Neukölln ist überall / Ullstein eBooks (ePub)
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Neukölln ist überall von Heinz BuschkowskyVorwort
Vor Ihnen liegt ein politisches Buch, keine wissenschaftliche Expertise. Die hätten Sie vielleicht auch gar nicht gekauft. Ich bin nur der Bürgermeister eines Berliner Bezirks mit über 315 000 Einwohnerinnen und Einwohnern und der Flunderperspektive seines Rathausturmes, kein Wissenschaftler. Die Welt, die ich beschreibe, ist die Neuköllner Welt. Die Ableitungen, die ich für mich vornehme, müssen für die Gegebenheiten Ihrer Stadt und für Ihr Lebensumfeld nicht zutreffen. Die Entwicklung kann bei Ihnen sogar einen gegenteiligen Verlauf genommen haben. Insofern verschreibt dieses Buch nicht zwingend Rezepte. Ausschließen kann ich es aber nicht. Denn es gibt viele Neuköllns. Sie heißen nur anders. Doch egal, verständigen wir uns darauf, dass es einfach nur die aufgeschriebene Wirklichkeit an einem bestimmten Ort in der Bundesrepublik Deutschland ist.
Eine weitere Vorbemerkung ist wichtig. Um den zu erwartenden Aufgeregtheiten der organisierten Empörung vorzubeugen, müsste eigentlich auf jeder der folgenden Seiten oben und unten in Fettdruck der Hinweis stehen, dass die beschriebenen Sachverhalte niemals alle Einwanderer, alle Muslime, alle Hartz-IV- Empfänger und alle Jugendlichen meinen, ja, meinen können. Die menschliche Gesellschaft ist zu heterogen, zu vielschichtig, bunt und schillernd, als dass es möglich wäre, die Verhaltensweisen der Menschen in einem Universalcluster einheitlich zu definieren. Also, ich kann Sie beruhigen, liebe Leserin, lieber Leser, Sie sind nicht gemeint. Denn ich kenne Sie gar nicht.
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Wenn ich auch heute wiederhole: »Multikulti ist gescheitert«, dann heißt das natürlich nicht, dass es keine gelungenen Integrationen in Deutschland gegeben hat. So rituell diese Sinnverfälschung unzulässigerweise immer wieder unterstellt wird, so deutlich wird die Verweigerung bestimmter politischer Kreise, sich ernsthaft mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Wirklichkeitsverweigerung und Lebenslügen unter der Überschrift »Weil nicht sein kann, was nicht sein darf« sind nach wie vor eine beliebte Spielart der Political Correctness.
Um es an dieser Stelle für jeden erneut nachlesbar zu machen: Ja, es gibt unzählige, vielfältig gelungene Integrationen. Mein Bekanntenkreis und vielleicht auch der Ihre ist reich an herausragenden Beispielen. Es gibt sie, die Familien und Menschen, die in diesem Land angekommen sind, sich wohlfühlen, ein Leben in Frieden und Wohlstand gefunden haben und hier auch die Perspektive für ihre Nachkommen sehen. Sie sind jedoch nicht das Thema dieses Buches. Dieses Buch beschäftigt sich mit der anderen Seite der Medaille. Mit den Stadtvierteln, in denen sich die gesammelt haben, die noch auf der Suche nach dem Schlüssel für die Tür der Gesellschaft sind. Mit der Seite der Medaille, die eigentlich seit Jahrzehnten versucht, ein Signal zur Beendigung von Lethargie und nahezu perfekt getarnter Tatenlosigkeit zu setzen und uns die Augen für Realitäten zu öffnen, die einen gesellschaftlichen wie kulturellen Rückwärtsgang bedeuten. Dafür, dass es Verhältnisse gibt, die geändert werden müssen. Die einen intervenierenden Staat und eine empathische Gesellschaft brauchen und keinen beobachtenden Staat mit ignoranter Arroganz. Wenn wir uns um die Verkehrssicherheit an einer Straßenkreuzung kümmern müssen, zählen und betrachten wir da die Zahl der Unfälle oder erfreuen wir uns an den Fahrzeugen, die die Kreuzung unfallfrei passiert haben?
