Er schlug sein dunkles Cape zurück und lächelte. Kein Grund zur Eile. Später konnte er sich Zeit lassen und die Beute so lange auskosten, wie er wollte. Niemand, der bei klarem Verstand war, würde im Januar bei Tagesanbruch draußen im Wald sein. Nur er und das Mädchen.
Er legte den reich mit Schnitzereien verzierten Kasten auf den zitternden Körper des Mädchens, klappte den Deckel auf und nahm das schwere Schwert heraus. Dann stellte er den Kasten auf den Boden, schaute zum Himmel empor und wartete.
Sie wimmerte, doch der Knebel in ihrem Mund hinderte sie daran, lauter zu werden. Er schaute auf sie hinab, fuhr mit der Hand über ihre nackten Brüste und hob das Schwert gen Himmel.
Ein blassrosa Schimmer breitete sich über Scotsman's Bluff aus, nur eine Andeutung von Farbe am dunklen Himmel. »Bald, mein Lämmchen. Bald.«
Träge hieß die Sonne den Beginn des neuen Tages willkommen, mit Lichtranken, die immer weiter in den Himmel hineinreichten. Er riss der jungen Frau den Knebel aus dem Mund. Sie schrie. Er schwang das Schwert über ihr und sprach die heiligen Worte in der uralten Sprache aus.
Aus der Hölle Tiefen, hör mich und vernimm mein Flehen. Möge dieses Opfer dich erfreuen. Bitte erfülle mir meinen Willen und meinen Wunsch.
Langsam führte er das Schwert nach unten, immer weiter, und schlitzte sie vom Hals bis zum Nabel auf. Ihre blinden Augen starrten zu den hoch aufragenden Baumwipfeln empor.
Er wischte das Schwert mit einem weichen Tuch ab, legte die Waffe wieder auf das Samtpolster und stopfte das blutgetränkte Tuch in eine Plastiktüte, die er in den Kasten warf. Das Blut des Mädchens war noch warm. Er senkte den Kopf, bis seine Lippen die klaffende Wunde berührten, leckte daran, saugte, füllte seinen Mund mit ihrem Blut und stärkte sich an ihrer Lebenskraft, ehe sie versiegte.
Genevieve Madoc wurde mit einem Ruck wach, ihr Flanellnachthemd von Schweiß durchnässt. Ihr Herz schlug wie rasend, als sie sich kerzengerade im Bett aufrichtete.
»Oh Gott ! Oh Gott !«, stöhnte sie, als sie sich an ihren Traum erinnerte, ein schattenhaftes, erschreckendes Bild vom Tod.
Ihr Körper zitterte unkontrollierbar. Sie verabscheute diese Augenblicke kurz nach einer Vision, in denen sie schwach und verwundbar war. Jeglicher Energie beraubt, kaum in der Lage, sich zu bewegen. Sie sank zurück, ihr Kopf fi el auf das Kissen. Sie würde Jazzy zu Hilfe rufen, sobald sie wieder genug Kraft hatte, um nach dem Telefon auf dem Nachttisch zu greifen. Zunächst einmal würde sie ruhig liegen bleiben und abwarten. Und beten, dass die Bilder nicht wiederkehrten. Manchmal kam das Zweite Gesicht in Träumen zu ihr, ebenso oft jedoch erlebte sie es, wenn sie hellwach war.
Drudwyn erhob sich vom handgewebten Läufer vor dem Kamin, und seine scharfen Augen suchten in der Dunkelheit nach seiner Herrin. Er stieß ein besorgtes Wimmern aus.
»Alles in Ordnung«, flüsterte sie ihm zu. Dann sprach sie auf telepathischem Weg mit ihm und versicherte ihm, dass sie nicht in Gefahr sei.
Der große Mischlingshund tapste an ihr Bett und ließ sich auf den Holzboden fallen. Sie spürte seine Stimmung und wusste, dass sein Beschützerinstinkt automatisch eingesetzt hatte. Der Hund, den sie als Welpen bekommen hatte, betrachtete sich als ihr Leibwächter. Drudwyn war, ebenso wie sie selbst, aufgrund seines Erbes einzigartig - er entstammte der Verbindung zwischen einem Wolf und einer deutschen Mischung aus Schäferhund und Labrador. Gennys Vorfahren setzten sich aus Schotten, Iren, Engländern und Cherokee zusammen, was in dieser Gegend nicht einmal ungewöhnlich war, doch die Gabe des Zweiten Gesichts, das sie von ihrer Großmutter geerbt hatte, war es auf jeden Fall.
Während sie im Bett lag und darauf wartete, wieder zu Kräften zu kommen, musste sie unwillkürlich an die Vision denken, die sie gehabt hatte. Irgendwo da draußen war eine junge Frau ermordet worden. Genny war sich absolut sicher. Sie hatte das Gesicht des Mädchens nicht gesehen, nur ihren makellosen nackten Körper und das wuchtige Schwert, das sie aufgeschlitzt hatte wie eine reife Melone. Galle stieg aus Gennys Magen auf und brannte sich einen Weg durch ihre Speiseröhre hinauf in die Kehle.
Bitte nicht, mir darf nicht schlecht werden. Jetzt nicht. Ich bin zu schwach, um aus dem Bett zu kriechen. Mit aller Willenskraft bezwang sie die Übelkeit.
Wer konnte eine solche Freveltat begangen haben ? Welches Scheusal würde einen Menschen opfern ?
Ihr Vetter Jacob hatte erwähnt, dass es in der Umgebung ein paar Tieropfer gegeben habe - insgesamt vier seit Thanksgiving. Waren sie nichts weiter als Vorboten für die Tötung eines Menschen gewesen ?
Nachdem sie Jazzy angerufen und um Hilfe gebeten hatte, würde sie Jacob anrufen. Er würde der Frau nicht mehr helfen können, doch als County-Sheriff wäre es seine Aufgabe, den Mord zu untersuchen.
Was willst du ihm sagen ?, fragte sich Genny. Wenn du ihm erklärst, dass du wieder eine Vision hattest, nur dass sie diesmal viel grauenhafter war als alle bisherigen, wird er es verstehen. Er ist mit dir verwandt. Er wird deine Vision nicht als bloßen Traum abtun.
Eine Viertelstunde später zwang sich Genny, auf die Bettkante zu rutschen. Sie nahm den Telefonhörer in die Hand und wählte Jazzys Nummer. Das Telefon klingelte fünf Mal, bevor eine barsche Stimme antwortete.
»Wer zum Teufel ruft zu dieser unchristlichen Zeit an ?« »Jazzy?«
»Genny, bist du das ?«
»Ja. Bitte ... «
»Bin schon unterwegs. Bleib, wo du bist.«
»Danke.«
Sobald sie das Feizeichen vernahm, tippte Genny Jacobs Privatnummer ein. Er nahm beim zweiten Klingeln ab. Ihr Vetter war ein Frühaufsteher wie sie und bereitete wahrscheinlich gerade sein Frühstück zu.
»Butler«, sagte er ruppig in tiefem Bariton.
»Jacob, Genny hier. Bitte, komm zu mir nach Hause ... auf der Stelle.«
»Was ist los ?«
»Ich hatte einen Traum ... eine meiner Visionen.«
»Ist alles in Ordnung ?«
»Nein, aber das wird schon wieder. Ich habe Jazzy angerufen. Sie wird bald hier sein. Aber ich muss dir erzählen ... « Plötzlich versagte ihr die Stimme.
