Im Reich der Angst (ePub)
Roman
Eine Kleinfamilie wird durch einen Mitschüler des Sohnes terrorisiert. Was harmlos beginnt, zerrüttet nach und nach das Leben aller Beteiligten. Isaac Rosa hat ein dramatisches Buch über alltägliche Ängste und anschwellende Paranoia geschrieben, die...
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Produktinformationen zu „Im Reich der Angst (ePub)“
Eine Kleinfamilie wird durch einen Mitschüler des Sohnes terrorisiert. Was harmlos beginnt, zerrüttet nach und nach das Leben aller Beteiligten. Isaac Rosa hat ein dramatisches Buch über alltägliche Ängste und anschwellende Paranoia geschrieben, die niemanden kaltlässt. Die Kleinfamilie von Carlos, Sara und dem 12-jährigen Pablo wird von einem Jungen aus Pablos Schule bedroht. Als die Eltern erfahren, dass Pablo erpresst und verprügelt wird, beginnt der Vater, seinen Sohn zu protegieren. Carlos und Pablo halten vor der Mutter geheim, dass der Vater den Sohn jeden Tag von der Schule abholt und regelrecht überwacht - nur zu dessen Sicherheit, versteht sich. Doch bald lässt auch Carlos sich von dem Jungen erpressen und verprügeln und gibt ihm immer mehr Geld, ohne dass er dadurch in Ruhe gelassen würde. Als Carlos seinen Schwager, einen Polizisten, einschaltet, eskaliert die Situation. Fesselnd und eindringlich beschreibt Isaac Rosa die lebenszerstörende Macht der Angst.
Lese-Probe zu „Im Reich der Angst (ePub)“
Für Olivia, im Land der Freude Beim ersten Mal dachte sie an ein Versehen. Vielleicht hatte sie morgens in der Cafeteria zu wenig Wechselgeld herausbekommen, oder ihr war ein Schein aus dem Portemonnaie gerutscht, als sie das Geld herausnahm. Beim zweiten Mal sagte sie sich, dass es kein Versehen gewesen sein konnte. Sie überlegte, was sie ausgegeben hatte, seit sie am Morgen davor am Geldautomaten gewesen war. Die Rechnung ging nicht auf, zwanzig Euro fehlten. Beim dritten Mal dachte sie an einen Diebstahl in der Firma. In der Regel ließ sie ihre Handtasche, wenn sie auf die Toilette ging oder in einem anderen Raum eine Besprechung hatte, am Schreibtischstuhl hängen. Da konnte es leicht passieren, dass jemand unbeobachtet in ihre Tasche griff und einen Schein aus dem Portemonnaie zog. Vorsichtshalber würde er nicht das ganze Geld entwenden; er würde überschlagen, wie viel er herausnehmen konnte, ohne dass der fehlende Betrag auffiel. Sie hatte keinen Anlass, irgendwen zu verdächtigen. Allerdings gab es Kollegen, die sie kaum kannte, die Fluktuation im Unternehmen war hoch, und so herrschten genug Distanz und Missmut, dass jemand auf die Idee kommen konnte, seine Kollegen zu bestehlen. Heute jedoch, beim mittlerweile vierten Mal, ist Sara sicher: Das Geld, das sie vermisst, ist ihr nicht in der Firma gestohlen worden. Sie ist kaum an ihrem Platz gewesen, hat alle möglichen Unterlagen hin und her getragen, was sie den ganzen Vormittag gekostet hat. Ein Taschendieb in der U-Bahn kann es auch nicht gewesen sein: Es ist ja nicht das erste Mal, und außerdem ist es unplausibel, dass ein Dieb, der einem das Portemonnaie aus der Tasche zieht, nur einen kleinen Schein herausnimmt und es dann zurück an seinen Platz steckt. Nein, das Geld kann ihr nur an einem einzigen Ort gestohlen worden sein, und zwar zu Hause. Da wäre die junge Frau, die zweimal in der Woche putzen kommt. Sara versucht sich zu erinnern, wann genau die Diebstähle stattgefunden haben, und sie glaubt, dass es
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an den Wochentagen war, an denen die Putzfrau im Haus ist. Eine blutjunge Marokkanerin, Naima. Viel mehr weiß sie nicht von ihr. Sie putzt auch in anderen Wohnungen in der Nachbarschaft, mehrere Bekannte haben sie Sara empfohlen. Naima sei schnell, reinlich und still, hat eine Nachbarin gesagt. Sie arbeitet schwarz, auf Stundenbasis und hat keinen Wohnungsschlüssel. Sie kommt immer nachmittags, wenn Carlos oder Sara zu Hause sind, allerdings lassen sie sie dann häufig allein oder mit Pablo. Ja, sie arbeitet schnell und macht kaum den Mund auf, höchstens mal, um zu fragen, ob sie im Schlafzimmer oder in der Küche anfangen soll, oder um die Erlaubnis der gnädigen Frau einzuholen, wenn sie die Toilette benutzen oder sich ein Glas Wasser holen möchte. Sie ist ausgesprochen höflich und spricht ganz leise, und obwohl Sara sie duzt und sie immer wieder auffordert, sie ebenfalls beim Vornamen zu nennen, spricht Naima sie weiterhin mit »gnädige Frau« an, in der dritten Person. Misstrauisch geworden, stellt Sara vor Eintreffen der Putzfrau ein paar Nachforschungen an. Sie sieht die Schubladen im Schlafzimmer durch und bemerkt zum ersten Mal das Fehlen mehrerer Schmuckstücke: zwei Armreife, die sie nur zu festlichen Anlässen trägt, einige Ohrringe und ein wertloser Anhänger. Sie sagt sich, dass die Sachen vielleicht irgendwo anders liegen, doch beim weiteren Suchen fällt ihr auf, dass noch mehr Dinge fehlen, ausnahmslos Schmuck von geringem Wert. Sie durchkämmt den Rest der Wohnung und findet weitere Lücken, die ihr bis dato entgangen waren: Filme, deren Verschwinden in der umfangreichen DVD-Sammlung kaum auffällt, CDs, kleine Dekoartikel sowie zwei Flaschen Likör aus der Hausbar, Überreste aus dem Geschenkkorb ihrer Firma von der letzten Weihnachtsfeier. Weitere Beweise scheinen nicht nötig, aber um ganz sicherzugehen, führt sie ein letztes Experiment durch. Sie greift zur Handtasche, nimmt das Portemonnaie heraus, zählt nach, wie viel Geld sich darin befindet, und steckt ein paar Scheine ein. Den Rest lässt sie im Portemonnaie und legt es gut sichtbar auf die Schlafzimmerkommode. Kurz darauf trifft die junge Frau ein, grüßt höflich und verschwindet im Bad, um ihren Kittel und die Pantoffeln anzuziehen. Als sie wieder herauskommt, hat Sara bereits den Mantel an. Sie sagt ihr, sie habe etwas zu erledigen und werde eine Weile weg sein, und lässt sie alleine in der Wohnung. Dann bleibt sie fast zwei Stunden fort. Sie schlendert durch ein nahegelegenes Einkaufszentrum, macht, um ihre Abwesenheit zu rechtfertigen, ein paar kleine Besorgungen und setzt sich dann in ein Café. Sie trinkt zwei Tassen Kaffee, raucht vier oder fünf Zigaretten, blättert in einer Gratiszeitung. Als sie glaubt, dass genug Zeit verstrichen ist, damit das Mädchen sich in Sicherheit wiegen konnte, macht sie sich auf den Heimweg. Zu Hause stellt sie fest, dass Naima schon gegangen ist, ein wenig früher als sonst. Carlos bereitet gerade das Abendessen zu, und Pablo macht Hausaufgaben. Sara geht ins Schlafzimmer und findet das Portemonnaie dort vor, wo sie es hinterlassen hat. Sie nimmt es in Augenschein, ohne es anzufassen. Das Portemonnaie scheint an der gleichen Stelle zu liegen wie vorher oder vielleicht ein Stückchen nach rechts verschoben, da ist Sara nicht sicher. Sie macht es noch nicht auf. Lieber wartet sie, bis sie zu Abend gegessen und Pablo ins Bett gebracht haben, so als könnte sie ihn dadurch vor dem Vergehen schützen. Sie schiebt den Augenblick der Wahrheit hinaus, so lange sie kann. Nach dem Abendessen, als Pablo im Bett liegt, sehen Carlos und sie sich einen Film an, bis sie keine Lust mehr haben und beschließen, schlafen zu gehen. Sie zieht sich