Über die Integration und all ihre Nebenthemen gibt es in Deutschland keinen Erkenntnismangel. Wir haben ein Handlungsdefizit. Über die Fragen der unterlassenen Integrationspolitik, der imaginären Integrationspolitik, des Multikulti-Irrtums, der kulturellen Identitäten, des kultursensiblen Umgangs mit bisher fremden Riten und Gebräuchen, der Willkommenskultur, der Integrationsverweigerung, der nachholenden Integration, der integrationsbereiten Gesellschaft, der Überfremdungsängste, des Lokalpatriotismus und der Verantwortung der Gesellschaft, den sozialen Frieden zu bewahren, also den Laden zusammenzuhalten, gibt es Bücherwände gefüllt mit Diplom-, Promotions- und Habilitationsarbeiten, Sachbüchern und Romanen. Jede Woche kommen kleinere oder größere Artikel in den Printmedien, Reportagen, Filme und Theaterstücke hinzu.
Ich beziehe mich an einigen Stellen durchaus auf wissenschaftliche Forschungs-, Studien- und Untersuchungsergebnisse von Instituten oder Einzelwissenschaftlern. Wir wissen allerdings, dass es zu jeder These eine Antithese gibt, zu jeder Studie eine mit gegenteiligem Ergebnis und zu jeder Untersuchung widersprechende Erkenntnisse. Dass ich vorwiegend die Belege zitiere, die meine Erfahrungswelt bestätigen, bitte ich mir nachzusehen. Zum Ausgleich toleriere ich Ihre abweichende Wahrheit, falls Sie sie bis zum Ende des Buches nicht still und dezent aufgegeben haben sollten.
Ich kenne kein gesellschaftspolitisches Thema, das so vordergründig flüchtig-intellektuell als verbale Luftnummer angesagt ist wie die Integration. Jeder ist Fachmann, jeder Dr. cand. ein Wissenschaftler und jede kurzzeitige Wohnepisode ein unerschütterlicher Erfahrungsschatz. Ich kenne aber auch kein Thema, bei dem so viel geheuchelt und gelogen wird. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Die Wahrheit tut weh, und jeder möchte Schmerzen vermeiden. Auch die Gesellschaft. Die Politik bevorzugt eine schläfrige und eher träge Betrachtungsweise von Themen. Es könnte sonst ungemütlich werden, wenn die Forderung nach Abhilfe entsteht. Wieder andere sind generell für eine regelfreie und schrankenlose, sich selbst verwirklichende Gesellschaft. Meinen tut man damit aber meistens nur sich selbst. Im Idealfall auf Kosten anderer. Lebensregeln, die für den einen unabdingbare Voraussetzung für ein friedliches und konfliktfreies Miteinander sind, sind für einen anderen spießig, reaktionär und vordemokratisch. Und dann gibt es da noch links und rechts. Links, das sind die Guten, voller Verständnis und Hinwendung. Sie sagen, Ordnungsprinzipien und Sanktionen sind staatliche Repressionen, Ausläufer des Spätkapitalismus in seiner Verendungsphase. Alle, die sich nicht in dieser Aufzählung wiederfinden, sind rechts, konservativ, latent oder in echt rassistisch und überhaupt von gestern.
Zugegeben, die vorstehenden Zeilen sind arg zugespitzt. Eigentlich schon bösartig. Aber man kann auch bissig werden, wenn man sich der schulterzuckenden Gleichgültigkeit ausgesetzt sieht, die das Thema Integration begleitet. Dieses vollmundiginhaltsleere Gequatsche, stets verbunden mit engagiertem und entschlossenem Nichtstun, der Political Correctness, die meist nur ein Alibi für die professionelle Tatenlosigkeit darstellt. Dies alles führt bei denjenigen, die sich vor Ort ins Geschirr legen, zu einem Gefühl der Ohnmacht, gepaart mit emotionalen Wechselbädern aus Resignation und trotzigem Durchhaltewillen.