»Was?«
Sie räusperte sich. »Jemand ist ermordet worden. Eine junge Frau. Ich bin mir sicher, dass du ihre Leiche im Cedar Tree Forest finden wirst, nicht weit von hier. Ich habe ... mit den Augen des Mörders gesehen ... ich habe gesehen ... « Sie holte tief Luft. »Er hat den Sonnenaufgang über Scotsman's Bluff gesehen.«
»Bist du dir sicher, Genny ? Bist du überzeugt, dass es kein Albtraum war ?«
»Ja. Es ist zu spät, um sie zu retten, aber du kannst ihre Leiche suchen und vielleicht Beweise dafür finden, wer sie umgebracht hat - wenn du dich beeilst. Ich glaube, ich kann dich genau zu der Stelle führen.«
»Ach du Scheiße ... «, murmelte Jacob fast unhörbar. »Jacob?«
»Hm?«
»Er hat sie auf eine Art Altar gebunden und geopfert. Ich ... ich glaube, er hat ihr Blut getrunken.«
»Verdammter Hurensohn.«
1
Teri Nash, Special Agent des FBI, warf einen Blick auf das Fax in ihrer Hand. Ein Brief und ein Foto. Während sie darauf wartete, dass Dallas aus der Dusche kam, hatte sie sich an seinen unordentlichen Schreibtisch in der Ecke des Wohnzimmers gesetzt. Das Fax war eingegangen, als sie sich gerade einen Gin Tonic genehmigte. Dallas und sie hatten seit Jahren keine Beziehung mehr, und eigentlich war sie mit einem Profi ler vom FBI liiert, aber Dallas war noch immer ein guter Freund. Seit dem Tod seiner Nichte vor acht Monaten hatte sie versucht, ihren verfl ossenen Liebhaber im Auge zu behalten. Obwohl er mit dem brutalen Mord an Brooke so umgegangen war wie mit allem anderen auch - wenig Emotionen und eiserne Selbstbeherrschung -, hatte sie den Schmerz hinter seiner beinharten Fassade gesehen. Sobald er nach Brookes Beisetzung zum FBI-Hauptquartier in Washington zurückgekehrt war, hatte er sich persönlich auf die Suche nach Informationen gemacht, die ihn zu dem Mörder seiner Nichte führen könnten. Dass er die umfangreichen Quellen des FBI für den inoffi ziellen Gebrauch nutzte, war zum Stein des Anstoßes zwischen Dallas und dem Stellvertretenden Direktor der Criminal Investigation Division geworden. Obwohl sich Dallas und Tom Rutherford nicht ausstehen konnten, hatte Tom ihm jede Menge Freiheiten gelassen. Teri fragte sich, wie lange noch.
Sie las das Fax zum dritten Mal. Die Nachricht war eine Antwort auf einen Brief, den Dallas an die lokalen Polizeibehörden landesweit geschickt hatte. Es war die siebte Antwort dieser Art in den letzten paar Monaten, doch Teri hatte das dumpfe Gefühl, dass es sich um die Nachricht handelte, auf die Dallas seit Brookes Ermordung gewartet hatte. Teri wollte das gefaxte Foto nicht mehr ansehen. Einmal hatte durchaus gereicht. Der Anblick des jungen blonden Mädchens mit dem aufgeschlitzten Körper würde nicht leicht zu vergessen sein. Teri erschauderte.
Der für Cherokee County in Tennessee zuständige Sheriff hatte über einen Mord am frühen Morgen in seinem Bezirk berichtet, bei dem es sich offenbar um eine Opferung handelte. Die Einzelheiten über den Tod der Frau waren praktisch identisch mit Brookes entsetzlicher Ermordung in Mobile, Alabama, im Mai des vergangenen Jahres.
Während Teri die Information zum letzten Mal überflog, schüttelte sie den Kopf und seufzte. Sobald Dallas dieses Fax sähe, wäre er auf und davon. In einem sentimentalen Anfall von Beschützerinstinkt hätte sie das Fax am liebsten in den Müll geworfen und so getan, als hätte es nie existiert. Obwohl die Affäre mit ihrem Kollegen nur von kurzer Dauer gewesen und vor drei Jahren zu Ende gegangen war, empfand sie noch immer sehr viel für ihn. Der arme Kerl hatte genug durchgemacht, war in den letzten Monaten zu vielen Hinweisen nachgegangen, die zu nichts geführt hatten. Nur ungern sah sie zu, wie er sich auf eine weitere sinnlose Suche nach einem schwer zu fassenden Serienmörder begab. Falls es überhaupt ein Serienmörder war. Dallas hatte die Theorie entwickelt, dass ein barbarischer Serienmörder frei herumlief. Im Übrigen war sich Terri nicht sicher, wie viele Urlaubstage Dallas noch zustanden. Oder wie lange sich Rutherford noch mit Dallas' Nichtanwesenheit abfinden würde.
Dallas Sloan, das blonde Haar noch feucht von der Dusche, tauchte aus dem Bad neben dem kleinen Schlafzimmer seiner Dreizimmerwohnung auf. Teri holte tief Luft. Verdammt, der Typ verschlug ihr noch immer den Atem. Er trug nur seinen weißen Slip und gewährte ihr einen Blick auf seinen großen, geschmeidigen Körper. Leichter brauner Haarwuchs bedeckte seine Beine und Arme und formte über der Mitte seiner muskulösen Brust ein V. Teri zwang sich, den Blick von seinem Körper zu lösen und ihm ins Gesicht zu sehen. Er grinste. Boshaft.
»Ich genieße nur die Aussicht«, sagte sie. »Kaufen will ich das Anwesen nicht.«
»Was hast du da in der Hand ?«, fragte er und blickte auf das Fax.
»Das hier ?« Sie hielt die beiden Blätter in die Höhe wie eine Trophäe. »Das ist ein Fax.«
»Meinen Körper zu begehren ist schön und gut, Herzchen, aber meine Post zu lesen, steht auf einem anderen Blatt.«
Dallas kramte in seinem Schrank herum, holte ein Paar abgetragene Jeans hervor, schlüpfte hinein, nahm einen beigefarbenen Strickpullover aus der Kommode und zog ihn sich mit einem Ruck über den Kopf.
»Von wem ist das Fax ?«
Teri trat neben ihn ans Bett, auf dem er saß, um sich die Socken anzuziehen. »Es kommt von Sheriff Jacob Butler aus Cherokee County, Tennessee.«
Dallas schlüpfte in seine Stiefel, band die Schnürsenkel zu und schaute zu Teri auf. »Es geht um ...«
»In seinem County ist anscheinend eine Art Opfermord passiert.« Teri hielt ihm das Fax hin. »Heute morgen.«
Dallas riss ihr die Seiten aus der Hand, überfl og sie rasch und fluchte leise vor sich hin. »Ich muss ihn anrufen - sofort.« Er stand auf. »Hör zu, Schätzchen, geh doch einfach schon mal zu den anderen. Wenn es das ist, wonach es aussieht, nehme ich heute Abend einen Flug nach Tennessee.«
Teri packte seinen Arm. »Bist du dir sicher, dass du das noch einmal machen willst ? Bisher war von allen Berichten, die du bekommen hast, keiner ... «
»Der hier ist anders. Allein aus dem Fax gehen Ähnlichkeiten mit Brookes Tod hervor.«
»Trotzdem, bei den zahlreichen alten Berichten über Opfermorde, die du angehäuft hast, hatten die Opfer keinerlei Gemeinsamkeiten, nichts, aufgrund dessen man sie mit einem besonderen Mörder in Verbindung bringen könnte, bis auf die Tatsache, dass alle geopfert wurden.«
»Es gibt eine Verbindung«, sagte Dallas. »Wir sind nur noch nicht darauf gekommen. Linc hat erst letzte Woche begonnen, an einem Profi l für mich zu arbeiten, und da er es in seiner Freizeit macht und versucht, sich Rutherford vom Hals zu halten, wird es eine Weile dauern.«
»Hast du noch Resturlaub oder Krankheitstage übrig?« Sie hütete sich davor, weiter mit einem Mann zu diskutieren, der nicht überzeugt werden konnte.