aus und putzt sich die Zähne; erst als Carlos sich schon hingelegt und seine Nachttischlampe ausgeknipst hat, ringt sie sich dazu durch, das Portemonnaie zu holen und aufzuklappen. Sie zählt die Scheine. Sie hatte zwei Zwanziger und drei Zehner darin gelassen. Jetzt fehlt ein Zehneuroschein. Sie überprüft das Resultat hastig, um Carlos keinen Grund zu neugierigen Fragen zu geben, wenn er sie so spät abends Geld zählen sieht. Aber da sie zu dem Schluss kommt, dass sie unmöglich schlafen kann, solange sie nicht ganz sicher ist, zieht sie die Scheine aus dem Portemonnaie, löst sie sorgfältig voneinander und zählt nach; dann fährt sie noch einmal mit dem Finger über jede einzelne Banknote, falls zwei zusammenkleben. Jetzt besteht kein Zweifel mehr, einer fehlt. Die Diebin ist mit Bedacht vorgegangen, sie hat einen kleinen, mehrfach vorhandenen Schein mitgenommen, damit das Fehlen nicht auffällt. Zehn Euro. Sie überlegt, wie lange die junge Frau sie wohl schon bestiehlt. Sie arbeitet seit drei Monaten bei ihnen, und Sara überschlägt rasch die Summe, indem sie die Zahl der Wochen mit Fünf- und Zehneuroscheinen multipliziert, manchmal auch mit einem Zwanziger. Sie legt sich ins Bett. Carlos ist schon im Halbschlaf, aber da sie das Licht noch nicht ausschaltet, dreht er sich zu ihr und fragt, ob irgendetwas sei. Sie erzählt ihm alles. Sie berichtet vom Anfang her, ohne das Ende vorwegzunehmen, so als wollte sie es spannend machen. Sie berichtet, wie sie Verdacht geschöpft hat, wie immer wieder kleine Beträge fehlten, und zählt auch die verschwundenen Gegenstände in der Reihenfolge auf, in der sie ihr Fehlen bemerkt hat. Sie erzählt ihm von der Falle, die sie am Nachmittag gestellt hat, und vom Ergebnis der soeben durchgeführten Untersuchung. Eigentlich hätte sie gleich sagen können: Weißt du, die Putzfrau, Naima, die klaut bei uns. Aber es ist ihr lieber, alles so vorzubringen, wie sie es erlebt hat. So wartet sie ab, soll er selbst das Urteil aussprechen, den naheliegenden Schluss ziehen, dann kann sie sich in ihrem Verdacht bestätigt fühlen und zudem erleichtert, dass nicht sie die Anklägerin ist. Doch Carlos hört schweigend zu, und als sie fertig ist, sagt er nichts. Er wartet einige Sekunden, als wäre die Geschichte für ihn noch nicht zu Ende, als fehlte ein letztes Kapitel. Und was denkst du?, fragt er schließlich. Was ich denke?, wiederholt Sara und fügt hinzu: Was glaubst du denn, für mich ist die Sache sonnenklar. Aber er schweigt weiter. So bleibt es an ihr, den Richterspruch zu fällen und das Urteil am nächsten Tag zu vollstrecken. Vor dem Schlafengehen macht er meistens noch einen Kontrollgang durch die Wohnung, während Sara im Badezimmer ist. Er sperrt die Eingangstür ab, sucht nach womöglich tropfenden Wasserhähnen, lässt die Rollos herunter. Anschließend putzt er sich die Zähne, pinkelt, deckt seinen Sohn zu, stellt den Wecker. Dann geht er endlich ins Bett, nimmt Sara, die inzwischen eingeschlafen ist, das Buch aus der Hand, und schaltet das Licht aus. Sie wohnen in einem ruhigen Viertel, die Fenster sind doppelisoliert, und so herrscht im Schlafzimmer Stille. Kleine Geräusche im Haus, Möbelknarzen, der brummende Kühlschrank, die vor sich hin tropfende Dusche, die Leitungen, die heisere Stimme eines Nachbarn, der sich mit seiner Frau streitet. Jede Nacht um dieselbe Zeit rast ein Wagen durch die Straße, biegt mit quietschenden Reifen um die Ecke und verschwindet unter Brems- und Beschleunigungslärm. Carlos weiß, dass in der Stadt jede Nacht Autos gestohlen werden, und er kennt auch Geschichten von illegalen Wettrennen; natürlich kann es auch jemand aus dem Viertel sein, der es immer eilig hat. In manchen - wenigen - Nächten hat er auch schon einen Menschen schreien hören. Ein nicht klar zuzuordnender, kurzer Schrei aus der Ferne, möglicherweise ruft da jemand einem anderen hinterher, oder es brüllt jemand ohne Rücksicht auf die Anwohner seine Freude hinaus, es könnte aber auch ein Hilferuf sein. Einmal folgte dem Schrei ein lautstarker Wortwechsel, aus dem Carlos wachsende Aggressivität herauszuhören glaubte. Eine heftige Diskussion zwischen zwei Personen, vielleicht ein Streit. Er stand auf und spähte durch die Schlitze des Wohnzimmerrollos; er wagte nicht, es hochzuziehen, sonst sahen sie ihn am Ende von der Straße aus und identifizierten ihn als unerwünschten Zeugen. Aber er konnte nichts erkennen, und Sekunden später hörte das Geschrei schlagartig auf. Vielleicht hatten die zwei sich nach der letzten Beleidigung wieder vertragen und leiser weitergesprochen, oder einer der beiden war von einem Hieb niedergestreckt worden, oder ein Messerstich hatte ihn verstummen lassen, jedenfalls war dann nichts mehr zu hören. Später, im Bett, hat Carlos nach einer Polizeisirene gelauscht, es gibt ja immer jemanden aus der Nachbarschaft, der den Notruf verständigt, obwohl in jener Nacht vielleicht er an der Reihe gewesen wäre, als einziger Zeuge um diese Uhrzeit, und da er keine Verantwortung übernommen hatte, würde am nächsten Morgen nur jener unverwechselbare schwärzliche Fleck auf dem Gehsteig zurückbleiben, der noch tagelang zu sehen sein würde. Manchmal schreckt er in der Nacht nach zwei oder drei Stunden ruhigem Schlaf plötzlich hoch. Er weiß nicht, ob er aus einem Albtraum erwacht oder ob ein Geräusch von der Straße ihn aus dem Schlummer reißt, aber plötzlich ist er wach, und der Schreck sitzt ihm in den Gliedern. In der Wohnung ist es still, Sara schläft mit dem Rücken zu ihm. In diesem Augenblick ist sein Bewusstsein klar genug, dass er sich im Wachzustand weiß, aber nicht so klar, dass er die Welt so wahrnehmen könnte wie sonst. Sie sind schon drin, denkt er, und dieses Adverb, schon, markiert das Ende einer Wartezeit, das Eintreten eines seit langem fälligen Ereignisses. Sie sind schon drin. Gelegentlich kommt ihm auch ein anderes Adverb in den Sinn: noch. Er wacht erschrocken auf und fragt sich, ob sie wohl noch hier sind. Vom Bett aus sieht er den dunklen Flur und weiter hinten den fahlen Glanz eines Möbelstücks, das von der Straßenlaterne erleuchtet wird, deren Licht durchs Wohnzimmerrollo dringt. Er wartet einige Sekunden, bis er richtig wach ist, seine Angst hat bis dahin schon etwas abgenommen, sie ist auf ihre übliche Größe geschrumpft, und er beruhigt sich. Nein, sie sind nicht drin. Sie können gar nicht drin sein. Er steht auf, und während er auf den Flur hinaustritt und zum Wohnzimmer geht, sieht er vor seinem geistigen Auge eines seiner wirksamsten, ältesten Schreckensszenarien ablaufen: eine Art Albtraum des Verstands, denn mit Schlaf hat das nichts zu tun, es handelt sich um eine bloße Ausgeburt des Denkens. Es ist der Moment, in dem er nach einigen Schritten durch die Dunkelheit feststellt, dass das Stück Flur hinter der Ecke, der Bereich, den er noch nicht betreten hat, hell erleuchtet ist von einem Licht, das durch die Wohnungstür hereinfällt, und die steht weit offen zum Treppenhaus. Er glaubt, diese Szene noch nie geträumt zu haben, er hat sie nur gedacht, sie sich ausgemalt, doch seine Fantasie hat dieselbe visuelle Kraft wie ein häufig wiederkehrender Traum, wenn nicht gar eine schwer zu