Im Totengarten / Alice Quentin Bd.1 (ePub)
... eine Hand: direkt neben meinem Fuß auf dem dunklen Gehweg. Sie war klein und lag geöffnet da, als warte sie darauf, dass irgendein Passant ihr ein paar Münzen gab ... In den Straßen Londons treibt ein brutaler Killer sein Unwesen. Er tötet junge Frauen....
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Produktinformationen zu „Im Totengarten / Alice Quentin Bd.1 (ePub)“
... eine Hand: direkt neben meinem Fuß auf dem dunklen Gehweg. Sie war klein und lag geöffnet da, als warte sie darauf, dass irgendein Passant ihr ein paar Münzen gab ... In den Straßen Londons treibt ein brutaler Killer sein Unwesen. Er tötet junge Frauen. Sein Markenzeichen: Er ritzt blutige Kreuze in die Haut seiner Beute. Sie könnte sein nächstes Opfer sein: Alice Quentin, Psychologin im Dienste der Polizei. Die Jägerin wird zur Gejagten. Erst gerät ihr Bruder unter Verdacht, dann verschwindet ihre Freundin. Und bald beherrscht Alice nur noch ein Gedanke: Er wird mich nicht bekommen.
Lese-Probe zu „Im Totengarten / Alice Quentin Bd.1 (ePub)“
Im Totengarten von Kate Rhodes Prolog
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Deine Mutter hält deine Hand zu fest. Du wimmerst und klammerst dich an den Saum von ihrem Kleid, weil du weißt, was als Nächstes passieren wird. Sie starrt dich an, als ob sie vergessen hätte, wie man blinzelt. Du erhaschst einen letzten Blick auf ihr Gesicht, bevor sie dich in den Schrank unter der Treppe verfrachtet. »Mach kein Geräusch«, zischt sie. »Hol am besten nicht mal Luft.« Die Dunkelheit nimmt dir den Atem, als der Schlüssel zweimal im Schloss umgedreht wird. Es besteht die Chance, dass er dich nicht findet, wenn du auf dem Boden kauerst, zwischen Gummistiefeln, dem Besen und den Mopps.
Dein Vater kommt jetzt näher. Sogar seine Schritte klingen wütend und stampfen bedrohlich auf dem ausgetretenen Linoleum, während er jemanden sucht, dem er weh tun kann. Er ist so nah, dass du ihn riechen kannst. Whiskey, gemischt mit der ekelerregenden Süße des Sherrys, den er in der Garage versteckt, und dann ist da noch etwas anderes, Bitteres, was schwer zu identifizieren ist. Lichtsplitter dringen durch die Spalte in der Tür. Überall ist Staub. Wenn du aufstehst, ist der schwarze Rock deiner Schuluniform wahrscheinlich grau vom Dreck. Morgen wird er dich anbrüllen, wenn du zum Frühstück runterkommst. Du weißt schon, was er sagen wird. Er wird dir sagen, du solltest dich schämen, weil du so schmutzig bist.
Die Schritte entfernen sich, und du atmest erleichtert auf. Durch ein Astloch in der Tür kannst du das Wohnzimmer sehen. Deine Mutter hält den Mund, während dein Vater darauf wartet, dass sie sich bewegt oder ihm Vorhaltungen macht, denn dann hat er endlich einen Grund. Dein Mund ist voller Staub. Du machst die Augen zu, versuchst zu schlucken, und als du sie wieder öffnest, hat er deine Mutter bei den Armen gepackt, und ihre Hände baumeln schlaff neben ihrem Körper. Dein Bruder versucht, mit der geblümten Tapete zu verschmelzen. Es ist schwer zu sagen, was er denkt, ob sein Gesicht zu einer Grimasse oder einem Lächeln verzogen ist. Dein Vater landet einen Treffer nach dem anderen auf den Armen, Rippen und dem Oberkörper deiner Mutter. Morgen wird sie ihren Lippenstift auflegen, wie gewohnt zur Arbeit gehen, und die Nachbarn werden nie erfahren, was geschehen ist. Aber vielleicht geht er irgendwann zu weit, dann nimmt ein Krankenwagen deine Mutter mit, und niemand denkt daran, dich zu befreien.