Mir ist es nicht anders gegangen. Als ich anfing, mich als Jugenddezernent Neuköllns Mitte der 90er Jahre mit der Thematik zu befassen, dachte ich noch, die Welt zu entdecken und ihr etwas Neues mitteilen zu können. Heute weiß ich, wie kindisch ich war. Schon damals wussten die, die an den Schalthebeln möglicher Veränderung saßen, genau, was vor Ort los ist. Sie gaben es aber nicht zu. Denn dann wären sie der Frage begegnet: »Und was tun Sie dagegen?« Ein unangenehmer Prüfstand. Da ist es schon besser, man weiß von nix. Fünf Minuten doof hilft manchmal über den ganzen Tag, sagt der Volksmund. Einer, der wie ich dann nicht aufhört, böse Sachen zu sagen, ist ein Stänker, ein Störenfried und Nestbeschmutzer. Das ist auch der Grund, warum bis heute viele Stadtväter mit hoher Einwandererpopulation noch nie etwas von Integrationsproblemen gehört haben wollen. Als ich in der einen oder anderen Stadt den Deckel vom Topf nahm, sprudelten die Emotionen voller Ärger und Enttäuschung über die Politik nur so. Es trat der ganze Frust zu Tage über die alltäglichen Erlebnisse in Bus und Bahn und über die Anpöbeleien auf der Straße, die - anders als von der Politik dargestellt - alles andere als die viel zitierte kulturelle Bereicherung sind. Mir wurde mit der Zeit immer bewusster, dass es zwei Welten der wahrgenommenen Integration in unserem Land gibt.
Die eine ist die schöne, heile Welt des Alles-Verstehens, des Alles-Entschuldigens, der Nachsicht, des Laisser-faire bis zur Selbstverleugnung. Entschuldigung, dass wir bisher auch Werte und Normen hatten, die aber natürlich so minderwertig sind, dass man sie Einwanderern nicht zumuten kann. Nur nichts verlangen, nur nichts fordern, aber immer zur hingebungsvollen Darbietung bereit. Man könnte es auch einen devoten Gesellschafts- Masochismus nennen. Die andere ist die schweigende Welt der Enttäuschung, des Gefühls, allein gelassen zu sein, und resignativer Lethargie. Man geht weg. Ich will damit nichts mehr zu tun haben, sollen die da doch machen, was sie wollen.
Die Politik lässt zu, ja, sie fördert es sogar, dass Menschen in ihrer Identität als Staatsbürger der Nerv gezogen wird und sie ihrer Seele beraubt werden. Dass der Begriff »kultursensibel« auch auf die eigene Bevölkerung anwendbar sein muss, ist keine Sichtweise des Multikulti-Mainstreams. Mit ein bisschen mehr Fingerspitzengefühl am Puls der Bevölkerung hätte man nicht mit Entsetzen auf die Verkaufszahlen eines ungeliebten Buches zu schauen brauchen. Man bräuchte keine Integrationsgipfel, über die kaum noch die Lokalblätter berichten. Zu nachhaltig ist ihre Bedeutungslosigkeit enttarnt. Die DDR ist auch daran zugrunde gegangen, dass niemand im ZK mehr wusste, was in der Kaufhalle geredet wird.
Irgendwann habe ich aufgehört, Karten in diesem Spiel zu ziehen. Zu pharisäerhaft erschien es mir, den Menschen weiszumachen, es läuft alles rund in unserem Neukölln. Wir brauchten angeblich bis zu meiner Amtsübernahme im Jahre 2001 keinen Integrationsbeauftragten bei 120 000 Einwanderern. Es gab auch keinen Ausländerbeirat, wie diese Institutionen damals hießen. Die politische Mehrheit jener Zeit weigerte sich überhaupt, irgendein Problem zu erkennen. Die Wirtschaft blühte dank mantrahafter Beschwörungsformeln, und in unseren Schulen wuchsen lauter kleine Einsteins heran. Allerdings ohne die Grundrechenarten zu beherrschen, dafür aber als kulturelle Bereicherung. Aber Einstein war ja bekanntlich auch ein schlechter Schüler.
Ich selbst stellte schnell ein Phänomen fest. Je öfter ich Dinge aus- und ansprach, die jeder Mensch mit normalem Augenlicht sehen konnte, desto flinker festigte sich meine Bösewichtrolle. Anfangs war ich irritiert: Warum solche Hysterie um evidente Gegebenheiten des Alltags? Na ja, ich hatte zu jener Zeit die Spielregeln noch nicht ganz verstanden. Recht bald merkte ich dann, dass Ungnade der bestimmenden Kaste auch Zuneigung bei den normalen Menschen auslösen kann. Ich begann, mit der Ätze zu leben und die Anerkennung der Bürger als Adrenalin zu empfinden.
So wurde ich zum Alarmisten. Jedenfalls nach Meinung des Integrationsbeauftragten des Berliner Senats. Weil ich überhaupt etwas sagte. Das war nicht üblich. So wurde ich zum Rassisten, jedenfalls nach Auffassung der selbsternannten Weltbürger und Ethno-Universalisten, weil ich sagte, an welcher Stelle und bei wem etwas nicht funktioniert. Bis hin zum Neofaschisten, weil ich sagte, da müssen wir ran, etwas tun und die Verhältnisse ändern. Zur Not auch gegen Unwilligkeit.