»Drei.«
»Und was ist, wenn sich herausstellt, dass es sich bei diesem Mord um den handelt, auf den du gewartet hast, ein neues Puzzlestück?«
»Dann werde ich mich beurlauben lassen.«
»Ja, das dachte ich mir schon.«
»Ich kann mich also auf dich und Linc verlassen, ja ?« »Inoffiziell.«
Dallas gab ihr einen Kuss. Keine Leidenschaft. Nur eine Dankesgeste. »Du musst nicht auf mich warten. Geh ruhig, mach dich auf den Weg. Ich ruf dich auf dem Handy an, wenn ich heute Abend einen Flug nehme.«
Teri streichelte seine Wange. »Ich hoffe, diesmal ist es der Richtige.«
Dallas machte sich nicht die Mühe, sie an die Tür zu begleiten, daher öffnete Teri sie selbst, blieb aber auf der Schwelle stehen. Sie seufzte. Dallas hatte sie schon völlig vergessen. Er hob den Hörer ab, wählte die Vorwahl des Countys und die Dienstnummer des Sheriffs.
»Ja, hier spricht Special Agent Dallas Sloan vom FBI. Ich hätte gern Sheriff Butler gesprochen.«
Leise zog Teri die Tür zu, ging durch den Flur und über die Treppe ins Erdgeschoss des Wohnhauses hinunter. Du hast hier nichts verloren, sagte sie sich. Die Hoffnung, Dallas würde sich anders besinnen und etwas Dauerhaftes von ihr wollen, war nur ein Hirngespinst. Sie musste den letzten Hoffnungsschimmer begraben - sonst würde ihre Beziehung mit Linc nicht so funktionieren, wie Teri es gern wollte.
»Es gibt Schnee. Das spür ich in den Knochen«, sagte Sally Talbot, als sie ein weiteres Holzscheit in den schmiedeeisernen Kanonenofen warf.
»In der Wettervorhersage im Fernsehen hieß es Schneeregen«, verbesserte Ludie Smith. »Auf wen soll ich denn hören - auf deine alten Knochen, oder auf einen gebildeten Mann, der sich mit Kumuluswolken und Taupunkten und gefühlten Temperaturen auskennt ?«
»Ludie, ich schwör's dir, seit diesem Volkshochschulkurs am Junior College im letzten Herbst hast du abgehoben und behandelst mich von oben herab.«
»Ich doch nicht !« Mit großen, ausdrucksstarken Augen schaute Ludie sie an. »Du benimmst dich wie die Reichen, seit Jazzy deine Hütte weiß verkleidet hat.«
»Du sagst Hütte zu meinem Haus ? Wie nennst du denn dein Haus - einen Palast ?«
»Ich sage Cottage dazu«, erwiderte Ludie. »Ja, ein Cottage, so wie die hübschen kleinen Häuser, die man in Kalendern und in Filmen über das englische Landleben vor dem Zweiten Weltkrieg sieht.«
»Was weiß eine alte Squaw der Cherokee aus den Bergen von Tennessee schon über die ländlichen Gegenden in England ? Ganz davon abgesehen ist dein Haus kein Cottage. Es ist ein Holzschuppen mit vier Zimmern auf Teilpachtbasis.«
»Tja, Miss Neunmalklug, ich weiß über die ländlichen Gegenden in England genauso viel wie du. Und wer bist du schon ? Nur eine verrückte alte weiße Kuh aus den Bergen in Tennessee.«
Jazzy Talbot stand in der Tür zwischen der Küche ihrer Tante Sally und dem Wohnzimmer, in dem Sally und ihre beste Freundin Ludie miteinander stritten, wie immer, solange Jazzy denken konnte. Außenstehende, die den beiden alten Frauen zuhörten, wären davon überzeugt, dass sie sich nicht ausstehen konnten, obwohl das genaue Gegenteil der Fall war. Ludie und Sally waren ein Leben lang befreundet, doch keine von beiden würde jemals zugeben, wie sehr sie der anderen zugetan war. Ihre Lieblingsbeschäftigung war anscheinend, über alles Mögliche zu debattieren - angefangen vom Wetter bis hin zur richtigen Art, Blattkohl zu kochen.
Jazzy räusperte sich. Beide Frauen verstummten sofort und drehten sich zu ihr um. Sally war knochig und an die einsachtzig groß, hatte große Hände und Füße, einen weißen Haarschopf und eisblaue Augen. Lucie ihrerseits hatte schwarze Augen und stahlgraues Haar, war knapp einsfünfzig groß und kugelrund. Jazzy hatte keine Ahnung, wie alt die beiden Frauen waren, aber sie schätzte, dass ihre Tante und Ludie ihren siebzigsten Geburtstag bereits hinter sich hatten.
»Wie lange stehst du schon da ?«, fragte Sally mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht.
»Bin gerade erst gekommen. Habt ihr den Jeep denn nicht gehört?«
»Sie war zu sehr mit Kreischen beschäftigt«, sagte Ludie. »Sie glaubt, es gibt Schnee, aber der Wetterbericht hat deutlich gesagt, dass ... «
»Zuerst soll es Graupelschauer geben, dann Schnee«, sagte Jazzy.
Die beiden Frauen sahen sie stirnrunzelnd und mit großen Augen an.
»Woher weißt du ... du warst heute bei Genny, nicht wahr ?« Sally nahm noch ein Holzscheit und steckte es in den Ofen. Nachdem sie die Tür zugemacht und das Feuer drinnen eingeschlossen hatte, wischte sie sich die Hände an ihrer abgetragenen Jeans ab.
»Hat Genny gesagt, dass es Schnee gibt ?«, fragte Lucie.