Die größte Angst jedoch macht dir die Miene deines Bruders. Er wirkt vollkommen entspannt, als sähe er sich seinen Lieblingsfilm im Fernsehen an. Die Besenkammer schrumpft, und die Luft darin reicht nur für ein paar Sekunden aus. Du willst ins Helle rennen, doch du musst hier ausharren, bis es vorüber ist. Du lauschst auf die dumpfen Schläge deines Vaters. Deine Mutter gibt sich alle Mühe, nicht zu weinen, auch wenn hin und wieder gegen ihren Willen ein atemloses Stöhnen über ihre Lippen dringt. Dein Bruder lehnt sich an die Wand, macht es sich bequem und prägt sich das Vorgehen seines Vaters ein.
Das Trommeln der Schläge hat aufgehört, und du weißt, wie es jetzt weitergeht. Die Schritte deines Vaters nähern sich erneut dem Schrank. Es hat keinen Sinn, zu weinen, denn er kennt jedes Versteck in diesem Haus. Er hat deiner Mutter den Schlüssel aus der Rocktasche genommen, und es wird ihm vollkommen egal sein, ob du bettelst oder flehst. Tränen sind nur was für Heulsusen, erklärt er dann und schlägt noch fester zu.
1
Ich spähte in den Metallkasten, ohne ihn zu betreten. Er verströmte den vertrauten Geruch sämtlicher Fahrstühle im Krankenhaus, nach Seife und Desinfektionsmittel mit einem Hauch Urin und Angst. Bisher hatte ich die Fahrt in die psychiatrische Abteilung in der vierundzwanzigsten Etage nur ein einziges Mal - mit geschlossenen Augen und angehaltenem Atem - hinter mich gebracht. Eingeengt und ohne Luft und Fenster, durch die ein Entkommen möglich war. Ich hielt die Tür mit einer Hand auf und zwang mich, die Kabine zu betreten, doch sofort setzte die Panik ein, und ich spürte, wie das Adrenalin durch meinen Körper schoss. Die verspiegelte Rückwand warf mein Bild zurück. Mein Gesicht war kreidebleich und angespannt, und meine Augen glitzerten vor Angst. Ich sah aus wie ein kleines blondes Mädchen, das die schicksten Kleider seiner Mutter trug. Ich schob mich rückwärts aus dem Lift, und die Türen schnappten zu und bissen mir fast die Finger ab. Mir blieb nichts anderes übrig, als zu Fuß zu gehen, auch wenn es zweihundertachtundsiebzig Stufen waren. Inzwischen hatte sich mir die Beschilderung in jedem Stockwerk eingeprägt: Onkologie, Urologie, Orthopädie, Röntgen. Aber wenigstens hielt mich der morgendliche Aufstieg fit, und wenn ich in einem gleichmäßigen Tempo ging, war ich in weniger als sechs Minuten da.
Ich war außer Atem, als ich ein paar Minuten vor meinem ersten Termin in mein Beratungszimmer kam. Ich tauschte meine Joggingschuhe gegen ein Paar Pumps. Es ist ein ungeschriebenes Gesetz, dass Psychologen gutgekleidet hinter ihrem Schreibtisch sitzen müssen, um ihren Patienten das Gefühl zu geben, als wäre die Welt ein sicherer und ordentlicher Ort. Doch ich hätte mir die Mühe sparen können, denn an meinem Computer klebte eine handgeschriebene Notiz. Sämtliche Termine heute Morgen waren abgesagt, denn in einer Stunde würde ich von einem Polizeibeamten abgeholt.
Einen Augenblick verweigerten meine Beine mir den Dienst. Ich stellte mir meinen Bruder vor, wie er wie beim letzten Mal in einer Zelle saß und jeden wüst beschimpfte, der versuchte, irgendwas aus ihm herauszukriegen, oder ihm auch nur ein Tässchen Tee anbot. Dann aber fiel mir wieder ein, dass mein Name diese Woche auf der Liste diensthabender Psychologen für die Polizeibehörde stand, und mein Herzschlag beruhigte sich wieder.