Besonders unterhaltend sind immer die Hinweise, warum ich vor Ort als langjährig Verantwortung tragender Kommunalpolitiker nicht längst alle sozialen Verwerfungen beseitigt, alle Bildungsprobleme gelöst und alle Integrationsfragen beantwortet habe. Die darin zum Ausdruck kommende Einschätzung der Leichtgewichtigkeit der Materie, die von jedem Dorfschulzen im Handumdrehen getroubleshootet werden kann, lässt aufhorchen. Heißt es doch sonst immer, dass es sich um die Zukunftsfrage unseres Landes handelt, für die wir einen langen Atem brauchen und die nur generationenübergreifend zu lösen ist.
Auch als etwas ungeduldiger Mensch kann ich dieser Einschätzung ein gewisses Realitätsbewusstsein nicht absprechen.
Ein beliebter Spruch aus dem Buch der Unverbindlichkeiten lautet: »Über den Erfolg der Integration wird vor Ort in den Städten und Gemeinden entschieden.« Ist noch nicht einmal ganz falsch. Aber dann muss man die örtliche Ebene auch machen lassen. In Berlin kann kein Bezirksbürgermeister über Klassengrößen, Lehrereinstellungen, Kitagruppengröße, Kita-Pflicht, Kindergeld, Fachpersonal an Schulen, Einrichtung von Ganztagsschulen usw. usw. usw. entscheiden. Da müssen dann schon die Herrschaften der Landes- und Bundesebene ran. Wenn die sich dann hinter der Kommunalpolitik verstecken, wird es einfach nur peinlich. Oder sie haben schlicht keine Ahnung, wovon sie reden. Kann ja mal vorkommen.
Viele große Köpfe kamen inzwischen zu uns nach Neukölln. Öffentlich oder vertraulich. Einige holten sich Wissen, andere Inspiration. Aber keiner hat anschließend wirklich etwas Durchgreifendes verändert. In der Integrationspolitik herrscht Rat- und Zahnlosigkeit. Aber irgendwann, wenn der Leidensdruck da und übermächtig sein wird, wird man Terrierqualitäten brauchen.
Wenn aber schon alles aufgeschrieben ist, wozu dann noch dieses Buch, das Sie in der Hand halten? Das hatte ich mich genauso gefragt und eigentlich entschieden, dass die Welt es nicht braucht. Richtig, werden die einen sagen, wäre er doch bei dieser Meinung geblieben. Aber dann kamen die anderen, die Akteure in Neukölln, die Zuhörer bei Veranstaltungen, die da sagten: Schreiben Sie alles auf. Es soll später keiner sagen können, er hätte es nicht gewusst. Allmählich kam auch das Ende meiner aktiven politischen Tätigkeit um die Ecke. Und plötzlich wollte ich doch noch das eine oder andere Rezept auf dem Schreibtisch liegen lassen.
Dieses Buch beschreibt die Welt von Menschen in ihrem Alltag. Es skizziert die Gedanken und die Gefühle, aber auch das Handeln derjenigen, die sich Tag für Tag im so wechselhaften Integrationsprozess in Neukölln engagieren. Die sich aber in einer Gesellschaft voller abstruser Realitätsverweigerung und nahezu hysterischer Hexenverfolgung nicht mehr trauen, offen über die in ihren Händen zerrinnenden Zukunftschancen kleiner Menschen zu berichten. Fernsehsender finden immer schwerer aktive Menschen, die vor der Kamera ein offenes Visier haben. Journalisten werden geschnitten und mit verdecktem Beschäftigungsverbot überzogen. Interviewpartner wollen ihren Klarnamen nicht veröffentlicht sehen. Das ist schon eine schwierige Beschreibung für eine angeblich freie und ach so tolerante Gesellschaft. Geistesfreiheit und Meinungsvielfalt finden meist nur Akzeptanz, wenn sie mit den eigenen Koordinaten kompatibel sind.
Ich sehe alle vor mir, die sich mit Propellerarmen den Schaum vom Mund wischen. Ich kann ihnen nur zurufen: Sorgt lieber mit dafür, dass sich die Verhältnisse ändern! Dass das reale Leben euer Tun bestimmt und nicht die Sozialromantik der letzten Seminarübung weiter an seine Stelle tritt. Dann wird es auch solcher Bücher nicht mehr bedürfen. Dann könnt ihr auch die nächste Demo gegen rechts absagen. Die beste Willkommenskultur ist Chancengerechtigkeit und gemeinsame Lebensgrundlagen.