Jazzy nickte. »Ich habe gehört, wie sie Jacob riet, er solle den Tatort lieber jetzt genau unter die Lupe nehmen, weil das Wetter heute Abend schlecht wird. Sie glaubt, es wird ziemlich rau.«
»Dann sollten wir uns lieber darauf einstellen«, sagte Sally. »Das Mädel irrt sich nie mit dem Wetter. Sie ist genau wie ihre Großmutter. Melva Mae hatte auch das Zweite Gesicht.«
»Ist das mit der armen kleinen Susie Richards nicht schrecklich ?« Ludie schüttelte den Kopf. »Was für ein Mensch tut einem anderen so was an, immerhin war das Mädchen erst siebzehn !«
»Warum warst du bei Genny ?«, fragte Sally. »Hatte sie wieder einen Anfall ?«
Jazzy nickte. »Sie hat gesehen, wie die kleine Richards umgebracht wurde. Aber das dürft ihr nicht weitererzählen.«
Ludie stieß einen Klagelaut aus. »Der Herr stehe uns bei !«
»Sie hat Jacob angerufen und ihm gesagt, wo er Susies Leiche fi ndet. Jetzt hat er einen Mordfall zu lösen und ein County voll verängstigter Menschen.«
»Jacob hat weder das Personal, noch die entsprechende Ausrüstung, um Tatortuntersuchungen durchzuführen.« Sally ging in die Küche. »Bleibst du zum Abendessen, Mädel, oder gehst du zu dir, bevor das Wetter umschlägt ?«
»Schätze, ich fahre nach Hause«, erwiderte Jazzy. »Ich hab nur reingeschaut, um zu sehen, ob ihr etwas braucht. So weit draußen vor der Stadt schafft ihr es vielleicht ein paar Tage lang nicht bis Cherokee Pointe, wenn sich unter dem Schnee Eis gebildet hat.«
»Hab alles, was ich brauche«, rief Sally aus der Küche. »Möchtest du eine Tasse Kaffee, bevor du aufbrichst ?«
»Kaffee und ein Stück von dem Eiercremekuchen, den ich auf der Anrichte gesehen habe.« Jazzy zwinkerte Ludie zu, denn sie wusste nur zu gut, dass Ludie den Kuchen gebacken und mitgebracht hatte. Sally war keine gute Köchin - noch nie gewesen. Hätte Ludie nicht so gut kochen können, wäre Jazzy vermutlich mit nichts als Maisbrot, Bratkartoffeln und dem Gemüse der Saison großgeworden. Ludie hatte ein Talent zum Kochen und arbeitete in Jazzys Restaurant im Ort. Seit letztem Jahr hatte sie ihre Arbeitszeit auf ein paar Tage in der Woche reduziert.
Als sich Jazzy und Ludie zu Sally in der Küche gesellten, hatte Sally den Kuchen bereits angeschnitten und den Tisch mit drei Tellern und Gabeln gedeckt. Sie nahm eine alte Kaffeekanne aus Eisen vom Herd und goss dampfenden schwarzen Kaffee in nicht zusammenpassende Tonbecher.
Während die drei an dem mit einem gelben Wachstuch bedeckten Tisch saßen, wurden Sally und Ludie ganz still. Jazzy hatte das ungute Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Dabei ging es nicht darum, dass gestern in Cherokee County ein Mord geschehen war.
»Läuft das Geschäft ?«, fragte Sally.
»So gut wie immer im Januar«, antwortete Jazzy. »Wir haben ein paar Touristen in den Hütten und noch ein paar, die auf dem Weg nach Pigeon Forge und Gatlinburg im Restaurant einkehren.«
»Im Frühling nimmt es wieder zu«, sagte Ludie. »Das ist immer so.«
»Mir ist auch nach Frühling.« Sally schlürfte ihren Kaffee.
»Mir auch.« Ludie seufzte. »Es geht doch nichts über Vogelgezwitscher im Frühling und Butterblumen und blühende Tulpen.«
Jazzy erwischte ihre Tante und Ludie dabei, eigenartige Blicke zu wechseln. »Na schön, was ist los ?«
»Ich weiß gar nicht, was du meinst.« Sally starrte an die Holzdecke.
»Wir können es ihr auch sagen«, bemerkte Ludie. »Wundert mich, dass sie es noch nicht gehört hat.«
»Was denn ?« In Jazzys Magengrube bildete sich ein fester Kloß.
»Nur weil er wieder da ist, muss das nicht heißen, dass du etwas mit ihm zu tun haben wirst.« Sally bedachte Jazzy mit einem warnenden Blick. »Wenn er dir nachschnüffelt, jag ihn zum Teufel. Wenn du gescheit bist. Er taugt nichts. Hat er noch nie.«
»Wen meint ihr denn - du meine Güte ! Ihr wollt mir doch nicht sagen, dass ... «
»Hab es heute Morgen in der Stadt gehört, bevor sich die Neuigkeiten über die kleine Richards verbreitete«, sagte Ludie. »Jamie Upton tauchte vor zwei Tagen auf der Farm auf, und sein Großvater hat doch tatsächlich das gemästete Kalb geschlachtet, um die Heimkehr des verlorenen Sohnes zu feiern.«
»Erzähl ihr den Rest«, sagte Sally.
Ludie ließ den Kopf hängen und vermied den Blickkontakt mit Jazzy. »Er hat eine Frau mit nach Hause gebracht.«
»Eine Ehefrau ?«, fragte Jazzy.
»Eine Verlobte«, erwiderte Ludie.
»Verlobt war er schon mal«, sagte Jazzy. »Das hat nichts zu bedeuten. Ihr wisst doch, wie Jamie ist.«
»Ich weiß, dass er keinen Pfi fferling wert ist.« Sally trank ihren Kaffee aus, erhob sich und füllte ihren Becher wieder.
Jazzy stocherte in dem Kuchenstück herum. Sie mochte Ludies Kuchen, wusste aber, wenn sie jetzt hineinbiss, würde er wie Pappe schmecken. Dabei war sie nicht mehr in Jamie verliebt. Tatsächlich war sie sich nicht einmal sicher, ob sie ihn jemals geliebt hatte. Aber sie hatte ihn haben wollen. Und wie. Er war ihr Erster gewesen, damals, als sie noch jung und unerfahren genug war, um zu glauben, dass Big Jim Uptons einziger Enkel ihresgleichen heiraten würde, einen Bastard aus dem weißen Abschaum, aufgezogen von einer armen, exzentrischen alten Frau, die in der halben Stadt als verrückt galt.
Jazzy stand auf. »Ich mach mich lieber auf den Weg in die Stadt. Soll ich dich nach Hause bringen, Ludie ?«
»Um Himmels willen, nein. Mein Haus ist keine Viertelmeile von hier entfernt.«
»Aber wenn ein Mörder frei herumläuft ...«
»Hab meinen Revolver in der Manteltasche, wie immer«, sagte Ludie. »Du weißt, dass ich ohne den nirgendwohin gehe.«
Ludie trug einen alten Smith & Wesson bei sich, der ihrem Vater gehört hatte, und Sally schleppte eine Flinte mit sich herum. Zwei alte Spinnerinnen, dachten die meisten.
...
Übersetzung: Marion Balkenhol
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2012 by
Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Dunkel. Kalt. Die Stille vor der Morgendämmerung. Wind peitschte durch die hohen, uralten Bäume im Wald. Bald würde die Sonne über Scotsman's Bluff aufgehen. Er war so weit, war bereit zuzuschlagen, wenn das Morgenlicht den Altar erhellte. Sobald die Tat begangen war, sobald er das erste Opfer dargebracht hatte, würde das Ritual von Neuem beginnen. Hatte er erst ihren köstlichen Lebenssaft geschmeckt, würde er die Kälte des Winters nicht mehr spüren. Ihr Blut würde ihn wärmen, ihm Kraft verleihen, ihn auf die anderen vorbereiten, die ihn zur wichtigsten Veränderung in seinem Leben führen würden. Die ganzen Jahre über hatte er sorgfältig nach Perfektion gestrebt, nach dem Mächtigsten, während er beständig seine Kraft aufgebaut hatte, Stück für Stück, mit unbedeutenderen Sterblichen.