Mein Posteingang quoll über: eine Einladung des britischen Psychologenverbandes, vor dem ich im April eine Rede halten sollte, acht Überweisungen von Hausärzten und Dutzende von Rundschreiben von irgendwelchen Pharmaunternehmen, in denen ich für die Verschreibung der von ihnen auf den Markt geworfenen Produkte hübsche Schreibsets, teure Uhren und andere exklusive Zeichen ihrer Dankbarkeit angeboten bekam. Ich hätte meine Patientenakten bearbeiten sollen, doch mein Blick wanderte ein ums andere Mal zum Fenster, das, auch wenn das trübe Weiß des Himmels winterliche Schneefälle versprach, einen einmaligen Ausblick bot. London Bridge Station sah wie ein Spielzeugbahnhof aus, durch den ein halbes Dutzend winzig kleiner Züge fuhr, und im Osten schlängelte die Themse sich unter der Tower Bridge hindurch weiter zur Canary Wharf. Rote Lichter blinkten auf den Dächern all der Banken, wo Finanzmänner mit Unsummen jonglierten, und in der entgegengesetzten Richtung säumten zahllose Bürogebäude, die beinah so hoch wie die St. Paul's Cathedral waren, den Fluss. Für ein Kind aus einem langweiligen Vorort war dies eindeutig das glamouröseste Szenario der Welt.
Um kurz nach zehn rief unsere Sekretärin an und meldete einen Besucher unten an der Rezeption. Als ich das Erdgeschoss erreichte, sah ich einen hünenhaften Kerl neben dem Eingang stehen. Sein hellgrauer Anzug spannte sich um einen kugelrunden Bauch.
»Dr. Quentin?« Dafür, dass er sicher 120 Kilo auf die Waage brachte, trat er unverhofft geschmeidig auf mich zu. »DCI Don Burns von der Polizei in Southwark. Danke, dass Sie mir Ihre Zeit schenken.«
Sein Akzent war eine seltsame Mischung aus grobem Südlondon und aristokratischem Edinburgh, und die Augen hinter der dicken, schwarz gerandeten Brille lugten klein und forschend aus dem bleichen Mondgesicht hervor.
Ich setzte ein höfliches Lächeln auf, erinnerte ihn aber daran, dass mir gar nichts anderes übrigblieb. Schließlich waren wir verpflichtet, Gutachten zu erstellen, wenn die Polizei uns darum bat. Jede andere Arbeit, ganz egal, wie wichtig sie möglicherweise war, musste dahinter zurückstehen.
Auf dem Parkplatz brauchte der Inspektor mehrere Minuten, um sich hinter das Lenkrad seines tristen blauen Mondeo zu quetschen, in dem es nach abgestandenem Kaffee, Rauch und Frittierfett roch. Auf dem Weg zur Arbeit hatte er anscheinend bei McDonald's haltgemacht und zum Abschluss seines Frühstücks noch eine gepafft.
»Ich hätte auch zu Fuß zu Ihnen auf die Wache kommen können«, sagte ich. »Dann hätten Sie sich den Weg gespart.«
»Wir fahren nicht aufs Revier. Ich erkläre Ihnen unterwegs, worum es geht.«
Er fuhr in Richtung Süden und verfluchte dabei den Verkehr, der uns nur im Schneckentempo vorwärtskommen ließ. Anscheinend hatte er vergessen, dass er nicht alleine war, und war vollkommen in seine Fahrerei vertieft, bis wir endlich an der Themse waren.
»Detective Chief Inspector. Sie sind offenbar ein ziemlich hohes Tier«, stellte ich fest.