Viele haben an diesem Buch mitgewirkt. Haben mich mit Wissen geladen. Sie waren Inspiration, und ihre Erwartungshaltung war meine Motivation. Vielleicht ändert dieses Buch ja etwas, falls ja, dann hat Neukölln wieder einmal den Lauf der Dinge beeinflusst. Falls nein, stellen Sie es zu den anderen.
Copyright © Ullstein HC Verlag
Wenn ich auch heute wiederhole: »Multikulti ist gescheitert«, dann heißt das natürlich nicht, dass es keine gelungenen Integrationen in Deutschland gegeben hat. So rituell diese Sinnverfälschung unzulässigerweise immer wieder unterstellt wird, so deutlich wird die Verweigerung bestimmter politischer Kreise, sich ernsthaft mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Wirklichkeitsverweigerung und Lebenslügen unter der Überschrift »Weil nicht sein kann, was nicht sein darf« sind nach wie vor eine beliebte Spielart der Political Correctness.
Um es an dieser Stelle für jeden erneut nachlesbar zu machen: Ja, es gibt unzählige, vielfältig gelungene Integrationen. Mein Bekanntenkreis und vielleicht auch der Ihre ist reich an herausragenden Beispielen. Es gibt sie, die Familien und Menschen, die in diesem Land angekommen sind, sich wohlfühlen, ein Leben in Frieden und Wohlstand gefunden haben und hier auch die Perspektive für ihre Nachkommen sehen. Sie sind jedoch nicht das Thema dieses Buches. Dieses Buch beschäftigt sich mit der anderen Seite der Medaille. Mit den Stadtvierteln, in denen sich die gesammelt haben, die noch auf der Suche nach dem Schlüssel für die Tür der Gesellschaft sind. Mit der Seite der Medaille, die eigentlich seit Jahrzehnten versucht, ein Signal zur Beendigung von Lethargie und nahezu perfekt getarnter Tatenlosigkeit zu setzen und uns die Augen für Realitäten zu öffnen, die einen gesellschaftlichen wie kulturellen Rückwärtsgang bedeuten. Dafür, dass es Verhältnisse gibt, die geändert werden müssen. Die einen intervenierenden Staat und eine empathische Gesellschaft brauchen und keinen beobachtenden Staat mit ignoranter Arroganz. Wenn wir uns um die Verkehrssicherheit an einer Straßenkreuzung kümmern müssen, zählen und betrachten wir da die Zahl der Unfälle oder erfreuen wir uns an den Fahrzeugen, die die Kreuzung unfallfrei passiert haben?
Über die Integration und all ihre Nebenthemen gibt es in Deutschland keinen Erkenntnismangel. Wir haben ein Handlungsdefizit. Über die Fragen der unterlassenen Integrationspolitik, der imaginären Integrationspolitik, des Multikulti-Irrtums, der kulturellen Identitäten, des kultursensiblen Umgangs mit bisher fremden Riten und Gebräuchen, der Willkommenskultur, der Integrationsverweigerung, der nachholenden Integration, der integrationsbereiten Gesellschaft, der Überfremdungsängste, des Lokalpatriotismus und der Verantwortung der Gesellschaft, den sozialen Frieden zu bewahren, also den Laden zusammenzuhalten, gibt es Bücherwände gefüllt mit Diplom-, Promotions- und Habilitationsarbeiten, Sachbüchern und Romanen. Jede Woche kommen kleinere oder größere Artikel in den Printmedien, Reportagen, Filme und Theaterstücke hinzu.
Ich beziehe mich an einigen Stellen durchaus auf wissenschaftliche Forschungs-, Studien- und Untersuchungsergebnisse von Instituten oder Einzelwissenschaftlern. Wir wissen allerdings, dass es zu jeder These eine Antithese gibt, zu jeder Studie eine mit gegenteiligem Ergebnis und zu jeder Untersuchung widersprechende Erkenntnisse. Dass ich vorwiegend die Belege zitiere, die meine Erfahrungswelt bestätigen, bitte ich mir nachzusehen. Zum Ausgleich toleriere ich Ihre abweichende Wahrheit, falls Sie sie bis zum Ende des Buches nicht still und dezent aufgegeben haben sollten.