Er schaute auf das nackte Mädchen, das auf den Holzaltar gebunden war. Langes, blondes Haar umflutete ihr engelhaftes Gesicht, während der kühle Wind ihren sinnlichen Körper streichelte. Ihre Augenlider flatterten. Gut. Das bedeutete, dass die Wirkung des Medikaments nachließ, das er ihr verabreicht hatte, und sie rechtzeitig zur Zeremonie aufwachen würde. Ihm gefiel der Ausdruck auf ihren Gesichtern - der Schreck und das Entsetzen -, wenn ihnen klar wurde, was mit ihnen passieren würde.
Er schlug sein dunkles Cape zurück und lächelte. Kein Grund zur Eile. Später konnte er sich Zeit lassen und die Beute so lange auskosten, wie er wollte. Niemand, der bei klarem Verstand war, würde im Januar bei Tagesanbruch draußen im Wald sein. Nur er und das Mädchen.
Er legte den reich mit Schnitzereien verzierten Kasten auf den zitternden Körper des Mädchens, klappte den Deckel auf und nahm das schwere Schwert heraus. Dann stellte er den Kasten auf den Boden, schaute zum Himmel empor und wartete.
Sie wimmerte, doch der Knebel in ihrem Mund hinderte sie daran, lauter zu werden. Er schaute auf sie hinab, fuhr mit der Hand über ihre nackten Brüste und hob das Schwert gen Himmel.
Ein blassrosa Schimmer breitete sich über Scotsman's Bluff aus, nur eine Andeutung von Farbe am dunklen Himmel. »Bald, mein Lämmchen. Bald.«
Träge hieß die Sonne den Beginn des neuen Tages willkommen, mit Lichtranken, die immer weiter in den Himmel hineinreichten. Er riss der jungen Frau den Knebel aus dem Mund. Sie schrie. Er schwang das Schwert über ihr und sprach die heiligen Worte in der uralten Sprache aus.
Aus der Hölle Tiefen, hör mich und vernimm mein Flehen. Möge dieses Opfer dich erfreuen. Bitte erfülle mir meinen Willen und meinen Wunsch.
Langsam führte er das Schwert nach unten, immer weiter, und schlitzte sie vom Hals bis zum Nabel auf. Ihre blinden Augen starrten zu den hoch aufragenden Baumwipfeln empor.
Er wischte das Schwert mit einem weichen Tuch ab, legte die Waffe wieder auf das Samtpolster und stopfte das blutgetränkte Tuch in eine Plastiktüte, die er in den Kasten warf. Das Blut des Mädchens war noch warm. Er senkte den Kopf, bis seine Lippen die klaffende Wunde berührten, leckte daran, saugte, füllte seinen Mund mit ihrem Blut und stärkte sich an ihrer Lebenskraft, ehe sie versiegte.
Genevieve Madoc wurde mit einem Ruck wach, ihr Flanellnachthemd von Schweiß durchnässt. Ihr Herz schlug wie rasend, als sie sich kerzengerade im Bett aufrichtete.
»Oh Gott ! Oh Gott !«, stöhnte sie, als sie sich an ihren Traum erinnerte, ein schattenhaftes, erschreckendes Bild vom Tod.
Ihr Körper zitterte unkontrollierbar. Sie verabscheute diese Augenblicke kurz nach einer Vision, in denen sie schwach und verwundbar war. Jeglicher Energie beraubt, kaum in der Lage, sich zu bewegen. Sie sank zurück, ihr Kopf fi el auf das Kissen. Sie würde Jazzy zu Hilfe rufen, sobald sie wieder genug Kraft hatte, um nach dem Telefon auf dem Nachttisch zu greifen. Zunächst einmal würde sie ruhig liegen bleiben und abwarten. Und beten, dass die Bilder nicht wiederkehrten. Manchmal kam das Zweite Gesicht in Träumen zu ihr, ebenso oft jedoch erlebte sie es, wenn sie hellwach war.
Drudwyn erhob sich vom handgewebten Läufer vor dem Kamin, und seine scharfen Augen suchten in der Dunkelheit nach seiner Herrin. Er stieß ein besorgtes Wimmern aus.
»Alles in Ordnung«, flüsterte sie ihm zu. Dann sprach sie auf telepathischem Weg mit ihm und versicherte ihm, dass sie nicht in Gefahr sei.
Der große Mischlingshund tapste an ihr Bett und ließ sich auf den Holzboden fallen. Sie spürte seine Stimmung und wusste, dass sein Beschützerinstinkt automatisch eingesetzt hatte. Der Hund, den sie als Welpen bekommen hatte, betrachtete sich als ihr Leibwächter. Drudwyn war, ebenso wie sie selbst, aufgrund seines Erbes einzigartig - er entstammte der Verbindung zwischen einem Wolf und einer deutschen Mischung aus Schäferhund und Labrador. Gennys Vorfahren setzten sich aus Schotten, Iren, Engländern und Cherokee zusammen, was in dieser Gegend nicht einmal ungewöhnlich war, doch die Gabe des Zweiten Gesichts, das sie von ihrer Großmutter geerbt hatte, war es auf jeden Fall.
Während sie im Bett lag und darauf wartete, wieder zu Kräften zu kommen, musste sie unwillkürlich an die Vision denken, die sie gehabt hatte. Irgendwo da draußen war eine junge Frau ermordet worden. Genny war sich absolut sicher. Sie hatte das Gesicht des Mädchens nicht gesehen, nur ihren makellosen nackten Körper und das wuchtige Schwert, das sie aufgeschlitzt hatte wie eine reife Melone. Galle stieg aus Gennys Magen auf und brannte sich einen Weg durch ihre Speiseröhre hinauf in die Kehle.
Bitte nicht, mir darf nicht schlecht werden. Jetzt nicht. Ich bin zu schwach, um aus dem Bett zu kriechen. Mit aller Willenskraft bezwang sie die Übelkeit.
Wer konnte eine solche Freveltat begangen haben ? Welches Scheusal würde einen Menschen opfern ?
Ihr Vetter Jacob hatte erwähnt, dass es in der Umgebung ein paar Tieropfer gegeben habe - insgesamt vier seit Thanksgiving. Waren sie nichts weiter als Vorboten für die Tötung eines Menschen gewesen ?
Nachdem sie Jazzy angerufen und um Hilfe gebeten hatte, würde sie Jacob anrufen. Er würde der Frau nicht mehr helfen können, doch als County-Sheriff wäre es seine Aufgabe, den Mord zu untersuchen.
Was willst du ihm sagen ?, fragte sich Genny. Wenn du ihm erklärst, dass du wieder eine Vision hattest, nur dass sie diesmal viel grauenhafter war als alle bisherigen, wird er es verstehen. Er ist mit dir verwandt. Er wird deine Vision nicht als bloßen Traum abtun.
Eine Viertelstunde später zwang sich Genny, auf die Bettkante zu rutschen. Sie nahm den Telefonhörer in die Hand und wählte Jazzys Nummer. Das Telefon klingelte fünf Mal, bevor eine barsche Stimme antwortete.
»Wer zum Teufel ruft zu dieser unchristlichen Zeit an ?« »Jazzy?«
»Genny, bist du das ?«
»Ja. Bitte ... «
»Bin schon unterwegs. Bleib, wo du bist.«
»Danke.«
Sobald sie das Feizeichen vernahm, tippte Genny Jacobs Privatnummer ein. Er nahm beim zweiten Klingeln ab. Ihr Vetter war ein Frühaufsteher wie sie und bereitete wahrscheinlich gerade sein Frühstück zu.