Er starrte weiter geradeaus. »Ziemlich hoch. Mir untersteht ein Großteil des Bezirks.«
»Das ist ganz schön viel Verantwortung. Könnte nicht einer Ihrer Untergebenen mich fahren?«
»Das wollte ich nicht.« Wir fuhren am Kraftwerk Battersea vorbei. Es sah aus wie ein riesengroßer umgedrehter Tisch, dessen Beine in den Himmel ragten. »Wir besuchen Morris Cley. Haben Sie von dem schon mal gehört?«
»Vage. Er hat jemanden umgebracht, nicht wahr?«
»Genau.« Er runzelte die Stirn. »Vor vier Jahren in Bermondsey. Eine Prostituierte namens Jeannie Anderson. Morgen kommt er wieder auf freien Fuß, weil irgendein gewiefter Anwalt es geschafft hat, seine Strafe zu halbieren.«
»Wie das?«
»Angeblich waren die Beweise gegen ihn nicht eindeutig genug.« Burns stieß einen Seufzer aus. »Totaler Schwachsinn. Aber er hat es geschafft, dem Richter einzureden, dass Cley Lernprobleme hat.«
»Und die hat er nicht?«
»Nie im Leben.« Stirnrunzelnd starrte er auf den immer dichter werdenden Verkehr. »Der aalglatte kleine Bastard tut den Leuten gegenüber so, als ob er ein Einfaltspinsel wäre, aber uns hat er wochenlang an der Nase herumgeführt, und jetzt will ich wissen, wie gut wir ihn überwachen müssen, wenn er wieder draußen ist.«
»Klingt, als wäre er nicht unbedingt Ihr Lieblingskunde. «
»Nein, ganz sicher nicht. Er ist ein windiger Bursche.« Burns setzte derart erbost den Blinker, als hätte er am liebsten kurzerhand den Hebel abgerissen und aus dem Fenster katapultiert. »Raten Sie mal, wer die besten Freunde seiner Mutter waren.«
»Wer?«
»Ray und Marie Benson.«
Mir fiel keine Antwort ein. Ich wusste viel über die Bensons, weil ich mit dem Gutachter aus dem Prozess befreundet war und weil die Presse das Paar über Monate hinweg in den Schlagzeilen hatte. Immer wieder waren Aufnahmen der Mädchen, die die zwei getötet hatten, auf den Titelseiten aufgetaucht, als ob sie Filmstars wären. Einige von ihnen waren unter der Terrasse des unweit der Southwark Bridge Road gelegenen Heims gefunden worden, das von den Bensons geleitet worden war, eine im Garten, eine weitere in einem unbenutzten Kamin, der sorgfältig zugemauert worden war, und ein paar andere auf einem Flecken Brachland, der hinter dem Grundstück lag. Jeder, der des Lesens mächtig war oder einen Fernseher besaß, wusste mehr, als er wahrscheinlich jemals hätte wissen wollen, über das grausige Hobby dieses Paars.
Vor uns tauchte Wandsworth Common auf. Frauen schoben Kinderwagen auf den Wegen hin und her, und Jogger drehten langsam ihre Runden um den Park, als hätten sie alle Zeit der Welt.
»Waren Sie schon mal in Wandsworth?«, fragte Burns.
»Das Vergnügen hatte ich bisher noch nicht.«
»Es ist das reinste Paradies«, murmelte er. »Sechzehnhundert Kerle, davon der Großteil total zugedröhnt mit allen Drogen, die man sich nur vorstellen kann.«
Mit den schmutzstarrenden Fenstern und einem Tor, das sogar groß genug für einen Sattelschlepper war, erschien das Gefängnis auf den ersten Blick wie eine Mischung aus gotischer Burg und viktorianischem Arbeitshaus. Das Gebäude war so riesig, dass man kaum den Himmel sah.
»Willkommen in Englands größtem Knast.« Burns zückte seine Dienstmarke, und sein Kollege winkte uns hinein.
Das Vernehmungszimmer lag am Ende eines kilometerlangen Gangs, der sicher irgendwann mal weiß gewesen war. Allmählich bereute ich meine morgendliche Kleiderwahl. Mein Rock war viel zu eng für große Schritte, und die Absätze von meinen Schuhen klapperten wie Kastagnetten, als ich hinter Burns über den Fliesenboden lief.
Burns strömte erneut der Schweiß übers Gesicht.
»Er sitzt zu seinem eigenen Schutz in Einzelhaft«, erklärte er mir schnaufend. »Sicher kriegt der Kerl nicht gerade viele Abschiedskarten, wenn er morgen geht.«
»Wie hat er das Mädchen umgebracht?«, erkundigte ich mich.