Ich kenne kein gesellschaftspolitisches Thema, das so vordergründig flüchtig-intellektuell als verbale Luftnummer angesagt ist wie die Integration. Jeder ist Fachmann, jeder Dr. cand. ein Wissenschaftler und jede kurzzeitige Wohnepisode ein unerschütterlicher Erfahrungsschatz. Ich kenne aber auch kein Thema, bei dem so viel geheuchelt und gelogen wird. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Die Wahrheit tut weh, und jeder möchte Schmerzen vermeiden. Auch die Gesellschaft. Die Politik bevorzugt eine schläfrige und eher träge Betrachtungsweise von Themen. Es könnte sonst ungemütlich werden, wenn die Forderung nach Abhilfe entsteht. Wieder andere sind generell für eine regelfreie und schrankenlose, sich selbst verwirklichende Gesellschaft. Meinen tut man damit aber meistens nur sich selbst. Im Idealfall auf Kosten anderer. Lebensregeln, die für den einen unabdingbare Voraussetzung für ein friedliches und konfliktfreies Miteinander sind, sind für einen anderen spießig, reaktionär und vordemokratisch. Und dann gibt es da noch links und rechts. Links, das sind die Guten, voller Verständnis und Hinwendung. Sie sagen, Ordnungsprinzipien und Sanktionen sind staatliche Repressionen, Ausläufer des Spätkapitalismus in seiner Verendungsphase. Alle, die sich nicht in dieser Aufzählung wiederfinden, sind rechts, konservativ, latent oder in echt rassistisch und überhaupt von gestern.
Zugegeben, die vorstehenden Zeilen sind arg zugespitzt. Eigentlich schon bösartig. Aber man kann auch bissig werden, wenn man sich der schulterzuckenden Gleichgültigkeit ausgesetzt sieht, die das Thema Integration begleitet. Dieses vollmundiginhaltsleere Gequatsche, stets verbunden mit engagiertem und entschlossenem Nichtstun, der Political Correctness, die meist nur ein Alibi für die professionelle Tatenlosigkeit darstellt. Dies alles führt bei denjenigen, die sich vor Ort ins Geschirr legen, zu einem Gefühl der Ohnmacht, gepaart mit emotionalen Wechselbädern aus Resignation und trotzigem Durchhaltewillen.
Mir ist es nicht anders gegangen. Als ich anfing, mich als Jugenddezernent Neuköllns Mitte der 90er Jahre mit der Thematik zu befassen, dachte ich noch, die Welt zu entdecken und ihr etwas Neues mitteilen zu können. Heute weiß ich, wie kindisch ich war. Schon damals wussten die, die an den Schalthebeln möglicher Veränderung saßen, genau, was vor Ort los ist. Sie gaben es aber nicht zu. Denn dann wären sie der Frage begegnet: »Und was tun Sie dagegen?« Ein unangenehmer Prüfstand. Da ist es schon besser, man weiß von nix. Fünf Minuten doof hilft manchmal über den ganzen Tag, sagt der Volksmund. Einer, der wie ich dann nicht aufhört, böse Sachen zu sagen, ist ein Stänker, ein Störenfried und Nestbeschmutzer. Das ist auch der Grund, warum bis heute viele Stadtväter mit hoher Einwandererpopulation noch nie etwas von Integrationsproblemen gehört haben wollen. Als ich in der einen oder anderen Stadt den Deckel vom Topf nahm, sprudelten die Emotionen voller Ärger und Enttäuschung über die Politik nur so. Es trat der ganze Frust zu Tage über die alltäglichen Erlebnisse in Bus und Bahn und über die Anpöbeleien auf der Straße, die - anders als von der Politik dargestellt - alles andere als die viel zitierte kulturelle Bereicherung sind. Mir wurde mit der Zeit immer bewusster, dass es zwei Welten der wahrgenommenen Integration in unserem Land gibt.
Die eine ist die schöne, heile Welt des Alles-Verstehens, des Alles-Entschuldigens, der Nachsicht, des Laisser-faire bis zur Selbstverleugnung. Entschuldigung, dass wir bisher auch Werte und Normen hatten, die aber natürlich so minderwertig sind, dass man sie Einwanderern nicht zumuten kann. Nur nichts verlangen, nur nichts fordern, aber immer zur hingebungsvollen Darbietung bereit. Man könnte es auch einen devoten Gesellschafts- Masochismus nennen. Die andere ist die schweigende Welt der Enttäuschung, des Gefühls, allein gelassen zu sein, und resignativer Lethargie. Man geht weg. Ich will damit nichts mehr zu tun haben, sollen die da doch machen, was sie wollen.