»Butler«, sagte er ruppig in tiefem Bariton.
»Jacob, Genny hier. Bitte, komm zu mir nach Hause ... auf der Stelle.«
»Was ist los ?«
»Ich hatte einen Traum ... eine meiner Visionen.«
»Ist alles in Ordnung ?«
»Nein, aber das wird schon wieder. Ich habe Jazzy angerufen. Sie wird bald hier sein. Aber ich muss dir erzählen ... « Plötzlich versagte ihr die Stimme.
»Was?«
Sie räusperte sich. »Jemand ist ermordet worden. Eine junge Frau. Ich bin mir sicher, dass du ihre Leiche im Cedar Tree Forest finden wirst, nicht weit von hier. Ich habe ... mit den Augen des Mörders gesehen ... ich habe gesehen ... « Sie holte tief Luft. »Er hat den Sonnenaufgang über Scotsman's Bluff gesehen.«
»Bist du dir sicher, Genny ? Bist du überzeugt, dass es kein Albtraum war ?«
»Ja. Es ist zu spät, um sie zu retten, aber du kannst ihre Leiche suchen und vielleicht Beweise dafür finden, wer sie umgebracht hat - wenn du dich beeilst. Ich glaube, ich kann dich genau zu der Stelle führen.«
»Ach du Scheiße ... «, murmelte Jacob fast unhörbar. »Jacob?«
»Hm?«
»Er hat sie auf eine Art Altar gebunden und geopfert. Ich ... ich glaube, er hat ihr Blut getrunken.«
»Verdammter Hurensohn.«
1
Teri Nash, Special Agent des FBI, warf einen Blick auf das Fax in ihrer Hand. Ein Brief und ein Foto. Während sie darauf wartete, dass Dallas aus der Dusche kam, hatte sie sich an seinen unordentlichen Schreibtisch in der Ecke des Wohnzimmers gesetzt. Das Fax war eingegangen, als sie sich gerade einen Gin Tonic genehmigte. Dallas und sie hatten seit Jahren keine Beziehung mehr, und eigentlich war sie mit einem Profi ler vom FBI liiert, aber Dallas war noch immer ein guter Freund. Seit dem Tod seiner Nichte vor acht Monaten hatte sie versucht, ihren verfl ossenen Liebhaber im Auge zu behalten. Obwohl er mit dem brutalen Mord an Brooke so umgegangen war wie mit allem anderen auch - wenig Emotionen und eiserne Selbstbeherrschung -, hatte sie den Schmerz hinter seiner beinharten Fassade gesehen. Sobald er nach Brookes Beisetzung zum FBI-Hauptquartier in Washington zurückgekehrt war, hatte er sich persönlich auf die Suche nach Informationen gemacht, die ihn zu dem Mörder seiner Nichte führen könnten. Dass er die umfangreichen Quellen des FBI für den inoffi ziellen Gebrauch nutzte, war zum Stein des Anstoßes zwischen Dallas und dem Stellvertretenden Direktor der Criminal Investigation Division geworden. Obwohl sich Dallas und Tom Rutherford nicht ausstehen konnten, hatte Tom ihm jede Menge Freiheiten gelassen. Teri fragte sich, wie lange noch.
Sie las das Fax zum dritten Mal. Die Nachricht war eine Antwort auf einen Brief, den Dallas an die lokalen Polizeibehörden landesweit geschickt hatte. Es war die siebte Antwort dieser Art in den letzten paar Monaten, doch Teri hatte das dumpfe Gefühl, dass es sich um die Nachricht handelte, auf die Dallas seit Brookes Ermordung gewartet hatte. Teri wollte das gefaxte Foto nicht mehr ansehen. Einmal hatte durchaus gereicht. Der Anblick des jungen blonden Mädchens mit dem aufgeschlitzten Körper würde nicht leicht zu vergessen sein. Teri erschauderte.
Der für Cherokee County in Tennessee zuständige Sheriff hatte über einen Mord am frühen Morgen in seinem Bezirk berichtet, bei dem es sich offenbar um eine Opferung handelte. Die Einzelheiten über den Tod der Frau waren praktisch identisch mit Brookes entsetzlicher Ermordung in Mobile, Alabama, im Mai des vergangenen Jahres.
Während Teri die Information zum letzten Mal überflog, schüttelte sie den Kopf und seufzte. Sobald Dallas dieses Fax sähe, wäre er auf und davon. In einem sentimentalen Anfall von Beschützerinstinkt hätte sie das Fax am liebsten in den Müll geworfen und so getan, als hätte es nie existiert. Obwohl die Affäre mit ihrem Kollegen nur von kurzer Dauer gewesen und vor drei Jahren zu Ende gegangen war, empfand sie noch immer sehr viel für ihn. Der arme Kerl hatte genug durchgemacht, war in den letzten Monaten zu vielen Hinweisen nachgegangen, die zu nichts geführt hatten. Nur ungern sah sie zu, wie er sich auf eine weitere sinnlose Suche nach einem schwer zu fassenden Serienmörder begab. Falls es überhaupt ein Serienmörder war. Dallas hatte die Theorie entwickelt, dass ein barbarischer Serienmörder frei herumlief. Im Übrigen war sich Terri nicht sicher, wie viele Urlaubstage Dallas noch zustanden. Oder wie lange sich Rutherford noch mit Dallas' Nichtanwesenheit abfinden würde.
Dallas Sloan, das blonde Haar noch feucht von der Dusche, tauchte aus dem Bad neben dem kleinen Schlafzimmer seiner Dreizimmerwohnung auf. Teri holte tief Luft. Verdammt, der Typ verschlug ihr noch immer den Atem. Er trug nur seinen weißen Slip und gewährte ihr einen Blick auf seinen großen, geschmeidigen Körper. Leichter brauner Haarwuchs bedeckte seine Beine und Arme und formte über der Mitte seiner muskulösen Brust ein V. Teri zwang sich, den Blick von seinem Körper zu lösen und ihm ins Gesicht zu sehen. Er grinste. Boshaft.
»Ich genieße nur die Aussicht«, sagte sie. »Kaufen will ich das Anwesen nicht.«
»Was hast du da in der Hand ?«, fragte er und blickte auf das Fax.
»Das hier ?« Sie hielt die beiden Blätter in die Höhe wie eine Trophäe. »Das ist ein Fax.«
»Meinen Körper zu begehren ist schön und gut, Herzchen, aber meine Post zu lesen, steht auf einem anderen Blatt.«
Dallas kramte in seinem Schrank herum, holte ein Paar abgetragene Jeans hervor, schlüpfte hinein, nahm einen beigefarbenen Strickpullover aus der Kommode und zog ihn sich mit einem Ruck über den Kopf.