»Es gibt keine hübsche Art, das zu beschreiben.« Burns fuhr sich mit einem riesengroßen weißen Taschentuch über die Wangen und die Stirn. »Erst hat er sie gefickt und dann mit einem Kissen erstickt.«
»Hatten die beiden eine Beziehung?«
»Meine Güte, nein.« Er starrte mich entgeistert an. »Er behauptet es zwar, aber Sie werden verstehen, warum das ausgeschlossen ist, wenn Sie den Typen sehen.«
»Ich kann es kaum erwarten.«
Burns schob mit einem dicken Zeigefinger seine Brille hoch und sah mich an. »Tatsächlich sah sie Ihnen etwas ähnlich. Zierlich, grüne Augen, schulterlanges blondes Haar.«
»Sie meinen, ich bin sein Typ?«
»Ich fürchte, ja.«
© ullstein TB Verlag
Deine Mutter hält deine Hand zu fest. Du wimmerst und klammerst dich an den Saum von ihrem Kleid, weil du weißt, was als Nächstes passieren wird. Sie starrt dich an, als ob sie vergessen hätte, wie man blinzelt. Du erhaschst einen letzten Blick auf ihr Gesicht, bevor sie dich in den Schrank unter der Treppe verfrachtet. »Mach kein Geräusch«, zischt sie. »Hol am besten nicht mal Luft.« Die Dunkelheit nimmt dir den Atem, als der Schlüssel zweimal im Schloss umgedreht wird. Es besteht die Chance, dass er dich nicht findet, wenn du auf dem Boden kauerst, zwischen Gummistiefeln, dem Besen und den Mopps.
Dein Vater kommt jetzt näher. Sogar seine Schritte klingen wütend und stampfen bedrohlich auf dem ausgetretenen Linoleum, während er jemanden sucht, dem er weh tun kann. Er ist so nah, dass du ihn riechen kannst. Whiskey, gemischt mit der ekelerregenden Süße des Sherrys, den er in der Garage versteckt, und dann ist da noch etwas anderes, Bitteres, was schwer zu identifizieren ist. Lichtsplitter dringen durch die Spalte in der Tür. Überall ist Staub. Wenn du aufstehst, ist der schwarze Rock deiner Schuluniform wahrscheinlich grau vom Dreck. Morgen wird er dich anbrüllen, wenn du zum Frühstück runterkommst. Du weißt schon, was er sagen wird. Er wird dir sagen, du solltest dich schämen, weil du so schmutzig bist.
Die Schritte entfernen sich, und du atmest erleichtert auf. Durch ein Astloch in der Tür kannst du das Wohnzimmer sehen. Deine Mutter hält den Mund, während dein Vater darauf wartet, dass sie sich bewegt oder ihm Vorhaltungen macht, denn dann hat er endlich einen Grund. Dein Mund ist voller Staub. Du machst die Augen zu, versuchst zu schlucken, und als du sie wieder öffnest, hat er deine Mutter bei den Armen gepackt, und ihre Hände baumeln schlaff neben ihrem Körper. Dein Bruder versucht, mit der geblümten Tapete zu verschmelzen. Es ist schwer zu sagen, was er denkt, ob sein Gesicht zu einer Grimasse oder einem Lächeln verzogen ist. Dein Vater landet einen Treffer nach dem anderen auf den Armen, Rippen und dem Oberkörper deiner Mutter. Morgen wird sie ihren Lippenstift auflegen, wie gewohnt zur Arbeit gehen, und die Nachbarn werden nie erfahren, was geschehen ist. Aber vielleicht geht er irgendwann zu weit, dann nimmt ein Krankenwagen deine Mutter mit, und niemand denkt daran, dich zu befreien.
Die größte Angst jedoch macht dir die Miene deines Bruders. Er wirkt vollkommen entspannt, als sähe er sich seinen Lieblingsfilm im Fernsehen an. Die Besenkammer schrumpft, und die Luft darin reicht nur für ein paar Sekunden aus. Du willst ins Helle rennen, doch du musst hier ausharren, bis es vorüber ist. Du lauschst auf die dumpfen Schläge deines Vaters. Deine Mutter gibt sich alle Mühe, nicht zu weinen, auch wenn hin und wieder gegen ihren Willen ein atemloses Stöhnen über ihre Lippen dringt. Dein Bruder lehnt sich an die Wand, macht es sich bequem und prägt sich das Vorgehen seines Vaters ein.
Das Trommeln der Schläge hat aufgehört, und du weißt, wie es jetzt weitergeht. Die Schritte deines Vaters nähern sich erneut dem Schrank. Es hat keinen Sinn, zu weinen, denn er kennt jedes Versteck in diesem Haus. Er hat deiner Mutter den Schlüssel aus der Rocktasche genommen, und es wird ihm vollkommen egal sein, ob du bettelst oder flehst. Tränen sind nur was für Heulsusen, erklärt er dann und schlägt noch fester zu.