Die Politik lässt zu, ja, sie fördert es sogar, dass Menschen in ihrer Identität als Staatsbürger der Nerv gezogen wird und sie ihrer Seele beraubt werden. Dass der Begriff »kultursensibel« auch auf die eigene Bevölkerung anwendbar sein muss, ist keine Sichtweise des Multikulti-Mainstreams. Mit ein bisschen mehr Fingerspitzengefühl am Puls der Bevölkerung hätte man nicht mit Entsetzen auf die Verkaufszahlen eines ungeliebten Buches zu schauen brauchen. Man bräuchte keine Integrationsgipfel, über die kaum noch die Lokalblätter berichten. Zu nachhaltig ist ihre Bedeutungslosigkeit enttarnt. Die DDR ist auch daran zugrunde gegangen, dass niemand im ZK mehr wusste, was in der Kaufhalle geredet wird.
Irgendwann habe ich aufgehört, Karten in diesem Spiel zu ziehen. Zu pharisäerhaft erschien es mir, den Menschen weiszumachen, es läuft alles rund in unserem Neukölln. Wir brauchten angeblich bis zu meiner Amtsübernahme im Jahre 2001 keinen Integrationsbeauftragten bei 120 000 Einwanderern. Es gab auch keinen Ausländerbeirat, wie diese Institutionen damals hießen. Die politische Mehrheit jener Zeit weigerte sich überhaupt, irgendein Problem zu erkennen. Die Wirtschaft blühte dank mantrahafter Beschwörungsformeln, und in unseren Schulen wuchsen lauter kleine Einsteins heran. Allerdings ohne die Grundrechenarten zu beherrschen, dafür aber als kulturelle Bereicherung. Aber Einstein war ja bekanntlich auch ein schlechter Schüler.
Ich selbst stellte schnell ein Phänomen fest. Je öfter ich Dinge aus- und ansprach, die jeder Mensch mit normalem Augenlicht sehen konnte, desto flinker festigte sich meine Bösewichtrolle. Anfangs war ich irritiert: Warum solche Hysterie um evidente Gegebenheiten des Alltags? Na ja, ich hatte zu jener Zeit die Spielregeln noch nicht ganz verstanden. Recht bald merkte ich dann, dass Ungnade der bestimmenden Kaste auch Zuneigung bei den normalen Menschen auslösen kann. Ich begann, mit der Ätze zu leben und die Anerkennung der Bürger als Adrenalin zu empfinden.
So wurde ich zum Alarmisten. Jedenfalls nach Meinung des Integrationsbeauftragten des Berliner Senats. Weil ich überhaupt etwas sagte. Das war nicht üblich. So wurde ich zum Rassisten, jedenfalls nach Auffassung der selbsternannten Weltbürger und Ethno-Universalisten, weil ich sagte, an welcher Stelle und bei wem etwas nicht funktioniert. Bis hin zum Neofaschisten, weil ich sagte, da müssen wir ran, etwas tun und die Verhältnisse ändern. Zur Not auch gegen Unwilligkeit.
Besonders unterhaltend sind immer die Hinweise, warum ich vor Ort als langjährig Verantwortung tragender Kommunalpolitiker nicht längst alle sozialen Verwerfungen beseitigt, alle Bildungsprobleme gelöst und alle Integrationsfragen beantwortet habe. Die darin zum Ausdruck kommende Einschätzung der Leichtgewichtigkeit der Materie, die von jedem Dorfschulzen im Handumdrehen getroubleshootet werden kann, lässt aufhorchen. Heißt es doch sonst immer, dass es sich um die Zukunftsfrage unseres Landes handelt, für die wir einen langen Atem brauchen und die nur generationenübergreifend zu lösen ist.
Auch als etwas ungeduldiger Mensch kann ich dieser Einschätzung ein gewisses Realitätsbewusstsein nicht absprechen.