»Von wem ist das Fax ?«
Teri trat neben ihn ans Bett, auf dem er saß, um sich die Socken anzuziehen. »Es kommt von Sheriff Jacob Butler aus Cherokee County, Tennessee.«
Dallas schlüpfte in seine Stiefel, band die Schnürsenkel zu und schaute zu Teri auf. »Es geht um ...«
»In seinem County ist anscheinend eine Art Opfermord passiert.« Teri hielt ihm das Fax hin. »Heute morgen.«
Dallas riss ihr die Seiten aus der Hand, überfl og sie rasch und fluchte leise vor sich hin. »Ich muss ihn anrufen - sofort.« Er stand auf. »Hör zu, Schätzchen, geh doch einfach schon mal zu den anderen. Wenn es das ist, wonach es aussieht, nehme ich heute Abend einen Flug nach Tennessee.«
Teri packte seinen Arm. »Bist du dir sicher, dass du das noch einmal machen willst ? Bisher war von allen Berichten, die du bekommen hast, keiner ... «
»Der hier ist anders. Allein aus dem Fax gehen Ähnlichkeiten mit Brookes Tod hervor.«
»Trotzdem, bei den zahlreichen alten Berichten über Opfermorde, die du angehäuft hast, hatten die Opfer keinerlei Gemeinsamkeiten, nichts, aufgrund dessen man sie mit einem besonderen Mörder in Verbindung bringen könnte, bis auf die Tatsache, dass alle geopfert wurden.«
»Es gibt eine Verbindung«, sagte Dallas. »Wir sind nur noch nicht darauf gekommen. Linc hat erst letzte Woche begonnen, an einem Profi l für mich zu arbeiten, und da er es in seiner Freizeit macht und versucht, sich Rutherford vom Hals zu halten, wird es eine Weile dauern.«
»Hast du noch Resturlaub oder Krankheitstage übrig?« Sie hütete sich davor, weiter mit einem Mann zu diskutieren, der nicht überzeugt werden konnte.
»Drei.«
»Und was ist, wenn sich herausstellt, dass es sich bei diesem Mord um den handelt, auf den du gewartet hast, ein neues Puzzlestück?«
»Dann werde ich mich beurlauben lassen.«
»Ja, das dachte ich mir schon.«
»Ich kann mich also auf dich und Linc verlassen, ja ?« »Inoffiziell.«
Dallas gab ihr einen Kuss. Keine Leidenschaft. Nur eine Dankesgeste. »Du musst nicht auf mich warten. Geh ruhig, mach dich auf den Weg. Ich ruf dich auf dem Handy an, wenn ich heute Abend einen Flug nehme.«
Teri streichelte seine Wange. »Ich hoffe, diesmal ist es der Richtige.«
Dallas machte sich nicht die Mühe, sie an die Tür zu begleiten, daher öffnete Teri sie selbst, blieb aber auf der Schwelle stehen. Sie seufzte. Dallas hatte sie schon völlig vergessen. Er hob den Hörer ab, wählte die Vorwahl des Countys und die Dienstnummer des Sheriffs.
»Ja, hier spricht Special Agent Dallas Sloan vom FBI. Ich hätte gern Sheriff Butler gesprochen.«
Leise zog Teri die Tür zu, ging durch den Flur und über die Treppe ins Erdgeschoss des Wohnhauses hinunter. Du hast hier nichts verloren, sagte sie sich. Die Hoffnung, Dallas würde sich anders besinnen und etwas Dauerhaftes von ihr wollen, war nur ein Hirngespinst. Sie musste den letzten Hoffnungsschimmer begraben - sonst würde ihre Beziehung mit Linc nicht so funktionieren, wie Teri es gern wollte.
»Es gibt Schnee. Das spür ich in den Knochen«, sagte Sally Talbot, als sie ein weiteres Holzscheit in den schmiedeeisernen Kanonenofen warf.
»In der Wettervorhersage im Fernsehen hieß es Schneeregen«, verbesserte Ludie Smith. »Auf wen soll ich denn hören - auf deine alten Knochen, oder auf einen gebildeten Mann, der sich mit Kumuluswolken und Taupunkten und gefühlten Temperaturen auskennt ?«
»Ludie, ich schwör's dir, seit diesem Volkshochschulkurs am Junior College im letzten Herbst hast du abgehoben und behandelst mich von oben herab.«
»Ich doch nicht !« Mit großen, ausdrucksstarken Augen schaute Ludie sie an. »Du benimmst dich wie die Reichen, seit Jazzy deine Hütte weiß verkleidet hat.«
»Du sagst Hütte zu meinem Haus ? Wie nennst du denn dein Haus - einen Palast ?«
»Ich sage Cottage dazu«, erwiderte Ludie. »Ja, ein Cottage, so wie die hübschen kleinen Häuser, die man in Kalendern und in Filmen über das englische Landleben vor dem Zweiten Weltkrieg sieht.«
»Was weiß eine alte Squaw der Cherokee aus den Bergen von Tennessee schon über die ländlichen Gegenden in England ? Ganz davon abgesehen ist dein Haus kein Cottage. Es ist ein Holzschuppen mit vier Zimmern auf Teilpachtbasis.«
»Tja, Miss Neunmalklug, ich weiß über die ländlichen Gegenden in England genauso viel wie du. Und wer bist du schon ? Nur eine verrückte alte weiße Kuh aus den Bergen in Tennessee.«
Jazzy Talbot stand in der Tür zwischen der Küche ihrer Tante Sally und dem Wohnzimmer, in dem Sally und ihre beste Freundin Ludie miteinander stritten, wie immer, solange Jazzy denken konnte. Außenstehende, die den beiden alten Frauen zuhörten, wären davon überzeugt, dass sie sich nicht ausstehen konnten, obwohl das genaue Gegenteil der Fall war. Ludie und Sally waren ein Leben lang befreundet, doch keine von beiden würde jemals zugeben, wie sehr sie der anderen zugetan war. Ihre Lieblingsbeschäftigung war anscheinend, über alles Mögliche zu debattieren - angefangen vom Wetter bis hin zur richtigen Art, Blattkohl zu kochen.
Jazzy räusperte sich. Beide Frauen verstummten sofort und drehten sich zu ihr um. Sally war knochig und an die einsachtzig groß, hatte große Hände und Füße, einen weißen Haarschopf und eisblaue Augen. Lucie ihrerseits hatte schwarze Augen und stahlgraues Haar, war knapp einsfünfzig groß und kugelrund. Jazzy hatte keine Ahnung, wie alt die beiden Frauen waren, aber sie schätzte, dass ihre Tante und Ludie ihren siebzigsten Geburtstag bereits hinter sich hatten.
»Wie lange stehst du schon da ?«, fragte Sally mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht.
»Bin gerade erst gekommen. Habt ihr den Jeep denn nicht gehört?«
»Sie war zu sehr mit Kreischen beschäftigt«, sagte Ludie. »Sie glaubt, es gibt Schnee, aber der Wetterbericht hat deutlich gesagt, dass ... «
»Zuerst soll es Graupelschauer geben, dann Schnee«, sagte Jazzy.
Die beiden Frauen sahen sie stirnrunzelnd und mit großen Augen an.
»Woher weißt du ... du warst heute bei Genny, nicht wahr ?« Sally nahm noch ein Holzscheit und steckte es in den Ofen. Nachdem sie die Tür zugemacht und das Feuer drinnen eingeschlossen hatte, wischte sie sich die Hände an ihrer abgetragenen Jeans ab.
»Hat Genny gesagt, dass es Schnee gibt ?«, fragte Lucie.