datierende Kindheitserinnerung: Er macht einen Schritt, späht ganz vorsichtig um die Ecke und sieht die geöffnete Wohnungstür und draußen eine Kulisse, von der sich vorerst nicht sagen lässt, ob sie Bedrohung oder Rettung verheißt - das dunkle Treppenhaus und als einzige Lichtquelle der auf seinem Stockwerk stehende Aufzug, ein vertikales, gelblich schimmerndes Rechteck, hell genug, um ein Stück weit in den Eingangsbereich seiner Wohnung zu leuchten. Er hat diesen Moment oft vor sich erstehen lassen, zur Vorbereitung, falls er tatsächlich einmal eintritt, auch wenn er weiß, dass ihm dann keine Vorausschau helfen wird. Als Erstes wäre zu überprüfen, ob sie noch drin sind. Er verwendet den Plural, weil in den Nachrichten meist von mehreren Einbrechern die Rede ist, die durch die Tür kommen, obwohl es bekanntlich auch den einen oder anderen einsamen Fassadenkletterer gibt, der die unteren Stockwerke eines Gebäudes erklimmt oder sich vom Dach aus zu den oberen Stockwerken abseilt. Man kann nur hoffen, dass sie schon weg sind, dass sie schnell fertig waren, saubere, professionelle Arbeit, und dass sie nur vergessen haben, beim Gehen die Tür zuzuziehen, oder sie haben sie absichtlich offen gelassen, um das Schließgeräusch zu vermeiden, die Bewohner nicht aufzuwecken, aus dankenswerter Rücksichtnahme. Aber warum steht dann der Aufzug da. Komisch, dass sie damit hochgefahren sind, normal wäre der Weg über die Treppe, auch wenn es sechs Stockwerke sind, sie werden doch kaum riskieren, dass das Brummen des Aufzugs irgendeinen schlaflosen Bewohner auf den Plan ruft. Das sind Profis, so tölpelhaft stellen die sich nicht an. Wahrscheinlich steht der Aufzug hier, seit der letzte Nachbar des Stockwerks zurückgekommen ist, er kommt oft spät nach Hause, er ist in seine Wohnung gegangen, und seitdem ist niemand mehr mit dem Fahrstuhl gefahren. Eigentlich ist dieser schimmernd dastehende Aufzug überflüssig, ein unpassendes Detail, ein Versatzstück aus einem Kinofilm. Man sollte davon ausgehen, dass die Wohnungstür zu ist, ob sie nun noch drin sind oder das Haus bereits verlassen haben. Wenn eine Tür sperrangelweit offen steht, ruft schneller jemand die Polizei, es bleibt also weniger Zeit zur Flucht. Carlos beschließt, seinen Albtraum in diesem Punkt abzuwandeln, die offene Tür wegzulassen, die erstens nicht zu Profis passt und zweitens etwas Willkürliches hat, als wollten die Einbrecher ihn mit solchen Mätzchen einschüchtern, und dass sie es darauf anlegen, ihn zu erschrecken, ist nicht normal, das haben sie nicht nötig. Der nächste Schritt besteht darin, ins Wohnzimmer zu gehen. Wahrscheinlich findet man dort alles auf den Kopf gestellt. Carlos hat nie erlebt, wie ein Wohnzimmer nach einem Einbruch aussieht, aber er kennt die üblichen Schilderungen aus der Sparte »Vermischtes« und die Bilder aus einschlägigen Fernsehserien: ein heilloses Durcheinander, die Schubladen auf dem Boden, überall verstreute Bücher, durchgewühlte Unterlagen und umgeworfene Stühle. Aber vermutlich wird es nicht ganz so wüst zugegangen sein. Fehlende Elektrogeräte, verstaubte Lücken, wo vorher der Fernseher stand, der Computer, die Stereoanlage. Behutsam geöffnete Schubladen. Einige wenige Papiere, die nicht an ihrem Platz liegen, sie suchen ja nur nach Gegenständen von unmittelbarem Wert, nicht nach Verträgen oder Geheimzahlen, eher nach Schmuck, Bargeld, Gold, technischen Geräten in gutem Zustand. Das lässt erwarten, dass sie in der Regel nicht nur das Wohnzimmer durchsuchen. Der Schmuck, das Haushaltsgeld, die Eheringe, diese Beute befindet sich stets in der Nähe des Bettes. So kommen wir also zur zweiten Version seines bewussten Albtraums. Zu der schlimmeren Variante. Derjenigen, die ihn manchmal aus dem Schlaf hochschrecken, aber lieber nicht die Augen öffnen lässt: Sie sind hier, im Schlafzimmer. Also presst er die Lider zu, unter die Decke gekuschelt, mit dem Gesicht zum Nachttisch. Er lauscht, doch ohne Erfolg: Da sind weder Schritte noch Atemgeräusche, auch kein Flüstern oder raschelnde Kleidung. Schließlich macht er die Augen auf. Es ist niemand da. Er hat sich oft überlegt, was er tun würde, wenn doch jemand da wäre. Er stellt sich vor, wie er mitten in der Nacht die Augen aufschlägt und, sobald sich seine Pupillen ans Halbdunkel gewöhnt haben, im Schlafzimmer einen Mann ausmacht, zwei Männer, in schwarzer Kleidung und mit Kapuzen oder Gesichtsmasken; sie durchwühlen die Schubladen der Kommode, greifen zwischen Strümpfe und Slips, in der freien Hand eine kleine Taschenlampe mit einem winzigen Lichtkegel. Besser, sich schlafend zu stellen, denkt er. Noch besser, tatsächlich zu schlafen. Nicht aufzuwachen, nichts zu hören. Er wäre dankbar dafür, betäubt zu sein, ein Fläschchen oder ein feuchtes Tuch, das ihm unter die Nase gehalten wird, und erst fünf oder sechs Stunden später wieder aufzuwachen, mit Kopfschmerzen und ausgetrockneter Kehle. Sollen sie ihre Arbeit beenden und verschwinden, und erst am nächsten Morgen, nach ein, zwei alltäglichen Verrichtungen (ins Bad gehen, die Hose anziehen oder sogar frühstücken), würde man dann den Diebstahl bemerken, wo sind die Ohrringe, die habe ich doch auf den Tisch gelegt, ich kann die Autoschlüssel nicht finden, hast du meine Handtasche gesehen. Aber wenn er die Augen öffnet und sie sind noch da, wenn er sie im ungünstigsten Moment erwischt, was dann? Sich ihnen entgegenzustellen, auf sie loszugehen, das kommt nicht in Frage. Sie sind zwei gegen einen, sie sind kampferprobt, bestimmt sind sie bewaffnet, und er ist noch schlaftrunken, kraftlos, er ist ein friedfertiger Mensch, er hat noch nie mit der Faust zugeschlagen, der Boden ist kalt, wenn er den nackten Fuß darauf setzt. Einen stumpfen, schweren Gegenstand hat er auch nicht in Reichweite, er kann ja schlecht mit dem Papierlämpchen vom Nachttisch auf sie eindreschen oder einen Pantoffel nach ihnen werfen oder eine zusammengerollte Zeitung. Er könnte schreien, in der Hoffnung, dass sie einen Schrecken bekommen und fliehen. Was schreit man denn in einer solchen Lage? »Hilfe!« klingt arg theatralisch, »Haltet den Dieb!« ebenso, ganz zu schweigen von »Rettet uns!