1
Ich spähte in den Metallkasten, ohne ihn zu betreten. Er verströmte den vertrauten Geruch sämtlicher Fahrstühle im Krankenhaus, nach Seife und Desinfektionsmittel mit einem Hauch Urin und Angst. Bisher hatte ich die Fahrt in die psychiatrische Abteilung in der vierundzwanzigsten Etage nur ein einziges Mal - mit geschlossenen Augen und angehaltenem Atem - hinter mich gebracht. Eingeengt und ohne Luft und Fenster, durch die ein Entkommen möglich war. Ich hielt die Tür mit einer Hand auf und zwang mich, die Kabine zu betreten, doch sofort setzte die Panik ein, und ich spürte, wie das Adrenalin durch meinen Körper schoss. Die verspiegelte Rückwand warf mein Bild zurück. Mein Gesicht war kreidebleich und angespannt, und meine Augen glitzerten vor Angst. Ich sah aus wie ein kleines blondes Mädchen, das die schicksten Kleider seiner Mutter trug. Ich schob mich rückwärts aus dem Lift, und die Türen schnappten zu und bissen mir fast die Finger ab. Mir blieb nichts anderes übrig, als zu Fuß zu gehen, auch wenn es zweihundertachtundsiebzig Stufen waren. Inzwischen hatte sich mir die Beschilderung in jedem Stockwerk eingeprägt: Onkologie, Urologie, Orthopädie, Röntgen. Aber wenigstens hielt mich der morgendliche Aufstieg fit, und wenn ich in einem gleichmäßigen Tempo ging, war ich in weniger als sechs Minuten da.
Ich war außer Atem, als ich ein paar Minuten vor meinem ersten Termin in mein Beratungszimmer kam. Ich tauschte meine Joggingschuhe gegen ein Paar Pumps. Es ist ein ungeschriebenes Gesetz, dass Psychologen gutgekleidet hinter ihrem Schreibtisch sitzen müssen, um ihren Patienten das Gefühl zu geben, als wäre die Welt ein sicherer und ordentlicher Ort. Doch ich hätte mir die Mühe sparen können, denn an meinem Computer klebte eine handgeschriebene Notiz. Sämtliche Termine heute Morgen waren abgesagt, denn in einer Stunde würde ich von einem Polizeibeamten abgeholt.
Einen Augenblick verweigerten meine Beine mir den Dienst. Ich stellte mir meinen Bruder vor, wie er wie beim letzten Mal in einer Zelle saß und jeden wüst beschimpfte, der versuchte, irgendwas aus ihm herauszukriegen, oder ihm auch nur ein Tässchen Tee anbot. Dann aber fiel mir wieder ein, dass mein Name diese Woche auf der Liste diensthabender Psychologen für die Polizeibehörde stand, und mein Herzschlag beruhigte sich wieder.
Mein Posteingang quoll über: eine Einladung des britischen Psychologenverbandes, vor dem ich im April eine Rede halten sollte, acht Überweisungen von Hausärzten und Dutzende von Rundschreiben von irgendwelchen Pharmaunternehmen, in denen ich für die Verschreibung der von ihnen auf den Markt geworfenen Produkte hübsche Schreibsets, teure Uhren und andere exklusive Zeichen ihrer Dankbarkeit angeboten bekam. Ich hätte meine Patientenakten bearbeiten sollen, doch mein Blick wanderte ein ums andere Mal zum Fenster, das, auch wenn das trübe Weiß des Himmels winterliche Schneefälle versprach, einen einmaligen Ausblick bot. London Bridge Station sah wie ein Spielzeugbahnhof aus, durch den ein halbes Dutzend winzig kleiner Züge fuhr, und im Osten schlängelte die Themse sich unter der Tower Bridge hindurch weiter zur Canary Wharf. Rote Lichter blinkten auf den Dächern all der Banken, wo Finanzmänner mit Unsummen jonglierten, und in der entgegengesetzten Richtung säumten zahllose Bürogebäude, die beinah so hoch wie die St. Paul's Cathedral waren, den Fluss. Für ein Kind aus einem langweiligen Vorort war dies eindeutig das glamouröseste Szenario der Welt.
Um kurz nach zehn rief unsere Sekretärin an und meldete einen Besucher unten an der Rezeption. Als ich das Erdgeschoss erreichte, sah ich einen hünenhaften Kerl neben dem Eingang stehen. Sein hellgrauer Anzug spannte sich um einen kugelrunden Bauch.