Jazzy nickte. »Ich habe gehört, wie sie Jacob riet, er solle den Tatort lieber jetzt genau unter die Lupe nehmen, weil das Wetter heute Abend schlecht wird. Sie glaubt, es wird ziemlich rau.«
»Dann sollten wir uns lieber darauf einstellen«, sagte Sally. »Das Mädel irrt sich nie mit dem Wetter. Sie ist genau wie ihre Großmutter. Melva Mae hatte auch das Zweite Gesicht.«
»Ist das mit der armen kleinen Susie Richards nicht schrecklich ?« Ludie schüttelte den Kopf. »Was für ein Mensch tut einem anderen so was an, immerhin war das Mädchen erst siebzehn !«
»Warum warst du bei Genny ?«, fragte Sally. »Hatte sie wieder einen Anfall ?«
Jazzy nickte. »Sie hat gesehen, wie die kleine Richards umgebracht wurde. Aber das dürft ihr nicht weitererzählen.«
Ludie stieß einen Klagelaut aus. »Der Herr stehe uns bei !«
»Sie hat Jacob angerufen und ihm gesagt, wo er Susies Leiche fi ndet. Jetzt hat er einen Mordfall zu lösen und ein County voll verängstigter Menschen.«
»Jacob hat weder das Personal, noch die entsprechende Ausrüstung, um Tatortuntersuchungen durchzuführen.« Sally ging in die Küche. »Bleibst du zum Abendessen, Mädel, oder gehst du zu dir, bevor das Wetter umschlägt ?«
»Schätze, ich fahre nach Hause«, erwiderte Jazzy. »Ich hab nur reingeschaut, um zu sehen, ob ihr etwas braucht. So weit draußen vor der Stadt schafft ihr es vielleicht ein paar Tage lang nicht bis Cherokee Pointe, wenn sich unter dem Schnee Eis gebildet hat.«
»Hab alles, was ich brauche«, rief Sally aus der Küche. »Möchtest du eine Tasse Kaffee, bevor du aufbrichst ?«
»Kaffee und ein Stück von dem Eiercremekuchen, den ich auf der Anrichte gesehen habe.« Jazzy zwinkerte Ludie zu, denn sie wusste nur zu gut, dass Ludie den Kuchen gebacken und mitgebracht hatte. Sally war keine gute Köchin - noch nie gewesen. Hätte Ludie nicht so gut kochen können, wäre Jazzy vermutlich mit nichts als Maisbrot, Bratkartoffeln und dem Gemüse der Saison großgeworden. Ludie hatte ein Talent zum Kochen und arbeitete in Jazzys Restaurant im Ort. Seit letztem Jahr hatte sie ihre Arbeitszeit auf ein paar Tage in der Woche reduziert.
Als sich Jazzy und Ludie zu Sally in der Küche gesellten, hatte Sally den Kuchen bereits angeschnitten und den Tisch mit drei Tellern und Gabeln gedeckt. Sie nahm eine alte Kaffeekanne aus Eisen vom Herd und goss dampfenden schwarzen Kaffee in nicht zusammenpassende Tonbecher.
Während die drei an dem mit einem gelben Wachstuch bedeckten Tisch saßen, wurden Sally und Ludie ganz still. Jazzy hatte das ungute Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Dabei ging es nicht darum, dass gestern in Cherokee County ein Mord geschehen war.
»Läuft das Geschäft ?«, fragte Sally.
»So gut wie immer im Januar«, antwortete Jazzy. »Wir haben ein paar Touristen in den Hütten und noch ein paar, die auf dem Weg nach Pigeon Forge und Gatlinburg im Restaurant einkehren.«
»Im Frühling nimmt es wieder zu«, sagte Ludie. »Das ist immer so.«
»Mir ist auch nach Frühling.« Sally schlürfte ihren Kaffee.
»Mir auch.« Ludie seufzte. »Es geht doch nichts über Vogelgezwitscher im Frühling und Butterblumen und blühende Tulpen.«
Jazzy erwischte ihre Tante und Ludie dabei, eigenartige Blicke zu wechseln. »Na schön, was ist los ?«
»Ich weiß gar nicht, was du meinst.« Sally starrte an die Holzdecke.
»Wir können es ihr auch sagen«, bemerkte Ludie. »Wundert mich, dass sie es noch nicht gehört hat.«
»Was denn ?« In Jazzys Magengrube bildete sich ein fester Kloß.
»Nur weil er wieder da ist, muss das nicht heißen, dass du etwas mit ihm zu tun haben wirst.« Sally bedachte Jazzy mit einem warnenden Blick. »Wenn er dir nachschnüffelt, jag ihn zum Teufel. Wenn du gescheit bist. Er taugt nichts. Hat er noch nie.«
»Wen meint ihr denn - du meine Güte ! Ihr wollt mir doch nicht sagen, dass ... «
»Hab es heute Morgen in der Stadt gehört, bevor sich die Neuigkeiten über die kleine Richards verbreitete«, sagte Ludie. »Jamie Upton tauchte vor zwei Tagen auf der Farm auf, und sein Großvater hat doch tatsächlich das gemästete Kalb geschlachtet, um die Heimkehr des verlorenen Sohnes zu feiern.«
»Erzähl ihr den Rest«, sagte Sally.
Ludie ließ den Kopf hängen und vermied den Blickkontakt mit Jazzy. »Er hat eine Frau mit nach Hause gebracht.«
»Eine Ehefrau ?«, fragte Jazzy.
»Eine Verlobte«, erwiderte Ludie.
»Verlobt war er schon mal«, sagte Jazzy. »Das hat nichts zu bedeuten. Ihr wisst doch, wie Jamie ist.«
»Ich weiß, dass er keinen Pfi fferling wert ist.« Sally trank ihren Kaffee aus, erhob sich und füllte ihren Becher wieder.
Jazzy stocherte in dem Kuchenstück herum. Sie mochte Ludies Kuchen, wusste aber, wenn sie jetzt hineinbiss, würde er wie Pappe schmecken. Dabei war sie nicht mehr in Jamie verliebt. Tatsächlich war sie sich nicht einmal sicher, ob sie ihn jemals geliebt hatte. Aber sie hatte ihn haben wollen. Und wie. Er war ihr Erster gewesen, damals, als sie noch jung und unerfahren genug war, um zu glauben, dass Big Jim Uptons einziger Enkel ihresgleichen heiraten würde, einen Bastard aus dem weißen Abschaum, aufgezogen von einer armen, exzentrischen alten Frau, die in der halben Stadt als verrückt galt.
Jazzy stand auf. »Ich mach mich lieber auf den Weg in die Stadt. Soll ich dich nach Hause bringen, Ludie ?«
»Um Himmels willen, nein. Mein Haus ist keine Viertelmeile von hier entfernt.«
»Aber wenn ein Mörder frei herumläuft ...«
»Hab meinen Revolver in der Manteltasche, wie immer«, sagte Ludie. »Du weißt, dass ich ohne den nirgendwohin gehe.«
Ludie trug einen alten Smith & Wesson bei sich, der ihrem Vater gehört hatte, und Sally schleppte eine Flinte mit sich herum. Zwei alte Spinnerinnen, dachten die meisten.
...
Übersetzung: Marion Balkenhol
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2012 by
Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Beverly Barton
Beverly Barton hat über 70 Liebesromane und Thriller geschrieben, von denen viele auf die Bestsellerliste der New York Times kamen. Geboren wurde sie im US-Bundesstaat Alabama, wo sie auch ihr Leben verbrachte. Im April 2011 starb Beverly Barton überraschend im Alter von 64 Jahren. Mehr über die Autorin erfahren Sie auf www.beverlybarton.com.
Bibliographische Angaben
- Autor: Beverly Barton
- 2012, 396 Seiten, Deutsch
- Verlag: Weltbild Deutschland
- ISBN-10: 3863656067
- ISBN-13: 9783863656065
- Erscheinungsdatum: 01.10.2012
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