«. »Polizei« ist nicht sehr praktisch, und außerdem könnte eine Erwähnung der Staatsmacht die Einbrecher wütend machen und aggressive Reaktionen provozieren - noch aggressivere. Vielleicht sollte er einfach laut brüllen, ohne Worte. Ein langgezogenes, kehliges »A«, das sich hoffentlich zu einem so gellenden Schrei auswächst, dass es sie in die Flucht schlägt. Aber wenn er schreit, werden sie nicht als Erstes an Flucht denken, rechnen wir nicht mit solchen Feiglingen, solchen Dilettanten. Ihr erster Gedanke wird sein, ihn zum Schweigen zu bringen, ihn niederzustrecken, ihm eine Socke in den Mund zu stopfen, ihm das Kissen aufs Gesicht zu pressen, und dann wird auch Sara wach werden, auch mit ihr wird man etwas unternehmen müssen, kümmere du dich um den Schreihals, ich übernehme die Zuckerschnitte. Es wird in jedem Fall besser sein, wenn sie nicht merken, dass er wach ist, denn sonst hat er nichts als Gewalttätigkeiten zu erwarten. Nicht einmal weiterzuschlafen kann seine Sicherheit gewährleisten. Er hat Geschichten über leidenschaftlich brutale Einbrecher gelesen, die offenbar eher aufs Prügeln aus sind als auf Beute, unter »Vermischtes« erscheinen sie als verrohte Gestalten, die ihre Enttäuschung und Wut über den geringen Wert der gefundenen Gegenstände an den Bewohnern auslassen, sie foltern, damit sie Verstecke preisgeben, verborgene Safes, Kreditkartencodes; manchmal sind sie gar als Sadisten beschrieben, die keine Gelegenheit auslassen, eine Familie zu terrorisieren, sie brechen dem Mann die Finger, zwingen ihn, bei der Vergewaltigung seiner Frau zuzusehen, sogar beim Missbrauch der Kinder. In einem solchen Fall wird von ihm ein wenig mehr erwartet als der hysterische Aufschrei, der ihm vor lauter Panik vielleicht gar nicht über die Lippen käme. Man erwartet Opferbereitschaft, Heldentum, er müsste sich auf die Einbrecher stürzen und lange genug mit ihnen ringen, dass Sara und der Junge das Treppenhaus erreichen und Hilfe rufen können, wobei dort zweifellos ein dritter Einbrecher Schmiere steht und ihnen den Fluchtweg abschneidet, und so wird auch Sara ein Opfer zu bringen haben, damit wenigstens der Junge davonkommt. Ja, sollten wir in jener Nacht das Pech haben, an ein paar Sadisten zu geraten, eingefleischte Kriminelle, verroht durch mehrere Gefängnisstrafen, erregt vom frischen, schlafenden Fleisch, so sollen sie uns wenigstens nicht wecken, gebe Gott, dass ihre Schläge uns im Schlaf treffen, dass wir vor dem Erwachen die Besinnung verlieren und somit betäubt ihren Misshandlungen ausgeliefert sind, uns nur dem körperlichen Schmerz und seinen Folgen aussetzen müssen, ohne den zusätzlichen Schrecken des bewussten Erlebens. Wenn wir nun den Albtraum verschärfen wollen, den wir uns hier erschaffen, dann bleibt uns nur noch, kranke Einbrecher einzusetzen, eher reif für die Klapse als für den Knast, Unmenschen, die sich am Schmerz anderer weiden und das Ehepaar nicht etwa durch Schläge oder heftiges Wegreißen der Bettdecke aus dem Schlaf holen, sondern lieber sanft, ja liebevoll vorgehen, es ist kaum mehr als ein Auflegen der Hand, ein Streicheln über den Kopf, leise Worte, komm, wach auf, na los, du Schlafmütze, wir sind schon da. Aber sie sind nicht da. Er öffnet endlich die Augen, steht auf, geht durch den Flur, vergewissert sich, dass die Tür abgeschlossen und der Rolladen unten ist, er deckt den Jungen zu, pinkelt, trinkt ein Glas Wasser und legt sich wieder hin, und dabei weiß er nicht, ob er sich mehr für seine unermüdliche Vorstellungskraft schämen soll oder für seine potenzielle Feigheit, bis er schließlich wieder einschläft. Als sie am Abend von der Arbeit nach Hause kommt, sieht sie Naima, die auf einer Bank gegenüber vom Hauseingang auf sie wartet. Neben ihr sitzt ein junger Mann, dem Aussehen nach ebenfalls Nordafrikaner. Sara tut, als hätte sie die beiden nicht gesehen, muss jedoch so lange in der Handtasche nach ihrem Schlüssel kramen, dass die junge Frau Zeit hat herüberzukommen. Ihr Begleiter bleibt mit verschränkten Armen ein paar Meter weiter stehen. Naima sagt stockend einige Worte, die sie sich wohl vorher zurechtgelegt hat, aber Sara erwidert, sie möge sie bitte in Ruhe lassen. Schließlich findet sie den Schlüssel, bringt ihn aber nicht ins Schlüsselloch, während Naima neben ihr unverständliche Sätze hervorstößt, ein Gemisch aus Arabisch und Spanisch, in das sich erste Tränen mischen. Endlich bekommt sie die Tür auf und will sie hinter sich zuziehen, doch in diesem Augenblick läuft der junge Mann herüber und schiebt den Fuß in den Spalt. Bitte, gnädige Frau, hören Sie ihr doch eine Minute lang zu, sagt er. Ich bin in Eile, tut mir leid, sagt Sara und wirft einen Blick zum Aufzug. Er steht nicht im Erdgeschoss, und sie überlegt, was ungünstiger ist, auf den Aufzug zu warten oder durchs Treppenhaus nach oben zu gehen, wo die beiden ihr sechs Stockwerke lang hinterherlaufen und weiter in sie dringen können. Sie ist keine Diebin, sagt der junge Mann, der sich angesichts der Hilflosigkeit der jungen Frau, die hinter ihm laut vor sich hin schluchzt, zum Wortführer aufschwingt. Wirklich, Sie täuschen sich in ihr, sie ist ein gutes Mädchen, so fleißig, geben Sie ihr noch eine Chance, wir brauchen das Geld, helfen Sie uns, bitte, und seine Stimme, die anfangs einen bedrohlichen Unterton zu haben schien, wird sanfter, bis sie fast schon ein Flehen ist. Sara sieht auf die Uhr. Es ist acht, eine Zeit, zu der viele Leute von der Arbeit nach Hause kommen, es muss jeden Augenblick einer der Nachbarn auftauchen. Nehmen Sie bitte den Fuß aus der Tür, sagt sie mit fester Stimme, ich habe Ihnen nichts mehr zu sagen. Der junge Mann kommt der Aufforderung nach, und Sara zieht behutsam die Türe ins Schloss. Sie wendet den beiden den Rücken zu und wartet auf den Aufzug, und dabei verfolgt sie das sichere Gefühl, dass die beiden noch am Eingang stehen, das Mädchen in Tränen aufgelöst, während er sie tröstet. Als sie die Wohnung betritt, klingelt es an der Tür. Carlos steht vom Computer auf, aber sie kommt ihm zuvor und nimmt den Hörer ab. Wer ist da?, fragt sie. Sie hört die Stimme des jungen Mannes, der sie um eine Chance bittet und hektisch weitere Unschuldsbeteuerungen vorbringt. Nein, danke, kein Bedarf, antwortet sie ruhig, während sie eine abwiegelnde Geste in Carlos' Richtung macht, der sich wieder hinsetzt. Naimas Stimme schließt sich der ihres Begleiters an, doch weil sie weint und keinen ganzen Satz hervorbringt und der andere ebenfalls weiterspricht, ist kaum ein Wort zu verstehen. Bitte, sie ist keine Diebin, was sollen wir denn machen, wir haben nichts, wegen Ihnen haben ihr jetzt auch andere Leute gekündigt, bitte, sie ist ein gutes Mädchen. Wie gesagt, nein, danke, wir haben keinen Bedarf, wiederholt Sara und legt den Hörer auf. Es klingelt erneut, aber sie legt Carlos die Hand auf die Schulter und gibt ihm einen Begrüßungskuss: Geh nicht ran, das ist so ein lästiger Versicherungsvertreter, der klingelt überall, lass nur, dem wird es schon zu dumm werden. Carlos hat Angst. Vor was, vor wem? Vor der Nacht, wie wir bereits gesehen haben: vor einem nächtlichen Überfall, dem vermummten Gewalttäter, der dir einen Baseballschläger über die Beine drischt (die Bettdecke mildert die Wucht kaum ab) und dich für den Rest deines Lebens zu Schlaflosigkeit verdammt. Aber das ist eine sehr sporadische, keinesfalls dauernd präsente Angst. Er verbringt nicht etwa jede Nacht in Furcht, eigentlich denkt er nur in wenigen Nächten daran, gelegentlich, wenn ihn irgendeine reißerische Meldung in den Nachrichten (die Festnahme einer Einbrecherbande, der Bericht von der Schreckensnacht eines Ehepaars, das im Schlaf überfallen wurde, die Plünderung einer Wohnung in seiner eigenen Straße) dazu veranlasst, über die Verletzlichkeit seines Heims nachzudenken, das nur durch ein einfaches Schloss gesichert ist. Einmal hat er den Schlüssel zu Hause vergessen, und ein Nachbar hat ihm die Tür mit einer Scheckkarte geöffnet, sauber, mit einem Griff, ohne zu ahnen, dass er ihm mit dieser gutgemeinten Hilfeleistung zwar die zweihundert Euro für den Schlüsseldienst ersparte, Carlos sich im Gegenzug jedoch noch unsicherer fühlte als