»Dr. Quentin?« Dafür, dass er sicher 120 Kilo auf die Waage brachte, trat er unverhofft geschmeidig auf mich zu. »DCI Don Burns von der Polizei in Southwark. Danke, dass Sie mir Ihre Zeit schenken.«
Sein Akzent war eine seltsame Mischung aus grobem Südlondon und aristokratischem Edinburgh, und die Augen hinter der dicken, schwarz gerandeten Brille lugten klein und forschend aus dem bleichen Mondgesicht hervor.
Ich setzte ein höfliches Lächeln auf, erinnerte ihn aber daran, dass mir gar nichts anderes übrigblieb. Schließlich waren wir verpflichtet, Gutachten zu erstellen, wenn die Polizei uns darum bat. Jede andere Arbeit, ganz egal, wie wichtig sie möglicherweise war, musste dahinter zurückstehen.
Auf dem Parkplatz brauchte der Inspektor mehrere Minuten, um sich hinter das Lenkrad seines tristen blauen Mondeo zu quetschen, in dem es nach abgestandenem Kaffee, Rauch und Frittierfett roch. Auf dem Weg zur Arbeit hatte er anscheinend bei McDonald's haltgemacht und zum Abschluss seines Frühstücks noch eine gepafft.
»Ich hätte auch zu Fuß zu Ihnen auf die Wache kommen können«, sagte ich. »Dann hätten Sie sich den Weg gespart.«
»Wir fahren nicht aufs Revier. Ich erkläre Ihnen unterwegs, worum es geht.«
Er fuhr in Richtung Süden und verfluchte dabei den Verkehr, der uns nur im Schneckentempo vorwärtskommen ließ. Anscheinend hatte er vergessen, dass er nicht alleine war, und war vollkommen in seine Fahrerei vertieft, bis wir endlich an der Themse waren.
»Detective Chief Inspector. Sie sind offenbar ein ziemlich hohes Tier«, stellte ich fest.
Er starrte weiter geradeaus. »Ziemlich hoch. Mir untersteht ein Großteil des Bezirks.«
»Das ist ganz schön viel Verantwortung. Könnte nicht einer Ihrer Untergebenen mich fahren?«
»Das wollte ich nicht.« Wir fuhren am Kraftwerk Battersea vorbei. Es sah aus wie ein riesengroßer umgedrehter Tisch, dessen Beine in den Himmel ragten. »Wir besuchen Morris Cley. Haben Sie von dem schon mal gehört?«
»Vage. Er hat jemanden umgebracht, nicht wahr?«
»Genau.« Er runzelte die Stirn. »Vor vier Jahren in Bermondsey. Eine Prostituierte namens Jeannie Anderson. Morgen kommt er wieder auf freien Fuß, weil irgendein gewiefter Anwalt es geschafft hat, seine Strafe zu halbieren.«
»Wie das?«
»Angeblich waren die Beweise gegen ihn nicht eindeutig genug.« Burns stieß einen Seufzer aus. »Totaler Schwachsinn. Aber er hat es geschafft, dem Richter einzureden, dass Cley Lernprobleme hat.«
»Und die hat er nicht?«
»Nie im Leben.« Stirnrunzelnd starrte er auf den immer dichter werdenden Verkehr. »Der aalglatte kleine Bastard tut den Leuten gegenüber so, als ob er ein Einfaltspinsel wäre, aber uns hat er wochenlang an der Nase herumgeführt, und jetzt will ich wissen, wie gut wir ihn überwachen müssen, wenn er wieder draußen ist.«
»Klingt, als wäre er nicht unbedingt Ihr Lieblingskunde. «
»Nein, ganz sicher nicht. Er ist ein windiger Bursche.« Burns setzte derart erbost den Blinker, als hätte er am liebsten kurzerhand den Hebel abgerissen und aus dem Fenster katapultiert. »Raten Sie mal, wer die besten Freunde seiner Mutter waren.«
»Wer?«
»Ray und Marie Benson.«
Mir fiel keine Antwort ein. Ich wusste viel über die Bensons, weil ich mit dem Gutachter aus dem Prozess befreundet war und weil die Presse das Paar über Monate hinweg in den Schlagzeilen hatte. Immer wieder waren Aufnahmen der Mädchen, die die zwei getötet hatten, auf den Titelseiten aufgetaucht, als ob sie Filmstars wären. Einige von ihnen waren unter der Terrasse des unweit der Southwark Bridge Road gelegenen Heims gefunden worden, das von den Bensons geleitet worden war, eine im Garten, eine weitere in einem unbenutzten Kamin, der sorgfältig zugemauert worden war, und ein paar andere auf einem Flecken Brachland, der hinter dem Grundstück lag. Jeder, der des Lesens mächtig war oder einen Fernseher besaß, wusste mehr, als er wahrscheinlich jemals hätte wissen wollen, über das grausige Hobby dieses Paars.