Ein beliebter Spruch aus dem Buch der Unverbindlichkeiten lautet: »Über den Erfolg der Integration wird vor Ort in den Städten und Gemeinden entschieden.« Ist noch nicht einmal ganz falsch. Aber dann muss man die örtliche Ebene auch machen lassen. In Berlin kann kein Bezirksbürgermeister über Klassengrößen, Lehrereinstellungen, Kitagruppengröße, Kita-Pflicht, Kindergeld, Fachpersonal an Schulen, Einrichtung von Ganztagsschulen usw. usw. usw. entscheiden. Da müssen dann schon die Herrschaften der Landes- und Bundesebene ran. Wenn die sich dann hinter der Kommunalpolitik verstecken, wird es einfach nur peinlich. Oder sie haben schlicht keine Ahnung, wovon sie reden. Kann ja mal vorkommen.
Viele große Köpfe kamen inzwischen zu uns nach Neukölln. Öffentlich oder vertraulich. Einige holten sich Wissen, andere Inspiration. Aber keiner hat anschließend wirklich etwas Durchgreifendes verändert. In der Integrationspolitik herrscht Rat- und Zahnlosigkeit. Aber irgendwann, wenn der Leidensdruck da und übermächtig sein wird, wird man Terrierqualitäten brauchen.
Wenn aber schon alles aufgeschrieben ist, wozu dann noch dieses Buch, das Sie in der Hand halten? Das hatte ich mich genauso gefragt und eigentlich entschieden, dass die Welt es nicht braucht. Richtig, werden die einen sagen, wäre er doch bei dieser Meinung geblieben. Aber dann kamen die anderen, die Akteure in Neukölln, die Zuhörer bei Veranstaltungen, die da sagten: Schreiben Sie alles auf. Es soll später keiner sagen können, er hätte es nicht gewusst. Allmählich kam auch das Ende meiner aktiven politischen Tätigkeit um die Ecke. Und plötzlich wollte ich doch noch das eine oder andere Rezept auf dem Schreibtisch liegen lassen.
Dieses Buch beschreibt die Welt von Menschen in ihrem Alltag. Es skizziert die Gedanken und die Gefühle, aber auch das Handeln derjenigen, die sich Tag für Tag im so wechselhaften Integrationsprozess in Neukölln engagieren. Die sich aber in einer Gesellschaft voller abstruser Realitätsverweigerung und nahezu hysterischer Hexenverfolgung nicht mehr trauen, offen über die in ihren Händen zerrinnenden Zukunftschancen kleiner Menschen zu berichten. Fernsehsender finden immer schwerer aktive Menschen, die vor der Kamera ein offenes Visier haben. Journalisten werden geschnitten und mit verdecktem Beschäftigungsverbot überzogen. Interviewpartner wollen ihren Klarnamen nicht veröffentlicht sehen. Das ist schon eine schwierige Beschreibung für eine angeblich freie und ach so tolerante Gesellschaft. Geistesfreiheit und Meinungsvielfalt finden meist nur Akzeptanz, wenn sie mit den eigenen Koordinaten kompatibel sind.
Ich sehe alle vor mir, die sich mit Propellerarmen den Schaum vom Mund wischen. Ich kann ihnen nur zurufen: Sorgt lieber mit dafür, dass sich die Verhältnisse ändern! Dass das reale Leben euer Tun bestimmt und nicht die Sozialromantik der letzten Seminarübung weiter an seine Stelle tritt. Dann wird es auch solcher Bücher nicht mehr bedürfen. Dann könnt ihr auch die nächste Demo gegen rechts absagen. Die beste Willkommenskultur ist Chancengerechtigkeit und gemeinsame Lebensgrundlagen.
Viele haben an diesem Buch mitgewirkt. Haben mich mit Wissen geladen. Sie waren Inspiration, und ihre Erwartungshaltung war meine Motivation. Vielleicht ändert dieses Buch ja etwas, falls ja, dann hat Neukölln wieder einmal den Lauf der Dinge beeinflusst. Falls nein, stellen Sie es zu den anderen.
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Bibliographische Angaben
- Autor: Heinz Buschkowsky
- 2012, 1. Auflage, 400 Seiten, Deutsch
- Verlag: Ullstein Taschenbuchvlg.
- ISBN-10: 3843703094
- ISBN-13: 9783843703093
- Erscheinungsdatum: 21.09.2012
Abhängig von Bildschirmgröße und eingestellter Schriftgröße kann die Seitenzahl auf Ihrem Lesegerät variieren.
eBook Informationen
- Dateiformat: ePub
- Größe: 6.84 MB
- Ohne Kopierschutz
Pressezitat
"Unbequeme Wahrheiten von einem unbequemen Mann, der noch nie um den heißen Brei herumgeredet hat.", Stern, 27.09.2012
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