zuvor. Zusätzlich zu der gelegentlichen nächtlichen Furcht malt er sich seither aus - vor allem wenn er länger weg war -, wie er nach Hause kommt und die Tür aufgebrochen und die Wohnung ausgeräumt vorfindet. Aber das ist nicht seine einzige Angst, noch nicht einmal die größte. Carlos hat auch noch andere Ängste. Manche sind immer da, andere treten punktuell auf, zyklisch. Manche sind intensiv, andere blass, zwischen allen gibt es Berührungspunkte, sie summieren sich, jede ist für sich genommen erträglich, und letztlich bleiben sie stets gegenwärtig, wenn auch nur am Rande, wie ein Hintergrundrauschen, mit dem man nach und nach zu leben lernt. Ließe sich sagen, dass Carlos Angst vor der Kriminalität hat? Nicht ganz. Gewiss, ein Gutteil seiner Ängste hängt mit der Vorstellung zusammen, tätlich angegriffen, überfallen, ausgeraubt zu werden; jemand, der dich am Arm fasst, wenn du um die Ecke biegst, jemand, der an einer Ampel hinten zu dir ins Auto steigt, jemand, der an deiner Wohnungstür klingelt, und du bekommst sie nicht zu, bevor er den Fuß zwischen Türblatt und Rahmen geschoben hat. Aber das wenigste ist bei solchen Gedankenspielen der Diebstahl, der Verlust, das Geld, die Uhr, der Wagen. Was zählt, ist das Messer an den Rippen, der Arm, der einem die Luft abdrückt, der Tritt gegen die Tür. Tatsächlich erschreckt es Carlos noch mehr, wenn er sich Situationen ausmalt, in denen der Raub einer Brieftasche oder eines Autos gar nicht vorkommt und daher das Motiv fehlt, das den Stich oder Schlag rechtfertigen oder besser: ihn begrenzen, ihm ein Ende setzen könnte, alles ist vorbei, wenn der Dieb mit der Beute flieht, wenn sein Ziel erreicht ist. Ihm macht es Angst, wenn es dieses Ziel nicht gibt, wenn es um etwas anderes geht oder um gar nichts, um etwas Ungreifbares. Die Fälle, in denen eine Handvoll Geldscheine oder die Geheimzahl der Kreditkarte keineswegs das Ende der Schläge bedeuten, weil das Einzige, was man dir abpressen kann und will, der Schmerz ist. Wenn er der Sache einen Namen geben soll, dann spricht er ganz allgemein von »der Gewalt«. Von der Gewalt an sich, mehr als von den Gewalttätern, denn es geht hier nicht nur um die Ausführenden, es geht um so etwas wie einen fauligen Luftzug, eine ständige Bedrohung, ein Monster, dessen Ernährung häufige Opfer verlangt, ein Lotteriespiel, an dem man ungefragt teilnimmt und das sich tagtäglich in tausenderlei Formen ausbreitet, in kleinen Ausbrüchen oder großen Explosionen, und manchmal nahe an dir vorbeizieht, dich streift, dich erfasst. Ihm macht der Straßendieb Angst, der seine Mittel nicht ins Verhältnis zum angestrebten Ziel setzt, doch er fürchtet auch den Autofahrer, der nach einem zufälligen Zusammenstoß mit geschwollener Halsschlagader aus dem Wagen steigt, in der geschlossenen Faust die Eisenstange vom Lenkradschloss. Ihn ängstigt die Einbrecherbande, die ins Schlafzimmer eindringt, aber ebenso, wenn nicht noch mehr, der Jugendliche, mit dem du auf der Straße aneinandergerätst und der seinen Status in der Clique behauptet, indem er dir die Zähne einschlägt. Insgesamt ist es eine lange Liste, die ständig durch neue Einträge ergänzt wird: Angst vor Jugendbanden, die nachts auf die Jagd gehen, vor dem wütenden Nachbarn, der eine Meinungsverschiedenheit im Treppenhaus mit Faustschlägen klärt, vor dem Missverständnis draußen auf der Straße, das in Lynchjustiz mündet, vor dem Irren, der selbst solche Angst hat, dass er deine Rippen dafür büßen lässt, vor dem Polizeiübergriff, der mit einer harmlosen Beschwerde anfängt, die auf einem Korridor auf dem Revier mit Fußtritten endet, vor dem Witzbold, der nicht weiß, wo der Spaß aufhört, vor dem Türsteher in der Disko, der eine Machete unter der Jacke versteckt hält. Angst vor der Welt dort draußen, vor Begegnungen, die sich nicht absehen lassen, davor, dass das höfliche gegenseitige Nichtbeachten, das uns beschützt, jederzeit Risse bekommen kann, und dann tritt die Aggressivität zutage. Angst vor Gewalttätern, aber auch vor ängstlichen Menschen, deren Furcht sie selbst zu Gewalttätern werden lässt. Die Angst, die er hat, lähmt ihn nicht, sie bringt ihn nicht dazu, sich zu Hause einzusperren, sie bestimmt sein Leben nicht, wenigstens nicht allzusehr. Es ist eine durchgängige Angst, aber von geringer Intensität, manchmal tritt sie wochenlang nicht auf, doch bei bestimmten Reizen wird sie sofort ausgelöst. Es gibt einen ganzen Katalog von Orten, Situationen, Typen, Blicken, Verhaltensweisen, Nachrichten oder Erzählungen, die dazu führen, dass seine Angst nicht, wie üblich, Glut bleibt, glimmende Asche, sondern heftig aufflammt, manchmal als Blitz, manchmal als sengende Lohe. Vor allem aber ist seine Angst, und das ist vielleicht das Schlimmste daran, etwas Bewusstes, charakteristisch für einen Menschen, der in der Lage ist, seine eigene Angst zu denken, zu analysieren, ja, in Frage zu stellen, und der doch fürchtet. Als sie das Haus verlässt, ist es draußen noch nicht hell, kurze Novembertage. Es überrascht sie nicht, erneut das Pärchen vorzufinden. Die beiden lehnen in wenigen Metern Entfernung an einem Auto, er hat ihr den Arm um die Schultern gelegt und sie eng an sich gezogen, sie scheinen zu frösteln. Sara fragt sich, ob sie die Nacht dort verbracht haben, wahrscheinlich eher nicht, wobei das Auto ihnen gehören könnte, vielleicht haben sie darin geschlafen. Mit raschen Schritten schlägt sie ihren üblichen Weg zur U-Bahn ein, und die beiden machen Anstalten, ihr zu folgen, aber sie gehen langsamer als sie, womöglich steif vom Frost. Als Sara um die Ecke biegt, blickt sie kurz über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass ihr Vorsprung weiter wächst, doch bei dem Übergang an der Autobahn lässt der junge Mann das Mädchen los und fängt an zu rennen, bis er sie eingeholt hat. Mitten auf der Fußgängerbrücke über der Fahrbahn, wo zu dieser frühen Stunde dichter Verkehr herrscht, fasst er sie am Arm. Sara versucht, sich loszumachen und weiterzugehen, aber er packt sie am Ellenbogen, seine Finger bohren sich ihr in den Arm, während er sein Ansinnen vorbringt, diesmal in entschlossenerem Ton: Warten Sie, das können Sie nicht mit uns machen. Sara dreht sich zu ihm, löst seinen Griff, indem sie mit der freien Hand seine Finger auseinanderbiegt, tritt dann instinktiv vom Geländer weg und sagt, er solle sie in Frieden lassen, und dann droht sie ihm mit fester Stimme: Ich hatte nicht vor, sie anzuzeigen, und ich werde das auch nicht tun, außer Sie zwingen mich dazu. Unterdessen hat Naima zu ihnen aufgeschlossen und verfällt in ihr eintöniges Schluchzen. Sara wägt die Situation ab, während sie einen Blick an die beiden Enden der Brücke wirft, wo sich nichts regt, unter ihren Füßen der Stau. Sie greift in die Tasche und zückt den Geldbeutel. Ich zahle ihr den restlichen Monatslohn, schlägt sie vor, aber ich will sie nicht wiedersehen, sie muss sich eine andere Stelle suchen. Der junge Mann zieht das Mädchen erneut an sich und spricht sanft, fast unhörbar über die Motorengeräusche und das Hupen hinweg: Wir wollen Ihr Geld nicht, gnädige Frau, nur arbeiten, sie braucht die Arbeit, die ganzen Wohnungen. Dann soll sie sich