Vor uns tauchte Wandsworth Common auf. Frauen schoben Kinderwagen auf den Wegen hin und her, und Jogger drehten langsam ihre Runden um den Park, als hätten sie alle Zeit der Welt.
»Waren Sie schon mal in Wandsworth?«, fragte Burns.
»Das Vergnügen hatte ich bisher noch nicht.«
»Es ist das reinste Paradies«, murmelte er. »Sechzehnhundert Kerle, davon der Großteil total zugedröhnt mit allen Drogen, die man sich nur vorstellen kann.«
Mit den schmutzstarrenden Fenstern und einem Tor, das sogar groß genug für einen Sattelschlepper war, erschien das Gefängnis auf den ersten Blick wie eine Mischung aus gotischer Burg und viktorianischem Arbeitshaus. Das Gebäude war so riesig, dass man kaum den Himmel sah.
»Willkommen in Englands größtem Knast.« Burns zückte seine Dienstmarke, und sein Kollege winkte uns hinein.
Das Vernehmungszimmer lag am Ende eines kilometerlangen Gangs, der sicher irgendwann mal weiß gewesen war. Allmählich bereute ich meine morgendliche Kleiderwahl. Mein Rock war viel zu eng für große Schritte, und die Absätze von meinen Schuhen klapperten wie Kastagnetten, als ich hinter Burns über den Fliesenboden lief.
Burns strömte erneut der Schweiß übers Gesicht.
»Er sitzt zu seinem eigenen Schutz in Einzelhaft«, erklärte er mir schnaufend. »Sicher kriegt der Kerl nicht gerade viele Abschiedskarten, wenn er morgen geht.«
»Wie hat er das Mädchen umgebracht?«, erkundigte ich mich.
»Es gibt keine hübsche Art, das zu beschreiben.« Burns fuhr sich mit einem riesengroßen weißen Taschentuch über die Wangen und die Stirn. »Erst hat er sie gefickt und dann mit einem Kissen erstickt.«
»Hatten die beiden eine Beziehung?«
»Meine Güte, nein.« Er starrte mich entgeistert an. »Er behauptet es zwar, aber Sie werden verstehen, warum das ausgeschlossen ist, wenn Sie den Typen sehen.«
»Ich kann es kaum erwarten.«
Burns schob mit einem dicken Zeigefinger seine Brille hoch und sah mich an. »Tatsächlich sah sie Ihnen etwas ähnlich. Zierlich, grüne Augen, schulterlanges blondes Haar.«
»Sie meinen, ich bin sein Typ?«
»Ich fürchte, ja.«
© ullstein TB Verlag
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Autoren-Porträt von Kate Rhodes
Kate Rhodes wurde in London geboren. Sie ist promovierte Literaturwissenschaftlern und lehrte jahrelang an amerikanischen und britischen Universitäten. Für ihre Lyrik wird sie von der Presse hoch gelobt und erhält regelmäßig Preise. Sie lebt in Cambridge, nahe des Flusses für dessen Erkundung sie sich extra ein Kanu zugelegt hat.Im Totengarten ist ihr erster Roman und der Auftakt zu einer Serie um die Kriminalpsychologin Alice Quentin.
Bibliographische Angaben
- Autor: Kate Rhodes
- 2012, 1. Auflage, 448 Seiten, Deutsch
- Übersetzer: Uta Hege
- Verlag: Ullstein Taschenbuchvlg.
- ISBN-10: 384370354X
- ISBN-13: 9783843703543
- Erscheinungsdatum: 28.09.2012
Abhängig von Bildschirmgröße und eingestellter Schriftgröße kann die Seitenzahl auf Ihrem Lesegerät variieren.
eBook Informationen
- Dateiformat: ePub
- Größe: 2.16 MB
- Ohne Kopierschutz
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