woanders etwas suchen, fällt Sara ihm ins Wort und hält ihm einige Scheine hin. Sie ist keine Diebin, sie ist ein gutes Mädchen, so fleißig, beharrt er monoton. Wenn ich euch noch einmal zu Gesicht bekomme, zeige ich sie wegen des Diebstahls an, warnt Sara, die das Pärchen nun als harmlos eingestuft hat. Der junge Mann zögert einen Moment, doch schließlich nimmt er das Geld, das sie ihm hinhält. Sara setzt sich wieder in Bewegung, die beiden bleiben auf der Brücke stehen. Ihre innere Unruhe begleitet sie den ganzen Arbeitstag über. Wenn ein Anruf durchgestellt wird, erwartet sie, Naimas weinerliche Stimme zu hören, und sooft jemand die Tür zu ihrem Büro öffnet, fürchtet sie, es könnten die beiden sein. Sie verpasst einen Geschäftstermin, in einer Besprechung ist sie nicht bei der Sache, bei Unterhaltungen verliert sie den Faden, und mittags verlässt sie zum Essen lieber nicht das Büro, sie lässt sich etwas aus der Cafeteria mitbringen, um, wie sie sagt, mit der Arbeit voranzukommen. Am späten Nachmittag ruft sie zu Hause an, aber es ist niemand da. Nach zwei weiteren vergeblichen Versuchen wählt sie schließlich Carlos' Handynummer, ohne Erfolg. Endlich ruft er sie zurück, entschuldigt sich, er habe den Ton ausgeschaltet gehabt, sie kämen gerade vom Schwimmen zurück, Pablo gehe es gut, er, Carlos, kümmere sich um das Abendessen. Sie geht eine Stunde später als sonst aus dem Büro und ruft sich ein Taxi. Zu Hause angekommen, bittet sie den Taxifahrer zu warten, bis sie in der Tür ist, selbstverständlich, sagt er und äußert sich kritisch über den Anstieg der Kriminalität im Viertel, so drückt er sich aus, vermutlich hat er die Formulierung aus dem Radio, Anstieg der Kriminalität. Auf ihrer Etage verlässt sie den Aufzug und hat noch nicht einmal den Schlüssel im Schloss, da geht die Tür von nebenan auf, und es erscheint der Kopf ihrer Nachbarin, die auf das kleinste Geräusch im Treppenhaus gelauert haben muss. Hallo, Sara, ich wollte dich nach diesem Mädchen fragen, dieser Naima, sie war gestern nicht da und heute nicht und angerufen hat sie auch nicht. Sara kommen mehrere mögliche Antworten in den Sinn, sie entscheidet sich für die kürzeste, für die, mit der sie so schnell wie möglich in ihre Wohnung kommt: Ich weiß nicht, zu uns ist sie auch nicht gekommen, vielleicht ist sie krank oder sie musste zurück in ihre Heimat, keine Ahnung. Aha, sagt die Nachbarin. Sie starrt Sara ein paar Sekunden lang wortlos an und legt los: Also, ich verstehe ja, dass es dir unangenehm ist, darüber zu reden, aber ich weiß schon Bescheid, dein Mann hat mir vorhin von der Sache erzählt, ich mache dir keinen Vorwurf, dass du mir nichts gesagt hast, ist schon in Ordnung, muss für euch ja ziemlich unangenehm gewesen sein, ihr das ins Gesicht zu sagen, bei mir scheint nichts zu fehlen, ich habe natürlich auch nichts von Wert, aber ich bin sicher, dass sie mir Geld geklaut hat, ich weiß nie, wie viel ich im Portemonnaie habe, ich bin ja so was von zerstreut, bestimmt hat sie das ausgenutzt und sich nach Herzenslust bedient, so eine dreiste Person, niemandem kann man mehr trauen, da lässt man sich mit ihnen ein, und das ist der Dank dafür, nachher reden dann alle von Fremdenfeindlichkeit, und so reiht die Nachbarin einen Gemeinplatz an den anderen, bis sie schließlich in Ermangelung einer Antwort verstummt und Sara in ihre Wohnung treten kann. Einen herausragenden Platz unter seinen Ängsten nimmt die Furcht vor den Verbitterten und Verzweifelten ein, insbesondere vor jenen, die beides in sich vereinen, verbitterte Verzweiflung, denen also, deren Unglück unwiderruflich scheint. Angst hat er etwa - auch wenn es ihm schwerfällt, das zuzugeben, auch wenn er es abstreitet oder verheimlicht - vor den Mittellosen, angefangen mit dem Extremfall, den Bettlern, die sich seit einiger Zeit aus ihrer historischen Starre gelöst zu haben scheinen und zunehmend aggressive Techniken entwickeln. Sie geben sich nicht mehr mit einem »Nein, tut mir leid« zufrieden, auch nicht mit einer kleinen Münze, es ist, als wären sie zu sich gekommen und wüssten um ihre Stärke, ihre Macht, die Kehrseite unserer Verwundbarkeit, und deshalb sehen sie dir neuerdings in die Augen, sprechen dich aus nächster Nähe an, fassen dich am Arm, laufen, wenn du weitergehst, neben dir her, folgen dir in den Hausflur, verlangen, angehört zu werden, weisen deine ablehnenden Höflichkeitsfloskeln von sich und diskutieren sogar, argumentieren, überreden. Carlos ist seit jeher der Ansicht, dass der übliche Sozialabstand, den die Bettler selbst als natürlich angenommen haben, sich eines Tages nicht mehr wird halten lassen, und dann werden sie vom Boden aufstehen, zu allem bereit - werden bitten, drängen, zugreifen, umverteilen. Gelegentlich hat er, wenn man nach einem Essen beisammensaß, von einem Aufstand der Bettler gescherzt, die eines Tages wie ein Mann beschließen, das Heft in die Hand zu nehmen, ihre Lethargie aufgeben und Forderungen stellen, nachsetzen und ihr Ansinnen als Bettler zur politischen Tat erheben: Sie geben sich nicht mehr mit unserem wohlerzogenen abschlägigen Bescheid zufrieden, sie werden zu unserem Schatten, appellieren an unser schlechtes Gewissen, so als hätten sie ihre Weisungen nicht von einem revolutionären Anführer, sondern von einem Marketingexperten. Der nächste Schritt, hat Carlos dann behauptet, angespornt von einem Verdauungsschnäpschen, der nächste Schritt, wenn der Abstand erst einmal aufgehoben, wenn der Respekt verloren ist, würde darin bestehen, dass sie zu gewalttätigen Mitteln greifen: dass sie uns stellen, uns attackieren, uns alles wegnehmen, uns am Ausgang des Restaurants oder der Bank abpassen, an unserer Haustür klingeln, uns bis an den Arbeitsplatz verfolgen, sich Zugang zu den Supermärkten, den Cafés, den Fitnessstudios verschaffen, uns jegliches Vegnügen verleiden, alles aus unserem Leben tilgen, was sie selbst nicht haben können, aus ihrer Verbitterung eine entschlossene Anklage machen, kurz, uns dazu nötigen, dass wir ihnen zurückgeben, was ihnen ihrer Meinung nach genommen wurde. Carlos weiß, dass seine uneingestandene Angst nichts Ungewöhnliches ist, sondern weitverbreitet. Er weiß, dass seine Nachbarn, seine Kollegen, seine Verwandten sich ebenfalls vor den Mittellosen fürchten, den Entrechteten, den Verbitterten, jenen, die dazu bestimmt sind, die Kleinkriminalität zu befeuern, vor der dünnen Linie zwischen Schelmenstreich und Gesetzesbruch, dem Kampf ums Überleben, der Spontanjustiz dessen, der sich nimmt, was er nicht hat, und sich dort bedient, wo Überfluss herrscht. Er weiß, dass sie die Armen nicht nur wegen ihrer Verbitterung und Verzweiflung fürchten, sondern auch, weil sie ihnen die Amoralität derer zuschreiben, die ihre Bedürftigkeit über jegliche Ethik stellen, und sie als böswillig und gierig, feige und verräterisch betrachten, als Leute ohne ausreichende moralische Kaufkraft, um einen Begriff zu verwenden, den er in Die heilige Johanna der Schlachthöfe gelesen hat. Er weiß, dass es keinen zwingenden Zusammenhang zwischen Armut und Kriminalität gibt, er ist sich nicht einmal sicher, dass da eine statistische Wahrscheinlichkeit besteht, aber er geht doch davon aus, dass diese Art von Kriminellen die sichtbarsten sind, am einfachsten zu identifizieren, und daher spielen sie in unseren Ängsten und Verteidigungsstrategien eine besondere Rolle. Wenn man sich vor ihnen schützen will, sind sie allerdings nicht immer so einfach zu identifizieren: Nicht immer riechen sie streng oder haben ein ungepflegtes Äußeres, es gibt gewisse Merkmale, anhand derer man sie erkennt, doch diese können uns auch aufs Glatteis führen, man darf nicht vorschnell sein, aber auch nicht vertrauensselig, es ist eine von Klassendenken geprägte Angst, und als solche lenkt sie das Augenmerk auf Äußerlichkeiten, auf jene stigmatisierenden Eigenschaften, die zwar auch anderen, harmlosen Mitbürgern zueigen sein mögen, die aber einen brauchbaren Risikoindikator abgeben. Natürlich zählt dazu die Kleidung, und wir verfügen über einen Katalog von Uniformen, Kluften, unpassenden Kombinationen und Stoffqualitäten, die ein Zeichen für Gefahr sind, angefangen mit dem Zerlumpten bis hin zu dem, der ohne Socken herumläuft, im Frühjahr zu warm angezogen ist oder Kleidungsstücke in der falschen Konfektionsgröße trägt. Aber man darf nicht bei der Garderobe haltmachen, nichts Leichteres für den Feind, als sich zu tarnen, als Mann des Friedens aufzutreten, seine Kleidung zu bügeln und sich die Schuhe zu bürsten. Dafür gibt es andere Anzeichen, welche die für einen Verbitterten typische Vernachlässigung verraten. Die Zähne zum Beispiel. Auch wenn Spanien ein Land der faulen Zähne ist und deren mangelhafter Zustand Bürgern aller Klassen und Einkommensschichten gemeinsam, gibt es Münder, die zum Himmel schreien, nacktes Zahnfleisch, Lücken im Gebiss, Zähne, die dunkel verfärbt sind, der Kerl braucht nur zu lächeln, wenn er uns anspricht, schon sehen wir sein Gebiss und nehmen uns in acht. Dann gibt es noch andere Merkmale, Physiognomien des Kriminellen, zu denen weder Carlos noch seine Nachbarn sich jemals öffentlich äußern würden, wenn sie nicht für reaktionäre Lombrosianer gehalten werden wollen: der Schädelumfang, die Form von Stirn und Kiefer, die Fingernägel, ein eingefallener Brustkasten, ein Hinken, ein Hautekzem oder jene pockennarbigen Wangen, die an Kinderkrankheiten erinnern, ganz allgemein eine für die Unterschicht typische Krankenbiographie, das häufigere Vorkommen bestimmter Leiden, zu deren Prävention eine gewisse Hygiene erforderlich wäre, eine gewisse Bildung und Ernährung, gewisse Wohn- und Arbeitsverhältnisse, kurz, eine gewisse Herkunft oder ein gewisses Einkommen oder beides - wenn dies fehlt, ist von einer grundsätzlichen Knappheit der Mittel auszugehen und von einer größeren Neigung zur kriminellen Handlung oder zur wütenden und unbedachten Tat. Unter den Verbitterten und Verzweifelten fürchtet er auch die Einwanderer, vor allem jene, bei denen er den weitreichendsten Groll, die größte Verzweiflung vermutet, diejenigen, die unter großen Mühen hierhergekommen sind, in äußerst schwierigen Umständen leben, die misshandelt werden und nichts zu verlieren haben. Seine Furcht basiert nicht auf rassistischer oder fremdenfeindlicher Ablehnung, mit der Herkunft oder Hautfarbe hat sie nichts zu tun. Es handelt sich auch nicht um einen durch Angst begünstigten Abwehrmechanismus, wie er in Teilen der Arbeiterklasse verbreitet ist, unter denjenigen, die sich in Zeiten der Ungewissheit von populistischen Reden verführen lassen, in denen die Ausländer als Quelle allen Übels denunziert werden, der Arbeitslosigkeit, der Krise des Bildungssystems, der überfüllten Krankenhäuser, der Insolvenzen im Einzelhandel und natürlich der Kriminalität: der Einwanderer als Bedrohung. Carlos' Furcht gleicht der vor den Bettlern, vor Armut, davor, dass der Besitzlose dem Besitzenden fordernd entgegentritt und die Gedemütigten Rache nehmen. Er hält sich etwas darauf zugute, ausländische Freunde zu haben, er ist häufiger Gast in Multikulti-Lokalen und demonstriert gegen Ausweisungen und eine überzogen strenge Einwanderungspolitik. Aber wenn er auf der Straße geht und ihm ein junger Mann entgegenkommt, sagen wir ein Algerier, so wandert seine Hand unwillkürlich an den Geldbeutel in der einen Hosentasche, ans Handy in der anderen, und seine Muskeln verkrampfen sich, er meidet den Blick seines Gegenübers, als rechnete er mit irgendeinem Vorwurf. Wenn er in einem lumpenisierten Viertel über einen heruntergekommenen Platz spaziert und Gruppen von Nordafrikanern müßig herumstehen und sich unterhalten sieht, wenn er sie dann in ihrer so ungestümen Sprache herumschreien hört, so nimmt er lieber das schlechte Gewissen und den Imageschaden in Kauf, beschleunigt seine Schritte und zollt einer beinahe rassistischen Angst Tribut, er wird schon noch Gelegenheit finden, seinen eigenen moralischen Schaden mit einer guten Tat oder einem freundlichen Gedanken an die Adresse jener Notleidender zu beheben. Mehr als einmal hat er sich mit Leuten gestritten, die aus Angst und Ignoranz einen Zusammenhang zwischen Einwanderung und Kriminalität herstellten, und er hat offene Briefe unterschrieben und an Solidaritätskundgebungen teilgenommen, aber in solchen Augenblicken, wenn ihn etwa zwei marokkanische Jugendliche auf der Straße anhalten und ihm eine schwerverständliche Frage stellen, wenn sie aus so kurzem Abstand auf ihn einreden, ihn gar kumpelhaft am Ellenbogen fassen, dann will seine physische Angst nichts von der Rationalität wissen, mit der er sich dazu aufruft, ruhig zu bleiben. Seine Angst ist natürlich selektiv. Ihn erschrecken nicht alle Ausländer, nicht einmal alle armen, verzweifelten oder verbitterten. Vor allem machen ihm bestimmte Volksgruppen Angst. Die aus dem Maghreb zum Beispiel. Er hatte nie Ärger mit ihnen, eher ist das Gegenteil der Fall, seine persönlichen Erfahrungen waren ausgesprochen positiv. Deshalb beschämt es ihn festzustellen, dass er Anteil an jener so verbreiteten Ablehnung hat, am negativen Bild vom nordafrikanischen Einwanderer, das in ihm und seinen Nachbarn so tief verankert ist, er erkennt darin eine historische und kulturelle Konditionierung, die ihn junge Araber als gefährlich ansehen lässt, als einen unbeherrschten Menschenschlag, der beim Sprechen schnell laut wird, gestikuliert, den angemessenen Körperabstand nicht einhält, dir auf die Pelle rückt, dich anfasst. Es geht hier noch nicht einmal um die Angst vor dem Islamisten, dem Fanatiker, dem Terroristen aus Berufung, keineswegs, eher ist davon der ruhige Maghrebiner betroffen, der auf irgendeinem Platz in der Sonne sitzt, dich um eine Zigarette anschnorrt. Eine kulturell bedingte Angst, die ihren Ursprung in alten Erzählungen hat und durch neue Schilderungen wächst, von den grauenvollen Beschreibungen aus den Kolonialkriegen oder dem Spanischen Bürgerkrieg, die den Gegner als blutrünstige Bestie darstellten (sein Ruf als Kastrierer von Leichen und Vergewaltiger von Frauen ist unserem Imaginären fest eingeschrieben), bis hin zu den heutigen Banden von verlassenen, klebstoffschnüffelnden Kindern, die stete Entmenschlichung nicht zu vergessen, die sie mit allen anderen Afrikanern teilen und die ihnen nur den Status brutaler Schlächter oder williger Opferlämmer lässt. Ein ums andere Mal werden sie in den Medien als ungebildete und fanatisierte Masse dargestellt, die nach ihren eigenen Vorstellungen von Gerechtigkeit Lynchjustiz übt, Leute, die mit derselben Leidenschaft Leichen verstümmeln und auf dem Platz aufhängen, mit der sie ihren Töchtern die Klitoris beschneiden, Homosexuelle steinigen, unsere Töchter vergewaltigen und unseren Söhnen billige Drogen verkaufen, um nur einige wenige weithin akzeptierte Klischees aufzuführen. In die Konstruktion dieses negativen Bildes hätten wir natürlich auch die Schwarzafrikaner einzuschließen: Nach Jahrhunderten der Animalisierung sehen wir, sooft wir einen Schwarzen vor Augen haben - einen mittellosen Schwarzen, versteht sich -, Sklaven, Kannibalen, Träger, Lendenschurze, Fliegen, Lanzen, Affen, nackte Füße, Schmutz, das Herz der Finsternis, Hunger, große weiße Zähne, aufgeblähte Bäuche, Bananen, Hütten und Löwen; oder in jüngerer Zeit Machetenhiebe in Ruanda, Kindersoldaten, abgehackte Hände und vergewaltigte Nonnen, Anlass genug, vor ihnen Reißaus zu nehmen, nach so vielen Märchen, Filmen und Nachrichtensendungen, die das Bild des Afrikaners als eines Wilden aufgebaut haben. Und falls das noch nicht genügte, haben auch gutwillige Diskurse zu diesem Schreckensbild beigetragen, indem sie im Bestreben, die weltweite Ungleichheit und Armut zu geißeln, künftige Armeen von Bedürftigen vorhersagten, die auf unsere Länder zumarschieren, ein Heer von Unglücklichen, die angeblich eines Tages losziehen und vor nichts haltmachen werden, und so versetzt uns das, was unser Gewissen aufrütteln sollte, zugleich in Angst und Schrecken und führt dazu, dass wir diejenigen, die jetzt schon da sind, als eine Vorhut jenes zukünftigen Krieges der Armen gegen die Reichen betrachten, eine Fünfte Kolonne, die bereits unter uns lebt. Dazu kommt noch die Komponente einer historischen Rache, denn in gewisser Weise haben sie mit uns noch eine Rechnung offen, vielleicht wollen sie uns ja für Jahrhunderte der Sklaverei und des Mordes büßen lassen. Vergessen wir bei diesem Katalog von Schreckensklischees auch nicht die Osteuropäer, angeführt von Rumänen, Albanern und der russischen Mafia, ausstaffiert mit der Brutalität des Balkans und den Jahrzehnten der Tyrannei und Korruption, in denen sie nichts Gutes gelernt haben können. An herausragender Stelle stehen die furchteinflößenden rumänischen Zigeuner, mögen sie nun Hilfsarbeiter sein, die in Zelten und verdreckten Baracken hausen, minderjährige bettelnde Mütter mit Babys auf dem Arm oder Kinder, die sich vor der Windschutzscheibe drängen, sobald man an einer Ampel hält. Sie alle machen uns Angst, weil hier die Furcht vor osteuropäischen Exkommunisten mit der Missbilligung gegenüber unseren eigenen Zigeunern zusammentrifft, die nicht mehr auf die Beine kommen, seit auch sie zum Inventar einer jahrhundertealten Bilderwelt des Schreckens gehören: Goldzähne, turbulente Hochzeiten, Familienjustiz, kleine Gaunereien, Trödelhandel, Kinder mit dreckverschmierten Gesichtern, Analphabeten, kurz, sie sind die Protagonisten unserer schlimmsten Sprichwörter, Scherze und Märchen, mit denen man ungebärdige Kinder erschreckt, iss auf, sagt man, sonst holt dich der Zigeuner, die schlimmsten Eigenschaften werden ihnen angehängt: Unzuverlässigkeit, Verlogenheit, Rachsucht, Falschheit, Feigheit, Undank, erst betteln sie dich um etwas zu essen an, und wenn du ihnen dann eine Tüte Milch gibst, werfen sie sie dir ins Gesicht, und die Secondhand-Kleidung, die sie aus wohltätiger Quelle empfangen, verkaufen sie weiter, die Wohnungen, die sie zugewiesen bekommen, nehmen sie auseinander, sie werfen Müll auf die Straße, zünden offenes Feuer an, machen mit ihrem fliegendem Handel die kleinen Geschäfte im Viertel kaputt, zahlen keine Steuern, halten sich nicht an Gesetze, sind arbeitsscheu, können nichts als singen und betrügen. Ihm ist bewusst, wie vieles an diesen Aussagen übertrieben und unbegründet ist, wie sehr es sich um ein Zerrbild handelt; er weiß es, er hat darüber nachgedacht, er spricht auch darüber, er sieht ein, wie ungerecht Araber, Afrikaner, Rumänen, Zigeuner behandelt werden; er erkennt die Schwierigkeit eines Lebens an, das von Entwurzelung, Zurückweisung, einem ungewissen rechtlichen Status, Ausbeutung, polizeilicher Verfolgung und der Stigmatisierung als Kriminelle geprägt ist; er weiß, dass auch sie Angst haben, dass sie mehr als irgendjemand sonst unter der Unsicherheit im öffentlichen Raum leiden, sie sind ja überaus verletzlich; er weiß um den Ausnahmezustand, in dem sie sich ständig befinden, bewacht, unter Beobachtung, in Schubladen gesteckt, in ihrem Anderssein markiert, ohne die geringste Chance, unbemerkt zu bleiben, unsichtbar zu sein. Er weiß das, er hat davon gelesen, er hat es in Gesprächen wiederholt; aber am Ende bewirkt all dies nur, dass er sie als furchtbar verzweifelt, verbittert und wütend sieht, und daher erzeugen sie in ihm eher Angst als Mitgefühl.
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Autoren-Porträt von Isaac Rosa
Isaac Rosa, geboren 1974 in Sevilla, schrieb Erzählungen, ein Theaterstück und zwei Romane. Er erhielt mehrere prestigeträchtige Preise. »Im Reich der Angst« wurde in ein Dutzend Sprachen übersetzt. Sein letztes Buch, »Die Farbe Rot«, wird zurzeit verfilmt.
Bibliographische Angaben
- Autor: Isaac Rosa
- 2011, 1. Aufl. 2011, 316 Seiten, Deutsch
- Übersetzer: Luis Ruby
- Verlag: Klett-Cotta Verlag
- ISBN-10: 3608102124
- ISBN-13: 9783608102123
- Erscheinungsdatum: 22.07.2011
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eBook Informationen
- Dateiformat: ePub
- Größe: 1.27 MB
- Ohne Kopierschutz
- Vorlesefunktion
Pressezitat
»Rosa gewährt einen faszinierenden Einblick in die Psyche einer angstbesessenen Persönlichkeit. Ein beeindruckender Thriller
« Anke Breitmaier, Westdeutsche Allgemeine Zeitung, Oktober 2011 »Ein erregendes, schreckenerregendes Buch, grausam auf ein Gefühl hin geschrieben. Es bedient just unsere Ängste, es macht uns nachdenklich, vielleicht gar ein Stück klüger: Was tun wir gegen das Reich der Angst? Und wie werden wir reagieren, wenn es Tribut von uns fordert?« Uwe Stolzmann, NZZ, 27./28. April 2013 «Der Spanier Isaac Roas zeichnet in seinem neu auf Deutsch übersetzten Roman eine genaue Karte zeitgenössischer Ängste. Schritt für Schritt führt der 38-jährige Autor hinein in Carlos Seele, und berührt so viele wunde Punkte, dass jeder Leser mehrmals zusammenzucken dürfte.» Miriam Glass, Basler Zeitung, 10.08.2011 » Im Reich der Angst ist stilistisch quer und Isaac Rosa will es so, dem Thema angemessen -, zieht den Leser aber in seinen Sog, muss es nämlich, denn er betrachtet die Bedrohung durch Gewalt als eine elementare, den sonstigen Naturgewalten gleich, denen sich ebenso niemand entziehen kann.« Franz Birkenhauer, sf magazin, 26.7.2011 »Isaac Rosa führt seinen Leser in die Abgründe der menschlichen Angst und zeigt gleichzeitig mutig und angreifbar, wie eine schwache Gesellschaft voller Angst sich quasi kampflos der Gewalt und dem Terror ergibt.« - Winfried Stanzick, Quelle: Lovelybooks
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